Von Köln nach Ouranopolis - Teil 2 - Karin Fruth - E-Book

Von Köln nach Ouranopolis - Teil 2 E-Book

Karin Fruth

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Beschreibung

Zwei Kölner Senioren im Jahr 2127 in Not. Die neue Onko-Regierung in Köln will alle alten Menschen ab 70 aus dem Straßenbild verschwinden lassen, weil sie zu kostenintensiv geworden sind. Die Zukunft gehört den Kindern und den jungen Menschen. Daher sind sie jetzt auf der Flucht und auf der Suche nach einer neuen Heimat. Ob die wohl in Ouranopolis in Griechenland ist?

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Von Köln

nach

Ouranopolis

Teil 2

© 2023 Karin Fruth

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

Verlagslabel: TRAdeART

ISBN Softcover: 978-3-347-92244-0

ISBN E-Book: 978-3-347-92245-7

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Köln im November 2089

Die Flucht geht weiter - November 2089

In Willis Kneipe am Eigelstein

Fahrt auf dem „Traumschiff“

Donau-Impressionen

..und wieder unterwegs

Vidin und Calafat

Rila – Kloster

Bei seltsamen Menschen

Unterwegs nach Griechenland

Endlich angekommen

Endlich Heimat

Von Köln nach Ouranopolis - Teil 2

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Köln im November 2089

Endlich Heimat

Von Köln nach Ouranopolis - Teil 2

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Köln im November 2089

Endlich ist alles auf dem richtigen Weg. Die sich ewig zankende und schwächelnde Parteien-Demokratie wurde abgeschafft, sie funktionierte sowieso nicht mehr.

Stattdessen entstand ein neues Gremium, das vom „Ältesten Onkokratenrat“ regiert wurde, einer kleinen Gruppe verdienter Banken- und Großindustriellen, deren Vorstand und Gründer Onko-Bewegung, Karl-Otto Onko, war. Er wurde am 18.01.2044 in Köln geboren, er erbte von seinen Eltern Gold- und Diamantgruben in Südafrika, er war Multimilliardär und großzügiger Mäzen zahlreicher Stiftungen. Er war der Gründer der „Onko-Partei“, die Reform des neuen Weges.

Sie kam völlig legal und demokratisch an die Macht. Onko erkannte schnell die große Gefahr der enorm steigenden Lasten der Renten- und Krankenversicherung einer überalterten Bevölkerung. Also wurde zügig die ohnehin nicht mehr funktionierende Demokratie durch die Onko-Reformpartei des neuen Weges ersetzt.

In seiner Heimatstadt Köln gelang der Umbau auf Anhieb, weil Karl-Otto Onko sein gesamtes Vermögen der Staatspartei in einer Stiftung zur Verfügung stellte, der schnelle und unvermeidliche Umbau des kompletten Sozialstaates wurde innerhalb von nur acht Jahren vorbildlich und konsequent durchgesetzt.

Mit schöner Regelmäßigkeit setzte sich seitdem überall in Deutschland die Onko-Einheitspartei durch und die Stadt Köln war zum „Leuchtturm“ dieser neuen zukunftsweisenden Bewegung geworden.

Die quälende Geißel des 20. Jahrhunderts, die Arbeitslosigkeit und die Sozialhilfe wurden abgeschafft, jeder Bürger hat ein Anrecht auf einen Arbeitsplatz, viele sind in staatlichen Programmen beschäftigt und erhalten ein angemessenes Bürgergeld dafür. Das bedeutet also Vollbeschäftigung für die ganze arbeitende Bevölkerung.

Ein moderner Staat kann nur dann funktionieren, wenn seine Kinder einen optimalen Start ins Leben haben. So entstand die Familien- und Kinderförderung „Onkind". Jede Familie kann nun dank des großzügig bemessenen Kindergeldes mindestens vier Kinder ohne finanzielle Probleme aufziehen. Überall im Land entstehen kinder- und familienfreundliche Wohneinheiten, vorbildliche staatliche Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen. Das Personal, und ganz besonders die Lehrer werden optimal ausgebildet, nur die allerbesten dürfen in diesem Sektor arbeiten, denn für die Kleinen ist der Regierung nichts zu schade.

Überall sieht man jetzt in der Stadt viele Onko-Polizisten in neuen dunkelblauen Uniformen und Baretten auf dem Kopf, die endlich durchgreifen und für Ordnung sorgen. Niemand muss mehr das Gefühl haben, Opfer einer kriminellen Tat zu werden.

Die Stadt ist blitzblank sauber geworden und überall sorgen die Onko-Hostessen für einen problemlosen Ablauf aller Wünsche.

Alle Bahnfahrten sind kostenlos und Frauen mit Kinderwagen werden bevorzugt zum Bahnsteig und auf ihren Sitzplatz gebracht und sogar ihre Koffer werden im Zug für eine angenehme Reise verstaut.

Auch draußen, am früheren Taxistand, stehen jetzt viele schwarze komfortable Onko-Limousinen, die Fahrer warten einheitlich und adrett in ihren weißen Overalls gekleidet auf Kunden, alles ist neuerdings kostenlos für die Gemeinschaft der modernen Zivilisation geworden!

Auch die Straßenbahnen sind sehr sauber und vorbildlich geworden und in jeder Bahn fährt ein Onko-Servicemann mit, der für Ordnung sorgt und den jungen Müttern mit den Kinderwagen beim Ein- und Aussteigen hilft. Man bekommt immer einen Sitzplatz, und vor allen Dingen, alle Fahrten sind kostenlos.

Wer erinnert sich eigentlich noch an früher, als Millionen von Privatautos die Stadt verstopften und für schlechte Luft sorgten? Aus ökologischen Gründen wurde das Benzin abgeschafft, und die alternativen Kraftstoffe waren viel zu kostspielig geworden. Daraufhin ließen die Autobesitzer einfach ihre sinnlos gewordenen Autos stehen und sie mussten überall auf Staatskosten aufwändig ins osteuropäische Ausland entsorgt werden.

Die Bevölkerung gewöhnte sich schnell an ein Leben ohne Individualverkehr, egal, ob man etwas transportieren, zum Amt oder zum Arzt muss, ein Anruf genügt, und die schwarzen Autos mit ihrem uniformierten Fahrer im weißen Overall sind immer verfügbar, freundlich und zuverlässig, zu allen Tag- und Nachtzeiten.

Nun hört man überall wieder auf den Straßen fröhliches Kinderlachen, lärmende Schulkinder, adrette, oft sehr hübsche, blonde Teenies bevölkern die eleganten Eiscafés und die Straßenbahnen.

Man konnte die schönen Erfolge und Fortschritte förmlich mit den Händen greifen. In den schönsten Lagen der City und Fußgänger-Zentren entstanden prächtig glitzernde Einkaufsmeilen. Beauty-Salons, HealthCare-Center und Sonnen- und Fitnessstudios ersetzten die veralteten Arztpraxen, Apotheken, und Massagepraxen. Nur der beste Service wird für den neuen perfekt gestylten modernen und gesundheitsbewussten Menschen angeboten.

Die Kaufhäuser haben sich zu richtigen Erlebnisparks für die ganze Familie gemausert, wo stolze Eltern ihren hoffnungsvollen Nachwuchs ausführen. In der Kinder- und Jugendabteilung wartet perfekt geschultes Personal für die Beratung der umfangreichen Spiele- und Computerangeboten, und ohne eine komplette Kuscheltier-Etage kommt heutzutage kein modernes Kaufhaus mehr aus. Heutzutage ist jedermann an allen Tages- und Nachtzeiten sicher.

Dieser hohe Standard gilt natürlich nur für die „entwickelten“ Stadtteile, einige andere wie Ehrenfeld, Kalk und Nippes waren nun fast entvölkert, denn wer wollte schon da leben? Natürlich niemand. Um diese verlassenen Stadtteile baute die Stadt Köln daraufhin einen umweltfreundlichen Schutzwall, und die so entstandenen „No-Go-Zonen“ existierten fortan nicht mehr auf den Stadtplänen, sie wurden einfach von der Bevölkerung vergessen.

Vor dem grünen schönen Wall in der properen Innenstadt hat man gepflegte Beete mit kleinen Spazier- und Wanderwegen mit Bänken angelegt, auf denen im feinsten Sonntagsstaat stolze Eltern mit ihren Kindern flanieren können. Was schert sie, was auf der anderen Seite der Mauer gewesen war?

Köln 2089 – ist jetzt eine vorbildlich geführte Stadt der Onkokratie mit einer Leuchtturm-Wirkung für ganz Europa.

Ja, es war ein langer und steiniger Weg, aber er hat sich wirklich für alle gelohnt. Die glückliche Zeitenwende zur Onkokratie wurde endlich vorbildlich vollzogen.

Die Flucht geht weiter - November 2089

Und das geschah bisher:

Marthe und der Wachmann Uwe sind auf der Flucht vor den Onko-Schergen, die sie beinahe erwischt hätten.

Im Müllwagen gelingt ihnen gerade noch die Flucht, aber nun stehen sie vor der Zitadellenmauer am Eigelstein. Ein braver Wachhund zeigt ihnen den Weg hinaus auf die andere Seite.

Zum Glück regnet es, außerdem ist es eine ziemlich finstere Gegend, in der niemand mehr unterwegs ist.

„Ich muss mich bei dir festhalten, ich kann nicht mehr,“ keucht Marthe. „Können wir nicht eine Pause machen?“

„Jetzt lieber nicht. Komm Marthe, du darfst nicht aufgeben. Hak dich einfach bei mir ein, gleich da hinten können wir uns ausruhen. Nur noch bis da oben, dann geht es bergab.“

An der Straße stehen einige verfallene Häuser und an der linken Seite sehen sie die Befestigungsmauer der Zitadelle von der anderen Seite. Hier scheint alles zu schlafen, niemand ist draußen, gibt nur einen einzigen unbewachten Eingang hinter dem Krankenhaus.

„Marthe, wir haben es geschafft, da ist der Eigelstein, der Hund hatte uns wirklich den richtigen Weg gezeigt. Da ist der Eigelstein, jetzt ist es nicht mehr weit.“

Hastig laufen sie am Rhein entlang weiter, da endlich kommt die Kirche von Sankt Kunibert in Sicht, hier können sie nach rechts abbiegen, direkt vor ihnen liegt das Marien-Krankenhaus, jetzt steht „Onko-Geburts- und Kinderhilfe“ in grellen roten Neonbuchstaben über dem hellerleuchteten Eingang.

„Komm hier entlang, eng an die Mauer, schnell, der Pförtner darf uns nicht sehen, die haben nämlich eine komplette Video-Überwachungsanlage. Erst hinter dem Krankenhaus beginnt die Zitadelle, erst da sind wir in Sicherheit, mach voran, du darfst nicht stehenbleiben.“

Das helle Neonlicht ist verschwunden, als sie um das Gebäude herumgeschlichen sind. Im Dämmerlicht erkennen sie das alte Straßenschild „Unter Krahnenbäumen“, ach ja, da hinten gab es mal eine Musikhochschule, das Gebäude existiert ja immer noch.“

„Los Marthe, weiter geht’s , hier dürfen wir nicht stehen bleiben.“

Eilig gehen sie weiter, an der Mauer drücken sich ein paar Prostituierte herum, die hier draußen völlig ungestört ihrem Gewerbe nachgehen.

Sie zucken bleiben plötzlich zusammen, direkt hinter ihnen hören sie ein seltsames Geräusch. Als sie sich erschrocken umdrehen, stehen sie direkt vor einem Rollstuhlfahrer.

“Hey, Jungs, wo wollt ihr denn hin mitten in der Nacht?“ flüstert der Fahrer kehlig.

„Ulli, Mensch, du bist das, hast du mich aber erschreckt! Wo kommst du denn auf einmal her mitten in der Nacht? Warst du mal wieder bei deinen leichten Mädchen Du bist ein richtiger Teufelskerl, wie schaffst du das bloß?

Pass bloß auf, dass dich die Schwarzen nicht erwischen und irgendwann mal einkassieren, dann ist es vorbei mit deinem Jöbchen.“ kichert Uwe belustigt.

„Das ist doch meine leichteste Übung. Und außerdem, meine Freundinnen helfen mir schon rauf und wieder runter. Ich bin doch nicht blöd, ich weiß doch genau Bescheid, was mir dann passiert, wenn die mich einkassieren. Die kriegen mich nicht, die nicht, häha, hähä!

Mann, ihr stinkt aber ziemlich eklig, habt ihr etwa in der Mülltonne übernachtet? Igitt, Hans, du hast sogar noch Salatreste auf der Hose, wo hast du dich denn herumgetrieben, wo bist du bloß gewesen?“

„Das ist eine lange Geschichte, wir mussten in einem Müllwagen abhauen, das ist doch kein Wunder, oder?“ sagt Uwe und zupft sich auch am Ärmel irgendetwas grünes weg, es ist tatsächlich ein glitschiges Salatblatt, wie ekelhaft.

„In einem Müllwagen? Bah, wirklich? Wie könnt ihr bloß! Haltet bloß Abstand, ihr elenden Stinker,“ ruft er und dreht sich angewidert um.

„Und nun sind wir hier gelandet. Kannst du uns vielleicht ein paar Tipps geben? Was ist jetzt los in der Zitadelle am Eigelstein?“

„Wo wollt ihr überhaupt hin?“

"Zu Willis Kneipe. Gibt es hier etwas Neues, was ich wissen müsste?“

Oh, nichts Besonderes, aber überleg dir gut, wen du da zu uns anschleppst.

Da waren nämlich heute früh zwei schwarze Spione, und die fragten so ganz beiläufig nach dir, bei Willi, im Eigelstein-Eck. Wo du jetzt wärst, was du jetzt machst und so weiter, aber außer Chris war niemand da, und der hatte zum Glück nicht so viel intus, dass er sich verplappert hätte, der hat wirklich aufgepasst und denen nichts von dir erzählt. Außerdem weiß doch keiner von uns, wo du jetzt wohnst. Wo warst du denn die ganze Zeit?“

„Was wollten die denn von mir? Was soll Chris denn schon über mich sagen können? Der Penner, der blöde Idiot. Meine Adresse werde ich nun erst recht geheim halten, die verrate ich niemandem, die kriegt keiner raus.

Also Uli, du kannst mir einen Gefallen tun und schon mal vorflitzen und Willi und den anderen Bescheid sagen, dass wir zu zweit kommen und seine Hilfe brauchen? Dass wir ziemlich stinken und auch neue Klamotten brauchen. Fahr los, aber pass bloß auf. Wenn die dich kriegen, dann…. “

„Also dann, ich sag Willi schon mal Bescheid und checke die Lage! Ihr könntet aber ruhig mal einen Schritt zulegen, hier ist es nicht ganz ungefährlich.

Ach so, ihr wisst das neue Kennwort ja noch nicht. „Daisy kommt heute zu mir.“ Musst du dir gut merken, sonst lassen die dich nämlich nicht rein.“ Hören sie gerade noch und sein Rollstuhl verschwindet in der Dunkelheit genauso schnell und lautlos, wie er herangekommen war.

„Oh Mann, so ein blödes Kennwort, das muss ich mir wirklich merken, wer hat sich sowas bloß ausgedacht? „Daisy kommt heute zu mir.“ So, Marthe, kommt mal weiter, sonst kommen wir ja nie mehr an. Warum ist es bloß so pissdunkel?“

„Parole?“ flüstert es plötzlich aus einem Treppenabgang neben der langen Mauer heraus. Sie zucken entsetzt zusammen, aber Uwe pfeift zweimal leise und flüstert dann: „Daisy kommt heute zu mir.“

„O.k.“ Der Schatten verschwindet wieder lautlos im Treppenabgang.

„Wer war das, etwa eine Wache?“ flüstert Marthe erschrocken.

„Ja, klar, aber diese Wachen gehören zu unseren eigenen Leuten, die lassen keinen Fremden in die Zitadelle Eigelstein, besonders nicht nachts. Kommt mal weiter, hinter der Mauer ist es nicht mehr sehr weit.“

Sie stolpern im Düstern durch die Straße voller Schlaglöcher, draußen gibt es kaum Straßenlaternen, nur in wenigen Häusern ist Licht zu sehen. Ab und zu schleicht eine dunkle Gestalt an ihnen vorbei, guckt beiläufig, biegt ab und ist irgendwo wieder in der Dunkelheit verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.

Dann stehen sie vor einer riesigen Straßenschneise, das war früher mal die „Nord-Süd-Fahrt“, jetzt rasen hier keine Autos mehr so wie früher vorbei, und Marthe denkt an die vielen bunten Autos und den brausenden Verkehr von damals, aber das ist alles schon lange vorbei. Private Autos gibt es ja nicht mehr.

„Siehst du eine schwarze Karre? Nein, los, schnell rüber, kommt weiter.“ Hastig überqueren sie die breite Asphaltstraße und erreichen die Eigelstein-Seite. Sie gehen noch ein paar Schritte die Straße hoch, da entdecken sie eine schummerige Lichtwerbung, da ist die Kneipe „Eigelstein-Eck“.

In Willis Kneipe am Eigelstein

„Los, Marthe, komm rein, wir haben es geschafft!“ ruft Uwe erleichtert, „Rein mit dir in die gute Stube!“

Als sie die knarrende Schwingtür aufstoßen, dringt ihnen ein Schwall von Zigarettendunst und Heizung entgegen, untermischt vom halberstickten Bass-Getöse der Musikbox.

„N’ Abend, Willi, gibts was Neues?“ fragt Uli laut und schaut sich vorsichtig um.

Der Wirt guckt misstrauisch hinter seinem Tresen her, die Kneipe ist nicht sehr voll, hinten sitzen vier Personen und spielen Skat, an einem einzelnen Tisch sitzt eine alte Dame mit einem undefinierbaren Hund, sie gucken neugierig herüber und zwei stark geschminkte „Damen“ stehen dösend mit einem Kaffee am Tresen.

„Ja, ja, Uwe, hier war gerade mal wieder mal der Teufel los, wie üblich!“ knurrte Willi. „Da waren mal wieder zwei Schwarzfüße da, die suchten dich und die wollten mir ein Loch in den Bauch fragen.“

„Was wollen die denn jetzt noch von mir? Die haben doch schon mein ganzes Leben kaputtgemacht,“ sagt Uwe böse, und dann zu Marthe gewendet: „Setz dich erst mal hier an den Tisch, was willst du trinken?

Und dann fragt er leise den Wirt: „Hast du denn nicht rausgekriegt, was die von mir wollten?“

„Ja, die suchten dich mal wieder und fragten, ob du etwas gesehen hättest.

Aber wen bringst du uns da mit angeschleppt? Hast du denn gar keine Angst, dass das eine Spionin ist? Kannst du der auch wirklich vertrauen? Hast du nicht schon genug Ärger gehabt, Uwe?“ fragt Willi und poliert seelenruhig ein paar Gläser.

„Mach dir mal keine Sorgen um die, ich weiß schon genau, was ich tu und wem ich vertrauen darf. Das ist Marthe, die habe ich gestern Abend unten am Rhein gefunden! Wir sind gestern und heute in unserer Siedlung in Deutz gewesen, und dann mussten wir heute Mittag mit dem Müllwagen abhauen!“

„Soso, gefunden, so nennt man das heutzutage, aber ich kann mir bestimmt schon denken, was es wirklich gewesen war, es ist doch immer dasselbe, die machen Jagd auf Alte!

Also los, setze dich mal hier hin. Was kriegst du? Ein Kölsch und einen Kabänes zum Aufwärmen? Gut, bringe ich dir sofort! Du kannst doch bar bezahlen, oder? Anschreiben tu ich nämlich nichts mehr, denn ich kenne dich nämlich noch gar nicht!“

„Natürlich kann ich bar bezahlen, das ist doch kein Thema!“ sagt Marthe laut und guckt den Wirt herausfordernd an. „ich bin doch kein Bettler, wenn ich im Moment zwar auch so aussehe! Ich kann alles sofort bezahlen!

Und außerdem, kann man hier auch etwas essen? Ich habe nämlich ziemlichen Hunger.“

„Ein paar Mettbrötchen sind noch da, nimm sie dir ruhig, aber mehr ist im Moment nicht da!“ sagt Willi gutmütig und schiebt ihr den ganzen Teller mit Mettbrötchen hin.

Marthe wundert sich, dass sie trotz Rhondas Festmahl am Mittag schon wieder hungrig ist, dann trinkt sie ein Kölsch, ein zweites, und dazu genehmigt sie sich noch einen zweiten Kabänes.

Endlich ist sie satt und erwartungsvoll guckt sie sich um, aber neben ihr sitzt niemand mehr, sogar die alte Dame mit dem Hündchen hat sich in eine andere Ecke verzogen.

„Ich weiß ja, es klingt unhöflich, aber du stinkst zum Himmel, einige Gäste haben sich schon über dich beschwert. Kein Wunder, wenn du auch im Müllauto gesteckt hattest. Kommt mal mit nach hinten, du musst dich erst mal waschen und neue Klamotten brauchst du auch.“

„Ach ja, das wäre wunderschön. Aber Sie müssen das wirklich nicht umsonst für mich tun, ich kann Ihnen alles bezahlen. Ich bin wirklich kein Penner, sondern ein ganz normaler Mensch.“

„Papperlapapp, das weiß ich doch. Jetzt in dieser Zeit müssen wir doch alle zusammenhalten. He, Lothar, kannst du mich kurz vertreten? Ich bin gleich wieder da, ich muss nur die Stinkerdame mal gerade wegbringen. Du kannst dir ruhig was einschenken, kein Problem, du kennst dich ja aus.

Los, dann komm mal mit ins Bad ,hier geht es die Treppe rauf in die Wohnung meiner Mutter. Wir dürfen aber kein Licht anmachen, Strom und Gas sind abgeschaltet, du kannst leider nur kalt duschen, aber ich kann dir ein paar Kerzen hinstellen. Gleich besorge ich dir noch Handtücher und Klamotten, ich glaube, dass ich sogar noch irgendwo Kleider von meiner Mutter habe, die sind zwar etwas altmodisch, aber die dürften dir wohl passen. Das dauert aber ein bisschen.“

„Vielen Dank, vielen Dank,“ stammelt Marte ergriffen, „ich werde…“

„Ja, ja, ist schon gut, ich geh mal vor, hier geht es die Treppe rauf, ich schließe mal auf. So, da ist es, also rein mit dir. Eine Sekunde, bleibt mal gerade auf dem Flur stehen, ich hole ein paar Kerzen aus dem Nebenzimmer, sonst siehst du ja gar nichts hier drinnen. Und die Klamotten lege ich dir gleich hinterher vor die Tür.“

Als er im Schlafzimmer draußen herumkramt, hält er erschrocken inne. „In was für einer Welt leben wir eigentlich? Du liebe Zeit, wenn die Onko-Regierung schon solche Omas verfolgen, wie soll das bloß noch weitergehen? Der Frau muss er einfach helfen, die darf doch nicht unter die Räder kommen….

Er betritt entschlossen das Badezimmer, zündet die Kerzen an und klebt sie mit heißem Wachs auf das Waschbecken.

„So, jetzt kannst du reinkommen, aber denk dran, die Kerzen hinterher alle auszumachen, sonst brennt es hier noch. Alles ist für dich da, Shampoo und Seife, schrubb dich richtig gut ab, du Stinker. Klamotten liegen im Schlafzimmer, hoffentlich passt dir etwas davon.“

„Danke, danke, ich tue mein Bestes. Mann, bin ich froh, diesen furchtbaren Gestank loszuwerden. Ach wie schön, endlich mal wieder sauber zu werden.“ ruft Marthe glücklich und zerrt sich augenblicklich ihre stinkenden Kleider vom Leib, die wirft sie einfach in die nächste Ecke.

„Igitt, sogar meine Haare stinken fürchterlich nach Fisch. Oh, das Wasser ist ja wirklich eiskalt, aber da ist Seife und Shampoo, es muss auch so gehen,“ ruft Marthe bibbernd und tanzt unter dem Duschstrahl herum, dass es nur so spritzt.

Nach dem Müllauto-Transport ist die Dusche wirklich notwendig! Schade, dass niemand ihr den Rücken schrubben kann.

So, der Dreck ist jetzt endlich runter. Oh, da ist ein dickes Handtuch zum Abtrocknen. Ach, der gute Willi, das ist ein guter Mensch. Dankbar rubbelt sie sich ab, bis ihre Haut krebsrot geworden ist. Gott, bin ich froh, wieder sauber zu sein.

Mit ein paar Schritten steht sie im Schlafzimmer. Neugierig steckt sie den Kopf aus der Tür. Mal gucken, was Willi mir da für Sachen rausgelegt hat.

Meine dreckigen Klamotten lasse ich einfach auf dem Boden liegen, die kann man morgen bestimmt noch mal richtig durchwaschen oder lieber gleich entsorgen. Nur den Geldgürtel muss sie sich sofort wieder umschnallen.

Sie zieht sich ziemlich altmodische Unterwäsche an, dicke Wollstrümpfe und darüber ein geblümtes Wollkleid. Das sind ja richtige Oma-Klamotten, für das erste muss es gehen, später wird sie sich dann ihre eigenen Jeans wieder waschen können. Dafür ist alles jetzt schön warm.

Gerade, als sie die Kerzen löscht, hört sie ein Klopfen an der Tür, gleichzeitig knirscht der Schlüssel im Schloss. Das wird wohl Willi sein. Die Tür öffnet sich leise und Willis dicker Kopf schiebt sich um die Ecke.

„Na, du Dreckspatz, bist du endlich sauber geworden? Ja, ich rieche es schon, so, jetzt siehst du schon ein viel besser aus. Lasst die Kerzen ruhig brennen, Uwe muss ja auch noch sauber werden.

Im Schlafzimmer steht ein Waschkorb, da kannst du deine alten Klamotten reinwerfen, sonst stinken sie hier alles voll. So, dann komm mal mit, ich wollte dich nämlich gerade zum Abendessen abholen kommen.”

“Abendessen, mein Gott, richtiges Abendessen, was für ein wunderbares Wort. Was gibt es denn gutes?”

„Jo, bloß Schnitzel mit Fritten,“ brummt Willi verlegen. Diese Marthe erinnert ihn plötzlich fatal an seine Mutter, außerdem hat sie fast genauso die gleiche Stimme.

Er schluckt, denn jetzt merkt er erst, wie sehr er seine Mama vermisst hatte. „Hier entlang, am großen Ecktisch habe ich für dich gedeckt, alles wird kalt, wenn ihr du dich nicht beeilst. Uwe hat schon gegessen.“

„Ach, Willi, du bist so gut zu uns. Danke für alles. Ich habe schon wieder einen Bärenhunger und könnte ein ganzes Schwein aufessen.“

Gemütlich lässt sie sich am Ecktisch nieder, spachtelt die schon etwas kalten Fritten und das ziemlich heiße Schnitzel mit Ketchup. Im Nu hat sie ihre Portionen verputzt und Willi spendiert ihr zum Nachtisch eine Runde Schokoladenpudding aus dem Becher.

„Na, bist du auch richtig sattgeworden? Wartet mal, jetzt gibt es noch ein Kölsch und zur Verdauung einen Kabänes und dann bist du zufrieden, oder?“

„Klar Willi, vielen Dank, das Essen war genau das richtige für meinen Hunger. Morgen werde ich dir alles bezahlen.“

„Quatsch mit Soße, bleib ruhig noch ein bisschen hier sitzen. Gleich werfe ich die ganze Bagage raus, und dann haben wir genug Zeit, über alles zu reden. Also bis gleich.“

„Mach dir keine Sorgen, bring mir ruhig noch was zu trinken, ich komme schon allein zurecht.“

Willi verzieht sich hinter die Theke und endlich findet Marthe Zeit und Muße, sich ein bisschen umzusehen.

In der Kneipe ist es inzwischen voll geworden, die Gäste hocken im Zigarettenqualm an ihren Holztischen und trinken ein Kölsch nach dem anderen. Einige stehen dichtgedrängt an der Theke oder lehnen an der gelbgetünchten Wand, die Willi in einem Anfall von verschönerndem Ehrgeiz mit Märchenmotiven dekoriert hatte.

Am Nebentisch kauert ein Trupp Arbeiter mit schmierigen Pudelmützen über den Stierschädeln, ihre Overalls sind über und über mit Öl und Lack besudelt, vor ihnen stehen Kölschgläser und Teller mit riesigen Koteletts.

Von der Theke dringt das schrille Gelächter zweier Transvestiten, bebrillt und dürr der eine, feist und beweglich der andere.

Drei bärtige Männer sitzen am Tisch daneben schlürften Ouzo aus milchigen Gläsern und teilten sich eine kommunistische Zeitung, neben Hammer und Sichel steht die Überschrift „Saloniki“ fett in griechischen Buchstaben.

Etwas weiter entfernt sitzt eine alte Frau, unter dem Tisch hat sie ihre gelbe, muskulöse Dogge an einem Heizungsrohr festgebunden. Zufrieden, winzig und geizig schlürft sie in kleinen Schlucken ihren mit viel Zucker gesüßten Tee, und dieses Teetässchen scheint einfach nie leer zu werden.

Am Ecktisch neben den Toiletten sitzt breit, schwer und grinsend ein Möchtegern-Zuhälter. Neben ihm kauert ganz verschüchtert eine wunderzarte winzig kleine Asiatin mit exotischem Gesichtsschnitt, die er gerade allen Anwesenden als neuestes „Pferdchen“ vorgestellt hatte.

Alles grölt, lacht, und einer versucht sogar, das Mädchen plump anzupacken. Aber es weicht immer wieder verlegen den schmutzigen Pranken aus. Der Zuhälter hat seine schwarze Pudelhündin am Tischbein angeleint, deren heiseres, nervöses Jaulen in dem ganzen Getöse untergeht.

Dies ist wohl ein ganz normaler Abend im Eigelstein-Eck. Verfrorene Huren vom nahegelegenen Straßenstrich pausieren mit einem Kaffeetässchen zwischen zwei Kunden am Tresen, dazu noch Arbeitslose und Schieber, obskure Musiker, Maler und erschöpfte Taxifahrer, Buddhistinnen, Hafenarbeiter und Studenten.

Sie alle kommen, um sich etwas aufzuwärmen, um zu feiern und zu vergessen, um sich zu betrinken, bevor Traurigkeit und Einsamkeit jeden von ihnen später wieder in Beschlag nehmen würde.

Endlich ist auch Uwe sauber geworden und bringt eine Wolke Wohlgerüche mit an ihren Tisch. „Setz dich Uwe, wir haben dir ein Schnitzelchen übriggelassen, die Pommes waren sowieso schon kalt geworden. Hier ist ja echt was los. Ich war schon seit Ewigkeiten in keiner Kneipe mehr.“

„Nichts für ungut, Kumpel, danke für das Schnitzel. So, ich muss jetzt noch mal weg, du kannst ja bei Willi bleiben, ich habe schon alles mit ihm besprochen, hier bist du erst mal in Sicherheit! Ich komme morgen mal wieder nach dir gucken. Gute Nacht.“

„Uwe, mach es gut, ich danke dir so sehr für alles,“ sagt Marthe und will ihm gerade die Hand drücken, aber Uwe hat sich aber schon unwirsch umgedreht, seine speckige Mütze aufgesetzt und sich die uralte Lederjacke übergeworfen. Mit ein paar Schritten ist er durch die Tür verschwunden.

„Mensch, wenn ich den nicht gehabt hätte,“ murmelt Marthe und guckt sich erschrocken um, ob ihr auch keiner zugehört hat.

„Hallo Leute, ich gebe einen aus, denn ich habe heut meinen Glückstag. Ich habe nämlich die Branche gewechselt und jetzt hab ich was richtig Solides:

Ich habe letzte Woche in ein Flugticket nach Bangkok investiert und dort mein neues Pferdchen aufgegabelt, da hinten am Tisch, das ist Sengfeng. Guck mal, was die Puppe Eindruck schindet, und diese Investition soll sich endlich mal auszahlen. Und darum gebe ich euch jetzt eine Runde aus!“

„Mann Kaufhold, eh, wie hast du das denn geschafft, dass die ausgerechnet mit dir einfach so von Bangkok mitkommt? Hast du der die Ehe versprochen oder was?“

„Heiraten, spinnst du. Ich habe der einen tollen Sekretärinnen-Job in Köln angeboten, das war natürlich eine faustdicke Lüge. Und stell dir mal vor, nach vier Wochen Urlaub kam sie einfach mit nach Deutschland, ohne Visum und heute Mittag sind wir mit dem Flieger angekommen, alles total easy, ganz ohne Probleme beim Zoll.

Die hat sogar in der Zwischenzeit richtiges Deutsch gelernt, aber jetzt faselt die andauernd von einem sauberen Büro mit Topfpflanzen auf der Fensterbank. Die träumt glatt von einer tollen Zukunft mit einer eigenen Wohnung, und dass sie bald ihren kleinen Geschwistern in Bangkok viel Geld schicken würde. Das geht mir eben gerade ziemlich auf die Nerven.“

„Mann, so eine tolle Frau, meinst du, die könnte ich mir auch mal…“

„Klar, aber nur, wenn du genug Kohle hinblättern kannst.

Aber zuerst muss ich ihr in ziemlich schmucklosen Worten klar machen, dass sie den ganzen Sekretärinnen-Quatsch vergessen kann.

Die soll sie sich erst mal amortisieren, denn der Flug war ja auch nicht gerade billig. Die muss doch kapieren, dass ein paar deutsche Freier viel mehr einbringen als die blöde Sekretärinnen-Arbeit.

Und ihren Verwandten kann sie später ja ruhig so viel Geld schicken wie sie will, denn alle Kohle nehme ich ihr doch nicht ab, ich bin doch schließlich kein Unmensch. Wir werden schon gut zurechtkommen, wir beide.“

„Oooo, ob das mal gutgeht? Hast du denn keinen Schiss vor den Bullen? Und was ist, wenn die auf das Mädel aufmerksam werden und sie einkassieren? Die fällt doch auf und schließlich werden hier so langsam alle Ausländer in ihre Heimat zurückgeschickt.“

„Ich habe ihr eben ganz klar gesagt, dass ich sie einfangen und ins Gefängnis sperren lassen werde, wenn sie sich weigert oder wegläuft. Schließlich schuldet sie mir inzwischen eine Menge Geld. Aber erst mal muss ich aufs Klo,“ sagt er und grinst siegesbewusst nach allen Seiten.

Sengfeng dagegen scheint sich wohl nicht besonders glücklich zu fühlen. Sie sitzt zart und zierlich am Tischchen in ihrem besten viel zu dünnen grünseidenen Kleid, das sie sich extra für die Reise gekauft hatte. Auf diese Kälte in Deutschland war sie wohl nicht gefasst gewesen.

Sie lächelt starr, ihre wahren Gedanken sind zwar nicht in ihrem Gesicht abzulesen, aber sie nippt sichtlich erschüttert am Apfelsaft und muss ab und zu ein Zittern unterdrücken.

Als Kaufholt wieder die Toilette verlässt, beobachtet er Sengfeng aus den Augenwinkeln heraus, und das, was er da gerade sieht, gefällt ihm überhaupt nicht. Eine fremde alte Frau hat sich an ihren Tisch gesetzt und sein Pudel kriecht auch noch schwanzwedelnd auf die zu, diese treulose Töle, der muss er mal Anstand beibringen!

Hastig stößt er Charlie zur Seite, der ihm gerade mit einem zweiten Kölsch zuprosten will, und stürmt mit weiten Schritten auf seinen Tisch zu. „Was machen Sie da, weg von meinem Tisch, verpiss dich, Oma, aber ein bisschen plötzlich! Und du Misttöle, runter unter den Tisch, sofort!“ grölt er laut und versetzt dem armen Pudel einen Hieb mit der Leine, dass er jaulend zurückfährt und sich mit eingezogenem Schwanz verängstigt unter den Tisch drückt.

„Ich denke mal, der Kleinen ist es ein bisschen zu kalt hier in ihrem dünnen Seidenkleid, sie wird sich bestimmt erkälten. Hat sie denn keinen Mantel dabei? Und wieso schlagen Sie den armen Hund so, das ist ja eine Unverschämtheit, das arme Tier kann sich doch gar nicht wehren!“ sagt Marthe entschlossen und laut und guckt ihn kalt an.

„Das geht dich gar nichts an, und wenn du nicht sofort die Schnauze hältst, werde ich dich sofort verpfeifen, dann wirst du nämlich gleich einkassiert, das geht ganz schnell, Omalein, du hast mir hier gar nichts zu sagen, hörst du, gar nichts! Los, hopp, mach dich vom Acker, weg da, das ist mein Platz.“

Willi ist sofort aufgesprungen und hat sich schützend zwischen die beiden Parteien gestellt. „Langsam, Kaufhold, ganz langsam, wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen schmeißen, das weißt du ganz genau.

Und was die schwarzen Sheriffs dann mit dir machen, wenn wir denen gleich mal was von deinem Täubchen hier erzählen, dafür kriegst du bestimmt fünf Jahre verschärften Knast mit allem, was dazugehört.“

„Ich kann mich auch selbst verteidigen, so ist das nicht,“ sagt Marthe kampfbereit, so ein dämlicher Zuhälter hat ihr gar nichts zu sagen.

„Bleib mal ganz ruhig, Marthe, der kann dir gar nichts tun. Wir sitzen alle hier in einem Boot, mein Lieber, das weißt du ganz genau. Marthe steht unter meinem persönlichen Schutz, hörst du. Auf jeden Fall gehört sie jetzt zu uns.

Man wollte sie, ...ihr wisst schon, einfach mal eben so um die Ecke bringen, sie ist schließlich nicht mehr die Jüngste. Mach dich also nicht unbeliebt und sei friedlich, mein Lieber, sonst fliegst du gleich achtkantig raus.“

„Mann, Willi, diese Olle ist uns doch bloß ein Klotz am Bein, die bringt dir doch nichts und die fällt doch sofort auf mit ihren grauen Haaren. Komm, schick die schnell wieder weg, mit der kriegen wir doch nur Probleme!“

„Damit du es genau weißt, mein lieber, hier in meiner Kneipe bestimme ich allein, und die Frau hier ist mein Gast. Du bist hier bei mir bloß geduldet, du hast nämlich Schulden, pass bloß auf, dass du nicht gleich achtkantig rausfliegst.“ meint Willi und macht einen Schritt auf Charlie zu, um ihn kurz am Hemd anzufassen, der zieht aber schnell den Kopf ein und duckt sich.

„Bist du noch gar nicht müde? Ich geh mal eben nach oben was erledigen. Lothar, pass noch mal auf die Theke auf, und schenk ihr noch einen Kabänes ein. Nimm dir auch einen. Also bis gleich.“

Lothar nickt kurz und bezieht seinen Platz hinter dem Tresen. „Na, denn Prost, Oma,“

„Sag bloß nicht immer Oma zu mir, ich habe einen richtigen Namen, ich heiße Marthe! Warum sagt jeder einfach so Oma zu mir ?“

„Tschuldigung, aber ich wusste deinen Namen doch gar nicht, das meinte ich doch nicht so!“ und dann nach fragt er nach einer kleinen Weile: „Los, erzählt mal, was dir passiert ist! Wo kommst du her, bist du aus Köln?“

Marthe will gerade loslegen und etwas erzählen, als Willi wieder in der Kneipe erscheint.

„So, jetzt komm mal mit mir, ich bringe dich in Mamas alte Wohnung, die liegt direkt über der Kneipe. Dort hat zwar schon lange keiner mehr gewohnt, der Strom ist abgestellt, das Gas auch, aber das Wasser läuft, das Klo funktioniert auch, das weißt du ja noch von eben. Ein paar Kerzen habe ich noch irgendwo in der Küche, tja, und etwas kalt ist es auch da oben, aber was will man machen?“

„Mensch, Willi, Hauptsache ist doch, dass ich hier bei dir in Sicherheit bin, und ich danke dir für alles, ich bin so froh, dass ich hier in Sicherheit bin.“ Marthe laufen die Tränen herunter, sie weint, das war doch wohl zu viel für sie heute.

„Los, jetzt, komm endlich mit rauf, und hört bloß mit der Flennerei auf, das vertrage ich nämlich nicht, das bringt ja auch nichts. “ brummt er unwirsch. „So, jetzt geht es ab in die Falle, das war sicher ein langer Tag für dich.“

„Danke, Willi, komm und lass dich mal umarmen, ich möchte dir einen Kuss geben. Du hast mich gerettet, und ich muss nicht da draußen in der Kälte auf der Straße rumliegen.“

„Ich, wieso ich, Uwe hat euch doch gerettet, ich verstecke euch doch bloß,“ meint Willi abwehrend, aber er ist trotzdem irgendwie über diese Geste sehr gerührt. Sein letzter Kuss ist Ewigkeiten her und das soll wohl auch so bleiben.

„Los, du gehörst ins Bett, du musst mal richtig ausschlafen. Morgen früh komme ich dich zum Frühstück abholen. Du wartest aber so lange hier oben und gehst nicht einfach so raus, verstanden?“

„Klar, Willi, ich will dir doch keine Schwierigkeiten machen.“

Wieder steigt sie die knarrende Holztreppe nach oben, Willi holt ein großes Schlüsselbund hervor und schließt eine schwere Eichentür auf. „Los, komm rein, ich mache dir zuerst im Flur eine Kerze an. Aber pass bloß auf, dass nichts abbrennt. Hier links ist das Bad, da drin warst du ja vorhin schon gewesen. Rechts ist die Küche, da hinten ist das Schlafzimmer, und vorne ist das Wohnzimmer. Wartet mal, ich muss erst mal die Vorhänge zuziehen, denn das Fenster geht zur Straße raus, da darf man kein Licht sehen.

Am besten gehst du gleich ins Schlafzimmer. Die Betten sind zwar nicht gelüftet, aber da im Schrank müsste noch genug Bettzeug sein. Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, ich habe mich nicht aufraffen können, alles wegzuräumen, also bis morgen früh, gute Nacht, schlaf gut,“ murmelt Willi, die Tür klappt und nun ist sie allein.

„Gute Nacht, mein Lieber, gute Nacht.“ flüstert Marthe dankbar, aber das hört er schon nicht mehr.

„Ich habe es tatsächlich geschafft!“ flüstert Marthe begeistert, „Hier bin ich endlich in Sicherheit, hier findet mich ganz bestimmt keiner!

Ach, endlich mal ein Ründchen schlafen. Umständlich klettert sie ins altmodische und knarrende Bett, dreht sich ein bisschen hin und her und ist sofort eingeschlafen.

Marthe erwacht, als ein erster Sonnenstrahl in ihr Fenster blinzelt. Wo ist sie hier denn gelandet? Sie fühlt sich frisch und ausgeschlafen.

Vorsichtig zieht sie die Vorhänge auf, damit sie hinaussehen kann! Draußen ist so ein komisches Licht, oh, draußen liegt Schnee, wie schön. Schnee ist doch etwas Schönes, und wie still es draußen ist. Schade eigentlich, dass er hier in der Stadt nie lange liegen bleibt. Der pulvrige Neuschnee hat die Stadt in ein Bild von Unschuld und Sauberkeit verwandelt.

Oh, mein Kreuz, man wird auch nicht jünger. So, jetzt muss ich erst mal ins Bad. Das Wasser ist ja eiskalt, da muss heute eine Katzenwäsche reichen,” ruft Marthe und kommt schon nach kurzer Zeit wieder aus dem Bad gestolpert.

Ihr rechtes Bein tut ihr höllisch weh, es ist ganz dick und heiß geworden. Irgendwann mal muss sich das wohl mal ein Arzt ansehen. Aber dafür ist jetzt keine Zeit, sie muss jetzt erst mal an andere Dinge denken. Willi mich doch abholen kommen. Ach ja, der Willi ist doch ein guter Mensch, was hätte ich bloß ohne ihn getan!

Da hört sie ein Klopfen an der Tür, gleichzeitig knirscht der Schlüssel im Schloss, die Tür öffnet sich leise und Willis dicker Kopf schiebt sich um die Ecke. “Na, hast du ausgeschlafen? Ja, ich seh schon, jetzt siehst du schon viel besser aus. Das Frühstück ist fertig.”

“Frühstück, mein Gott, Frühstück, was für ein wunderbares Wort. Ein richtiges Frühstück mit Kaffee und...?”

“Jo, und Brötchen, Ei und Marmelade und einem Express. Los, beeil dich mal ein bisschen!” brummt Willi verlegen.

Marthe erinnert ihn schon wieder fatal an seine Mutter, weil sie fast die gleiche Stimme hat. „So nun komm endlich, ich habe dir den großen Ecktisch gedeckt. Und wenn gleich irgendjemand in die Kneipe reinkommt, bleib ganz ruhig und guck nicht weiter hin, lies einfach die Zeitung, ich bin ja schließlich auch noch da.“

Der Gastraum ist fast leer. Nur die ältere Frau von gestern sitzt wieder genau an demselben Tisch wie gestern mit ihrer gelben, muskulösen Dogge, deren Leine um ein Heizungsrohr geschlungen ist. Zufrieden, winzig und geizig schlürfte sie in kleinen Schlucken ihren mit viel Zucker gesüßten Tee. Vor ihr liegt ein Express und zwischendurch guckt sie verstohlen zu Marthe rüber, und als die dann freundlich zurückguckt, tut sie so, als hätte sie nichts bemerkt.

Sie lässt sich von ihr nicht stören, sie verdrückt eine Brötchenhälfte mit Butter und Marmelade und der frische Kaffee bringt sie wieder richtig in Schwung. Im Express steht außer ellenlangen Anzeigen mal wieder nur Blödsinn drin, irgendwas von neu errichteten Kindergärten, neuen Eliteschulen und ein großes Foto mit den ewigen Seniorenresidenzen auf Mallorca und den turnenden Alten.

Auf der letzten Seite findet sie in der Rubrik: Polizeireport einen Dreizeiler, der sie erschrecken lässt. „Sieh mal, Willi, da steht etwas von erwischten Ausländern, die in einer Papierladung fliehen wollten. Ach ja, das waren bestimmt unser Jorgo und seine Familie, die sie gekillt hatten.“ Betrübt will sie gerade das Stück Zeitung an Willi herüberreichen, als die Tür leise aufgeht.

Sie starrt ganz erschrocken, es kommen aber nur zwei verfrorene Huren vom Straßenstrich herein, um sich etwas aufzuwärmen. Sie setzen sich an die Theke, bestellen sich zwei Kaffee und zwei Korn, und nach fünf Minuten sind sie wieder verschwunden.

Marthe sitzt gemütlich am Ecktisch und versucht aufmerksam, den Express-Sonderanzeiger zu lesen. Ganz angeekelt blättert sie immer weiter, ihr ist schon ganz schlecht von den vielen neuen “Onko-Programmen”.

Jetzt muss man statt der alten Personalausweise immer die neuen Gen-Identifizierungskarten bei sich tragen. Und jetzt dürfen sogar schon die 60- jährigen nach Mallorca reisen. Aber das gilt nur für die ganz gesunden, man muss mit den Unterbringungs-Kapazitäten ja auskommen.

Die Onko-Rentenversicherung zahlt ja nicht allen alles, das meiste müssen die Teilnehmer selber zahlen, achthundert Euro pro Person und Woche im Luxushotel, das ist happig, das kann sich kaum jemand leisten. Du liebe Zeit, dann wäre ich schon bald pleite. Wer kann sich das denn leisten?

Das werden bestimmt nur wenige sein, denn das neue Gesundheitskonzept mit den umfangreichen Vorsorge-untersuchungen greift und die gesamten Kliniken Kölns sind inzwischen voll ausgelastet, sogar die zweite Klinikanlage Stufe IV in Knapsack ist schon zu 98 % ausgelastet, es wird sogar schon über eine dritte Ausbaustufe verhandelt.

Das sind ja die reinsten Horror-Nachrichten. Vorsorgeuntersuchungen, dass ich nicht lache. Bei denen geht es sowieso doch nur um Vernichtungsprogramme! Das habe ich doch alles selber erlebt, oder etwa nicht? Aber wie soll es bloß mit mir weitergehen? Welches Glück, dass sie bei Willi erst mal sicher ist.

Und auf der letzten Seite werden die verdienten Mitglieder der neuen Onko-Kommissionen mit Preisen ausgezeichnet, die gerade ihren 5.000 Fall bearbeitet und abgeschlossen haben! Und jeder einzelne ist mit einem großen Foto abgebildet. Da steht aber nicht, um welche Fälle es da genau ging, aber das kann sie sich schließlich denken.

Dann steht nur etwas über die neue Schulpflicht schon für Vierjährige, die neue Sonderprämie für jedes neu geborene Kind, und die Preisverleihung für die Mütter, die das 5. Kind geboren haben. Der Staat übernimmt für dieses Kind die Patenschaft. Ach, es ist immer dasselbe, das ist doch alles gelogen.

Diese Onko-Regierung hat alles fest im Griff, und deren Politik wird mir immer klarer. Junge Leute, Mütter und Kinder werden bevorzugt, Alte, Kranke und alle anderen werden als Kostenfaktoren gnadenlos ausgegrenzt und vernichtet. So weit sind wir also schon mit unserer Politik gekommen, Verbrecher sind das alle, richtige Verbrecher. Aber die kriegen mich nicht, die nicht…“

Und ganz unten wurden sogar die beiden schwarzen Sheriffs mit der Fangprämie und einem Orden ausgezeichnet, die ihre griechischen Freunde gestellt hatten. Die grinsen wie die Schimpansen in die Kamera, diese fiesen Quadratschädel.

Plötzlich geht die Tür auf und Kaufhold erscheint mit seiner Asiatin, sie bringen einen Schwall kalter Luft herein. Sie trägt immer noch ihr dunkelgrünes Seidenkleid, um den Hals hat sie sich einen winzig kleinen goldenen Schal geschlungen, sie zittert vor Kälte und sieht total unglücklich aus. Er hat seine Hand besitzergreifend fest um ihr Handgelenk gelegt, so dass sie nicht wegkann.

Mit der linken Hand zerrt er seinen hässlichen Pudel an der Leine hinter sich her, und so geht energisch auf den Tisch in der Ecke zu, wo er schon gestern gesessen hatte. Den Pudel bindet er wieder am Heizungsrohr an. Das Mädchen sinkt ergeben auf den Stuhl, zitternd schlingt sie die Arme um sich.

“Ein Kölsch, ein Apfelsaft, Willi!” schreit er durch den Raum und zu Marthe gerichtet, sagt er laut und böse: „Na, du Alte bist ja immer noch da.”

Marthe guckt ihn herausfordernd an: “Na und?” Dann fällt ihr Blick auf das zitternde unglückliche Mädchen. “Wie geht es dir heute?” fragt sie laut in den Raum hinein.

Sengfeng guckt fragend auf, dann erscheint ein kurzes Lächeln auf ihrem Gesicht und verschwindet sofort wieder wie ausgeknipst, sie sagt aber kein Wort.

Marthe kann sich den Rest selber denken, dem armen Mädchen hier geht es bestimmt nicht allzu gut. Sie muss irgendetwas unternehmen, aber was nur?

Kaufhold grinst siegesbewusst und geht breitbeinig zur Theke. „Na Willi, alles klar? Was machen die Geschäfte? Heute werde ich endlich mal meinem Pferdchen seinen Willen brechen, sonst wird es mir noch zu frech! Wozu ist die denn schließlich da, die Prinzessin? Der werde ich es schon zeigen! Gleich ist sie dran, jawohl!” sagt er und lümmelt sich an die Theke und guckt Willi herausfordernd an.

„Immer langsam mit den jungen Pferden,” meint Willi bedächtig und guckt Kaufhold ruhig an. Ihm tut das Mädchen sehr leid, es ist so zart und zerbrechlich und die muss ausgerechnet so einem Schwein in die Hände fallen.

Aber was soll er gegen diesen Kleinverbrecher unternehmen, der ist schließlich ein freier Mensch. Und er kann nicht die ganze bedrohte Menschheit retten und jedem helfen, der zu ihm kommt. Aber eines Tages wird ihm bestimmt etwas einfallen, ihr zu helfen, nur jetzt kann er gar nichts tun, nur abwarten. Vielleicht ergibt sich ja irgendwas.“

„Nicht gut! Mir ist so kalt und nichts Warmes zum Anziehen,” flüstert Sengfeng zu Marthe hin mit weit aufgerissenen Augen. „Ich habe solche Angst vor ihm, ich will wieder nach Hause, weg von hier! Dieser Mann ist ein Schwein, warum bin ich mit ihm gegangen, warum habe ich ihm geglaubt? Ich wollte ehrlich arbeiten, aber nicht sowas, nein, sowas nicht. Er hat mich gestern geschlagen, mein Arm ist blau, er ist so brutal und so schrecklich kalt.”

„Ich werde dir ganz bestimmt helfen, bleib ganz ruhig, geh einfach erst mal auf das ein, was er will. Guck mal woanders hin, ich sage dir gleich noch etwas. Warte, jetzt guckt er gerade her!” flüstert Marthe.

Gerade, als sich Kaufhold wieder zu Willi beugt und auf ihn einredet, flüstert Marthe hastig weiter: „Ich habe eine Idee, wie du jetzt gleich abhauen kannst. Geh zur Damen-Toilette, die hat ein kleines Fenster und es ist immer offen. Unter dem Waschbecken steht ein Eimer, den drehst du um, da steigst du drauf und kletterst einfach durch das Fenster nach draußen.

Lauf einfach am Rhein entlang und versteck dich irgendwo in der Altstadt. Und wenn es dunkel ist, kommst du einfach wieder zurück zur Kneipe. Wir werden dir weiterhelfen, Willi hat bestimmt eine Idee, ich werde ihm gleich Bescheid sagen.“

„Ich weiß nicht, mir ist so kalt…..“

„Hier, nimm erst mal meine Strickjacke, du musst ja richtig frieren, du Arme, los, nun nimm sie endlich und zieh sie an. Warte gerade mal, er guckt schon wieder rüber. So, jetzt guckt er wieder weg.

Los, versuch dein Glück, mach aber schnell und beeil dich! Hier sind noch ein paar Scheine, pack sie schnell ein, jetzt zier dich doch nicht. Und wenn er gleich wieder wegguckt, gehst du einfach zur Toilette, aber ganz langsam, es darf keinem auffallen, dass du es eilig hast.”

„Ich habe aber Angst, wie….“

„In Ihrer Heimat muss es jetzt aber sehr warm sein, und direkt aus Bangkok kommen Sie? Ja, ja, Köln ist ja eine Weltstadt, da gibt es so viel zu sehen. Waren Sie schon im Römisch-Germanischen Museum? Nein, das sollten Sie sich aber ansehen, und dann noch die vielen romanischen Kirchen und den Dom, einfach gigantisch!

Aber Sie wissen ja, dass Sie als Touristin immer Ihren Reisepass dabeihaben müssen, ohne den dürfen sie nie rumlaufen. Ihnen könnte ja sonst was zustoßen, aber Sie sind ja in allerbester Gesellschaft, da brauche ich Ihnen ja gar nichts mehr zu sagen,” plappert Marthe laut und ziemlich unbekümmert mit einem Seitenblick auf Kaufhold.

Aber der hört inzwischen gar nicht mehr hin und quatscht ununterbrochen auf Willi ein.

Sengfeng sieht sich vorsichtig nach allen Seiten um, dann steht sie auf und trippelt zur Toilette, nur Marthe schaut ihr nach. „Das arme Mädel,“ denkt sie nur, in was für eine furchtbare Lage ist die geraten?“

Erst nach einiger Zeit dreht sich Kaufhold wieder nach Sengfeng um. Was er da sieht, gefällt ihm nicht, der Tisch ist leer und Sengfeng ist weg. Er kommt drohend ganz nahe auf sie zu und zischt Marthe an: “Wieso ist sie weg, wo ist sie hin? Was hast du mit ihr gemacht? Ich bringe dich um, ich kille dich auf der Stelle, wenn du es mir nicht sofort sagst!”

“Langsam, Kaufhold, langsam,” ruft Willi von der Theke her, “lass die Frau mal zufrieden, sonst kriegst du es mit mir zu tun! Deine Schöne ist mal eben zum Klo gegangen, mein Gott, mach doch nicht so einen Aufstand! Wo soll die denn sonst hingegangen sein, wenn nicht auf das Klo?”

Ja, Sengfeng war lächelnd, still und zierlich zu den Toiletten verschwunden. Die lagen im Erdgeschoß, ein kleines quadratisches Fenster steht im Damen-Klo offen, genau wie es Marthe gesagt hatte.

Da war auch der Eimer unter dem Waschbecken, mit dem war sie blitzschnell hinaufgeklettert und durchs Fenster gekrabbelt. Dabei hat sie sich den Oberschenkel aufgerissen, es blutet ein bisschen, aber das ist ihr vollkommen egal.

Auf zerrissenen Strümpfen rennt sie los, ihre Schühchen trägt sie in der Hand. Zum Glück hatte sie Marthes Wolljacke an, sonst würde sie jetzt hier draußen erfrieren.

Kaufhold rennt fluchend in die Damentoilette und hat sofort den umgestülpten Eimer am offenen Fenster entdeckt. Er stürmt wieder in den Gastraum, zerrt seinen Pudel durch die Tür und verschwindet durch die winterlich glitzernde Stadt. Auf dem Pflaster im Hinterhof sieht er ein paar kleine Blutstropfen von Sengfeng, aber ihre Spur verliert sich schnell.

„Diese Schlampe, einfach so ab zuhauen,“ flucht er, aber sein Pferdchen ist weg, einfach wie vom Erdboden verschluckt. Sofort kommt er wutschnaubend wieder in die Kneipe gestürmt, springt auf Marthe zu und schreit drohend: „Du hast ihr zur Flucht verholfen und dafür bringe ich dich jetzt um. Das sollst du mir büßen, ich murkse dich ab! Das lasse ich mir nicht gefallen, das nicht. Wo ist sie, du elender Bastard, du..”

Willi kommt seelenruhig hinter der Theke hervor und mit nur drei Schritten tritt er auf ihn zu. „Stopp, halt mal, Kaufhold, das hier ist meine Kneipe, und du wirst hier nicht randalieren und meine Gäste anpöbeln!” sagt Willi seelenruhig und hat ihn wie ein Kaninchen mit der Faust im Nacken gepackt.

„Lass die Frau mal schön in Ruhe, sonst wirst du hier das allerletzte Mal gewesen sein!”