Cavendon Hall – Zeiten des Verrats - Barbara Taylor Bradford - E-Book
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Cavendon Hall – Zeiten des Verrats E-Book

Barbara Taylor Bradford

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Beschreibung

Seit Jahrzehnten ist Cavendon Hall das Zuhause zweier Familien: der aristokratischen Inghams und der Swanns, die ihnen dienen. Sie leben Seite an Seite auf dem Anwesen in Yorkshire und sind verbunden durch Liebe, Freundschaft und Intrigen.

Charles Ingham, der Sechste Earl, lebt mit seiner Frau Felicity und seinen sechs Kindern in dem imposanten Herrenhaus. Lady Daphne, die schönste seiner Töchter, steht kurz davor, am Hof eingeführt zu werden. Das Leben der Inghams scheint perfekt. Doch ein verheerendes Ereignis zerstört all ihre Träume. Und nicht nur das: Der bevorstehende Erste Weltkrieg bedroht die Existenz der Bewohner von Cavendon Hall. Loyalitäten stehen auf dem Prüfstand und Verrat greift tief ins Leben ein. In dieser Zeit der Unsicherheit ist nur eines sicher: Die beiden Familien werden nie wieder die alten sein.

Cavendon Hall, die epische Saga über Geheimnisse, Liebe, Ehre und Verrat zeigt Barbara Taylor Bradford in ihrer besten Form und fesselt bis zur letzten Seite.




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Inhalt

CoverWeitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungVorwort der AutorinPersonenverzeichnisDIE HERRSCHAFTDIE INGHAMS IM JAHRE 1913IHRE KINDERWEITERE MITGLIEDER DER FAMILIE INGHAMZWISCHEN DEN WELTENDIE ZWEITE FAMILIE: DIE SWANNSDIE SWANNS IM JAHRE 1913WEITERE SWANNSDIE DIENERSCHAFTWEITERE ANGESTELLTEAUSSENARBEITERTEIL 1: DIE SCHÖNEN MÄDCHEN VON CAVENDONKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14TEIL 2: DER LETZTE SOMMERKapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41TEIL 3: EISBLUMEN AUF DER FENSTERSCHEIBEKapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50TEIL 4: STROM VON BLUTKapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56TEIL 5: EINE FRAGE DER WAHLKapitel 57Kapitel 58Kapitel 59

Weitere Titel der Autorin

Die Emma-Harte-Saga:

Des Lebens bittere Süße

Bewahrt den Traum

Und greifen nach den Sternen

Und plötzlich reißt der Himmel auf

Ein Geschenk des Schicksals

Am Ende wartet die Liebe

Über dieses Buch

Seit Jahrzehnten ist Cavendon Hall das Zuhause zweier Familien: der aristokratischen Inghams und der Swanns, die ihnen dienen. Sie leben Seite an Seite auf dem Anwesen in Yorkshire und sind verbunden durch Liebe, Freundschaft und Intrigen.

Charles Ingham, der Sechste Earl, lebt mit seiner Frau Felicity und seinen sechs Kindern in dem imposanten Herrenhaus. Lady Daphne, die schönste seiner Töchter, steht kurz davor, am Hof eingeführt zu werden. Das Leben der Inghams scheint perfekt. Doch ein verheerendes Ereignis zerstört all ihre Träume. Und nicht nur das: Der bevorstehende Erste Weltkrieg bedroht die Existenz der Bewohner von Cavendon Hall. Loyalitäten stehen auf dem Prüfstand und Verrat greift tief ins Leben ein. In dieser Zeit der Unsicherheit ist nur eines sicher: Die beiden Familien werden nie wieder die alten sein.

Cavendon Hall, die epische Saga über Geheimnisse, Liebe, Ehre und Verrat zeigt Barbara Taylor Bradford in ihrer besten Form und fesselt bis zur letzten Seite.

Über die Autorin

Barbara Taylor Bradford verbrachte ihre Kindheit und Jugend in England. Sie arbeitete als Journalistin, bevor sie im Alter von achtzehn Jahren begann, Kinderbücher zu schreiben. Schon bald folgten Romane, der Durchbruch gelang ihr mit »Des Lebens bittere Süße«. Seitdem hat sie fünfundzwanzig Bücher geschrieben, die allesamt Bestseller wurden. Sie widmet alle Werke ihrem Mann, mit dem sie in New York lebt.

BARBARA TAYLOR BRADFORD

CAVENDON HALL

Zeiten des Verrats

Aus dem Englischen von Michaela Link

beHEARTBEAT

Deutsche Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Barbara Taylor Bradford

Titel der britischen Originalausgabe: »Cavendon Hall«

Originalverlag: HarperCollins Publishers Ltd., London

Originally published in the English language by HarperCollins Publishers Ltd. under the title Cavendon Hall © Barbara Taylor Bradford 2014

Barbara Taylor Bradford asserts the moral right to be identified as the author of this work.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dorothee Cabras

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deunter Verwendung von Motiven © Akabei/gettyimages; Boonyachoat/gettyimages; Richard Jenkins; Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von Gumroad und Pixabay

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7647-0

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Bob, mit all meiner Liebe. Immer.

Vorwort der Autorin

Es passiert mir häufig, dass eine Figur sehr schnell für mich lebendig wird. Ich habe dann einen fertigen Menschen vor Augen, der mir vertraut ist.

So ging es mir auch bei Emma Harte, Blackie O’Neill und später mit Paul McGill in Des Lebens bittere Süße. In Stimme des Herzens wusste ich ganz genau, wer Victor Mason war, als er plötzlich zu meinem geistigen Begleiter wurde. Und in Was das Herz nicht vergisst kam Maximilian West als deutlich umrissene Figur zu mir. Im Geist hatte ich ein glasklares Bild von diesem Mann. Und auf jeden Fall war mir Serena Stone vertraut, als ich anfing, Secrets from the Past zu schreiben, und ich konnte die Geschichte mit ihrer Stimme erzählen.

Vor ungefähr sechs Jahren passierte es mir wieder, als ein entzückendes junges Mädchen namens Cecily Swann mir im Kopf herumtanzte. Nicht nur, dass ich sie genau kannte, ich wusste auch, wie ihr Leben verlaufen würde. Ebenso hatte ich Bilder von DeLacy und Miles Ingham vor dem geistigen Auge. Ich wusste, dass Cecily ihr ganzes Leben lang mit den Ingham-Geschwistern befreundet sein würde. Während ich am Handlungsgerüst des Romans arbeitete, sah ich schon, dass die Geschichte viele Jahre umfassen würde. Mir war klar, dass es sich hierbei um eine Reihe handelte.

Leider kamen mir andere Projekte und Bücher dazwischen, und so musste ich die Cecily-Swann-Saga zunächst verschieben. Aber vor zwei Jahren wurde sie schließlich wieder zum Leben erweckt, und ich fing an, daran zu arbeiten, nachdem ich Secrets from the Past beendet hatte.

Manches in der Handlung änderte sich, als ich das erste Kapitel schrieb, aber Cavendon Hall in seiner ganzen wundervollen Pracht und historischen Vergangenheit war geboren. Und natürlich wurden die Swanns und die Inghams lebendige Menschen für mich, so wie ich es mir auch für Sie, meine Leser, erhoffe. Cavendon Hall ist der erste Band einer Reihe, in der Sie die Höhen und Tiefen, Freuden und Leiden derjenigen verfolgen können, von denen Sie hier lesen werden. Ich kann es kaum erwarten, mit dem zweiten Band der Cavendon-Hall-Saga zu beginnen und diese faszinierenden Charaktere wieder aufzugreifen. Für mich ist es immer ein großes Abenteuer, mit einem Roman anzufangen. Ich weiß nie, was mich erwartet. Oder, wie in Cavendon Hall, was sich ändert. Doch die Swanns und die Inghams werden jetzt ihre Geschichte selbst erzählen.

Personenverzeichnis

DIE HERRSCHAFT

DIE INGHAMS IM JAHRE 1913

Charles Ingham, 6. Earl von Mowbray, 44 Jahre alt. Besitzer und Hüter von Cavendon Hall. Als Lord Mowbray angeredet.

Felicity Ingham, seine Frau, die Countess von Mowbray, 43 Jahre alt. Selbst rechtmäßige Erbin ihres verstorbenen Vaters, eines Fabrikanten. Als Lady Mowbray angeredet.

IHRE KINDER

Guy Ingham, der Erbe des Earls, 22 Jahre alt. Student an der Oxford University. Er trägt den Titel der Ehrenwerte Guy Ingham.

Miles Ingham, der zweitälteste Sohn, 14 Jahre alt und Schüler am Eaton College. Er wird als der Ehrenwerte Miles Ingham angeredet.

Lady Diedre Ingham, älteste Tochter, 20 Jahre alt, wohnt zu Hause.

Lady Daphne Ingham, zweitälteste Tochter, 17 Jahre alt, wohnt zu Hause.

Lady DeLacy Ingham, drittälteste Tochter, 12 Jahre alt, wohnt zu Hause.

Lady Dulcie Ingham, jüngste Kind der Familie, 5 Jahre alt, wird zu Hause von einem Kindermädchen betreut.

Die vier Mädchen werden von der Dienerschaft liebevoll »die vier D« genannt.

WEITERE MITGLIEDER DER FAMILIE INGHAM

Lady Lavinia Ingham Lawson, verheiratete Schwester des Earls, 40 Jahre alt. Wohnt, wenn in Yorkshire, auf dem Anwesen in Skelldale House, hält sich aber zumeist in London auf. Sie ist mit dem erfolgreichen Geschäftsmann John Edward Lawson, genannt Jack, verheiratet.

Lady Vanessa Ingham, unverheiratete Schwester des Earls, 34 Jahre alt. Sie hat eine eigene Suite in Cavendon, die sie nutzt, wenn sie in Yorkshire ist. Sie verbringt ihre Zeit allerdings überwiegend in London.

Lady Gwendolyn Ingham Baildon, die verwitwete Tante des Earls, 72 Jahre alt, die in Little Skell Manor auf dem Anwesen lebt. Sie war mit dem bereits verstorbenen Paul Baildon verheiratet.

Der Ehrenwerte Hugo Ingham Stanton, Cousin des Earls, 32 Jahre alt. Er ist Lady Gwendolyns Neffe, die wiederum die Schwester seiner verstorbenen Mutter Lady Evelyne Ingham Stanton ist. Er hat viele Jahre lang im Ausland gelebt. Sein Vater ist der verstorbene Ian Stanton, ein Züchter und Besitzer von Rennpferden.

ZWISCHEN DEN WELTEN

DIE ZWEITE FAMILIE: DIE SWANNS

Die Swanns stehen seit über 160 Jahren im Dienst der Inghams. Dadurch sind die Familien auf vielfache Weise miteinander verbunden. Die Swanns leben seit Generationen im Dorf Little Skell, das direkt an den Park von Cavendon angrenzt. Die Swanns von heute sind den Inghams gegenüber genauso ergeben und loyal wie ihre Vorfahren und würden jedes einzelne Familienmitglied der Inghams mit ihrem Leben verteidigen. Die Inghams vertrauen ihnen uneingeschränkt, und so ist es auch andersherum.

DIE SWANNS IM JAHRE 1913

Walter Swann, Kammerdiener des Earls, 35 Jahre alt. Er ist das Oberhaupt der Familie Swann.

Alice Swann, seine Frau, 32 Jahre alt. Eine geschickte Schneiderin, die sich um die Garderobe der Countess kümmert und Kleidung und Abendkleider für die Töchter näht.

Sohn Harry, 15 Jahre alt. Er geht als Landschaftsgärtner in Cavendon Hall in die Lehre.

Tochter Cecily, 12 Jahre alt, der es erlaubt ist, mit DeLacy am Unterricht in Cavendon Hall teilzunehmen.

WEITERE SWANNS

Percy, jüngerer Bruder von Walter, 32 Jahre alt. Oberster Jagdhüter in Cavendon.

Edna, Percys Frau, 33 Jahre alt. Arbeitet gelegentlich in Cavendon.

Ihr Sohn Joe, 12 Jahre alt. Arbeitet als Waldarbeitergehilfe in Cavendon.

Bill, Walters Cousin, 27 Jahre alt. Oberster Landschaftsgärtner in Cavendon. Er ist unverheiratet.

Ted, Walters Cousin, 38 Jahre alt. Leiter der Instandhaltung der Innenräume und der Schreinerei in Cavendon. Verwitwet.

Paul, Teds Sohn, 14 Jahre alt. Geht bei seinem Vater als Gestalter in die Lehre.

Eric, Teds Bruder und Walters Cousin, 33 Jahre alt. Butler im Londoner Haus von Lord Mowbray. Unverheiratet.

Laura, Teds Schwester und Walters Cousine, 26 Jahre alt. Haushälterin im Londoner Haus von Lord Mowbray. Unverheiratet.

Charlotte, Tante von Walter und Percy, 45 Jahre alt. Im Ruhestand vom Dienst in Cavendon. Charlotte ist die Matriarchin der Familie Swann. Sie wird von allen mit großem Respekt und seitens der Inghams mit einer gewissen Achtung behandelt. Charlotte war bis zu seinem Tod die Sekretärin und persönliche Assistentin David Inghams, des 5. Earls. Es gab einige Spekulationen über den wahren Charakter ihrer Beziehung.

Dorothy Pinkerton, geborene Swann, Cousine Charlottes. Sie lebt in London und ist mit Howard Pinkerton, einem Detective von Scotland Yard, verheiratet.

DIE DIENERSCHAFT

Mr Henry Hanson, Butler

Mrs Agnes Thwaites, Haushälterin

Mrs Nell Jackson, Köchin

Miss Olive Wilson, Zofe der Countess

Mr Malcolm Smith, oberster Diener

Mr Gordon Lane, zweiter Diener

Miss Elsie Roland, oberstes Hausmädchen

Miss Mary Ince, zweites Hausmädchen

Miss Peggy Swift, drittes Hausmädchen

Miss Polly Wren, Küchenmädchen

Mr Stanley Gregg, Chauffeur

WEITERE ANGESTELLTE

Miss Maureen Carlton, das Kindermädchen

Miss Audrey Payner, die Gouvernante, gewöhnlich als Miss Payne angeredet. In den Sommerferien ist die Gouvernante nicht in Cavendon. Die Kinder gehen nicht in die Schule.

AUSSENARBEITER

Auf einem großen herrschaftlichen Anwesen wie Cavendon Hall mit vielen Tausend Morgen Land und einem riesigen Moor für die Moorhuhnjagd arbeiten viele Menschen aus der Gegend. Es ist die Aufgabe eines solchen Besitzes, einer großen Familie als Heim zu dienen. Er bietet Beschäftigung für die Dorfbewohner und Pachtland für die Bauern. Die Dörfer um Cavendon herum sind von verschiedenen Earls von Mowbray geschaffen worden, um ihre Arbeiter unterzubringen. Nach und nach wurden auch Kirchen und Schulen, Postämter und kleine Geschäfte gebaut. Die Dörfer um Cavendon herum heißen Little Skell, Mowbray und High Clough.

Es gibt eine große Zahl von Außenarbeitern: einen obersten Jagdhüter und fünf weitere Jagdhüter. Treiber werden benötigt, wenn die Moorhuhnsaison beginnt. Des Weiteren gibt es Waldarbeiter, die sich um den zu bestimmten Zeiten zur Jagd genutzten Wald in der Umgebung kümmern. Die Gärten werden vom obersten Landschaftsgärtner und fünf weiteren, unter seiner Leitung stehenden Gärtnern gepflegt.

Die Moorhuhnjagd beginnt im August, am »Glorious Twelfth«, dem »Glorreichen Zwölften«, wie der Anfang der Saison genannt wird. Sie endet im Dezember. Die Rebhuhnsaison beginnt im September. Auch Enten und Wildvögel werden in dieser Zeit geschossen. Die Fasanenjagd wird vom 1. November bis zum Dezember betrieben. Diejenigen, die zur Jagd nach Cavendon kommen, sind gewöhnlich Aristokraten und werden als die »Guns«, die Waffen, also die Männer, die die Gewehre benutzen, bezeichnet.

TEIL 1: DIE SCHÖNEN MÄDCHEN VON CAVENDON

Mai 1913

Ja, sie ist schön: drum muss man um sie werben;

Sie ist ein Weib: drum kann man sie gewinnen.

– William Shakespeare

Ehret die Frauen! Sie flechten und weben

Himmlische Rosen ins irdische Leben.

– Friedrich Schiller

Der Mann ist der Jäger, die Frau seine Beute.

– Lord Alfred Tennyson

Kapitel 1

Cecily Swann war aufgeregt. Ihre Mutter hatte ihr eine ganz besondere Aufgabe übertragen, und sie konnte es kaum erwarten, damit anzufangen. Während sie über den Sandweg auf Cavendon Hall zueilte, gingen ihr alle möglichen Gedanken durch den hübschen jungen Kopf. Sie würde einige schöne Kleider in Augenschein nehmen und nach Mängeln suchen. Es sei eine wichtige Aufgabe, hatte ihre Mutter erklärt, und nur sie könne sie bewältigen.

Sie wollte sich nicht verspäten und beschleunigte daher ihre Schritte. Man hatte ihr aufgetragen, sich um Punkt zehn dort einzufinden, also würde sie auch um zehn dort sein. Ihre Mutter – Alice Swann – sagte oft, dass man Pünktlichkeit als ihren zweiten Vornamen bezeichnen könne, und sie äußerte dies immer mit einem gewissen Grad an Bewunderung. Alice war sehr stolz auf ihre Tochter und sich ihrer einzigartigen Fähigkeiten vollauf bewusst.

Obwohl Cecily erst zwölf war, wirkte sie in mancher Hinsicht viel älter, war sehr tüchtig und besaß zudem ein ungewöhnliches Maß an Verantwortungsbewusstsein. Alle fanden sie ziemlich erwachsen, erwachsener als die meisten Mädchen ihres Alters, und dazu sehr verlässlich.

Cecily hob den Blick zum Hang vor ihr. Hoch auf dem Hügel thronte Cavendon, eines der größten herrschaftlichen Anwesen in England und dazu so etwas wie ein architektonisches Meisterwerk.

Nachdem Humphrey Ingham, der Erste Earl von Mowbray, Tausende von Morgen Land in den Yorkshire Dales erworben hatte, waren zwei herausragende Architekten mit dem Entwurf des Hauses betraut worden: John Carr von York und der berühmte Robert Adam.

Fertiggestellt worden war es im Jahr 1761. Lancelot »Capability« Brown hatte daraufhin kunstreich die wunderschönen Landschaftsgärten gestaltet, die bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben waren. In der Nähe des Hauses befand sich ein künstlicher See, und hinter dem Haus gab es Wassergärten.

Cecily war von klein auf im Herrenhaus ein und aus gegangen, und für sie war es der schönste Ort der Welt. Sie kannte dort jeden Zoll – so wie ihr Vater, Walter Swann. Er war der Kammerdiener des Earls, wie sein Vater es vor ihm und davor sein Großonkel Henry gewesen waren.

Generationen von Swanns aus dem Dorf Little Skell arbeiteten seit über hundertsechzig Jahren im großen Haus, seit der Zeit des Ersten Earls im achtzehnten Jahrhundert. Die beiden Familien waren eng miteinander verwoben und aneinander gebunden, und die Swanns genossen viele Privilegien und waren den Inghams außerordentlich treu ergeben. Cecilys Vater Walter sagte immer, er würde sich für den Earl erschießen lassen, und das meinte er ernst.

Tief in Gedanken versunken, schrak Cecily plötzlich auf und blieb abrupt stehen. Eine Gestalt war auf den Weg vor ihr gesprungen. Sie sah sofort, dass es Genevra war, eine junge Zigeunerin, die häufig in der Nähe herumlungerte.

Die Romni stand mitten auf dem Weg und grinste breit und mit funkelnden Augen, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Das hättest du nicht tun sollen!«, rief Cecily und trat schnell beiseite. »Du hast mich erschreckt. Wo kommst du gerade her, Genevra?«

»Von drüben«, antwortete die Zigeunerin und zeigte auf die große Wiese. »Ich hab dich kommen sehen, kleine Cecily. Ich war hinter der Mauer.«

»Ich muss weiter. Ich will mich nicht verspäten«, erklärte Cecily mit kühler Stimme. Sie versuchte erfolglos, um die junge Frau herumzugehen.

Die Zigeunerin trat von einem Fuß auf den anderen, versperrte ihr den Weg und murmelte: »Aye. Du willst zu diesem alten Haus da drüben. Gib mir deine Hand, und ich sage dir Zukunft.«

»Ich kann es dir nicht vergelten, ich hab nicht einmal einen Halfpenny«, erwiderte Cecily.

»Ich will dein Geld nicht, und ich brauche auch deine Hand gar nicht, ich weiß alles von dich.«

Cecily runzelte die Stirn. »Über mich? Ich verstehe nicht …« Sie brach ab, ungeduldig weiterzukommen, und sie wollte nicht noch mehr Zeit mit der Zigeunerin verschwenden.

Genevra schwieg, warf Cecily aber einen neugierigen Blick zu, wandte sich dann um und schaute zu Cavendon hinauf. Seine vielen Fenster funkelten, und die hellen Steinmauern glänzten im klaren Licht dieses hellen Mai-Morgens wie polierter Marmor. Tatsächlich schien das ganze Haus zu schimmern.

Die Zigeunerin wusste, dass das eine Illusion war, die das Sonnenlicht erzeugte. Trotzdem hatte Cavendon tatsächlich eine besondere Aura; das war ihr immer bewusst gewesen. Ganz still blieb sie für einen Moment in Gedanken verloren stehen und schaute weiter zu Cavendon hinüber … Sie hatte die Gabe, die Gabe des Sehens. Und sie sah die Zukunft. Da sie sich nicht mit diesem plötzlichen Wissen belasten wollte, schloss sie die Augen, blendete das alles aus.

Schließlich drehte sie sich wieder zu Cecily um und blinzelte im grellen Licht. Lange betrachtete sie die Zwölfjährige mit zusammengekniffenen Augen und ernstem Gesichtsausdruck.

Cecily war sich der Musterung mit allen Sinnen bewusst und sagte: »Warum schaust du mich so an? Was ist?«

»Nichts«, murmelte die Zigeunerin. »Nichts ist, kleine Cecily.« Genevra bückte sich, hob einen langen Zweig auf und kratzte etwas in die Erde. Sie zeichnete ein Quadrat, und über das Quadrat die Umrisse eines Vogels, dann sah sie Cecily vielsagend an.

»Was bedeutet das?«, fragte das Kind.

»Nichts.« Genevra warf den Zweig weg; ihre schwarzen Augen hatten einen beseelten Ausdruck. Und dann, wie der Blitz, verschwand ihre seltsame, rätselhafte Stimmung. Sie lachte und tanzte auf die Steinmauer zu.

Sie legte beide Hände auf die Mauer, schwang die Beine hoch in die Luft, schlug ein Rad darüber und landete im Feld dahinter wieder auf den Füßen.

Nachdem sie sich das rote Kopftuch zurechtgezupft hatte, das sie sich um die dunklen Locken gebunden hatte, hüpfte sie über die große Wiese und verschwand hinter einer kleinen Baumgruppe. Ihr Lachen hallte durch die stillen Felder, obwohl sie nicht mehr zu sehen war.

Verwundert über dieses merkwürdige Gebaren schüttelte Cecily den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Dann verwischte sie schnell mit den Füßen die Zeichen auf dem Boden und setzte ihren Weg bergauf fort.

»Sie war schon immer seltsam«, murmelte Cecily, während sie weiterging. Sie wusste, dass Genevra mit ihrer Familie in einem der beiden bemalten Roma-Wagen lebte, die auf der anderen Seite des Hyazinthenwaldes weit hinter der großen Wiese standen. Sie wusste außerdem, dass der Roma-Stamm die Erlaubnis hatte, sich hier aufzuhalten.

Das Land, auf dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, gehörte dem Earl von Mowbray, und er hatte ihnen für die warme Jahreszeit die Erlaubnis dazu gegeben. In den Wintermonaten verschwanden sie immer; wohin, wusste niemand.

Die Roma-Familie kam seit Langem nach Cavendon. Es war Miles, der ihr das erzählt hatte. Er war der zweitälteste Sohn des Earls, und er hatte ihr im Vertrauen gesagt, dass er nicht verstehe, warum sein Vater so freundlich zu den Zigeunern war. Miles war vierzehn. Er und seine Schwester DeLacy waren Cecilys beste Freunde.

Der Sandweg durch die Felder führte vom Dorf Little Skell direkt in den Garten hinter Cavendon Hall. Cecily lief gerade über die Pflastersteine dort, als die Uhr im Turm über den Stallungen die Stunde zu schlagen begann. Es war genau zehn Uhr, und sie würde sich nicht verspäten.

Der fröhliche Yorkshire-Akzent der Köchin hallte durch die Hintertür, als Cecily für einen Moment stehen blieb und lauschte, um zu Atem zu kommen.

»Steh nicht da mit offenem Mund wie eine dumme Gans, Polly!«, rief die Köchin gerade dem Küchenmädchen zu. »Und um Himmels willen, drück den Metalllöffel in die Mehldose, bevor du den Deckel zuschraubst. Sonst haben wir bald Käfer im Mehl!«

»Ja, Mrs Jackson«, murmelte Polly.

Cecily erlaubte sich ein Lächeln. Sie wusste, dass der Tadel nicht viel zu bedeuten hatte. Ihr Vater sagte, das Bellen der Köchin sei schlimmer als ihr Biss, und das stimmte. Nell Jackson war eine gute Seele und hatte ein mütterliches Herz.

Cecily drehte am Türknauf und trat in die Küche, wo sie von gewaltigen Dampfwolken, Wärme und den köstlichsten Gerüchen empfangen wurde, die aus den brodelnden Töpfen aufstiegen. Die Köchin bereitete bereits das Mittagessen für die Herrschaft vor.

Beim Knarren der sich öffnenden Tür drehte Nell Jackson sich um und lächelte strahlend, als sie Cecily ihr Reich betreten sah. »Hallo, Schätzchen«, begrüßte sie sie herzlich. Alle wussten, dass Cecily ihr Liebling war, und sie machte auch keinen Hehl daraus.

»Guten Morgen, Mrs Jackson«, antwortete Cecily und schaute dann zum Küchenmädchen hinüber. »Hallo, Polly.«

Polly nickte und zog sich in eine Ecke zurück, wie gewöhnlich schüchtern und verlegen, wenn Cecily das Wort an sie richtete.

»Mam schickt mich, damit ich bei den Kleidern für Lady Daphne helfe«, erklärte Cecily.

»Aye, das weiß ich. Dann geh mal rein, Schätzchen, nur zu. Lady DeLacy wartet oben auf dich. Wenn ich recht verstehe, will sie deine Gehilfin sein.« Die Köchin kicherte und zwinkerte Cecily verschwörerisch zu.

Cecily lachte. »Mam wird gegen elf hier sein.«

Nell Jackson nickte. »Ihr beide esst hier unten bei uns zu Mittag. Auch dein Vater. Es gibt etwas Besonderes.«

»Das ist schön, Mrs Jackson.« Cecily ging durch die Küche zur Hintertreppe, die in die oberen Stockwerke des großen Hauses führte.

Nell Jackson sah ihr nach und kniff kaum merklich die Augen zusammen. Das zwölf Jahre alte Mädchen war wirklich entzückend. Plötzlich sah sie in diesem jungen, unschuldigen Gesicht die Frau, die Cecily einmal sein würde. Eine echte Schönheit. Und eine wahre Swann. Es bestand kein Zweifel daran, wo sie herkam, mit ihren hohen Wangenknochen, dem Elfenbeinteint und den lavendelfarbenen Augen … helle, rauchige, blaugraue Augen. Das Kennzeichen der Swanns. Und dann war da dieses volle Haar. Dichtes, glänzendes, rostbraunes Haar, durchzogen mit rötlichen Strähnchen. Wenn sie älter ist, wird sie Charlotte wie aus dem Gesicht geschnitten sein, dachte die Köchin und seufzte. Was für ein verschwendetes Leben, Charlotte Swann! Sie hätte es weit bringen können, da bestand gar kein Zweifel. Ich hoffe, Cecily bleibt nicht hier wie ihre Tante, dachte Nell jetzt, drehte sich um und rührte in einem ihrer Töpfe. Lauf, Cecily, lauf. Lauf um dein Leben. Und schau nicht zurück. Rette dich.

Kapitel 2

Die Bibliothek von Cavendon war ein wunderschön proportionierter Raum. An zwei Wänden ragten hohe Mahagoni-Bücherregale auf, die bis zu der vergoldeten und mit Motiven aus Flora und Fauna bunt bemalten Kassettendecke reichten. Aus einer Reihe hoher Fenster hatte man einen Blick auf die Terrasse, die sich über die ganze Länge des Hauses erstreckte. Am jeweiligen Ende der Fensterseite befanden sich Balkontüren.

Obwohl Mai war und ein sonniger Tag, brannte, wie immer und zu allen Jahreszeiten, ein Feuer im Kamin. Charles Ingham, der Sechste Earl von Mowbray, folgte damit lediglich den Gepflogenheiten, die auf seinen Großvater und seinen Vater zurückgingen. Beide Männer hatten auf einem Feuer in dem Raum bestanden, ganz gleich, wie das Wetter war. Den Grund dafür verstand Charles vollkommen. Die Bibliothek war der kühlste Raum von Cavendon, selbst in den Sommermonaten, eine Besonderheit, die zu ergründen keinem von ihnen je gelungen war.

Als er an diesem Morgen in die Bibliothek kam und direkt zum Kamin ging, fiel ihm auf, dass eins der Pferdebilder von George Stubbs etwas schief hing. Er ging hinüber, um es gerade zu rücken. Dann nahm er den Schürhaken und stocherte in den Holzscheiten im Kamin. Funken stoben auf, die Scheite knisterten, und nachdem er noch einmal kräftig mit dem Eisen geschürt hatte, stellte er es in den Ständer zurück.

Charles verharrte für einen Moment vor dem Feuer, die Hand auf den Kaminsims gelegt und ganz in Gedanken versunken. Felicity, seine Frau, war gerade aufgebrochen, um ihre Schwester in Harrogate zu besuchen, und er fragte sich wieder einmal, warum er nicht darauf bestanden hatte, sie zu begleiten. Weil sie nicht wollte, dass du mitfährst, rief ihm eine innere Stimme ins Gedächtnis. Das musst du akzeptieren.

Felicity hatte Diedre mitgenommen, ihre älteste Tochter. »Anne ist dann ungezwungener, Charles. Wenn du mitkommst, wird sie sich verpflichtet fühlen, dich angemessen zu unterhalten, und das kostet sie große Anstrengung«, hatte Felicity ihm beim Frühstück erklärt.

Er hatte nachgegeben, wie er das neuerdings so oft tat. Doch die Worte seiner Frau waren ja auch immer vernünftig. Er seufzte, seine Gedanken wieder bei seiner Schwägerin. Sie war einige Zeit krank gewesen und hatte ihnen Sorgen bereitet. Anscheinend hatte sie heute gute Neuigkeiten zu verkünden und ihre Schwester deshalb zum Mittagessen eingeladen.

Charles wandte sich vom Kamin ab, ging zu dem alten georgianischen Doppelschreibtisch und setzte sich auf den Stuhl dahinter.

Seine Gedanken kreisten weiter um Annes Krankheit, dann rief er sich ins Gedächtnis, wie praktisch veranlagt und unkompliziert dagegen Diedre war. Das war beruhigend. Plötzlich wurde ihm klar, dass Diedre mit ihren zwanzig Jahren wahrscheinlich die Vernünftigste seiner Kinder war. Guy, sein Erbe, war zweiundzwanzig und ein relativ verlässlicher junger Mann. Aber bedauerlicherweise hatte er eine gewisse Wildheit in sich, die manchmal aus ihm hervorbrach. Das bereitete Charles Sorgen.

Miles war natürlich der klügste Kopf in der Familie. Obwohl er erst vierzehn war, hatte er eine intellektuelle Neigung und war künstlerisch begabt. Um Miles machte Charles sich keine Sorgen. Auf ihn war Verlass.

Und dann gab es da noch seine drei anderen Töchter. Daphne war mit ihren siebzehn Jahren die große Schönheit der Familie. Eine reine englische Rose, die jedem Mann das Herz brechen würde. Mit seiner Daphne hatte er große Pläne. Er würde eine fantastische Ehe für sie arrangieren. Der Sohn eines Herzogs, niemand Geringeres, sollte es für sie sein.

Ihre Schwester DeLacy war die amüsanteste, wenn er ehrlich war, eine ziemlich schelmische Zwölfjährige. Charles war sich bewusst, dass sie noch ein wenig erwachsener werden musste, und ein liebevolles Lächeln umspielte unwillkürlich seine Lippen. DeLacy schaffte es immer, ihn zum Lachen zu bringen, und unterhielt ihn mit ihren komischen Albernheiten. Sein jüngstes Kind, die fünfjährige Dulcie, war entzückend und zu seinem großen Erstaunen bereits eine eigenständige Persönlichkeit mit einem eigenen Kopf.

Glück, ich habe Glück gehabt, dachte er und griff nach der Morgenpost. Sechs entzückende Kinder, jedes auf seine eigene Weise ganz außergewöhnlich. Ich bin gesegnet, rief er sich ins Bewusstsein. Wahrhaft gesegnet mit meiner Frau und dieser bewundernswerten Familie, die wir erschaffen haben. Ich bin ein sehr glücklicher Mann.

Während er die Post durchblätterte, stach ihm ein Umschlag besonders ins Auge. Er war in Zürich abgestempelt worden. Verwundert schlitzte er mit einem Brieföffner das Kuvert auf und zog den Brief heraus.

Als er die Unterschrift sah, stutzte Charles. Der Brief kam von Hugo Ingham Stanton, seinem Cousin ersten Grades. Er hatte nichts von Hugo gehört, seit dieser Cavendon mit sechzehn Jahren verlassen hatte, doch von Hugos Vater war Charles mitgeteilt worden, dass es seinem Sohn in der Welt gut ergangen sei. Charles hatte sich oft gefragt, was aus Hugo geworden war. Zweifellos würde er es gleich erfahren.

26. April 1913

Zürich

Mein lieber Charles,

ich bin mir sicher, Du wirst überrascht sein, nach all den Jahren diesen Brief von mir zu erhalten. Doch weil ich Cavendon unter den seltsamsten Umständen und völlig entzweit mit meiner Mutter verlassen habe, bin ich damals zu dem Schluss gekommen, es wäre besser, jeden Kontakt zur Familie abzubrechen. Daher mein langes Schweigen.

Mit meinem Vater war ich jedoch bis zu dem Tag, an dem er starb, in Kontakt. Niemand sonst hat mir nach New York geschrieben, und ich hatte daher nicht den Mut, zum Füllfederhalter zu greifen. Und so sind die Jahre ohne Kontakt verstrichen.

Ich will Dich nicht mit der weitschweifigen Geschichte meines Lebens während der vergangenen sechzehn Jahre langweilen. Lassen wir es dabei bewenden, dass es mir gut ergangen ist und ich das besondere Glück hatte, von Vater zu seinem Freund Benjamin Silver geschickt zu werden. Ich ging in Mr Silvers Immobiliengesellschaft in New York in die Lehre. Er war ein guter, brillanter Mann. Er hat mir alles beigebracht, was es über das Immobiliengeschäft zu lernen gibt, und, wie ich hinzufügen möchte, mich gut unterrichtet.

Ich habe wertvolles Wissen erworben und hatte zu meiner eigenen großen Überraschung Erfolg. Mit zweiundzwanzig heiratete ich Mr Silvers Tochter Loretta. Es war neun Jahre lang eine glückliche Verbindung, wenn wir auch leider keine Kinder hatten. Zu meinem großen Kummer und Leid ist Loretta, die immer schon von zarter Gesundheit war, vor einem Jahr hier in Zürich gestorben. Nach ihrem Tod im vergangenen Jahr blieb ich in Zürich. Doch nun hat mich die Einsamkeit überwältigt, und ich verspüre die Sehnsucht, das Land meiner Geburt wiederzusehen. Und so habe ich jetzt den Entschluss gefasst, nach England zurückzukehren.

Ich möchte dauerhaft in Yorkshire leben. Aus diesem Grund würde ich Dir gern einen Besuch abstatten und hoffe aufrichtig, dass Du mich herzlich in Cavendon empfangen wirst. Es gibt viele Dinge, über die ich mit Dir sprechen möchte, ganz besonders über meinen Besitz in Yorkshire.

Ich habe vor, im Juni nach London zu reisen, wo ich in Claridge’s Hotel wohnen werde. Vielleicht im Juli, zu einem Datum, das Dir angenehm ist, hoffe ich, Dich besuchen zu können.

Ich freue mich darauf, in nicht allzu ferner Zukunft von Dir zu hören.

Mit den besten Wünschen für Dich und Felicity.

Herzlich, Dein Cousin Hugo

Charles lehnte sich auf dem Stuhl zurück, den Brief noch immer in der Hand. Schließlich legte er ihn auf den Schreibtisch, schloss für einen Moment die Augen und dachte an Little Skell Manor, das Haus, das einst Hugos Mutter besessen hatte und das jetzt Hugo gehörte. Zweifellos wollte er es, wie es sein Recht war, in Besitz nehmen.

Charles entfuhr ein leises Stöhnen, als er die Augen öffnete und sich in seinem Stuhl aufsetzte. Es hatte keinen Zweck, sich von den Sorgen abzuwenden, die ihm zu schaffen machten. Das Haus war Hugos Besitz. Das Problem war, dass Lady Gwendolyn Ingham Baildon, ihre Tante, dort residierte, und mit ihren zweiundsiebzig Jahren würde sie sich sicherlich sträuben, wenn Hugo versuchte, sie hinauszuwerfen.

Die bloße Vorstellung, dass seine Tante und Hugo sich bekriegen würden, jagte Charles einen eiskalten Schauer über den Rücken, und in seinem Kopf fingen seine Gedanken an zu rasen auf der Suche nach einer Lösung für diese schwierige Situation.

Schließlich erhob er sich, ging zu der Balkontür seinem Schreibtisch gegenüber und schaute auf die Terrasse hinaus. Er wünschte, Felicity wäre da. Er brauchte jemanden, mit dem er über dieses Problem reden konnte. Unverzüglich.

Dann sah er sie. Sie eilte gerade die Treppe hinunter zu dem breiten, geschotterten Pfad, der nach Skelldale House führte. Charlotte Swann. Genau die Person, die ihm helfen konnte. Natürlich konnte sie das.

Ohne nachzudenken, trat Charles auf die Terrasse. »Charlotte!«, rief er. »Charlotte! Komm zurück!«

Als sie ihren Namen hörte, drehte Charlotte sich sofort um, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, kaum dass sie ihn sah. »Hallo«, gab sie zurück und winkte ihm zu. Dann stieg sie die Treppe zur Terrasse wieder herauf. »Was ist denn?«, fragte sie und blieb vor ihm stehen. Sie sah ihn aufmerksam an und fügte hinzu: »Du wirkst sehr beunruhigt … Stimmt etwas nicht?«

»Wahrscheinlich«, antwortete er. »Könntest du ein paar Minuten für mich erübrigen? Ich muss dir etwas zeigen und würde gern über eine Familienangelegenheit mit dir reden. Falls du Zeit hast und es dir nicht gerade ungelegen kommt. Ich könnte …«

»Oh, Charlie, sei nicht albern. Natürlich kommt es mir nicht ungelegen. Ich war nur auf dem Weg nach Skelldale House, um ein Kleid für Lavinia zu holen. Sie will, dass ich es ihr nach London schicke.«

»Das erleichtert mich. Ich fürchte, ich stehe vor einem kleinen Dilemma.« Er nahm sie am Arm und führte sie in die Bibliothek, während er weitersprach: »Was ich meine, ist, dass etwas passiert ist, das zu einem Dilemma werden oder, schlimmer noch, zu einer heftigen Auseinandersetzung führen könnte.«

Kapitel 3

Wenn sie allein miteinander waren, herrschte eine lockere Vertrautheit zwischen Charles Ingham und Charlotte Swann.

Die Unbefangenheit, mit der sie sich gegenseitig akzeptierten, entsprang ihrer Freundschaft seit Kindertagen und einer tief verwurzelten Loyalität, der die Jahre nichts hatten anhaben können.

Charlotte war mit Charles und seinen beiden jüngeren Schwestern, Lavinia und Vanessa, aufgewachsen und zusammen mit ihnen von der Gouvernante unterrichtet worden, die damals das Kommando über das Schulzimmer von Cavendon Hall geführt hatte.

Dies war eins der Privilegien, die der Dritte Earl von Mowbray den Swanns vor über hundert Jahren gewährt hatte: Eine Tochter der Swanns wurde eingeladen, sich dem täglichen Unterricht der Ingham-Kinder anzuschließen. Der Dritte Earl, ein freundlicher und wohltätiger Mann, hatte die Swanns respektiert und ihre seit Generationen gezeigte Zuneigung und Loyalität den Inghams gegenüber zu schätzen gewusst. Deshalb hatte er sie auf diese Art belohnt. Die Sitte wurde bis auf den heutigen Tag fortgesetzt, und jetzt war es Cecily Swann, die das Schulzimmer und den Unterricht bei der Gouvernante Miss Audrey Payne mit DeLacy Ingham teilte.

Als sie klein gewesen waren, hatten Charlotte und Charles es genossen, seine Schwestern zu erzürnen, indem sie sich gegenseitig »Charlie« nannten und sich über die Verwirrung amüsierten, die sie damit erzeugten. Sie waren unzertrennlich gewesen, bis er nach Eaton geschickt worden war. Trotzdem hatte ihre Loyalität und Sorge füreinander die Jahre überdauert, wenn auch auf eine etwas veränderte Weise. Sie pflegten keinen gesellschaftlichen Umgang mehr, seit Charles nach Oxford gegangen war, und tatsächlich lebten sie in zwei völlig unterschiedlichen Welten. Wenn sie bei seiner Familie oder unter anderen Leuten waren, redeten sie einander förmlich an und gingen sehr respektvoll miteinander um.

Aber das Kindheitsband zwischen ihnen existierte noch immer, und sie waren sich ihrer engen Verbundenheit bewusst, obwohl sie nie darüber sprachen. Er hatte nicht vergessen, wie sie ihn bemuttert und auf ihn achtgegeben hatte, als sie klein gewesen waren. Sie war nur ein Jahr älter als er, doch Charlotte hatte immer für alle die Verantwortung übernommen.

Sie hatte ihn und seine Schwestern getröstet, als ihre Mutter plötzlich und unerwartet einem Herzinfarkt erlegen war, hatte mit ihnen gefühlt, als ihr Vater zwei Jahre später wieder geheiratet hatte. Die neue Countess war die Ehrenwerte Harriette Storm, und sie alle verabscheuten sie. Die Frau war ein Snob, aufdringlich und tyrannisch, und neigte zu Gemeinheiten. Sie hatte den untröstlichen Earl, der einsam und verloren gewesen war, in die Falle gelockt mit ihrer einzigartigen Schönheit – die, wie Charlotte anzumerken liebte, doch nur äußerlich war.

Sie hatten es genossen, ihr Streiche zu spielen, je schlimmer desto besser, und es war Charlotte gewesen, die sich eine Vielzahl von Namen für sie hatte einfallen lassen: »Bad Weather«, »Hurricane Harriette« und »Rainy Day«, um nur drei davon zu nennen. Die Namen brachten sie zum Lachen und hatten ihnen geholfen, die kindischen Streiche irgendwann hinter sich zu lassen. Am Ende hatten sie Harriette nur noch hinter ihrem Rücken verspottet.

Die Ehe war für den Earl entsetzlich gewesen. Und sie hatte nicht lange gehalten. Bald war Bad Weather nach London zurückgekehrt. Dort starb sie nicht lange nach ihrem Weggang von Cavendon an Leberversagen, da die gewaltigen Mengen Alkohol, die sie seit ihren Tagen als Debütantin zu sich genommen hatte, sie völlig zerstört hatten.

Während Charles zusah, wie Charlotte das Pferdebild von George Stubbs abermals zurechtrückte, dachte er an die jüngere Vergangenheit und erinnerte sich daran, wie oft sie das getan hatte, als sie noch für seinen Vater gearbeitet hatte.

Mit einem Lachen bemerkte er: »Ich habe gerade eben das Gleiche getan. Dieses Gemälde verrutscht ständig, aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen.«

Charlotte drehte sich zu ihm um. »Es ist schon oft neu aufgehängt worden, wie du sehr wohl weißt. Ich werde Mr Hanson noch einmal um einen alten Weinkorken bitten und das ein und für alle Mal in Ordnung bringen.«

»Wie soll ein Weinkorken das bewirken?«, fragte er verwirrt.

Sie ging zu ihm und erklärte: »Ich schneide eine Scheibe von dem Korken ab und klemme sie zwischen die Wand und den unteren Rand des Rahmens. Ein Stückchen Kork stabilisiert ein Gemälde immer. Das mache ich schon seit Jahren so.«

Charles nickte nur und dachte an all die Korkenkrümel, die er im Laufe der Jahre aufgehoben und weggeworfen hatte. Jetzt wusste er endlich, welchen Zweck sie erfüllt hatten.

Er deutete auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs und sagte: »Setz dich bitte, Charlotte, ich muss mir etwas von der Seele reden.«

Sie tat es, und als sie ihn jetzt betrachtete, während er selbst Platz nahm, ging ihr durch den Kopf, wie gut er ausschaute. Er war vierundvierzig, aber das sah man ihm nicht an. Charles hatte den athletischen Körperbau seines Vaters, und er hielt sich in Form. Wie die meisten Ingham-Männer war er hochgewachsen und attraktiv, hatte ihre klaren blauen Augen, einen blassen Teint und hellbraunes Haar. Wo immer er in der Welt hinging, würde niemand ihn für irgendetwas anderes halten als einen Engländer, da war sie sich sicher. Und für einen englischen Gentleman noch dazu. Er war kultiviert, hatte etwas an sich, das Klasse verriet, und legte stets eine gewisse Würde an den Tag.

Charles beugte sich über den Schreibtisch und reichte Charlotte den Brief von Hugo. »Den habe ich mit der Morgenpost bekommen, und ich muss zugeben, dass er mich wirklich erschreckt hat.«

Sie nahm den Brief von ihm entgegen und fragte sich, wer ihn geschickt haben mochte. Charlotte hatte eine schnelle Auffassungsgabe, war intelligent und scharfsinnig. Und da sie jahrelang als persönliche Assistentin des Fünften Earls gearbeitet hatte, gab es nicht viel, was sie über Cavendon und jeden, der damit verbunden war, nicht wusste. Sie war ganz und gar nicht überrascht, als sie Hugos Unterschrift sah; schon lange hatte sie geahnt, dass dieser eigenartige junge Mann eines Tages in Cavendon auftauchen würde.

Nachdem sie den Brief rasch gelesen hatte, fragte sie: »Du glaubst, er kommt zurück, um Anspruch auf Little Skell Manor zu erheben, nicht wahr?«

»Natürlich. Was sonst?«

Charlotte nickte zustimmend, dann runzelte sie die Stirn und schürzte die Lippen. »Aber Cavendon ist für ihn doch bestimmt voller unglücklicher Erinnerungen.«

»Das würde ich ebenfalls denken. Andererseits schreibt Hugo in seinem Brief, dass er über seinen hiesigen Besitz reden will, und er informiert mich über seine Pläne, dauerhaft in Yorkshire zu leben.«

»In Little Skell Manor. Und vielleicht schert es ihn nicht, dass er eine alte Dame aus dem Haus werfen muss, in dem sie schon seit einer Ewigkeit wohnt, lange bevor seine Eltern gestorben sind.«

»Ganz ehrlich, ich weiß nicht, was ich dir antworten soll. Ich habe ihn seit sechzehn Jahren nicht gesehen. Genau genommen seit seinem sechzehnten Lebensjahr. Er muss sich jedoch vollauf darüber im Klaren sein, dass unsere Tante noch immer dort wohnt.« Charles warf ihr einen fragenden Blick zu und zog eine Augenbraue hoch.

»Es ist nicht schwer, diese bekannte Familie im Auge zu behalten, selbst aus weiter Ferne«, erwiderte Charlotte. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und dachte einen Moment nach. »Ich erinnere mich an Hugo. Er war ein netter Junge. Aber angesichts dessen, was ihm hier widerfahren ist, könnte er sich tatsächlich verändert haben. Er ist schlecht behandelt worden. Du musst doch noch wissen, wie zornig dein Vater war, als seine Schwester ihren jungen Sohn Hugo nach Amerika geschickt hat.«

»Durchaus«, gab Charles zurück. »Mein Vater fand es lächerlich. Er glaubte nicht, dass Hugo die Schuld an Peters Tod trug. Peter war schon immer töricht gewesen und hatte die Neigung gehabt, Risiken einzugehen. Spätnachts und in betrunkenem Zustand in einem kleinen Boot auf den See hinauszufahren, war völlig verantwortungslos. Mein Vater hat immer gesagt, Hugo habe versucht, seinen Bruder zu retten, und dennoch hat man ihm die Schuld an seinem Tod gegeben.«

»Wir dürfen nicht vergessen, dass Peter Lady Evelynes Liebling war. Deine Tante hat Hugo nie viel Beachtung geschenkt. Es war traurig. Eine wirklich tragische Geschichte.«

Charles beugte sich vor und stützte den Ellbogen auf den Schreibtisch. »Du weißt, wie sehr ich auf dein Urteil vertraue. Also, sag mir … was soll ich tun? Es wird einen unseligen Streit geben, einen Skandal, wenn Hugo sich das Herrenhaus zurückholt. Was er von Rechts wegen natürlich tun kann. Was wird aus Tante Gwendolyn? Wo soll sie leben? Bei uns hier im Ostflügel? Es ist die einzige Lösung, die mir einfällt.«

Charlotte schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, nein, das ist keine Lösung! Es würde sehr eng werden mit dir und Felicity, sechs Kindern und deiner Schwester Vanessa, wenn sie sich in Cavendon aufhält. Dann sind da noch das Kindermädchen, die Gouvernante und die ganze Dienerschaft. Es wäre wie in einem … nun … in einem Hotel. Zumindest wäre es das für Lady Gwendolyn. Sie ist eine alte Dame, eingefahren in ihren Gepflogenheiten, unabhängig und daran gewöhnt, alles im Griff zu haben. Damit meine ich ihren eigenen Haushalt, mit ihrem eigenen Personal. Und sie schätzt ihre Privatsphäre.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, murmelte Charles. »Sie wäre entsetzt.«

Charlotte fuhr fort: »Deine Tante würde sich hier wie ein … ein Gast fühlen, ein Störenfried. Und ohne dir zu nahe treten zu wollen, Charles, ich glaube, es würde sie erbittern, hier mit euch eingepfercht zu sein. Tatsächlich würde sie sich ordentlich zur Wehr setzen, fürchte ich, denn sie wäre überaus unglücklich darüber, ihr Haus verlassen zu müssen.«

»Es ist nicht ihr Haus«, gab Charles leise zu bedenken. »Ein Jammer, dass ihre Schwester Evelyne nie das Testament geändert hat. Meine Tante wird umziehen müssen. Es führt kein Weg daran vorbei.« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, und ein düsterer Ausdruck breitete sich auf seinen Zügen aus. »Ich wünschte wirklich, Cousin Hugo würde nicht zurückkommen und hier leben wollen. Was für ein verdammtes Ärgernis!«

»Ich will das Ganze ja nicht noch schlimmer machen«, hob Charlotte an, »doch da ist noch etwas. Wir …«

»Was meinst du?«, unterbrach er sie schnell und mit wachsender Bestürzung. Er setzte sich auf.

»Wir wissen, dass Lady Gwendolyn verstimmt sein wird, aber meinst du nicht, dass Hugos Anwesenheit hier auch noch einige andere Leute aufregen wird? So manch einer glaubt immer noch, Hugo habe sich vielleicht ein wenig zu viel Zeit gelassen, als es darum ging, Peter zu Hilfe zu eilen …«

»Das liegt daran, dass sie die genauen Umstände nicht kennen«, unterbrach er sie scharf. »Er hatte nicht das Geringste damit zu tun.«

Charlotte sagte nichts, doch ihr gingen tausend Gedanken durch den Kopf.

Charles erhob sich, stellte sich mit dem Rücken vor den Kamin, erfüllt von beunruhigenden Szenarien. Er glaubte immer noch, dass die einzige Möglichkeit, diese Angelegenheit leicht und freundlich zu regeln, die war, seine Tante einzuladen, bei ihnen zu leben. Vielleicht konnte Felicity mit ihr reden. Seine Frau besaß ein ziemlich überzeugendes Wesen und sehr viel Charme.

Charlotte stand auf und gesellte sich zu ihm an den Kamin. Als sie sich ihm näherte, konnte sie nicht umhin zu denken, wie sehr er in manchem seinem Vater ähnelte. Er hatte viele seiner Eigenarten geerbt und klang oft so wie er.

Sofort richteten sich ihre Gedanken auf David Ingham, den Fünften Earl von Mowbray. Sie war zwanzig Jahre lang, bis zu seinem Tod vor acht Jahren, für ihn tätig gewesen. Als sie an diese glücklichen Tage dachte, die ihr immer noch so lebendig im Gedächtnis standen, kam ihr der Südflügel von Cavendon in den Sinn. Dort hatten sie gearbeitet, zusammen mit Mr Harris, dem Buchhalter, Mr Nelson, dem Gutsverwalter, und Maude Greene, der Sekretärin.

»Der Südflügel! Dort könnte Lady Gwendolyn wohnen!«, platzte Charlotte heraus, als sie neben Charles stehen blieb.

»In den Räumen, die Vater als Büros genutzt hat? Wo du gearbeitet hast?«, fragte er, dann breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinen Zügen aus. »Charlotte, du bist ein Genie. Natürlich könnte sie dort wohnen. Und das sogar sehr angenehm.«

Charlotte nickte und sprach schnell und mit wachsender Begeisterung weiter. »Wenn du dich erinnerst: Dein Vater hat mehrere Bäder und eine kleine Küche einbauen lassen. Als du den Büroanbau bei den Stallungen vorgenommen hast, sind alle Büromöbel dort hingebracht worden. Die Sofas, Sessel und Salonmöbel sind vom Speicher in den Südflügel gewandert.«

»Genau. Und ich weiß, dass Hanson und Mrs Thwaites den Südflügel immer gut instand halten. Jeder Flügel von Cavendon befindet sich in makellosem Zustand, wie dir sicher bekannt ist.«

»Wenn Lady Gwendolyn einverstanden wäre, hätte sie in gewisser Hinsicht eine eigenständige Wohnung und ihre völlige Ruhe«, stellte Charlotte fest.

»Das ist richtig, und ich würde mit Freuden so viele Veränderungen vornehmen, wie sie wünscht.« Er nahm sie am Arm und fuhr fort: »Lass uns in den Südflügel gehen und uns die Räumlichkeiten ansehen, ja? Du hast doch Zeit, oder?«

»Die habe ich, und das ist eine gute Idee, Charles«, antwortete sie. »Denn du hast keine andere Wahl, als Hugo Stanton einzuladen, nach Cavendon zu kommen. Und ich denke, du musst auf das Schlimmste gefasst sein. Er könnte durchaus den Wunsch haben, Little Skell Manor unverzüglich zu beziehen.«

Seine Brust schnürte sich bei ihren Worten zusammen, aber er wusste, dass sie recht hatte.

Während sie durch die verschiedenen Räume des Südflügels gingen, vor allem durch jene, die sein Vater als Arbeitszimmer genutzt hatte, dachte Charles über die Beziehung zwischen seinem Vater und Charlotte nach.

Hatte es eine gegeben?

Charlotte hatte die Arbeit für ihn aufgenommen, als sie ein junges Mädchen gewesen war, siebzehn Jahre alt, und sie war ständig an der Seite des Fünften Earls gewesen, war mit ihm auf Reisen gegangen und seine vertraute Begleiterin wie seine persönliche Assistentin gewesen. Es war Charlotte, die bei seinem Vater gewesen war, als er seinen letzten Atemzug getan hatte.

Charles war sich darüber im Klaren, dass es Spekulationen über eine Beziehung gegeben hatte, aber niemals handfeste Beweise. Niemand wusste irgendetwas. Vielleicht war der Grund dafür die totale Diskretion vonseiten seines Vaters und Charlottes … dass nicht einmal ein Hauch von Skandal sie umwehte.

Er schaute zu Charlotte hinüber. Sie befanden sich im Lavendelzimmer, und sie erklärte ihm gerade, dass seine Tante diesen Raum vielleicht gern als Schlafzimmer nutzen würde. Charles hörte nur mit halbem Ohr zu.

Ein Strahl der hellen Frühlingssonne fiel in den Raum und verwandelte ihr rotbraunes Haar in einen polierten Helm, der ihr Gesicht einrahmte. Wie immer war sie blass, und ihre hellen graublauen Augen wirkten riesig. Zum ersten Mal seit Jahren betrachtete Charles sie objektiv. Er stellte fest, was für eine schöne Frau sie war und dass sie nur halb so alt aussah, wie sie wirklich war.

Wie hätte sein Vater ihr widerstehen sollen, während er zwanzig Jahre lang jeden Tag ihre Gesellschaft genossen hatte? Charles Ingham war plötzlich davon überzeugt, dass sie ein Verhältnis miteinander gehabt hatten. Und das in jeder Hinsicht.

Es war eine Mutmaßung seinerseits, Beweise gab es nicht. Doch in diesem Moment stand es ihm plötzlich glasklar vor Augen. Charles war mit seinem Vater und Charlotte aufgewachsen und kannte die beiden besser als irgendjemand sonst, sogar besser als Felicity, seine eigene Frau, und sie kannte er nun wirklich gut. Und er hatte Einblicke gehabt, war sich ihrer Schwächen und Vorzüge bewusst gewesen, ihrer Träume und Wünsche, und so glaubte er tief im Herzen, dass sein Vater und Charlotte höchstwahrscheinlich ein Liebespaar gewesen waren.

Charles wandte sich ab, denn ihm wurde bewusst, dass sie seine eindringliche Musterung bemerkt hatte. Er reagierte schnell, sagte etwas über die kleine Küche und eilte aus dem Lavendelzimmer in den Flur.

Und warum spielt das alles jetzt noch eine Rolle?, fragte er sich. Sein Vater war tot. Und wenn Charlotte ihn glücklich gemacht und ihm geholfen hatte, seine Bürden zu tragen, dann war er froh darüber. Charles hoffte, dass sie einander geliebt hatten.

Aber was war mit Charlotte? Wie fühlte sie sich jetzt? Vermisste sie seinen Vater? Das tat sie gewiss. Ganz plötzlich war er erfüllt von Sorge um sie. Er hätte sie gern gefragt, wie es ihr ging, wagte es jedoch nicht. Es wäre ein unverzeihliches Eindringen in ihre Privatsphäre gewesen, und er hatte nicht den Wunsch, sie in Verlegenheit zu bringen.

Kapitel 4

Das Abendkleid lag auf einem weißen Laken auf dem Boden von Lady DeLacy Inghams Schlafzimmer. DeLacy war die zwölfjährige Tochter des Earls und der Countess und außerdem Cecilys beste Freundin. An diesem Morgen war sie ganz aufgeregt, weil man ihr gestattet hatte, Cecily mit den Kleidern zu helfen. Diese waren aus dem großen Zedernschrank auf dem Dachboden nach unten gebracht worden. Einige hingen im Nähzimmer und warteten auf Alices Inspektion; zwei andere lagen hier.

Das Kleid, das die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen fesselte, war ein schimmerndes, schmal geschnittenes Kleid aus grünen, blauen und türkisfarbenen Glasperlen, und für die beiden jungen Mädchen, die daneben knieten, das schönste Kleid, das sie je gesehen hatten.

»Daphne wird wunderschön darin aussehen«, sagte DeLacy und schaute zu Cecily hinüber. »Meinst du nicht auch?«

Ihre Freundin nickte. »Meine Mutter möchte, dass ich nach Mängeln in dem Kleid suche, nach zerbrochenen Perlen, gerissenen Säumen, jedem noch so kleinen Problem. Sie muss wissen, wie viele Reparaturen nötig sind.«

»Also, dann tun wir das jetzt«, entgegnete DeLacy. »Soll ich hier anfangen? Am Halsausschnitt und an den Ärmeln?«

»Ja, das ist eine gute Idee«, stimmte Cecily zu. »Ich untersuche den Saum, weil der normalerweise von Männern beschädigt wird, wie meine Mutter immer sagt. Von ihren Schuhen, meine ich. Sie treten den Damen beim Tanzen andauernd auf den Rocksaum.«

DeLacy nickte. »Sie sind so unbeholfen«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. Sie zögerte nie auszusprechen, was ihr gerade durch den Kopf ging. Jetzt schaute sie auf das Kleid und rief: »Sieh mal, Ceci, wie es schimmert, wenn ich es anfasse.« Sachte schüttelte sie das Kleid. »Es ist wie das Meer, wie Wellen, die sich bewegen. Es wird gut zu Daphnes Augen passen, nicht wahr? Oh, ich hoffe, sie trifft den Sohn des Herzogs, wenn sie es trägt.«

»Ja«, murmelte Cecily geistesabwesend, den Kopf gesenkt, während sie sich auf den Saum des perlenbesetzten Kleides konzentrierte. Es war von einem berühmten Modeschöpfer in Paris entworfen worden, und die Countess hatte es nur wenige Male getragen. Danach war es sorgfältig weggepackt worden, eingehüllt in weiße Baumwolle und gut verstaut in einer großen Schachtel. Das Kleid sollte Daphne auf den besonderen Sommerfesten tragen, sobald es für sie umgearbeitet worden war.

»Das Kleid ist kaum beschädigt«, verkündete Cecily einige Minuten später. »Wie sieht es bei den Ärmeln und dem Ausschnitt aus?«

»Fast perfekt«, antwortete DeLacy. »Es fehlen nicht viele Perlen.«

»Mam wird sich freuen.« Cecily stand auf. »Legen wir es wieder aufs Bett.«

DeLacy und sie nahmen jede das perlenbesetzte Abendkleid an einem Ende und hoben es vorsichtig auf DeLacys Bett. »Meine Güte, es ist wirklich schwer«, sagte sie, als sie es wieder an Ort und Stelle liegen hatten.

»Das ist der Grund, warum Kleider mit Perlenbesatz in Schachteln oder Schubladen aufbewahrt werden«, erklärte Cecily. »Wenn ein perlenbesetztes Gewand auf einen Kleiderbügel gehängt wird, ziehen die Perlen es irgendwann herunter, und das macht das Kleid länger. Es verliert die Form.«

DeLacy nickte, immer interessiert an dem, was Cecily ihr erzählte, vor allem, wenn es um Kleidungsstücke ging. Sie wusste viel über Kleider, und DeLacy lernte ständig etwas von ihr.

Cecily legte das Kleid zurecht, bedeckte es mit einem großen Stück Baumwolle und ging dann ans Fenster. Sie hoffte, ihre Mutter aus dem Dorf kommen zu sehen. Doch noch war keine Spur von ihr zu entdecken.

DeLacy blieb beim Bett und betrachtete jetzt das andere Abendkleid, ein duftiges Etwas aus weißem Tüll, Taft und handgemachter Spitze. »Ich glaube, das hier gefällt mir noch besser«, bemerkte sie zu Cecily, ohne sich umzudrehen. »Das ist ein echtes Ballkleid.«

»Ich weiß. Mam hat mir erzählt, dass deine Mutter es nur ein einziges Mal getragen hat und dass es seit einer Ewigkeit in einer Baumwollhülle im Zedernschrank aufbewahrt wird. Deshalb ist das Weiß immer noch weiß. Es ist nicht umgeschlagen.«

»Wie meinst du das?«

»Weiß ändert die Farbe. Es kann einen Cremeton annehmen, vergilben oder verblassen. Das Ballkleid ist aufs Beste geschützt gewesen, und es ist so gut wie neu.«

Einem Impuls folgend, nahm DeLacy das Kleid und entfernte sich damit vom Bett. Sie drückte das Gewand eng an sich und tanzte damit durch den Raum, drehte sich, vor sich hin summend, um sich selbst und stellte sich vor, in einem Ballsaal Walzer zu tanzen. Der Rock des Kleides bauschte sich bei ihren Bewegungen.

Cecily konnte kaum glauben, was sie da sah. Vollkommen sprachlos starrte sie DeLacy an, die mit dem zarten Ballkleid in den Armen weiter umherhüpfte und sprang. Cecily stand unter Schock und war außerstande, irgendwie einzugreifen. Sie hatte Angst, DeLacy festzuhalten, denn das Kleid könnte dabei beschädigt werden. Daher stand sie nur da, rang die Hände und sorgte sich um die Spitze und den Tüll. Es war wirklich ein Ballkleid, mit einem weit ausgestellten Rock wie eine Krinoline, und es würde leicht zerreißen, wenn es an den Möbeln hängen blieb.

Als Cecily endlich ihre Stimme wiederfand, rief sie: »Bitte, hör auf damit, DeLacy! Der Stoff könnte beschädigt werden. Er ist so zart. Bitte, bitte, leg das Kleid zurück aufs Bett!«

Jetzt trat Cecily einen Schritt vor und näherte sich DeLacy, die sofort davontanzte und sich außer Reichweite brachte und das Kleid immer noch an sich drückte.

»Ich werde ihm nicht wehtun, Ceci«, versprach DeLacy und wirbelte weiter durch den Raum. »Ich verspreche es.«

»Halt! Du musst aufhören!«, rief Cecily verzweifelt und mit erhobener Stimme. Sie war den Tränen nahe.

Doch DeLacy Ingham beachtete Cecily Swann nicht.

Sie amüsierte sich viel zu gut beim Tanz durch das Zimmer, ein oder zwei Minuten verloren in ihrer eigenen Welt. Und dann geschah das Missgeschick.

Cecily sah es wie in einem Albtraum geschehen, und es gab nichts, was sie hätte tun können, um es zu verhindern.

DeLacys Fuß verfing sich im Saum des Kleides. Sie schwankte, dann verlor sie das Gleichgewicht und streckte die Hand aus, um sich festzuhalten. Während sie das Kleid noch immer vor sich hielt, bekam sie die Kante des Schreibtischs zu fassen. Aber als sie sich am Schreibtisch festklammerte, warf sie das Tintenfass um. Es rollte über den Tisch auf sie zu. Sie trat zurück, war jedoch nicht schnell genug. Die leuchtend blaue Tinte spritzte vorn auf den Rock des weißen Spitzenballkleids.

Cecily keuchte laut auf; ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Entsetzt und voller Angst über das, was gerade passiert war, ließen sie die Gedanken an die Konsequenzen wie gelähmt dastehen.

DeLacy schaute auf die Tinte, einen erschütterten Ausdruck auf dem Gesicht. Als sie zu Cecily hinübersah, füllten ihre Augen sich mit Tränen.

»Sieh dir an, was du getan hast!«, rief Cecily mit zitternder Stimme. »Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum hast du nicht aufgepasst?«

Darauf hatte DeLacy keine Antwort. Sie stand mit dem Kleid da, und Tränen rollten ihr übers Gesicht.

Kapitel 5

»DeLacy! Was um alles in der Welt ist passiert?«, rief Daphne, die auf der Türschwelle des Zimmers ihrer Schwester erschien und jetzt direkt zu ihr eilte.

DeLacy, die innerlich zitterte, erwiderte nichts, denn sie wusste, wie sehr Daphne sich aufregen würde, wenn sie das ruinierte Ballkleid sah. Sie sollte es auf dem Sommerball tragen, den ihre Eltern alljährlich in Cavendon veranstalteten. Neue Tränen stiegen ihr in die Augen, sie schluckte und versuchte, ihre Angst zu unterdrücken. Sie steckte in Schwierigkeiten. Wie dumm sie gewesen war, mit diesem zarten Kleid herumzuspielen!

»Weshalb umklammerst du das Ballkleid? Meine Güte, ist das Tinte? Wie ist Tinte auf die Spitze gekommen?« Daphnes normalerweise sanfte Stimme war um eine oder zwei Oktaven höher geworden, und sie war sichtlich erschrocken, ihr Gesicht plötzlich leichenblass.

Als DeLacy schwieg und verschüchterter denn je wirkte, drehte Daphne sich um und richtete den Blick auf Cecily. »Hast du eine Erklärung dafür? Wie ist es zu diesem Unglück gekommen?«

Cecily, die ihrer besten Freundin gegenüber unter allen Umständen loyal war, räusperte sich nervös. Sie wusste nicht, wie sie Daphne antworten sollte, ohne zu lügen. Das konnte sie einfach nicht; genauso wenig aber wollte sie die Abfolge der Ereignisse erklären, die sich so unerwartet abgespielt hatten.

Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie sich fragte, was sie sagen sollte. Doch sie brauchte gar nichts zu sagen, weil ihre Mutter jetzt den Raum betrat.

Cecily erbebte innerlich. Sie war sich vollauf im Klaren darüber, wie wütend ihre Mutter sein würde und dass sie ihr die Schuld geben würde. Sie war schließlich für das Kleid verantwortlich gewesen.

Alice kam auf Daphne und DeLacy zu. Als sie das Ballkleid in DeLacys Armen entdeckte, blieb sie jäh stehen, und ein entsetzter Ausdruck glitt über ihr Gesicht. Trotzdem beherrschte sich Alice und sagte mit ruhiger Stimme: »Es ist ruiniert! Jetzt wird es niemandem mehr etwas nutzen.« Sie sah ihre Tochter an und zog eine Augenbraue hoch. »Nun, was hast du zu sagen? Kannst du mir bitte erklären, was mit diesem einzigartigen Ballkleid passiert ist?«

Außerstande zu sprechen und mit trockenem Mund, schüttelte Cecily den Kopf und wich zum Fenster zurück.

Alice ließ sich nicht beirren und fuhr fort: »Ich habe dir eine Aufgabe gegeben, Cecily. Du hattest den Auftrag, die Kleider und das Ballkleid aus dem Zedernschrank vom Dachboden zu holen. Ich hatte dich gebeten, auf sie aufzupassen. Sie befanden sich in deiner Obhut. Doch es ist offensichtlich, dass du auf dieses Kleid nicht aufgepasst hast, nicht wahr?«

Cecily blinzelte gegen die drohenden Tränen an. Sie schüttelte den Kopf und antwortete im Flüsterton: »Es war ein Missgeschick, Mam.« Und immer noch zu DeLacys Schutz fügte sie hinzu: »Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe.«

Alice nickte nur und hielt ihren Ärger im Zaum. Normalerweise war sie höflich, insbesondere in Anwesenheit der Inghams. Dann wurde ihr schlagartig klar, dass DeLacy für diese Katastrophe verantwortlich war. Bevor sie ihr eine Frage stellen konnte, trat DeLacy näher an Alice heran.

Mit einem tiefen Atemzug und zitternder Stimme sagte sie: »Geben Sie Ceci nicht die Schuld, Mrs Alice! Bitte, tun Sie das nicht. Sie ist unschuldig. Es war mein Fehler, ich trage die Verantwortung. Ich habe das Kleid genommen und bin damit durchs Zimmer getanzt. Dann bin ich gestolpert, habe das Gleichgewicht verloren und das Tintenfass umgeworfen …« Sie hielt inne, schüttelte den Kopf und begann zu weinen. Unter Tränen fügte sie hinzu: »Das war dumm von mir.«

Alice ging zu ihr hinüber. »Danke, dass Sie es mir gesagt haben, Lady DeLacy, und bitte, lassen Sie mich Ihnen das Kleid abnehmen. Sie zerdrücken es. Bitte, geben Sie es mir, Mylady.«

DeLacy gehorchte und entließ endlich das Ballkleid aus ihrer Umklammerung. »Es tut mir leid, Mrs Alice. Sehr leid«, wiederholte sie.

Alice trug das Kleid zum Bett, legte es darauf und untersuchte die Tintenflecken. Sie war sich völlig darüber im Klaren, wie schwierig es war, Tinte zu entfernen.

Mit ihren siebzehn Jahren war Daphne Ingham ein ziemlich ungewöhnliches Mädchen. Sie war nicht nur atemberaubend schön, sondern eine freundliche, aufmerksame und mitfühlende junge Frau mit einem weichen Herzen. Sie ging zu ihrer Schwester und legte den Arm um sie. Sanft sagte sie: »Jetzt verstehe ich, was passiert ist, Lacy, Liebling, es war ein Missgeschick, wie Ceci gesagt hat. Mama wird es auch verstehen. Solche Dinge geschehen manchmal, und wir wissen alle, dass du es nicht mit Absicht getan hast.«

Als sie diese Worte hörte und in dem Wissen um Daphnes liebenswürdiges Wesen, klammerte DeLacy sich an sie und begann, laut zu schluchzen. Daphne drückte sie fester an sich und tröstete sie, denn sie wollte nicht, dass ihre kleine Schwester sich ausgerechnet wegen eines Kleides grämte.

Überraschenderweise war Lady Daphne Ingham nicht besonders eitel. Sie brachte Kleidern überhaupt nur deshalb Aufmerksamkeit entgegen, weil es ihr aufgrund ihrer Stellung so nachdrücklich beigebracht worden war. Außerdem wusste sie, dass ihr Vater es sich mühelos leisten konnte, ihr ein neues Kleid zu kaufen.

Einen Moment später löste Daphne sich von ihr. »Komm, hör auf zu weinen, DeLacy. Tränen werden da nichts nutzen.« Sie schaute zu Alice hinüber und fragte dann: »Kann man die Spitze und die Unterröcke reinigen, Mrs Swann?«