Begraben in Garzweiler II - Kurt Lehmkuhl - E-Book

Begraben in Garzweiler II E-Book

Kurt Lehmkuhl

4,9

Beschreibung

Der Energieriese RWE erwirtschaftet mit der Braunkohle aus den drei Großtagebauen im Rheinischen Revier grandiose Profite. Ein Geschäft wittern auch Bodenspekulanten, die es auf die Immobilien der Menschen abgesehen haben, die wegen der Braunkohle umgesiedelt werden müssen. Hieronymus Müllejans tritt im Gebiet des Tagebaus Garzweiler II eine Erbschaft an und lernt die Menschen kennen, die verzweifelt um den Erhalt ihrer Heimat und der Natur kämpfen. Doch immense Summen sind im Spiel, Summen, bei denen einige vor Mord nicht zurückschrecken … Ein brandaktuelles Thema!

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Kurt Lehmkuhl

Begraben in Garzweiler II

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © Thomas Saupe – iStockphoto.com

Umschlaggestaltung: Matthias Schatz

ISBN 978-3-7349-9222-3

Trauer

Die Trauergemeinde, die an dem diesigen Dienstagmorgen im Oktober auf dem Dortmunder Südwest-Friedhof Abschied von dem Verstorbenen nahm, umfasste viele Köpfe. Nicht nur die Familie, auch viele politische Freunde und Parlamentskollegen trauerten um Bernhard Baumhäuser, dem populären Abgeordneten der Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Der umweltpolitische Sprecher seiner Fraktion war wenige Tage zuvor bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Seine Freunde und Gegner bezeichneten es geradezu als Ironie des Schicksals, dass Baumhäuser ausgerechnet in der Region unvermittelt aus dem Leben scheiden musste, deren Sterben er mit aller Macht verhindern wollte.

Der fast 60-jährige Baumhäuser war am späten Abend auf einer Straße zwischen den Ortschaften Keyenberg und Kaulhausen in der Stadt Erkelenz tödlich verunglückt. Eine scharfe Rechtskurve war ihm kurz vor Mitternacht zum Verhängnis geworden. Er hatte sie fatalerweise übersehen und war mit hoher Geschwindigkeit geradeaus weiter auf einen Feldweg gefahren, hatte dort die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren, sich überschlagen und war in dem Wrack verbrannt. Wie die Polizei der Presse gegenüber erklärt hatte, habe es sich um einen Alleinunfall gehandelt, ein Fremdverschulden sei auszuschließen.

Keyenberg, Kaulhausen, diese Ortsnamen sagten den wenigsten Trauergästen etwas, sie hatten allenfalls schon einmal den Namen Erkelenz gehört. Erkelenz, das war die Stadt, auf deren Gebiet sich größtenteils in den ersten Jahren des anstehenden Jahrtausends der gigantische Braunkohletagebau Garzweiler II erstrecken sollte, gegen den auch Baumhäuser agierte; Erkelenz, das war die Kleinstadt, die mit Vehemenz die Abbaggerungsabsichten der Rheinbraun AG bekämpfte und von den meisten Menschen in Nordrhein-Westfalen nur mitleidsvoll oder verständnislos belächelt wurde.

Der Kampf gegen die Tagebaubagger, das war der Kampf eines Davids, der noch nicht einmal eine Steinschleuder besaß, gegen einen Goliath, der sämtliche Waffen und Rechte sein Eigen nannte.

Um die Braunkohle in der Erkelenzer Börde gab es schon seit rund zwei Jahrzehnten erbitterte Auseinandersetzungen, die zunächst nur auf die Region beschränkt geblieben waren, inzwischen aber bundesweit für Aufmerksamkeit sorgten.

Kommt der Tagebau als Fortsetzung des bestehenden Tagebaus Garzweiler I oder kommt er nicht?

Das war die Frage, die auch Baumhäuser immer wieder gestellt wurde und auf die es für ihn, im Gegensatz zu anderen einflussreichen Politikern, immer nur eine Antwort gegeben hatte: Der Tagebau darf nicht kommen!

Dafür werde er bis zu seinem letzten Atemzug kämpfen, hatte Baumhäuser stets verkündet.

Jetzt war er tot. Gestorben in einer Region, die nur die wenigsten Teilnehmer der Beerdigung mit Namen kannten und die sie noch weniger jemals aus eigener Anschauung erlebt hatten.

Was sollten sie auch schon auf dem platten Land, da unten hinter Mönchengladbach, wo niemand so recht wusste, ob die Gegend und ihre Bewohner noch zum Niederrhein oder schon zum Mittelrhein gehörten?

Erkelenz grenzt zwar unmittelbar an Mönchengladbach an, gehört jedoch verwaltungsmäßig zur Region Aachen.

Gedanken über dieses an sich belanglose Problem hatte sich allenfalls Hieronymus Müllejans, der sich stumm in der Trauergemeinde versteckte, schon einmal gemacht. Früher, als Kind, hatte Müllejans manchmal seine Ferien in der Einsamkeit der Erkelenzer Börde verbringen müssen; er, das aus Aachen stammende, sorgsam behütete Großstadtkind, das sich dort mit derben Landjungen prügeln musste.

Aber das war wohl mehr als 20 Jahre her, wie sich Müllejans ohne Begeisterung erinnerte. Nunmehr war Erkelenz für ihn lediglich eine Durchfahrtstation, gelegentlich auch ein Haltepunkt der Eisenbahn, wenn er ausnahmsweise auf der Fahrt von Aachen nach Düsseldorf statt der Schnellzüge eine Regionalbahn nehmen musste.

Müllejans, der als Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Ministerium für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft tätig war, hatte Baumhäuser nur flüchtig gekannt. Als Dezernent für Fragen der Weiterbildung des landwirtschaftlichen Nachwuchses hatte Müllejans keine sonderlich enge Beziehung zu Baumhäusers politischen Anliegen. Die Umweltpolitik und ihr Verhältnis zur Energiewirtschaft hatten bislang nicht Müllejans’ Interesse gefunden und waren nicht seine Themen, dafür war ein Kollege zuständig.

Mehr der drängenden Bitte der grünen Umweltministerin folgend als aus eigenem Antrieb war Müllejans am Morgen mit der Bahn zur Beerdigung gefahren.

Eine politische Nähe zu den Grünen konnte ihm niemand nachsagen. Der parteilose Volljurist war noch zu Zeiten der sozialdemokratischen Alleinregierung nach seinem Zweiten Juristischen Staatsexamen eingestellt worden, nachdem er während seiner Referendarzeit im Ministerium mit einer positiven Arbeitsleistung aufgefallen war. Jetzt saß Müllejans als mit A 13 besoldeter Regierungsrat in seinem modernen Büro mit Blick auf den Rhein und überlegte, wie er seinen Tag am besten überbrücken konnte bis zum Dienstschluss und zur Heimfahrt nach Aachen.

Baumhäuser war Müllejans fremd geblieben, sagte ihm nicht mehr als das geplante Braunkohletagebauprojekt Garzweiler II. Wenn’s sein musste und politisch gewollt war, warum nicht, fragte sich Müllejans allenfalls. ›Was habe ich damit zu tun?‹ Der Tagebau betraf doch nur eine Handvoll Menschen in einer überschaubaren Region. Und überhaupt: Irgendwoher musste der Strom kommen, den er aus der Steckdose abzapfte.

Nein, Baumhäuser oder Garzweiler II, das waren nicht seine Probleme, sagte sich Müllejans. Die wollte er sich freiwillig gar nicht erst antun. Außerdem hatte er genügend mit sich selbst und seiner privaten Situation zu tun.

Sein Leben war zunächst, so wie von ihm geplant, ordentlich und geregelt verlaufen: Abitur am Kaiser-Karls-Gymnasium in seiner Geburtsstadt Aachen, Zeitsoldat für zwei Jahre bei der Bundeswehr in Budel und Nörvenich, acht Semester Jurastudium in Bonn mit Prädikatsexamen, zweijähriges Referendariat mit einem souverän abgelegten Zweiten Staatsexamen und dann sofort auf die Bürokratenstelle in einem Landesministerium.

Auch privat lief es glatt: Er hatte Elisabeth während des Studiums kennen gelernt, sie hatten geheiratet und mit dem Nachwuchs bis zu seiner Festanstellung in Düsseldorf gewartet.

Dann kam das für ihn schmerzliche Erwachen, wenige Tage vor dem 30. Geburtstag.

Seine Frau hatte ihm Sohn Lukas geboren und ihn verlassen. Von der Wöchnerinnenstation aus zog sie direkt mit dem Säugling zu Wolfgang, seinem besten Freund, der auch der Vater von Lukas war, wie sie ohne Scham zugab. Elisabeth hatte sich seitdem nicht mehr auf Gespräche mit ihm eingelassen, ihm vielmehr über die Aachener Anwaltskanzlei Dr. Schulz mitteilen lassen, dass sie schnellstmöglich auf Scheidung dränge und auf sämtliche Ausgleichsansprüche verzichte.

Nun hauste Müllejans allein in der geräumigen Eigentumswohnung, die ihm seine Eltern, glücklicherweise vor der Heirat, geschenkt hatten, und suchte nach dem Fehler in seiner Lebensplanung. Er hatte überlegt, wegzuziehen, einen privaten Neuanfang zu starten, aber er hatte nicht gewusst, wohin er sich treiben lassen sollte. Schon während des Studiums in Bonn war er trotz der Studentenbude in Beuel fast täglich nach Aachen gefahren, hier war er zu Hause, hier fühlte er sich im Prinzip wohl.

Und so blieb er vorerst hocken in seiner Wohnung an der Aureliusstraße, die für ihn allein viel zu groß war, die aber einen Vorteil hatte: Sie lag ruhig und dennoch zentral zur City und zum Bahnhof.

Müllejans fuhr meistens mit dem Zug, sein Auto hatte er schon vor Jahren abgemeldet. Die ewige Suche nach einem Parkplatz in seiner Wohngegend und die zunehmende Gefährdung durch immer mehr Raser auf den Straßen hatten ihn zum Verzicht bewogen. Die Eisenbahn war bequemer und in vielen Fälle auch nicht sonderlich langsamer als das Auto.

Mit dem Zug war Müllejans schnell weg aus seiner Heimatstadt nach Düsseldorf zur Arbeit, nach Köln ins Theater oder nach London und Paris. Und er war schnell wieder daheim, dort, wo nach dem Tod der Eltern vor einem Jahr und der unerwarteten Trennung von Elisabeth niemand mehr auf ihn wartete.

»Hiero, los!« Sein Nachbar, ein Kollege aus dem Ministerium, riss ihn aus den Gedanken. Überrascht stellte Müllejans fest, dass die Trauerfeier in der Kapelle beendet war und sich die Trauernden langsam auf den Weg zur Grabstätte machten. Er trottete teilnahmslos mit, warf emotionslos einen kleinen Blumenstrauß auf den abgesenkten Holzsarg und schritt bedächtig weiter.

Erst jetzt fiel Müllejans auf, dass nur wenige Kränze den Sarg schmückten. Offensichtlich hatten die meisten der Trauergäste den letzten Willen von Baumhäuser erfüllt, der auf der Todesanzeige zu lesen war.

Statt des Blumenschmucks bat die Familie um Spenden auf ein Konto der »Vereinigten Bürgerinitiativen gegen Garzweiler II«, einer Bürgerinitiative in Erkelenz, die unverdrossen trotz aller Nackenschläge gegen den geplanten Tagebau in ihrem Stadtgebiet kämpfte.

Müllejans würde keine Mark an die Tagebaugegner überweisen. ›Ich hätte ja auch keinen Kranz gekauft‹, rechtfertigte er sich.

Der Kollege nahm ihn im Dienstwagen mit in die Landeshauptstadt, nach Düsseldorf.

»Der hat’s hinter sich«, bemerkte er lässig, während sie sich auf der A46 vorwärts stauten, »bevor er überhaupt sein Ziel erreicht hatte.« Baumhäuser hätte noch eine große politische Karriere vor sich gehabt. »Der sollte sogar nach den nächsten Wahlen Umweltminister werden«, behauptete der Kollege. »Aber jetzt ist er nicht mehr und Garzweiler II hat einen Bremsstein weniger. So einfach ist das.«

Müllejans schwieg dazu, ihm war’s einerlei. Er hätte auch nichts erwidern können. Das Thema und der Politiker, sie waren ihm einfach zu fremd. Baumhäusers Karriere ging ihn nichts an. Die Berichterstattung in den Medien über das Tagebauprojekt hatte er nur oberflächlich verfolgt und sie hatte ihn in seiner Auffassung eigentlich stets bestärkt: Wenn’s denn sein muss…

Müllejans verkroch sich in seinem Büro hinter dem Schreibtisch und holte nach, worauf er am Morgen hatte verzichten müssen. Er las mit Ruhe die Tageszeitungen, die ihm seine Sekretärin mit der Unterschriftenmappe vorgelegt hatte.

In allen Blättern wurde nochmals die politische Tätigkeit von Baumhäuser gewürdigt, besonders sein Engagement in der politischen Auseinandersetzung um Garzweiler II.

Schon mehr als einmal war der geplante Tagebau zum Zankapfel in der Koalition zwischen SPD und Grünen geworden, die SPD befürwortete das Projekt, der Juniorpartner hatte sich dessen Verhinderung auf die Fahnen geschrieben; das drohende Ende der Koalition war schon mehrfach prophezeit worden, aber bislang nicht eingetreten. »Totgesagte leben halt länger«, pflegte der mächtige und trickreiche Ministerpräsident des Landes zu dem stets herbeibeschworenen Koalitionsende zu sagen.

Es würde den Grünen schwer fallen, einen kompetenten Nachfolger für Baumhäuser zu finden, so war in den Zeitungen zu lesen. Müllejans verstand den Sinn, der zwischen den Zeilen versteckt war: Ohne Baumhäuser würde es politisch leichter werden, Garzweiler II durchzusetzen.

Erbschaft

Der Blick und der Griff in den Briefkasten gehörten bei der Heimkehr zum alltäglichen Ritual, auch wenn Müllejans wusste, dass der Behälter meistens »Luftpost« erhielt. War der Briefkasten wieder einmal leer gewesen, tröstete er sich mit dem alten Spruch, dass keine Nachrichten immer noch besser seien als schlechte.

So rechnete Müllejans auch jetzt nicht damit, Post zu finden, als er am Abend die Haustür aufschloss und den Blick in den Kasten riskierte. Doch er hatte sich getäuscht. Der Briefträger hatte ihm tatsächlich eine Botschaft überbracht.

Die flüchtige Vorfreude wich einem leichten Unbehagen, als Müllejans den Brief in der Hand hielt. Das Amtsgericht Erkelenz hatte ihm ein behördliches Schreiben zugesandt.

›Hatte das etwas mit Elisabeth zu tun‹, fragte sich Müllejans spontan, um diese Überlegung als dumm zu verwerfen. War er vielleicht als Zeuge geladen? Was sollte der Brief?

Aber er widerstand der Versuchung, schon im Hausflur den Briefumschlag aufzureißen.

Auch das gehörte zum Ritual: Erst am Küchentisch wurde in aller Ruhe die Post sortiert, geöffnet und gelesen; so hatte es Müllejans schon bei seinen Eltern gelernt und so hatte er es fortgeführt.

Zunächst wurden der dunkle Mantel ordentlich an der Garderobe aufgehängt, die braune Aktentasche neben den Schreibtisch gestellt, der Schlipsknoten gelöst und die schwarzen Straßenschuhe gegen die Pantoffeln getauscht. Dieses Verhalten hatte sich Müllejans durch langjährige aufgezwungene Übung angewöhnt. Nur gegen das Bemühen seiner Familie und Elisabeths, ihn nach der Arbeit oder am Wochenende zu Hause in eine Freizeithose zu stecken, dagegen hatte sich Müllejans beharrlich und erfolgreich wehren können. Er kleidete sich morgens mit seinem Anzug und zog ihn normalerweise erst abends, wenn er zu Bett ging, wieder aus.

Er hatte angestrengt nachgedacht, konnte aber keine Erklärung für das Schreiben finden. Was wollte das Amtsgericht von ihm, fragte sich Müllejans, als er endlich den blassgrünen Briefumschlag öffnete. Er hatte seine Gelassenheit wiedergewonnen. Dramatisch konnte der Inhalt nicht sein, dann hätte man ihm den Brief mit Rückantwortschein geschickt. ›Meine Sterbeurkunde wird es garantiert nicht sein‹, scherzte er mit sich, also konnte es sich auch nicht um ein gravierendes Problem handeln.

Dennoch war Müllejans verdutzt, als er das amtliche Schreiben las. Das Amtsgericht teilte ihm mit, er sei alleiniger Erbe von Annegret Jansen aus Erkelenz, die vor einigen Monaten gestorben war. Nach den Nachforschungen des Gerichts war Hieronymus Müllejans der einzige bekannte, noch lebende Verwandte der Erblasserin.

Binnen vier Wochen sollte Müllejans mitteilen, ob er das Erbe antreten oder ablehnen würde. Er würde gegebenenfalls gegen Erstattung einer Gebühr den Erbschein erhalten. Welchen Umfang die Erbschaft hatte, wurde in dem Schreiben nicht erklärt.

›Die sind gut‹, dachte sich Müllejans. ›Was soll ich damit?‹ Welchen Sinn würde ein Erbe machen, über das er nichts wusste? ›Wenn das Erbe aus einem Berg Schulden besteht, bin ich gekniffen‹, überlegte er, ›wenn’s viel Geld ist, habe ich gute Karten.‹

Nachdenklich drehte Müllejans das amtliche Schreiben zwischen den Fingern.

Annegret Jansen? Das konnte nur Tante Annegret sein. Irgendwie schlug das Leben merkwürdige Kapriolen, wunderte sich Müllejans. Jahrelang hatte er nicht mehr an die Großtante gedacht. Aber heute Morgen, bei der Beerdigung in Dortmund, da war sie ihm wieder in den Sinn gekommen als die Tante, bei der er als Kind die Ferien verlebte.

Und jetzt hielt er einen Brief in der Hand und erfuhr, dass sie tot war, mit Sicherheit längst schon begraben, da hinten in Erkelenz.

Müllejans hatte bislang nichts von ihrem Ableben gewusst, er war vielmehr davon ausgegangen, dass die Großtante schon vor Jahren in aller Stille das Zeitliche gesegnet hatte. Sie war ihm bereits damals, vor mehr als 20 Jahren, so alt vorgekommen, als er bei ihr drei oder vier Jahre lang in den Sommerferien leben musste, weil es die Eltern so wollten.

Wie hieß noch das Kaff, fragte sich Müllejans. Er wusste den Namen nicht mehr, es musste sich um ein Dorf in der Nähe von Erkelenz gehandelt haben.

Seine Eltern hatten ihn damals, in seinen Kindheitstagen, in Aachen in den Zug gesetzt, in Erkelenz hatte ihn Tante Annegret am Bahnhof abgeholt und war mit ihm mit dem Bus aufs Land gefahren. Auf einem Bauernhof in einem kleinen Dorf, an das Müllejans noch nicht einmal mehr vage Erinnerungen hatte, hatte die Großtante gelebt, kinderlos, damals schon verwitwet, nie aus der Erkelenzer Börde herausgekommen.

Hieronymus verschaffte ihr für einige Wochen das seltene Gefühl, für ein Kind verantwortlich zu sein. Sie hatte ihn bemuttert, verwöhnt, so sehr mit Süßigkeiten überhäuft, dass er die Leckereien anschließend monatelang nicht mehr mochte.

Müllejans kramte einige flüchtige Erinnerungsfetzen zusammen, er wusste noch, dass er froh war, als er endlich nicht mehr zu Tante Annegret fahren musste. Einige Jahre lang hatte er auf Drängen seiner Mutter der Großtante Grüße zum Weihnachtsfest oder Glückwünsche zum Namenstag geschickt, dann hatte er auch diese seltenen Kontakte einschlafen lassen.

Tante Annegret hatte seitdem nicht mehr zu seinem Leben gehört. Erst nach ihrem Tod wurde sie plötzlich wieder zu einem Bestandteil davon.

Im Nachhinein bedauerte Müllejans, sich nicht mehr um die Großtante gekümmert zu haben. Sie hatte ihm alles hinterlassen, er hatte sie beerbt, ohne zu wissen, warum, und ohne zu wissen, was er geerbt hatte.

Müllejans war aufgestanden und hatte hungrig im Kühlschrank nach einem Essensrest gesucht. Ohne die regelmäßigen Mahlzeiten am Abend, auf die er nach dem Auszug von Elisabeth verzichten musste, fehlte ihm etwas. Gedankenlos stopfte er ein Stück Camembert und eine Scheibe gekochten Schinken in sich hinein. Mit einem Schluck Mineralwasser aus der Flasche rundete er sein dürftiges Abendessen ab.

Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, in einem Restaurant oder in der Pommesbude etwas Warmes zu kaufen, aber es hätte ihm nicht geschmeckt. Alleine machte ihm das Speisen keinen Spaß und die wenigen Freunde, mit denen er sich gelegentlich traf, verspürten nicht die Lust, sich beim Essen sein Lamentieren über die Arbeit und sein Alleinsein anzuhören.

Im Sommer war es für Müllejans einfacher, da machte er sich am Abend noch auf zur Tennisanlage beim Postsportverein an der Krefelder Straße. Da fand er in seinem Klub immer einen Mitspieler oder Gesprächspartner.

Aber im Herbst war es nicht mehr weit her mit der sportlichen Aktivität. Jetzt verabredeten sich seine Freunde mit ihm zu einem Besuch auf dem Tivoli bei der Alemannia oder zu einem Bier in der Innenstadt. Gegenseitige Besuche in den Wohnungen waren seltener. Die meisten von Müllejans’ Freunden waren liiert und zogen die traute Zweisamkeit oder das langsam sprießende Familienleben vor, da fühlte sich Müllejans nicht zu Unrecht oft wie das fünfte Rad am Wagen.

Die Besuche waren noch seltener geworden, seitdem Wolfgang nicht mehr zu seinem Freundeskreis gehörte.

Müllejans hatte sich niemals etwas dabei gedacht, wenn Wolfgang schon in seiner Wohnung bei Elisabeth saß, wenn er aus Düsseldorf nach Hause kam und es war für ihn selbstverständlich gewesen, dass der Freund auch am Abendessen teilnahm.

›Habe ich eigentlich Freunde?‹, fragte sich Müllejans zweifelnd. Es gab wohl niemanden mehr, dem er noch vertrauen konnte oder wollte.

Dennoch war er froh, wenn ihn jemand anrief und fragte, ob er mitkomme.

An diesem Wochenende hatte Müllejans nichts vor, sein Wandkalender in der Küche war unbeschrieben. Auch hing an der Pinnwand kein Notizzettel.

Eigentlich, so überlegte er, als er das Schreiben des Amtsgerichts in sein Arbeitszimmer brachte, könnte er die freien Tage nutzen, um sich über Tante Annegret und die Erbschaft schlau zu machen.

Am Donnerstag würde er etwas früher Feierabend machen und sich in Erkelenz orientieren, am Freitag einen Urlaubstag nehmen, um beim Amtsgericht und der Stadtverwaltung in Erkelenz wegen der Angelegenheit nachzufragen.

An seinem Schreibtisch griff Müllejans nach dem dicken Telefonbuch und war erfreut, darin auch das Erkelenzer Ortsnetz zu finden.

Neugierig suchte er nach dem Namen Annegret Jansen, doch gab er die Suche sehr schnell auf.

Offenbar hörte mehr als die Hälfte aller Erkelenzer auf den Familiennamen Jansen und machte sich einen Spaß daraus, sich ohne Vornamen und Straßenangabe ins Telefonverzeichnis eintragen zu lassen. Es hatte keinen Zweck, die lange Liste zu durchforsten.

Es gab einfach zu viele Jansen in Erkelenz.

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