Raffgier - Kurt Lehmkuhl - E-Book

Raffgier E-Book

Kurt Lehmkuhl

4,4

Beschreibung

Selbst in seinem Ferienhaus in Huppenbroich hat der pensionierte Leiter der Aachener Mordkommission, Kriminalhauptkommissar Rudolf-Günther Böhnke, keine Ruhe vor dem Verbrechen: Ein brutaler Mord erschüttert das beschauliche Dorf am Nordrand der Eifel. Der angesehene Immobilienmakler Werner Fritz Puhlmann aus Aachen wurde in seiner Ferienwohnung erschossen. Für Böhnkes Nachfolger, den westfälischen Sturkopf Schulze-Meyerdieck, ist der Fall schnell klar: Ein Kleinkrimineller, dessen Fingerabdrücke auf der Mordwaffe sichergestellt werden konnten, muss der Täter sein. Doch Böhnke mag nicht an diese einfache Lösung glauben. Motiviert durch seinen Freund Tobias Grundler, der als Rechtsanwalt mit der Nachlassverwaltung des Junggesellen Puhlmann betraut ist, beginnt er selbst zu ermitteln. Und schon bald fördert er ganz erstaunliche Details aus dem Leben des so sauberen Maklers zu Tage.

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Kurt Lehmkuhl

Raffgier

Kriminalroman

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2008 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2013

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Muetzenmaedchen,

Photocase.com

Technisch erneuerte E-Book-Ausgabe: 2016

ISBN 978-3-89977-3034-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Kapitel

Wie lange noch? Nur noch diesen einen Sommer, wie es zunächst hieß? Oder doch länger? Ein Jahr sogar, wie der Arzt nach der letzten Untersuchung zuversichtlich prognostiziert hatte?

Aber was bedeutete das schon: ein Sommer, ein Jahr? Wann war seine Zeit endgültig abgelaufen?

»Herr Kommissar! Herr Kommissar! Da ist ne Leiche!« Aufgeregt rannten die beiden Knirpse auf den für sich allein laufenden, grübelnden Spaziergänger zu.

»Da hinten, da in dem Haus, da liegt ein Mann«, berichtete der vielleicht achtjährige Junge schwer atmend, mit einem Arm hinter sich zeigend.

»Der ist bestimmt tot«, keuchte sein etwas jüngerer und kleinerer Freund. »Das müssen Sie sich angucken.«

»Immer langsam mit den jungen Pferden«, brummte der Senior. Er wollte beruhigen, befürchtete aber schon, dass er seinen geruhsamen Spaziergang durch die Natur an diesem sonnigen Sommernachmittag vergessen konnte.

Gemächlich folgte er den ungeduldigen Kindern. Sie hatten es eilig, er war nicht so schnell, dazu fehlte ihm die Luft. Die fast 40 Jahre im Polizeidienst hatten bleibende Spuren hinterlassen, psychisch und physisch. Vor wenigen Wochen war er, nicht einmal 60-jährig, in den Ruhestand getreten. Nicht ganz freiwillig, sondern auf ärztliches Anraten hin. Immer hatte er sich kerngesund gefühlt. Nach allen medizinischen Erfahrungen nagte jetzt aber der Zahn des Todes ganz gewaltig an ihm, schleichend, unmerklich, unerbittlich, sich zuvor viele Jahre lang im Gewand der Gesundheit tarnend. Sein Blut verlor mehr und mehr die Fähigkeit, Sauerstoff zu transportieren. Die Medizin stand vor einem Phänomen, für das sie weder eine einleuchtende Erklärung fand, noch eine wirksame Heilmethode entwickelt hatte. Er musste untätig und hilflos warten.

Böhnke solle sich einen schönen, ruhigen Lebensabend in der Eifelidylle gönnen, hatte ihm der gerade neu installierte Polizeipräsident aus Westfalen bei der ihm peinlichen Lobhudelei im Sitzungssaal des Aachener Polizeipräsidiums zum Abschied gesagt. Wahrscheinlich war der PP froh, den alten, bisweilen unbequemen und unkonventionellen Leiter der Mordkommission ohne Zwangsmittel abschieben zu können und den Posten mit einem ihm genehmen Zögling zu besetzen. In den vielen Jahren hatte der Alte die Karriereleiter erklommen, alle Stationen durchlaufen, ehe er endlich, wonach er immer gestrebt hatte, Chef der Abteilung für Tötungsdelikte wurde.

Seinem Nachfolger wurde es da zu Böhnkes Missfallen wesentlich leichter gemacht. Der PP hatte diesen aus Bielefeld mitgebracht und ihm prompt den ersten frei werdenden Leiterposten gegeben, eben den seinen.

Der Kommissar, der sich wohl nie an das a. D. gewöhnen würde, hatte mit Überreichung der Entlassungsurkunde sofort alle Zelte in Aachen abgebrochen, hatte die kleine, unscheinbare Wohnung in der Stephanstraße als seinen Hauptwohnsitz abgemeldet und war in das kleine, abgelegene Dorf in der Nordeifel gezogen. Falls ihn doch ab und an die Sehnsucht nach der Kaiserstadt packen sollte, war da immer noch die Wohnung seiner besseren Hälfte, in der zu jeder Zeit ein Platz für ihn war. Hier in Huppenbroich fühlte er sich wohl und auch heimisch. Hier besaß seine Lebensgefährtin in einem ehemaligen, umgebauten Hühnerstall eine durchaus komfortable Ferienwohnung, die sie gemeinsam ausgebaut und in den letzten Jahren oft am Wochenende belegt hatten. Der Hühnerstall würde fortan bis zu seinem Ableben sein Domizil werden. Hier in Huppenbroich kannten ihn die wenigen Dorfbewohner, die ihn trotz seiner Pensionierung immer noch respektvoll mit ›Herr Kommissar‹ anredeten.

»Einmal Kommissar, immer Kommissar«, dachte er sich beim anstrengenden Folgen der immer drängenden, voranlaufenden Kinder. Sie betrachteten offenbar ungeniert das gesamte Dorf als ihren Spielplatz. Sie liefen kurzerhand durch die von kurz geschnittenen Buchen gesäumten Gärten, nahmen wie selbstverständlich Abkürzungen über Privatgrundstücke und wussten Wege zwischen den Buchenhecken, die er noch nicht kannte. Zäune, hohe Absperrungen, Verbotsschilder oder gar Alarmanlagen waren in Huppenbroich unbekannt. An diesem abgelegenen Flecken jenseits der Hauptstraßen gab es noch die heile Welt, die höchst selten aus den Fugen geriet. Die wenigen spektakulären Ereignisse der Vergangenheit sorgten auch nach Jahren noch für Gesprächsstoff. Dann wurde Huppenbroich gerne Schaltzentrale des Verbrechens genannt. Diese Bezeichnung in den Medien war zugegebenermaßen übertrieben, aber durchaus werbewirksam gewesen und hatte für einige Wochen vermehrt neugierige Katastrophentouristen in den Ort gelockt. Es hatte zwar einmal einen Mord in dieser Idylle gegeben, aber dieser war vom ehemaligen Kommissar und seinen Kollegen rasch aufgeklärt worden und hatte keinen direkten Bezug zu Huppenbroich gehabt, sondern hatte im Zusammenhang mit der Verleihung des Karlspreises an den britischen Premierminister in Aachen gestanden.

Ohne zu zögern, öffneten die Jungen ein in der Hecke verborgenes Gartentürchen am hinteren Ende eines großen, gärtnerisch gestalteten Grundstückes, liefen quer über eine kurz geschnittene Rasenfläche, in der Blumenrabatten wie bunte Inseln lagen, und stoppten vor der großen, gläsernen Terrassentür des einstöckigen, frei stehenden Hauses.

»Da! Da liegt er!« Der Größere zeigte ungeduldig ins Wohnzimmer und schaute danach gespannt auf den ehemaligen Polizisten in der Erwartung, bestätigt und gelobt zu werden.

Das sah nicht gut aus. Sofort erwachte der kriminalistische Instinkt in dem Pensionär. Der dicke Mann, der ihnen halb auf der Couch liegend den Rücken zukehrte, war augenscheinlich tot. Die gekrümmte, unbequeme Lage, die niemand freiwillig einnehmen würde, sprach dafür. Vermutlich hatte sich der Dicke zur Couch schleppen wollen, als er zusammenbrach.

»Kennen Sie den, Herr Kommissar?«, flüsterte der kleinere Junge. »Der ist nicht von uns.«

Damit war alles gesagt. »Der ist nicht von uns«, das sagten fast alle Huppenbroicher, wenn ein Fremder, zu denen auch die vielen Zweitwohnungsbesitzer gehörten, ausnahmsweise einmal zu einem Gesprächsthema wurde.

Die Jungen erhielten keine Antwort auf die Frage.

»Ihr geht jetzt sofort nach Hause!«, befahl der Kommissar den neugierigen Kindern streng, »ihr habt hier nichts mehr zu suchen.« Die enttäuschten Blicke der beiden Freunde konnte er gut verstehen. Jetzt waren sie endlich einmal die Helden und wurden weggeschickt.

»Das habt ihr gut gemacht«, schob der Senior schnell als Lob hinterher. »Aber wir müssen jetzt Platz machen für die Polizei. Wir dürfen keine Spuren verwischen.«

Unzufrieden trollten sich die Jungen. Böhnke griff zum Handy und rief seine Lebensgefährtin in der Apotheke in Aachen an.

»Alarmier die Mordkommission«, bat er knapp. »Ich glaube, es gibt Arbeit für sie in Huppenbroich.«

Dann setzte er sich auf eine Gartenbank, ließ sich von der Sonne bescheinen und überlegte angestrengt, ob er den dicken Mann vorher jemals in Huppenbroich oder, was wahrscheinlicher war, in Aachen gesehen hatte.

Ob es zu seiner Zeit auch so lange gedauert hatte, bis er am Tatort erschienen war, fragte er sich. Mehr als zwei Stunden vergingen, bis endlich der erste Wagen der Kripo Aachen erschien. Zwischenzeitlich hatte Böhnke mehrfach mit dem Gedanken gespielt zu gehen, sich dann aber doch zum Warten entschlossen. Es gab genügend in der Natur zu beobachten.

Ausgerechnet sein Nachfolger Schulze-Meyerdieck sprang als Erster ins Freie und schien wenig begeistert, ihn zu erblicken.

»Na, Böhnke, Sie können wohl nicht ohne Verbrechen bleiben, was?«

Stumm betrachtete Böhnke den Dynamiker, einen großen, athletischen Mann Mitte 30 in einem eleganten, leichten Sommeranzug, der das lange, braune Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er sah keinen Grund, Schulze-Meyerdieck, den alle Kollegen hausintern nur SM nannten, zu begrüßen, wenn der es als der Jüngere nicht für notwendig hielt, die Höflichkeit zu pflegen. Er hatte den Schnösel vom ersten Augenblick an nicht gemocht.

»Das Verbrechen kommt, das Verbrechen geht«, entgegnete er lakonisch. »Hätte ich Sie etwa nicht informieren sollen?«

Er habe doch gar nicht informiert, hielt ihm sein Amtsnachfolger sofort entgegen, das habe doch seine Partnerin, die Apothekerin, gemacht.

»Warum eigentlich?«, schob er als Frage noch hinterher.

»Eben, weil ich nichts mehr mit dem Laden zu tun habe«, antwortete Böhnke aufreizend lässig. »Ich bin draußen vor und bleibe draußen vor.«

Den tatsächlichen Grund des Umweges verschwieg er: Er wollte nicht, dass die Kripo die Rufnummer seines neuen Handyanschlusses erfuhr. Er hätte zwar auch von der einzigen öffentlichen Telefonzelle des Ortes aus das Präsidium anrufen können. Aber die Anstrengung, dorthin zu laufen, hatte er sich nicht antun wollen. Allerdings sah er keine Notwendigkeit, SM über sein Vorgehen eine Rechtfertigung abliefern zu müssen. Der Kerl sollte froh sein, unverzüglich benachrichtigt worden zu sein.

Nur zwei Menschen hatte er die Nummer seines Mobiltelefons mitgeteilt, und dabei sollte es nach Möglichkeit bleiben. Böhnke leistete sich den Luxus, offiziell kein Handy zu besitzen. Wer etwas von ihm wollte, sollte ihm schreiben oder ihn besuchen. Das fehlte noch, dass ihn möglicherweise ehemalige Kollegen behelligten oder belästigten. Die brauchten seine Nummer nicht zu erfahren und brauchten nicht einmal zu wissen, dass er überhaupt im Besitz eines Handys war.

»Ich gehe«, sagte er gelassen mit einem letzten Blick auf den Toten. »Sie wissen bestimmt, wo Sie mich finden. Huppenbroich ist ja nicht groß.«

Verachtung spielte durchaus mit, als Schulze-Meyerdieck ihm hinterher sah. Der Alte lebt in einer anderen Welt, der hat den letzten Schuss nicht gehört, spöttelte er. Von dem Elan, der Böhnke respektvoll von den Kollegen nachgesagt worden war, spürte Schulze-Meyerdieck nichts. Er sah nur einen großen, älteren Mann mit kurz geschnittenen, grauen Haaren in Jeans und hellem Hemd, der ihm den Rücken zugewandt hatte und mit gesenktem Kopf kraftlos davon schlurfte.

Böhnke verließ den Tatort in der Erwartung, einer seiner ehemaligen Mitarbeiter würde ihn schon bald in seiner Wohnung aufsuchen. Immerhin konnte er als Zeuge gelten. Er überlegte kurz, ob er ein zweites Mal sein Handy benutzen sollte, entschied sich aber dagegen. Nichts sprach zum jetzigen Zeitpunkt dafür, einem Zeitungsfritzen eine Info zukommen zu lassen. Das hatte noch Zeit.

Der Nachmittag hatte ihn doch mehr angestrengt, als er zunächst wahrhaben wollte. Er musste sich aufs Bett legen und sich ausruhen. Seine für den Nachmittag vorgesehene Beschäftigung musste entfallen. Er hätte gerne, seinem Hobby frönend, noch eine Gebrauchsanweisung in eine für den Normalbürger verständliche Form gebracht. ›Übersetzen‹ nannte er es, wenn er die deutschsprachigen Anweisungen für ausländische Haushaltsgegenstände überarbeitete. Inzwischen hatte er es sogar schon so weit gebracht, dass ihm Bekannte gerne Gebrauchsanweisungen mitbrachten, die er dann ›übersetzte‹.

Aber jetzt forderte die Krankheit ihren Tribut und nötigte ihm eine Ruhepause auf.

Das stürmische, ungeduldige Läuten an der Haustür riss Böhnke aus dem Dämmerschlaf. Ungehalten tappte er durch die Wohnung und öffnete.

Ausgerechnet der westfälische Dickschädel Schulze-Meyerdieck, der im Rheinland so fremd war wie ein Skifahrer in der Holsteinischen Schweiz, wollte ihn befragen.

»Machen Sie es kurz, Böhnke«, raunzte der Ermittler streng. »Ich will endlich raus aus diesem Kaff. Wie haben Sie die Leiche entdeckt? Haben Sie etwas bemerkt? Das übliche Prozedere eben, das kennen Sie ja hoffentlich noch.«

Durch diese Bemerkung ließ Böhnke sich nicht beirren. Nüchtern und ausführlich berichtete der Alte das Wenige, das er tatsächlich wusste. Er kannte ja noch nicht einmal den Namen des vermeintlichen Mordopfers.

Sein Nachfolger sah es nicht als erforderlich an, Böhnkes Bericht zu protokollieren. Deutlicher konnte er ihm nicht zu verstehen geben, dass ihn die Ausführungen nicht sonderlich interessierten.

»Mord?«, fragte Böhnke abschließend.

Bemitleidend schaute ihn Schulze-Meyerdieck an: »Woher soll ich das wissen? Kann ja auch Totschlag oder eine besondere Art von Selbstmord sein. Ich weiß nur, der Mann ist tot. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Das ist Sache der Kripo, Herr Böhnke.« Wieder sah Schulze-Meyerdieck von Höflichkeitsfloskeln ab.

»Sie sind aus dem Geschäft. Also sind Sie ein Zivilist, der eine im Prinzip unmaßgebliche Zeugenaussage gemacht hat.«

Die Polizei würde sich gewiss melden, wenn es noch Fragen gäbe. Danach sehe es aber nicht aus. Und schon verschwand der überhebliche Westfale wieder grußlos.

Böhnke ließ sich durch das arrogante Gehabe nicht aus der Ruhe bringen. Er wusste, wie er reagieren konnte, um sein durchaus vorhandenes Interesse an diesem Todesfall befriedigen zu können. Sein erster Gedanke war wohl doch nicht so schlecht gewesen.

»Na, warte«, sagte er laut in den Raum und wählte eine Rufnummer, die seines einzigen, echten Freundes.

»Tobias, rufe bitte Sümmerling an. Es gibt einen Mord in Huppenbroich.«

Zugegebenermaßen nicht gerade die feine Tour, um Schulze-Meyerdieck eins auszuwischen. Aber der westfälische Schnösel hatte es nicht anders verdient, rechtfertigte Böhnke sich.

2. Kapitel

»Mord in Huppenbroich?«

Die Überschrift in der Aachener Zeitung sprang sofort ins Auge. Der AZ-Reporter Hermann-Josef Sümmerling war auf Böhnkes Tipp hin prompt aktiv geworden. Vorsichtshalber hatte er ein Fragezeichen hinter den Titel gesetzt, um sich den Rücken frei zu halten, falls die Ermittlungen der Kripo zu einem anderen Ergebnisse kommen sollten. In seinem Bericht ging Sümmerling zunächst jedoch von einem Mord aus. Die Informationen waren dürftig, zumal Staatsanwaltschaft und Kripo noch am Abend eine Nachrichtensperre ausgerufen hatten. Wie der AZ-Journalist herausbekommen hatte, war das Opfer, der 50-jährige Immobilienmakler Werner F. P. aus Aachen, in seinem Huppenbroicher Ferienhaus erschossen aufgefunden worden. Das Verbrechen sei am Morgen geschehen, aber erst am Nachmittag entdeckt worden.

Woher Sümmerling diese Information hatte, ließ er offen.

»Über das Motiv kann nur spekuliert werden«, zitierte er einen Kripobeamten, der ungenannt bleiben wollte.

Böhnke vermutete nicht zu Unrecht, dass es diesen Polizisten wahrscheinlich gar nicht gab. Diese vermeintlichen Informanten, oft auch als so genannte gute Freunde bezeichnet, waren in aller Regel getürkt. Aber solange Schulze-Meyerdieck nicht widersprechen würde, stand dieses Zitat als richtig im Raum.

»Zum Verbleib der Tatwaffe will sich die Kripo nicht äußern«, fuhr Sümmerling in seinem Bericht fort.

Dieser Satz machte Böhnke stutzig. Wenn diese Aussage zutreffen sollte, dann besaß die Polizei wahrscheinlich die Waffe bereits. Der ehemalige Kommissar kannte die in der Presse gebräuchlichen Formulierungen aus eigenem Erleben zu Genüge. Einen Tatverdächtigen habe die Polizei nicht, las er weiter, Festnahmen habe es noch keine gegeben.

Immer weiter entfernte sich Sümmerling bei seiner Berichter­stattung von den harten Fakten. Er garnierte sie mit einem Pressefoto des Opfers, das bei einer Benefiz­gala im Eurogress aufgenommen worden war. Auch gab es ein Porträtfoto von Schulze-Meyerdieck. Ihn bezeichnete der Schreiberling als den ›Jäger von Huppenbroich‹, als knallharten Ermittler, der versuche, an die großen Erfolge seines legendären Vorgängers Böhnke anzuknüpfen.

Böhnke durchschaute Sümmerlings Absicht mit Leichtigkeit. Schulze-Meyerdieck hatte den Schreiberling gestern wahrscheinlich auflaufen lassen und abgeblockt. Vermutlich war das Telefonat mit einem wütenden Auflegen des Hörers beendet worden. Sümmerling hatte daraufhin dem Ermittler in seinem Artikel eine kleine Spitze mitgeben und ihn als unbedeutend im Vergleich zum großen Vorgänger hinstellen wollen. So war halt das Geschäft, dachte sich Böhnke. Er wollte und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Er sortierte die wenigen Fakten. Im Prinzip gab es zwei: P. war erschossen worden, und er hatte den Leichenfund am Nachmittag der Polizei melden lassen.

P. stand für Puhlmann. Das wusste jeder, der sich einigermaßen in der Aachener Gesellschaft auskannte. Der Journalist lieferte in einem zweiten Artikel über das Opfer den Tratsch, den Böhnke noch nicht mitbekommen hatte, weil er sich üblicherweise nicht dafür interessierte. Puhlmann war ledig, kinderlos, anscheinend unendlich reich und im Kreis der oberen Zehntausend zwar angesiedelt, aber dort mehr geduldet als beliebt. Er hatte viel Geld, mehr aber auch nicht. Dass er öffentlich immense Summen spendete, machte ihn in der gesellschaftlichen Oberschicht nicht sympathischer. Der echte Geldadel spendete und schwieg.

Und Sümmerling ließ zwischen den Zeilen durchblicken, dass ihm Puhlmanns abruptes Ableben nicht unbedingt leid tat. Seine abschließende Bemerkung machte den Leser neugierig auf die nächste Ausgabe der Tageszeitung: »Die Staatsanwaltschaft hat für heute eine Pressekonferenz in Aussicht gestellt, über die die AZ selbstverständlich berichten wird.«

Raffiniert, der Kleine, dachte sich Böhnke. »In Aussicht gestellt« hieß nicht unbedingt, dass es die Pressekonferenz auch geben würde. Aber auf diese Feinheit würde der normale, unbedarfte Zeitungsleser nicht achten. Er würde glauben, er bekäme morgen auf jeden Fall neue Informationen über den vermeintlichen Mord.

Bisweilen hatte es eben auch Vorteile, dank Sümmerling ein wenig mit der Journalistenszene vertraut zu sein, sagte Böhnke sich, legte die Zeitung beiseite und griff zur kniffligen Gebrauchsanweisung für einen Radiowecker aus Südkorea, der bei einem Discounter als Sonderangebot verkauft worden war. »Durch Dehung des Rundknopfes linker Seitig des Gehäuses ist Inbetrieb Nahme des Weckfunktion außer Kraft zu setzen«, stand dort in der »Gebauchanweisung«, was nichts anderes bedeutete, als dass mittels des linken Knopfes der Wecker ausgeschaltet wurde.

Wie gewohnt machte sich der pensionierte Kommissar am Nachmittag auf zu seinem Spaziergang durch Huppenbroich und die Umgebung. Das verschlafene Dorf wirkte fast ausgestorben. Einige Landwirte, einige Hausfrauen, die paar Schulkinder, die mittags aus Simmerath oder Monschau zurückkehrten, begegneten sich tagsüber höchst selten, zumal auch das Lebensmittelgeschäft als kommunikativer Treffpunkt schon vor Jahren geschlossen hatte. Abends, wenn die Männer wieder von der Arbeit kamen, oder an den Wochenenden, wenn die Städter aus Köln, Düsseldorf oder Aachen ihre Feriendomizile aufsuchten, wurde es etwas lebendiger auf den Straßen oder in der einzigen Kneipe des Ortes ›Zur alten Post‹. Doch an den Nachmittagen während der Woche war Böhnke meistens alleine unterwegs in diesem in der Natur eingebetteten, ruhigen Dorf, ab und zu von den Kindern höflich gegrüßt oder von dem Künstlerehepaar, das direkt neben seiner Unterkunft ein Meisterhaus nach traditionellem Eifeler Vorbild gebaut hatte und das bei seinen Spaziergängen Inspirationen für die Arbeit als Drechsler oder Töpferin sucht. Angeblich, so war Böhnke von den Dorfbewohnern ehrfürchtig zugetragen worden, waren die beiden Künstler weltberühmt; für ihn waren sie zwei ruhige, sympathische Menschen Anfang 50, die ihn freundlich grüßten, wenn sich ihre Wege kreuzten, und deren Namen er zwar einmal im Gespräch gehört, aber wieder vergessen hatte.

Böhnke wählte seine täglichen Routen mit Bedacht aus. Er vermied die steileren Stücke, etwa hinab ins Diefenbachtal oder in Richtung Rur. Zu anstrengend und damit zu heikel wäre der Rückweg. Nur in Begleitung würde er den Marsch bergauf und bergab durch das malerisch schöne Tal nach Simmerath riskieren. Er hielt sich lieber in den leicht welligen Bereichen außerhalb der Siedlung auf, in der die Buchenhecken das Landschaftsgrün prägten. Der immer belaubte Wetterschutz umsäumte die großen, welligen Weiden, auf denen das rotbunte Milchvieh in der Sonne wiederkäute.

Unweigerlich führte der Spaziergang den Pensionär zu Puhlmanns Haus. Der Makler aus Aachen hatte, wie viele andere Ruhe suchende Städter ein Haus in Huppenbroich erworben, um dort die Wochenenden oder die Ferien zu verbringen. Auch hatten viele Auswärtige Grundstücke gekauft und bauten dort, glücklicherweise zum Charakter der Siedlung passende, neue Häuser. Es gab schon fast zu viele Ortsfremde in diesem Dorf, das Böhnke gerne als sein ›Buchen-Dorf‹ bezeichnete; ein Ausdruck, mit dem die in Huppenbroich Geborenen selbst nichts anfangen konnten. Die Buchen gehörten für sie seit Menschengedenken wie selbstverständlich zum Alltag. Die traditionsbewussten unter ihnen nutzten die Buchenhecken in ihrer ursprünglichen Bedeutung als ständig nachwachsenden Brennstoff. Wer genau hinschaute, erkannte die in gleichmäßigen Abständen zwischen der Hecke aufstrebenden Bäume. Das System was ausgeklügelt und bewährt, es wuchsen stets reihum so viele Bäume heran, wie für die Kamine und Öfen in der kalten Jahreszeit als Brennholz gebraucht wurden. Was für Wanderer optische und ökologische Naturerscheinungen waren, war für die früheren Dorfbewohner eine unabdingbare Notwendigkeit gewesen, um in der rauen, kargen Winterszeit überleben zu können. Um so mehr schmerzte es die Huppenbroicher, wenn die großen, von Buchen umgebenen Parzellen aufgeteilt und als Baugrundstücke verkauft wurden, und statt der gerodeten Buchenhecke ökologisch nutzlose Thujahecken für ein Dauergrün sorgten. Die neuen Bewohner des Dorfes wollten sich die zeitaufwändige Arbeit der Pflege und der Bestandserhaltung der Buchen nicht machen. Mit Interesse hatte Böhnke der Schilderung eines alten Landwirtes über die Bedeutung der Buchenhecke zugehört, die in anderen Orten sogar einen noch größeren Stellenwert hatten, da sie, hoch wie das Haus, das Gebäude im Winter vor Sturm und Schnee schützten. Gerne würde er sich in diesem Jahr wieder an der Pflege beteiligen. Doch es war zu spät für ihn, er hatte nicht mehr die Kraft, um anpacken zu können – wobei er noch nicht einmal wusste, ob er den nächsten Winter überhaupt noch erleben würde. Vielleicht war er da ja schon Puhlmann in der Ewigkeit begegnet.

Der Makler hatte wahrscheinlich nicht viele Freunde in Huppenbroich. Er würde wohl, so vermutete Böhnke, am Verkauf und an der Zersiedelung der Landschaft verdient haben, insofern würde ihm vermutlich niemand im Ort eine Träne hinterher weinen.

Der vor Puhlmanns Haus stehende dunkelblaue Smart mit der WDR-Aufschrift verwunderte Böhnke nicht sonderlich. Es war klar, dass die regionale Rundfunk- und Fernsehanstalt ebenso wie andere Medien nachhaken würden, nachdem die AZ ihnen dank des emsigen Sümmerling wieder einmal eine spektakuläre Geschichte exklusiv vorgesetzt hatte.

»Hm, darf ich Sie etwas fragen?« Höflich trat ein Mittdreißiger, der mit großer Selbstverständlichkeit aus dem fremden Garten gekommen war, auf Böhnke zu.

»Wissen Sie, was hier passiert ist?«

Interessiert musterte der Kommissar den unwahrscheinlich nervösen Mann mit dem spärlichen Haarwuchs und der kleinen Brille, hinter der helle Augen unruhig umherblickten. An der dunklen Lederjacke, der Jeans und der Nickelbrille hatte er den schlanken, jungen Mann sofort als Journalist ausgemacht. Unausgesprochen war dieses Outfit wohl die übliche Arbeitskleidung der Medienvertreter. Sümmerling machte da ebenso wenig eine Ausnahme wie der nervöse, sich stets räuspernde Mann vor ihm, der ihm dreist ins Gesicht sah. Der Journalist des Westdeutschen Rundfunks musste neu in der Region sein, vermutete Böhnke, sonst hätte er ihn wahrscheinlich als ehemaligen Kripochef von Aachen erkannt.

»Nein«, log Böhnke, »oder doch ja. Ich weiß das, was heute in der Aachener Zeitung steht. Haben Sie die nicht gelesen?«

Ungehalten winkte der WDR-Mann ab. »Was die AZ schreibt, interessiert doch niemanden.«

»Mich schon«, konterte Böhnke amüsiert. »Im WDR habe ich über das Verbrechen hier bisher weder etwas gesehen noch gehört. Und für diese Nichtinformation muss ich auch noch verdammt hohe Rundfunkgebühren bezahlen. Was machen Sie eigentlich in Ihrem Laden mit meinem guten Geld?« Ihm bereitete es Vergnügen, den zappeligen Journalisten zu necken, der kurz rot anlief, um sich schnell wieder zu fangen.

»Äh, Sie wissen also nichts?« Der jüngere Mann sah sich lustlos auf der nahezu menschenleeren Straße um. Seine Begeisterung für Huppenbroich hielt sich offensichtlich in Grenzen. »Hm, gibt es denn noch andere Leute in dem Kaff hier?«

Böhnke würde seinen neuen Lebensmittelpunkt niemals als Kaff bezeichnen. Für ihn war der Ort eine der wenigen Idyllen inmitten eines hügeligen Geländes in einer harmonischen, von Buchen geprägten, grünen Landschaft. Huppenbroich war einer der letzten wenigen Flecken, in dem der Tourismus noch nicht bestimmte, was die Bewohner zu tun oder zu lassen hatten. Ob sie mit dem Tourismus besser leben würden, war eine andere Frage.

»Gibt es schon«, antwortete er gedehnt, »aber die müssen Sie suchen. Die kommen nicht zu Ihnen, auch wenn Sie vom WDR sind.«

Mit wütendem Augenzucken sah ihn der Journalist an. »Sind die hier alle so hilfsbereit wie Sie?« Sein ständiges Räuspern war zu einem bellenden Husten geworden.

»Ja.« Böhnke konnte sich die patzige Antwort nicht verkneifen.

Seufzend sah der WDR-Reporter ein, dass er dem Alten nicht das Wasser reichen konnte und versuchte es im gemäßigten Ton auf die versöhnliche Tour. »Hm, haben Sie vielleicht etwas von der Waffe gehört, mit der Puhlmann erschossen wurde?«

»Welche Waffe?«, fragte Böhnke spontan und erntete prompt ein provozierendes Grinsen seines Gesprächspartners.

»Ich denke, Sie haben die AZ gelesen. Da steht doch drin, dass die Bullen die Tatwaffe haben. Na, ja«, schränkte er ein, »steht jedenfalls so zwischen den Zeilen.«

Jetzt staunte Böhnke. Der junge Mann wurde wohl leicht unterschätzt und schien doch gewiefter, als er angenommen hatte. Nur der Begriff Bullen störte ihn, aber er wollte nicht oberlehrerhaft oder nachtragend wirken.

Nachtragend war auch der Journalist nicht. Er reichte Böhnke mit zitternden Fingern seine Visitenkarte und bat ihn um Informationen, wenn es denn welche gebe. Er stieg in den Smart und machte sich davon.

Der Blick auf das Kärtchen verriet es. Böhnke hatte mit Walter von den Driesch gesprochen, dem neuen Regionalkorrespondenten des Kölner Senders für die Eifel.

Nach langer Zeit machte sich Böhnke abends wieder einmal zu einem Kneipenbummel auf. Nicht zuletzt ein Fernsehbericht des WDR-Mannes in der ›Aktuellen Stunde‹ hatte ihn dazu angeregt. Böhnke war gespannt, was seine Huppenbroicher zu dem Mordfall sagen würden.

»Der Mord in Huppenbroich, bei dem der bekannte Immobilienmakler Werner F. Puhlmann aus Aachen getötet wurde, ist schon aufgeklärt«, berichtete der Sender. Die Kriminalpolizei habe bereits den Täter überführen können. »Es handelt sich um einen 50-jährigen, vorbestraften Mann aus Aachen.« Der Film blendete von Puhlmanns Haus in Huppenbroich um und zeigte den sichtlich zufrieden in die Kamera posierenden Schulze-Meyerdieck.

»Die Beweise sind eindeutig. Der Tatverdächtige ist heute Nachmittag festgenommen und dem Haftrichter vorgeführt worden«, sagte der Pferdeschwanz ins Mikrofon. Nähere Angaben wollte Schulze-Meyerdieck nicht machen, angeblich aus Täterschutz, wie er auf die Frage des Journalisten antwortete. Auch zur Frage nach dem Motiv wollte sich der Kommissar nicht äußern. »Dadurch könnten die weiteren Ermittlungen behindert werden.«

Prompt musste es sich Schulze-Meyerdieck gefallen lassen, dass im Nachspann zum Interview der Regionalkorrespondent die Frage in den Raum stellte, ob Puhlmanns Mörder ein Einzeltäter war oder Hintermänner hatte und im Auftrag Dritter gehandelt hatte.

»Ah, da kommt ja unser Kommissar«, begrüßte ihn der stets gut gelaunte Wirt, der stramm dem Rentenalter zustrebte. Was passieren würde, wenn er in den Ruhestand treten und eventuell die Kneipe aufgeben würde, wollte sich so niemand im Dorf vorstellen. Huppenbroich, wie die vielen anderen kleinen Ortschaften ringsum, in denen es keine Ausflügler oder Urlauber gab, ohne eine einzige Wirtschaft, das war einfach undenkbar. Aber noch war es nicht so weit.

Grüßend stellte sich Böhnke neben die vier Männer am Tresen. Für sie war er der Kommissar und würde es Zeit seines Lebens bleiben. Es hatte viele Jahre gedauert, ehe die Huppenbroicher ihn als Zugereisten in ihren Reihen akzeptierten. Nachdem er beim winterlichen Holzmachen geholfen und bei den sommerlichen Heuernten tatkräftig mitgemacht hatte, begann die langsame Eisschmelze. Endgültig taute das Eis aber erst auf, als er mit den Dorfoberen eine Nacht durchzecht und am nächsten Tag in Aachen ein Verbrechen aufgeklärt hatte. Da waren sie alle stolz auf ihren Kommissar, auch wenn er aus Aachen kam.

»Wat meinst du?« Der Wirt machte sich ungefragt und wie selbstverständlich zum Wortführer. »Ist der Fall klar?«

»Warum nicht?«, antwortete Böhnke mit einer Gegenfrage. »Oder habt ihr etwa Zweifel?«

Stumm schüttelten die anderen Männer, die alle in Böhnkes Altersklasse waren, die Köpfe. Sie hielten sich an eine ihrer eigenen Regeln: erst das Freibier, dann das Gespräch. Sie warteten geduldig, bis der Wirt das Pils gezapft und das Schnapsglas mit Els, dem Eifeler Spezialbrand, gefüllt hatte.

»Prost!«

Das fünfkehlige »Prost« als Antwort gab Böhnke das Signal, seine Frage noch einmal zu stellen. »Habt ihr etwa Zweifel?«

»Keine Ahnung. Der Puhlmann hat sich doch nie im Dorf blicken lassen, woll.« Der Wirt, vor etlichen Jahren der Liebe wegen aus dem Bergischen Land an den Eifelrand gezogen, verleugnete seine Herkunft nicht und machte als Sprachrohr unmissverständlich deutlich, dass sich die Anteilnahme in Grenzen hielt. »Da war ein Fuzzi vom WDR hier, den habe ich gleich rausjeworfen. Der wollte allen Ernstes wissen, ob der Puhlmann Feinde hat, woll. Wo sind wir denn? Sind wir etwa der Wilde Westen?« Er ereiferte sich und spülte das Bierglas intensiver, als es ihm gut tat. »Der glaubt wohl, hier in Huppenbroich laufen die Verbrecher nur so herum.« Zornig entsorgte er die Glasscherben und lutschte seinen blutenden Finger ab.

Die Hoffnung, interessante Neuigkeiten oder zumindest Dorfklatsch zu erfahren, ließ Böhnke schnell sinken. Wie selbstverständlich ließen sich die vier seine spendierten Runden schmecken, dann machte er sich auf den kurzen Heimweg durch die milde Sommernacht zum Hühnerstall.

Er staunte nicht schlecht, als er Licht hinter der Fensterscheibe sah. Schnell öffnete er die Haustür und schaute in das Gesicht seines vergnügt grinsenden Freundes Tobias Grundler, der in der Wohnstube in einem Sessel lümmelte.

»Kannst du mir verraten, was du hier willst und auf welche linke Tour du reingekommen bist?«

3. Kapitel

»Commissario, das Verbrechen lauert überall.« Grundler war aus dem Sessel aufgesprungen und näherte sich, vergnügt mit einer Scheckkarte wedelnd. »Die Polizei, dein Freund und Helfer, rät: Sicher das Haus vor Einbrechern. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal mit dem ältesten aller ausgelutschten Bauerntricks in die Wohnung eines waschechten deutschen Kripobeamten einsteigen könnte.«

Herzlich umarmte Grundler den verblüfften Böhnke. Gegenseitig klopften sie sich auf die Schulterblätter.

»Das wäre also geklärt«, sagte Böhnke beiläufig, »und was willst du hier?« Er mochte den bisweilen schnodderigen Grundler und er wusste, der Rechtsanwalt wäre niemals grundlos und ohne Voranmeldung nach Huppenbroich gekommen. Der Jurist aus Aachen, noch nicht 40, hätte sein Sohn sein können. Sie hatten schon mehrfach miteinander gearbeitet, wenn es galt, Verbrechen aufzuklären und Justizirrtümer zu verhindern. Über die Zusammenarbeit waren sie zu Freunden geworden. Als Böhnke aus dem Dienst ausgeschieden war, hatte er als der ältere dem jüngeren das Du angeboten. Grundler war einer der wenigen Menschen, denen er erlaubte, ihn zu duzen.

»Du siehst gut aus«, meinte Grundler musternd, »besser jedenfalls als letztes Mal.«

Das gute Aussehen des ehemaligen Kommissars, hervorgerufen durch den ständigen Aufenthalt in der freien Natur, täuschte darüber hinweg, dass Böhnke ernstlich krank war. Außer Grundler wussten darüber nur noch seine ehemaligen Vorgesetzten und seine Lebenspartnerin Bescheid.

»Mir geht es auch gut.« Der Alte kratzte sich das kurze, graue Haar. »Vielleicht kriege ich ja noch einmal die Kurve.« Er lächelte Grundler aus trüben, braunen Augen an. »Merkwürdig, oder?«

Er erwartete keine Antwort. Er freute sich über Grundlers überraschende Anwesenheit. Grundler erinnerte ihn an sein eigenes Mittelalter, wie er die Zeitspanne zwischen 35 und 55 bezeichnete. Groß, schlank, sportlich, elanvoll, stets ein verschmitztes Lächeln, schlagfertig und mit strahlenden Augen unter den blonden Haaren. So ähnlich hatte er auch, damals mit 37 Jahren, ausgesehen, als er auf einer der letzten Sprossen der Karriereleiter stellvertretender Chef des Betrugsdezernats geworden war; so ähnlich hätte auch sein Sohn, den er nie gehabt hatte, ausgesehen.

»Was gibt es, mein Freund?« Böhnke ließ sich schwer atmend auf der Couch nieder. Die fünf Gläser Bier in der Kneipe machten ihm zu schaffen und schränkten seine Konzentration ein. Er beobachtete Grundler, der langsam durch das Zimmer ging.

»Ich habe einen neuen Mandanten«, antwortete er, »Paul Müllender.«

»Kenne ich nicht«, entfuhr es Böhnke, ein Aufstoßen krampfhaft unterdrückend.

»Kennst du wohl«, widersprach Grundler, »den hast du in deinen Anfangsjahren einmal auffliegen lassen. Körperverletzung und Raub.«

Das musste verdammt lange her sein. Wenn er angestrengt nachdachte, würde er sich vielleicht daran erinnern. Aber für den Blick in die Vergangenheit war Böhnke schlichtweg zu müde.

»Müllender verbringt mehr Zeit hinter Gittern als davor«, fuhr Grundler fort. »Immer Körperverletzung und ähnliche Delikte, dann noch Diebstahl, Raub und Unterschlagung. Der große Coup ist ihm aber nie gelungen. Dafür ist er zu dumm. Jetzt hat er es anscheinend übertrieben. Die Kripo glaubt, dass Müllender Puhlmann abgemurkst hat.«

»Und ausgerechnet du verteidigst Müllender?«, fragte Böhnke zweifelnd. »Hast du nichts Besseres zu tun?« Er kannte Grundlers beruflichen Hintergrund gut genug, um zu wissen, dass Grundler das Mandat nicht aus existenzieller Notwendigkeit übernommen hatte. Als Mitinhaber einer renommierten Anwaltskanzlei verdiente er das Geld schneller, als er es zählen oder ausgeben konnte.

»Ich habe mich in gewisser Weise sogar aufgedrängt und ihm meine Dienste angeboten«, bekannte Grundler grinsend. »Kostenlos.«

»Du bist verrückt. Warum das denn?« Böhnke kam aus dem Staunen nicht heraus.

»Zum einen spielt die Geschichte in Huppenbroich und damit in deiner Nähe«, nannte Grundler ein logisch wenig überzeugendes Argument. »Zum anderen schuldet uns Puhlmann noch etliche 1.000 Euro an Honorar. Da will ich schauen, was ich für uns rausholen kann, bevor die Erben alles verprasst haben.«

Skeptisch blinzelte Böhnke seinen jungen Freund an. Meinte der Kerl das tatsächlich ernst?

Grundler setzte sich in einen Sessel und schaute Böhnke offen ins Gesicht. »Ich habe schlichtweg Lust auf einen schönen, großen Strafprozess. Müllender hat sofort zugestimmt.« Er schmunzelte. »Es ist richtig langweilig geworden im Kaiserstädtchen, seitdem du nicht mehr auf Verbrecherjagd gehst.«

Als gewiefter Strafverteidiger war Grundler anerkannt. Richter und Staatsanwälte wussten nur zu gut, dass sie den Rechtsanwalt nicht unterschätzen durften. Wenn Grundler die schwarze Robe auszog, sah er unscheinbar aus. Stets mit Jeans und grauem Sweatshirt gekleidet machte er äußerlich wenig her, was ihn weitaus weniger störte als sein auf Etikette bedachter Kompagnon Doktor Dieter Schulz oder seine Partnerin Sabine.

»Gibt es überhaupt etwas zu verteidigen?«

»Aber sicher doch.« Grundler rieb sich vergnügt die Hände und grinste noch etwas frecher. »Die Beweislage ist zwar auf den ersten Blick eindeutig. Das besagt aber gar nichts. Auf der Tatwaffe gibt es die Fingerabdrücke von Müllender, er hat kein Alibi und er ist Linkshänder. Die schlauen Kriminologen haben nämlich herausbekommen, dass Puhlmann von einem Linkshänder erschossen wurde. Fünf Schüsse mitten in den dicken Bauch. Morgens um neun.«

»Dann ist doch alles klar«, klinkte sich Böhnke in den Monolog ein. »Was willst du dann überhaupt?«

»Ich will ein Motiv«, antwortete der Anwalt und fügte fast schon triumphierend hinzu: »Und ich habe einen Mandanten, der die Tat energisch abstreitet. Müllender hat Puhlmann nicht ermordet. Das behaupte ich so lange, bis ich vom Gegenteil überzeugt bin.« Abgesehen davon sei Müllender wie er Linkshänder und Linkshänder seien per se gute Menschen.

Die Selbstironie wusste Böhnke richtig einzuschätzen.

»Welche Rolle soll ich denn spielen?«, fragte Böhnke argwöhnisch.

»Du sollst mir erzählen, was du gesehen, gehört, erlebt hast«, antwortete sein Freund.

Mehr als Schulze-Meyerdieck konnte Böhnke ihm nicht berichten. Morgens um neun war Huppenbroich ein leeres Nest, da ging jeder seinem Tagwerk nach und hatte keine Augen für das, was sich in irgendeinem Feriendomizil ereignete. Er selbst hatte versucht, ein wenig Ordnung in den Haushalt zu bekommen, bevor am Wochenende seine bessere Hälfte aus Aachen anreiste.

»Es gibt nichts Auffälliges, Tobias.«

»Schade, Commissario.« Seufzend erhob sich Grundler.

»Lass das«, raunzte Böhnke. Er mochte es nicht, wenn ihn der Jüngere ›Commissario‹ nannte. Das durfte nur seine langjährige Lebensgefährtin.

»SM glaubt übrigens, du würdest ihm absichtlich etwas verschweigen, um seine Arbeit zu erschweren«, fuhr Grundler unbeeindruckt fort. »Ist aber insofern irrelevant, als er ja glaubt, den Täter bereits erwischt zu haben.«

»Wer sagt das?«, fragte Böhnke aufbrausend. Wenn sich eine solche Behauptung im Präsidium festsetzte, wäre sein guter Ruf im Kollegenkreis schneller ruiniert, als ihm lieb sein konnte.

»Sümmerling hat davon gehört. Hat ihm einer seiner Spitzel gesteckt«, antwortete Grundler und sah seinen väterlichen Freund lächelnd an. »Dir dieses Gerücht mitzuteilen, ist ja wohl Grund genug, die beschwerliche Reise aus dem schönen Aachen zu dir in die erholsame Eifel anzutreten. Oder?«

»Und du wolltest von mir erfahren, ob es tatsächlich mehr gibt, als SM weiß? Aber es gibt wirklich nichts. Mir ist nichts aufgefallen, meine Kollegen haben einen besseren Wissensstand als ich.«

»Ist schon okay.« Der Anwalt hob beschwichtigend die Hände. Er stand bereits im Hauseingang, als ihm noch etwas einfiel, zumindest erweckte er den Eindruck, als sei es ihm just in diesem Moment eingefallen.

»Ach, ja, ich habe übrigens Sümmerling daran erinnert, dass er dir noch eine Gefälligkeit schuldet. Im Gegenzug besorgt er für mich, äh, natürlich für dich alles über Puhlmann, was er im Archiv und durch Recherche herausfinden kann.« Grundler zeigte wieder sein freches Grinsen. »Er schickt mir die Infos zu, ich bringe sie dir sofort vorbei.«

Mit großem Wohlwollen sah ihm Böhnke nach. »Tobias, du bist und bleibst ein Linkmichel.«

4. Kapitel

Mit gewachsenem Interesse schlug der Pensionär am nächsten Tag, nachdem er ausnahmsweise sehr spät aufgestanden war, die AZ auf. Obwohl er jetzt mehr Zeit in der Eifel verbrachte statt in der Großstadt, ließ er sich anstelle der Eifeler Ausgabe aus lieb gewordener Gewohnheit die Aachener Stadtausgabe der Zeitung zustellen. Vor allem wusste er so immer rechtzeitig aus dem Notdienstverzeichnis, ob seine Partnerin am Wochenende Apothekennotdienst hatte oder nicht. Danach richtete er seinen Hausputz. Seine Partnerin gewährte ihm gerne Unterkunft in der Ferienwohnung, nur konnte sie es nicht leiden, wenn die Mülleimer überquollen oder sich das Geschirr ungespült neben der Spülmaschine stapelte. Silberhochzeit hätten sie feiern können, wenn sie rechtzeitig den Sprung ins Standesamt geschafft hätten. Aber sie hatten nie die Notwendigkeit eines Trauscheines gesehen. Nun sei es zu spät für eine Heirat, hatte seine bessere Hälfte vor knapp zwei Jahren einmal gesagt. »Jetzt schaffen wir die Silberhochzeit wahrscheinlich eh nicht mehr, Commissario.«