Besinnliche Geschichten (3) - Hans Müller-Jüngst - E-Book

Besinnliche Geschichten (3) E-Book

Hans Müller-Jüngst

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Beschreibung

"Hochwasser am Huang He" beschreibt den unermüdlichen Einsatz von Paulo und Kinay während der Überflutungen des Gelben Flusses zur Rettung der Überlebenden. Paulo ist auf dem Weg nach Peking und lernt auf diese Weise denjenigen kennen, bei dessen Familie er während seines Pekingaufenthaltes lebt. Sie nehmen zwei Kinder auf, die zu Vollwaisen geworden sind.

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Seitenzahl: 536

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Hans Müller-Jüngst

Besinnliche Geschichten (3)

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Hochwasser am Huang He

Die Waldwanderung

Die Bergtour mit Aapo

Chucks Mallorcareise

Albins Aufenthalt bei Kedra

Tolpin

Kedras Tod

Der Orkan legt sich

Die Türme sind fertig

Hans und Jenny

Impressum neobooks

Hochwasser am Huang He

Am Ende seiner Reise die Seidenstraße entlang nimmt Paulo den Bus von Shanghai nach Peking und gerät in der Nähe der Stadt Jinan in ein Hochwasser den Gelben Flusses...

Durch die andauernd aufgeschütteten Lößsedimente stieg das Flussbett an, sodass schon vor zweitausend Jahren damit begonnen wurde, den Gelben Fluss einzudeichen. Es hatte schon viele Deichbrüche mit Millionen von Toten gegeben, mittlerweile waren die Folgen nicht mehr so katastrophal, weil man etwas für den Hochwasserschutz getan hatte, aber die Eindeichung des Flusses war grundfalsch gewesen, das wussten die Wasserbauingenieure in unserer Zeit nur zu gut. In Deutschland ging man zu Auelandschaften zurück, hatte es aber natürlich nicht mit so gewaltigen Strömen wie dem Huang He zu tun, der Milliarden Tonnen aus gelben Löß jährlich mit sich führte und als Sediment ablagerte. Löß war ein sehr feiner Stoff, der vom Wind verweht, aber eben auch von Wasser mitgetragen wurde. Der Boden des Busses war inzwischen von einer gelben Lößschicht bedeckt, die Passagiere hatten alles Gepäck, das sie auf den Boden gestellt hatten, nach oben in die Gepäcknetze verfrachtet. Manche hatten sich im Schneidersitz auf ihren Bussessel gesetzt, um ihre Füße nicht im Wasser stehen zu haben und trockene Kleidung zu behalten. Der Busfahrer ging mit einer Taschenlampe durch den Gang und beruhigte die Fahrgäste, es handelte sich zwar um ein Hochwasser des Gelben Flusses, uns drohte aber keine Gefahr, da wir auf dem Fahrdamm der Autobahn sicher stünden. Es war wohl tatsächlich unser Glück, auf der Autobahn zu stehen, die einige Meter über dem Niveau des Umlandes verlief, sonst wären wir möglicherweise völlig abgesoffen und hätten uns auf das Busdach setzen müssen.

Nachdem sich im Bus die erste Welle der Verzweiflung gelegt hatte, gingen unsere Gedanken zu den Bewohnern der Dörfer in der Flussebene, denen müsste doch umgehend geholfen werden, auch Jinan stünde wohl unter Wasser, als befestigte Stadt wäre Jinan aber sicher nicht so stark betroffen wie die bäuerliche Umgebung. Aber in der Dunkelheit blieb uns nur das Warten auf Hilfe, wir mussten jemanden, der in Panik den Bus verlassen wollte, zur Räson bringen und ihn veranlassen, sich auf seinen Platz zu setzen, mein Sitznachbar redete beruhigend auf ihn ein. Die Kinder hörten allmählich auf zu weinen, es kehrte Ruhe ein, man hörte das unablässig gegen die Karosserie des Busses ankämpfende Wasser, aber der Bus blieb zum Glück an seinem Platz. Plötzlich gab es einen lauten Schlag gegen die Karosserie des Busses, wir schauten voller Schreck zum Fenster hinaus und konnten schemenhaft einen PKW erkennen, der an uns vorbeischwamm, das wiederholte sich einige Male, die Insassen saßen bis zum Oberkörper im Wasser und schrien um Hilfe, wir konnten aber nichts tun, wollten wir uns nicht selbst gefährden. Uns blieb nur, bis zum Anbruch der Helligkeit zu warten und auf Hilfskräfte zu hoffen. Die PKWs würden einige hundert Meter weiter in seichtes Wasser getrieben, für die Insassen bestünde keine Gefahr.

Es war 3.00 h morgens, wir hatten also noch mindestens zwei Stunden, die wir auf unseren Sitzen hockend verbringen mussten, nicht wissend, ob wir so lange in unserem Bus sicher wären oder ob uns nicht eine noch höhere Flut wegspülen würde. Langsam kehrte in den Bus wieder eine Atmosphäre zurück, in der sich die Menschen miteinander unterhielten, längst hatten sich die Raucher Zigaretten angesteckt, niemanden störte der Qualm, alles, was im oberen Bereich des Busses zu öffnen war, auch die Notausstiege zum Dach, stand offen. Die Kinder begannen wieder, fröhlich zu sein und zu lachen, sie wurden von ihren Eltern mit Liedern darin unterstützt. Jemand aus einer der letzten Sitzreihen sprach Englisch, er kam zu mir, da ich wohl ziemlich ratlos in die Gegend geschaut haben musste und klärte mich auf. Es wäre wohl ein Dammbruch des Huang He, der gelbe Löß spräche für sich, man müsste Ruhe bewahren und auf Hilfe warten, wieder tat es einen Schlag gegen den Bus, wieder schwamm ein PKW vorbei. Mein neuer Gesprächspartner stellte sich vor, sein Name wäre Kinay, er wäre Elektroingenieur aus Peking und auf der Rückreise von Shanghai, wo er seinen Bruder und seine Schwägerin besucht hätte. Dann stellte ich mich vor, ich erzählte in aller Kürze meine Geschichte, wie oft hatte ich das schon getan, es war mir aber nie zu langweilig, die Dinge, die ich erlebt hatte, zu erzählen. Ich sagte, dass ich Paulo hieße Ich sollte doch zu ihm nach hinten kommen, sagte Kinay, neben ihm wäre noch ein Platz, auf den ich mich setzen könnte, dort könnten wir miteinander reden. Ich quetschte mich an meinem Sitznachbarn vorbei und stakste durch das Wasser nach hinten, ich blickte dabei in sehr viele Gesichter, die längst nicht mehr so entsetzt aussahen, wie zu Beginn der Überschwemmung. Kinay fragte mich, was ich in Shanghai getrieben hätte und ich erzählte ihm von der Weinmesse, auf der ich Yue, Akuma und Liang besucht hätte, meine alten Freunde aus Turpan, wir hätten uns die Stadt angesehen und eine schöne Zeit miteinander verlebt. Ich wäre nach über zwei Jahren Reisens auf dem Weg nach Peking, von wo ich nach Hause zurückfliegen würde. Ich hätte nicht geglaubt, noch einmal in Kontakt mit dem Huang He zu kommen, auf dem ich noch viereinhalb Wochen zurück mit Freunden unterwegs gewesen wäre. Kinay sagte, dass er in Peking geboren wäre und seit seiner Geburt in der Hauptstadt lebte. Es wäre manchmal unerträglich, sich durch die verpestete Luft bewegen zu müssen, man hätte aber keine Wahl, wenn man nicht fortziehen wollte.

Er hätte Familie in Peking, seine Frau wäre als Lehrerin berufstätig, seine beiden Kinder besuchten die Sekundar- bzw. Primarschule, von daher schied jeder Umzugsgedanke aus. Wieder ein Schlag vor den Bus, wieder trieb ein PKW vorbei, die Menschen saßen auf den Autodach und schrien um Hilfe. Langsam wurde es hell, die Buspassagiere waren ziemlich geschafft, waren sie doch mitten im tiefsten Schlaf von den Wassermassen wachgerüttelt worden. Eine halbe Stunde später war es hell, ein Blick aus dem Fenster zeigte überschwemmtes Land bis zum Horizont, in den abseits liegenden Dörfern konnte man nur die Hausdächer aus den Fluten ragen sehen, auf die sich die Hausbewohner gerettet hatten, ab und zu flogen Rettungshubschrauber dorthin und nahmen sie hoch. Es waren die Helikopter von Armee und Katastrophenschutz, die endlich ihre Rettungsarbeit aufgenommen hatten.

Das ganze Ausmaß des Hochwassers erschloss sich einem, wenn man den Blick in die Runde kreisen ließ, man sah eine einzige riesige Wasserfläche, die noch in Bewegung war, den das Deichloch, das der Huang He offensichtlich gerissen hatte, war noch nicht verschlossen. Das wäre in den nächsten Stunden sicher die Hauptaufgabe der Armeehubschrauber, das Loch im Deich zunächst provisorisch mit Sandsäcken zu stopfen. Andere Hubschrauber müssten die Dorfbewohner von ihren Dächern retten, dazu müssten sich Rettungssanitäter von den Hubschraubern abseilen und eine Erstversorgung von vielleicht Verletzten vornehmen, sie müssten das Rettungsseil einer Person umbinden, mit der sie dann zusammen hochgezogen würden. Das war mühsame Arbeit, die aber anders kaum zu erledigen war, Kinder schrien auf den Dächern und wurden mit ihren Müttern zuerst gerettet.

Langsam kamen auch Rettungsboote angefahren, die zu den Häusern gesteuert wurden und die Menschen von den Dächern aufnahmen. Ein solches Rettungsboot kam auch zu uns an den Bus, die Besatzung sagte, dass sie uns nach Jinan bringen wollte, Frauen und Kinder zuerst. Also wurde eine große Rettungsaktion gestartet, bei der alle Buspassagiere in Booten in die große Stadt gebracht wurden, wo sie durch ein Fenster in den ersten Stock eines Krankenhauses kletterten. Kinay und ich zählten zu den Letzten, die geholt wurden und wir waren gar nicht so sehr darauf erpicht, gerettet zu werden, viel lieber wollten wir helfen, die Menschen in den Dörfern zu retten. Das sagten wir auch dem Einsatzleiter im Boot, einem Soldaten mittelhohen Ranges.

Der ließ uns Regenzeug geben und nahm uns in seinem Boot mit, von da ab waren wir Mitglieder der Rettungsmannschaft und unterstanden der Befehlsgewalt des Einsatzleiters, wie er uns ausdrücklich mitgeteilt hatte. Unser Boot war eine etwas größere Schaluppe, die im Maximalfall zwölf Leuten Platz bot, sie war 6.50 Meter lang und 2.30 Meter breit, sie hatte einen Dieselmotor und machte einen außerordentlich robusten Eindruck. Wir tuckerten zu einem größeren Dorf mit Namen Shizhuang, das zwischen einem großen Wasserspeicher und dem Huang He lag, von dem Wasserspeicher war allerdings nichts mehr zu sehen, er war mit den Wassermassen des Gelben Flusses eins geworden. Als wir mit dem Boot am Dorf ankamen, sahen wir alle Dorfbewohner auf ihren Dächern, unser Einsatzleiter orderte über Funk sofort weitere Boote, bis die eintrafen, stiegen Mannschaftsmitglieder aus unserem Boot zu den Menschen auf die Dächer, um sie zu beruhigen und ihnen zu sagen, dass Boote angefordert wären, um sie alle aufzunehmen. Es erschienen kurze Zeit später vier weitere Boote und wir begannen, die Dorfbevölkerung zu evakuieren. Zum Glück herrschte keine Kälte, sodass niemand zu frieren brauchte, aber die nasse Kleidung war auf Dauer doch extrem unangenehm.

Wir brachten fünfzig der Wartenden in das Krankenhaus nach Jinan, wo sie mit warmen Sachen und Tee versorgt wurden, es gab auch etwas zu essen. Dann fuhren wir wieder zurück und kümmerten uns um die restliche Dorfbevölkerung, es waren ausschließlich junge Männer und Jugendliche zurückgeblieben, die in aller Seelenruhe auf uns warteten, sie rauchten teilweise und saßen in großen Runden oder sie unterhielten sich mit ihren Nachbarn von Dach zu Dach. Wir fragten die Leute nach Toten und Verletzten.

Einer sah uns mit Tränen in den Augen an und sagte, dass seine Eltern ertrunken und noch unten im Haus wären, er hätte sie nicht retten können, das Wasser wäre so schnell gekommen, da hätte er sich nur noch um seine kleinen Kinder und seine Frau kümmern können. Ein andere junger Mann starrte vor sich hin, den Kopf gesenkt, auf unsere Frage hin sagte er, dass er seine Großeltern unten im Wasser hätte lassen müssen, genau wie die anderen hätte er nur seine Familie retten können, da wäre es für seine Großeltern schon zu spät gewesen. In den Ställen war das gesamte Vieh ersoffen. Die Kühe, die auf den Weiden standen - tot, die Schweine in den Gattern - tot, Gänse, Hühner und Enten - tot.

Es herrschte betretenes Schweigen unter den Männern, man müsste die Toten doch bergen, um sie beerdigen zu können, sagten einige. Unser Einsatzleiter forderte Taucher an, die die Aufgabe übernehmen sollten, aber in der gelben Brühe, die mit Gülle und Dünger vermischt war, war Tauchen praktisch unmöglich und lebensgefährlich. Plötzlich sahen wir im Wasser treibende Viehleiber, es waren Kühe, die Beine nach oben gestreckt, leblos. Wir fuhren mit allen Männern von den Dächern nach Jinan zum Krankenhaus.

Inzwischen war eine nicht enden wollende Kette von Helikoptern damit beschäftigt, das nicht weit entfernte Deichloch mit Sandsäcken provisorisch zu verschließen. Man flog einfach über das Loch im Deich, entlud seine Ladung und machte Platz für den nächsten Hubschrauber. Die Soldaten bekamen das Loch nach und nach in den Griff. Der Druck des ausströmenden Wassers ließ nach, der Huang He wurde wieder in sein altes Flussbett zurückgezwungen.

Sofort wurde von einem Bautrupp der Armee damit begonnen, eine Spunddielenwand hinter den Sandsäcken zu ziehen, damit die Sandsäcke nicht wieder fortgespült wurden. Mit dem Abdichten des Deichloches war das Wichtigste vollbracht, das Wasser, das das gesamte Umland bis zu einer Höhe von 3.50 Meter überflutet hatte, konnte langsam abfließen, es kam kein neues Wasser nach. Als wir mit unserer Schaluppe von Jinan wieder wegfuhren, war der Pegel des Wassers schon deutlich abgesunken, das Wasser stand aber immer noch hoch genug, um Menschen ertrinken zu lassen. Wir fuhren zu einem Weiler mit Namen Xinxucun, südlich des Wasserreservoirs gelegen, wo die Menschen auch auf den Dächern saßen und auf Hilfe warteten. Auf dem Dach des ersten Hauses, an das wir gelangten, saßen Kinder unterschiedlichsten Alters, ich schätzte sie auf acht, zwölf und vierzehn, sie winkten. Als wir sie fragten, warum sie allein auf dem Dach säßen, antwortete das älteste Kind, dass sie ihre Eltern in den Fluten verloren hätten, ihr Vater hätte sie alle drei nach oben geführt, wäre dann noch einmal zurückgegangen, um seine Frau zu holen, in dem Moment wäre eine regelrechte Flutwelle durch Xinxucun getost, ihre Eltern wären darin ertrunken. Wir trösteten die Kinder, so gut wir konnten, Kinay redete auf sie ein, das entsetzliche Erlebnis blieb, eine Erfahrung, die die Kinder in ihrem ganzen Leben nicht vergessen würden. Wir nahmen die drei Schluchzenden ins Boot, der Einsatzleiter legte eine Decke über sie. Wir fuhren noch zu den anderen Dächern und nahmen nur Frauen und Kinder auf, Kinay und ich stiegen auf das Dach eines Gebäudes und machten so Platz für weitere Dorfbwohner. Es würde ausreichen, wenn das Boot noch einmal zurückkäme und den Rest der Menschen nach Jinan brächte. Wir unterhielten uns während der Wartezeit mit den Zurückgebliebenen. Sie schilderten, wie sie aus den Betten gesprungen wären, sie hätten keine Zeit gehabt, sich anzuziehen, das Wasser wäre in Windeseile angestiegen, man hätte gerade einmal Frau und Kinder auf das Dach bringen können, zu mehr war keine Zeit.

Wieder trieben Viehkadaver vorbei, die Beine nach oben gestreckt, sie waren aufgedunsen und nicht sehr schön anzusehen. Man müsste sehen, dass um Jinan herum und in Jinan selbst keine Seuchen ausbrachen, die Gefahr bestand immer, wenn es viele verwesende Leiber gab, man müsste die Toten schnell beerdigen und die Viehleiber verbrennen. Was denn aus ihnen werden würde, wollten die Männer von uns wissen, ihr Vieh wäre ersoffen, die Ernten wären vernichtet, das Dorf unbewohnbar, ihr Privatbesitz wäre zerstört. Darauf wussten wir natürlich auch keine erschöpfende Antwort zu geben, Kinay sagte aber, dass der Staat helfen würde, darauf könnten sie sich verlassen.

Endlich kam unser Boot zurück und lud die verbliebenen Männer und uns ein. Als wir in Jinan ins Krankenhaus kamen, herrschte hektisches Treiben, Scheinwerfer leuchteten in den Gängen, Fernsehkameras waren aufgebaut, man erwartete den Vorsitzenden des Staatsrates der Volksrepublik China, den Premierminister Wen Jiabao. Und tatsächlich, wir waren gerade durch das Fenster in den ersten Stock gestiegen, erschienen Sicherheitsbeamte und ebneten dem Premierminister den Weg. Wen Jiabao war da. Das Krankenhauspersonal stand gesenkten Hauptes an den Wänden des Krankenhausganges, Wen Jiabao bat aber darum, dass die Hilfskräfte ihrer Arbeit nachgehen und den Flutopfern helfen sollten.

Dann ließ sich Wen Jiabao einen Überblick über die Lage geben und die Opferzahl nennen. Wir waren in einen Krankenhaussaal gegangen, in dem wir alle Platz hatten und wo Wen Jiabao eine kurze und bündige Rede hielt, er sagte allen Opfern sofortige Hilfe des Staates zu, es würde Ersatz für verlorenes Vieh, für Ernetausfälle und für zerstörte Häuser gezahlt, die Menschen sollten sich keine Sorgen machen, der Staat würde alles bezahlen. Und dann sah er die verschüchterten weinenden Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, er ging zu ihnen, nahm ein Kind nach dem anderen in den Arm und versprach, dass an sie zuerst gedacht werden würde, sie sollten sich um ihre Zukunft keine Sorgen machen, ihnen würde geholfen werden. Wen Jiabao hatte Tränen in den Augen, als er die verstörten Kinder sah, die Fernsehkameras filmten auch den weinenden Premierminister, er war eben auch nur ein Mensch und zeigte die entsprechenden Regungen.

Nach seinen großen Worten bekam er von den Anwesenden Applaus. Zum Schluss rief er alle auf, beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser zu helfen und den Bausoldaten, die, wenn das Wasser zurückgegangen wäre, mit schwerem Räumgerät kämen, unter die Arme zu greifen.

Dann verschwand Wen Jiabao wieder, er hatte nicht den Eindruck eines aalglatten Politikers hinterlassen, vielmehr hatte er sich als mitfühlender Mensch gezeigt und das vor laufenden Kameras. Die Krankenschwestern nahmen sich der Kinder an und kümmerten sich um deren Verwandte, bei denen sie von da ab wohnen müssten. Mehr konnte fürs Erste nicht getan werden, wir mussten auch wieder los und weitere Menschen von ihren Dächern holen, es gäbe noch so viele. Wir sahen viele tote Tiere, auch Hunde und Katzen, wie sie am Boot vorbeitrieben, sie trieben aus Richtung Huang He, wahrscheinlich kamen sie von Yujiazhuang.

Wir fuhren mit unserer Schaluppe zum Dorf Xinwangfu, wo die Hubschrauber dabei waren, die Flutopfer von den Dächern zu holen, viele waren schon weg, es standen fast ausschließlich nur noch Männer und Jugendliche auf den Dächern. Sie hatten unter der Verwandtschaft Tote zu beklagen, wie andere in anderen Dörfern auch und waren am Boden zerstört. Kinay und ich stiegen wieder aus und machten den Opfern Platz. Wir unterhielten uns mit den Zurückgebliebenen und gaben ihnen Zigaretten, die wir aus dem Krankenhaus mitgenommen hatten. Wir sagten, dass Wen Jiabao in Jinan gewesen wäre und allen Mut zu gesprochen hätte, alle würden entschädigt, niemand müsste sich große Sorgen um seine Zukunft machen. Bausoldaten würden die entstandenen Schäden so weit wie möglich wieder in Ordnung bringen.

Aber wer machte die Toten wieder lebendig, fragte einer und alle schwiegen. Dann sagte Kinay, dass da natürlich niemand helfen könnte, man könnte nur Trost aussprechen, wenn der auch nicht sehr viel weiterhelfen würde. Als das Boot wieder zurück war, halfen wir den verbliebenen zehn Dorfbewohnern hinein und fuhren alle nach Jinan zum Krankenhaus, wo es etwas warmes zu essen und zu trinken gab. Der Pegel des Hochwassers sank unaufhörlich, an manchen Stellen in der Stadt konnte man schon die Überbleibsel der Fluten sehen: Unmengen an gelbem Löß, es würde Wochen dauern, den Löß restlos zu beseitigen, vor allem müsste der Löß aus der Kanalisation entfernt werden, die er hoffnungslos verstopft hatte.

Man hatte bei anderen Hochwassern des Huang He ein Verfahren entwickelt, bei dem die Kanäle mit Hilfe von Hochdruckreinigern freigespült wurden, in den Kanalschächten gäbe es dann eine Vorrichtung, mittels derer der Löß aufgefangen werden würde. In Jinan wären es tausende von Tonnen von Löß, die entfernt werden müssten, im Umland läge sicher noch mehr. Es gab in dreißig Kilometern Entfernung ein Lößgebiet, wohin man das geborgene Material bringen und es abkippen würde. Doch bis dahin wäre noch eine Menge Arbeit zu erledigen, erst einmal müssten alle Menschen in Sicherheit gebracht werden, es waren immer noch Hunderte auf ihren Dächern, die Boote und Hubschrauber waren pausenlos im Einsatz, die Hubschrauber brachten die Opfer auf den Heli-Port des Krankenhauses. Wir fuhren mit unserer Schaluppe ein letztes Mal raus, um Opfer von den Dächern zu holen, dann war ein Befahren des Überschwemmunsgebietes mit unseren Booten nicht mehr möglich, der Hochwasserpegel hatte sich zu sehr abgesenkt. Man konnte sich als Außenstehender kaum ein richtiges Bild von den Ausmaßen der Hochwasserkatastrophe machen, welche Folgen sich für die Opfer ergaben, keine Lebensgrundlage war mehr vorhanden, das Vieh, die Ernte, die Häuser, alles war verschwunden, es gab keine Familie mehr, zum Teil waren alle Familienangehörigen in den Fluten umgekommen, viele Kinder standen ohne Eltern da, manche standen vor dem Nichts.

Was bedeutete das, vor dem Nichts zu stehen? Es hieß zunächst, ohne materielle Mittel, aber auch ohne Zukunftsperspektive dazustehen und nicht weiterzuwissen. Am schlimmsten war es um die traumatisierten Kinder bestellt, ihnen die richtige Hilfe zukommen zu lassen, das war die Hauptaufgabe aller Katastrophenhelfer. Es war nicht damit getan, sie zu trösten und ihnen zu essen zu geben, in ihnen war alles zerstört! Das wieder aufzubauen, das war schwierig. Da waren besonders zwei Kinder, zehn und zwölf Jahre alt, die ihre Eltern verloren hatten und denen die Schwestern keine Verwandten zuordnen konnten, sie saßen völlig verstört und apathisch in der Ecke und waren kaum ansprechbar. Wie wir von ihren Nachbarn, die mit ihnen gerettet worden waren, erfuhren, hießen der ältere Junge Jun und das Mädchen My. Kinay und ich setzten uns neben sie, Kinay sprach sie leise und vorsichtig an, sie waren aber nicht in der Lage zu reden, sie hatten eine Sprachblockade, die aufgelöst werden müsste. Kinay gab ihnen etwas zu trinken, essen wollten die Kinder offensichtlich nicht, sie wiesen alle gereichten Speisen von sich.

Ihre Gesichter waren von den vielen Tränen, die sie vergossen hatten, ganz verklebt, man müsste ihnen einmal mit einem Waschlappen durch ihre Gesichter fahren. Ich lief los, besorgte mir bei einer Schwester einen Lappen, ging zur Toilette und machte den Lappen am Waschbecken richtig nass, dann nahm ich ein Handtuch mit und lief zu den Kindern zurück. Ich fuhr vorsichtig durch Mys Gesicht, sie ließ es sich gefallen und trocknete sich selbst ab, Jun tat das Gleiche. Zum ersten Mal blickten die Kinder hoch und sahen sich fragend um.

Kinay erzählte ihnen, dass sie Flutopfer wären, ihr Haus wäre zerstört, sie könnten nicht in ihr Dorf zurück, er wagte nicht zu sagen, dass ihre Eltern beide in den Fluten ertrunken wären. Längst hatte Kinay den Entschluss gefasst, Jun und My mit nach Peking zu nehmen und sich um sie zu kümmern, zumindest bis sie von ihrem Trauma losgekommen wären und sich um sich selbst kümmern könnten. Ich bewunderte Kinay wegen seiner großen Selbstaufopferung, er hatte doch schon zwei Kinder und zu Hause doch sicher nicht den Platz, um noch zwei Kinder unterzubringen. Er würde sich eben einschränken, sagte er und Platz genug wäre schon vorhanden, er und seine Frau bewohnten eine relativ große Wohnung, da würde sich schon noch ein Zimmer abteilen lassen.

Jun und My stammten aus Xin Wu, das Dorf war völlig von den Lößmassen zugeschwemmt, es war ganz zerstört und unbewohnbar. Es gab niemanden, der sich um Jun und My sonst kümmern könnte, für sie wäre nur ein staatliches Waisenhaus in Frage gekommen. Kinay klärte die Formalitäten mit der Krankenhausleitung ab und teilte mit, dass er die Kinder in seine Obhut nähme, er wies sich aus und offenbarte seine Einkommensverhältnisse. Dann sagte er, dass seine Frau Lehrerin wäre und er über genügend Platz in seiner Wohnung verfügte.

Er würde die fehlenden Dokumente nachreichen. Es war inzwischen Nachmittag geworden, die Sonne schien und es war warm, was das Entstehen von Seuchen begünstigte, das Wasser war abgeflossen und eine schmierige gelbe Fläche zurückgeblieben, die alles bedeckte. Die Räumfahrzeuge schoben den Löß von den Straßen, um ein Durchkommen für die Autos zu ermöglichen. Draußen auf dem Land aber ging es darum, die Leiber der Ertrunkenen zu bergen und zu bestatten. Wir trafen unsere Buspassagiere im Krankenhaus und fragten sie, wie es weitergehen sollte, sie meinten, dass wir zum Bus zurück und dann nach Peking weiterfahren sollten. Es gab einen Militärlastwagen, der vor dem Krankenhaus wartete und bei Bedarf als Transporter eingesetzt wurde. Alle Buspassagiere, auch wir mit den Kindern, setzten sich auf die Ladefläche und wir fuhren zur Autobahn. Die Fahrbahnen waren inzwischen geräumt, es fuhren schon wieder Autos auf dem „Jingfu“ Expy. Wir fanden dann auch unseren Bus, der Fahrer hatte soweit alles gereinigt und den Motor wieder ans Laufen gebracht, wir stiegen alle ein.

Wir nahmen Jun ud My mit nach hinten in den Bus, wo wir jedem von ihnen eine freie Bank gaben, sodass sie sich hinlegen und schlafen konnten. Sie schauten aber beide verwirrt und saßen lange nebeneinander gelehnt. Wir fuhren weiter Richtung Peking, wir passierten die große Huang-He-Brücke und sahen von oben den immensen Schaden, den die Hochwasserfluten angerichtet hatten, die ganze Landschaft, die wir überblicken konnten, war gelb von Löß.

Kinay redete ununterbrochen mit den Kindern und bot ihnen Getränke an, ich hatte noch von meinem Brot und etwas Obst, das ich ihnen gab, sie nahmen es und hielten es in den Händen.

Nach Norden hin war das Landschaftsbild völlig normal, die meisten Passagiere hatten aber keinen Blick dafür, sie schliefen tief und fest nach den anstrengenden Erlebnissen des Tages. Wir hatten noch vier Stunden Fahrt bis Peking, unsere Strecke war Dezhou, Cangzhou, Tianjin, Peking. Nach und nach merkte man doch seine Knochen von der Anstrengung, der man während der Rettungsaktionen mit dem Boot ausgesetzt war. Man war einfach müde, auch Kinay war müde und hätte am liebsten geschlafen, da waren unsere beiden Schützlinge plötzlich eingeschlafen und lagen, die Köpfe aneinander, an das Rückenpolster gelehnt. Nach einer Viertelstunde legten Kinay und ich My vorsichtig auf die freie Sitzbank, dann legten wir auch Jun auf seine Bank.

Kurze Zeit später schlief auch Kinay, ich hatte ihm gesagt, dass ich aufpassen würde und ihn sofort weckte, wenn eines der Kinder aufwachte. Es war still im Bus, der Fahrer rauchte bei offenem Fenster, wir kamen gut voran. Ich musste an meinen Rucksack denken, alles im Innern wäre nass und mit gelbem Schlamm eingesaut, was nicht weiter schlimm gewesen wäre, wenn ich nicht auch mein Exemplar mit den gedruckten Arbeitsergebnissen aus Xian im Rucksack gehabt hätte. Ich dachte, dass das Exemplar wohl unbrauchbar wäre, ich müsste mir ein neues aus Xian schicken lassen. Wir kamen an der Fünf-Millionen-Metropole Dezhou vorbei.

Alles schlief, nur ich war zwar müde, konnte aber im Sitzen nicht schlafen, Jun und My schliefen tief und fest, Kinay schnarchte leicht mit offenem Mund. Ich nahm meine Kladde aus dem Gepäcknetz, zum Glück war sie nicht im Rucksack! Ich hielt meine Erlebnisse mit dem Hochwasser fest, es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Zeuge eines Hochwassers war. Ich stellte mir vor, wie die Bausoldaten in den Dörfern den gelben Schlamm aus den Häusern holten und dabei auf die Leichen der Ertrunkenen und vom Schlamm Verschütteten stießen, grauenhaft, ich glaubte, dass so eine Arbeit nur absolut Hartgesottene verrichten konnten, in einigen Wochen würde man weitersehen. Es war immer noch ruhig im Bus, wir erreichten Cangzhou, wieder so ein Moloch mit einer Million Einwohner, wir waren dann in der Provinz Hebei.

Die ersten Fahrgäste begannen sich zu regen, man hörte Papier rascheln, die Mütter packten die Brote aus, die sie für die Fahrt vorbereitet hatten und öffneten Chipstüten für die Kinder. Manche gähnten mit offenen Mündern, die Kinder schmiegten sich an den Körper der Mutter und streckten sich. Jun und My schliefen noch, auch Kinay machte noch keine Anstalten, wach zu werden, erst zwischen Cangzhou und Tianjin regte er sich, streckte seine Glieder und schlug die Augen auf. Sofort schaute er nach unseren Schützlingen und war zufrieden, sie schlafen zu sehen. Erst auf der Höhe von Tianjin wachten die Kinder auf, sie taten verstört, schienen zuerst gar nicht zu wissen, wo sie waren, dann aber fiel ihnen wieder ein, welche furchtbaren Ereignisse über sie gekommen waren und dass sie ihre Eltern wohl nie mehr wiedersehen würden. Kinay gab ihnen zu trinken, auch mein Brot und ein Obst gab er ihnen, sie führten die Sachen zum Mund und begannen zu essen und zu trinken. Das wäre schon einmal geschafft, dachte ich und auch Kinay war glücklich, die Kinder essen zu sehen. Jun fragte plötzlich, wohin wir führen, Kinay schaute mich an und antwortete außer sich vor Freude „nach Peking“. Ob das noch weit wäre, wollte My dann wissen und Kinay antwortete, dass wir noch ungefähr eineinhalb Stunden bräuchten. Das Gröbste wäre geschafft, die Kinder aßen, tranken und sprachen wieder, es galt, die Kinder mit allem zu versorgen, was sie zu ihrer Entwicklung brauchten, auch mit Liebe. Wir kamen nach Langfang und hatten nur noch fünfzig Kilometer bis zur Hauptstadt. Kinay hatte längst über sein Handy seine Frau angerufen und sie auf den Familienzuwachs vorbereitet, auch auf mich als erwachsenem Gast. Wir begannen, unsere Sachen zusammenzupacken. Inzwischen war der ganze Bus wach, alle hatten damit zu tun, ihr Gepäck zu ordnen und den ganzen Kleinkrams, den sie während der Fahrt in Gebrauch hatten, in die Taschen zu packen, die sie auf dem Gepäcknetz stehen hatten. Die Kinder wurden angehalten, ihre Kleidung zu richten und sich zu kämmen, damit sie nicht so zerlumpt aussahen, wenn wir in Peking ankämen.

Die Waldwanderung

Paulo und Marietta machen mit Seldit, Bortan und deren Kindern eine 3-tägige Wanderung durch den Wald, der Ta´amerveran umgibt. Sie haben beide Goor-Stiefel an und fühlen sich beim Laufen sehr wohl in ihnen. Beim Moltebeerensammeln machen sie eine unliebsame Bekanntschaft zu einer Bärin...

Wir liefen los, der dichte Wald grenzte direkt an den Südteil der Stadt. Wir hatten uns für unseren ersten Wandertag eine Etappe von fünfundzwanzig Kilometern vorgenommen, unsere Hütte läge am Egli-See. Marietta und ich hatten uns dick mit Pekkos Mückenmittel eingeschmiert, wir stanken entsprechend. Wir passierten zunächst die Hochschule, am Morgen saßen alle in den Veranstaltungen, die Studenten kämen erst am Mittag heraus und setzten sich auf den Rasen. Dann begann, unmittelbar an die Hochschule angrenzend, der dichte Wald. Das Tageslicht ließ sofort nach, eine angenehme Frische tat sich auf, die Luft roch würzig nach Wald, sie überdeckte fast den Honigduft unserer Mitwanderer. Nach einer Stunde Wanderns in völliger Stille sagte Bortan, dass wir eine kleine Pause machen wollten, jeder sollte sagen, was ihn bedrückte und ob Kleidung und Rucksack angenehm zu tragen wären, ob vor allem die Stiefel das Wandern mitmachten, oder ob sich die ersten Blasen zeigten. Niemanden von uns bedrückte etwas, alle waren mit ihren Stiefeln mehr als zufrieden, wir tranken einen Schluck aus unseren Trinkflaschen und liefen dann weiter.

Der Weg war anfangs holperig und bildete eine Hohlrinne, es war etwas mühsam, auf ihm zu gehen. Wir sahen gleich zu Beginn viele Wildschweine und auch Rehe, das Gezwitscher der Vögel war unser ständiger Begleiter. Teilweise standen die Bäume so dicht am Weg, dass wir die Arme heben und die Äste beiseite schieben mussten. Nach drei Stunden stetigen Laufens erreichte wir eine Lichtung, auf der wir uns niederließen. Dort auf der Lichtung hatte sich eine große Hitze eingestellt, weil sie natürlich permanent von der Sonne beschienen wurde. Es gab dort auch Mücken, die Marietta und mich aber in Ruhe ließen, unser Antimückenmittel zeigte seine Wirkung.

Die Goor wurden gar nicht von den Mücken attackiert, vielleicht wegen ihres Fells am Körper. Die erwachsenen weiblichen Mücken waren die wahren Quälgeister, sie ernährten sich blutsaugend, das Blut, das sie Säugetieren oder Vögeln absaugten, brauchten sie zum Hervorbringen ihrer Eier. Sie waren dabei nicht auf Licht angewiesen, sie stellten auch im Dunkel mithilfe ihrer Fühler Luftfeuchtigkeit und Lufttemperatur fest und fanden so ihr Ziel. Aber von den fünfzig Mückenarten, die es gab, hatten es nur fünf auf Menschen abgesehen. Sie hielten sich vornehmlich in Sumpfgebieten, aber auch an Seen oder in feuchten Wäldern auf. Wir holten unsere Trinkflaschen hervor, tranken und aßen „Kum“, Marietta und ich aßen es klaglos, es schmeckte uns. Bortan fragte jeden, ob alles klar wäre, und wir bejahten. Das Wandern machte richtigen Spaß, ich wusste gar nicht, wann ich meine letzte Wanderung unternommen hatte, Marietta ging es genau so. Ich sah sie während unserer Pause die ganze Zeit an und musste an ihre Worte denken, die sie zu unserer Familienplanung gesagt hatte, wie schön sie doch war!

Die Kinder begannen zu drängeln, wir standen auf und liefen weiter. Wenn wir mit der Geschwindigkeit weitergingen, müssten wir in ungefähr vier Stunden den Egli-See erreichen, meinte Bortan. Das Gelände senkte sich leicht in eine große Ebene ab, an deren tiefster Stelle der See läge. Plötzlich vernahm ich fremde Geräusche von Bortan, er unterhielt sich mit zwei Vielfraßen, die, von uns anderen unbemerkt und vom Wald verdeckt, mit uns liefen, bis sie verschwanden. Ich fragte Bortan, was er den Tieren gesagt hatte und Bortan antwortete, dass sie ihn nach Futter gefragt hätten, er aber gesagt hätte, dass er leider nichts für sie hätte und sie verschwinden sollten, woraufhin sie in den Wald gelaufen wären. Das Konzert der Vögel hatte am Nachmittag wieder an Lautstärke zugelegt, nachdem es über Mittag fast verstummt war.

Ich kannte fast alle Vogelstimmen von meiner Zeit an unserem See her, auch Marietta kannte noch die eine oder andere Vogelstimme. Bortan hielt mit einem Mal an und bat mich, mit ihm auf die Karte zu sehen, wir standen an einer Weggabelung und mussten eindeutig nach rechts. Wir müssten unsere Hütte eigentlich zwei Stunden später erreichen.

Da sahen wir einen Luchs, wie er eine frisch gerissene Beute, es handelte sich um ein Kaninchen, davontrug. Er sah uns mit blitzenden Augen an und verschwand. Kurze Zeit später kreuzte ein Fuchs unseren Weg, vielleicht hatte der Luchs ihm das Kaninchen abspenstig gemacht. Plötzlich sahen wir durch das leicht aufgelockerte Astwerk des Tannenwaldes den Egli-See voraus. Ein Elch stand bis zum Bauch im Wasser und fraß Wasserpflanzen. Als er uns sah, hob er seinen Kopf mit seinem mächtigen Schaufelgeweih und schaute zu uns herüber, ließ sich aber von uns beim Fressen nicht stören. Wir gingen in die andere Richtung am Seeufer entlang und erreichten nach kurzer Zeit unsere Hütte, sie lag sehr versteckt und sah urig aus, Sie hatte ein Grasdach und dicke Bohlen als Wände, eine Holzterrasse reichte bis zum Seeufer. Wir öffneten die Tür und gingen hinein.

Die Kinder fragten Seldit, ob sie schwimmen gehen dürften, sie durften. Schnell zogen sich Aaron und Unto die Badehosen an und gingen von der Terrasse aus ins Wasser. Sie kühlten sich nicht großartig ab und gingen sofort rein. Ich machte mich auch schwimmfertig und Bortan folgte mir, wir hechteten in das kühle Nass, tat das gut! Die Jungen spritzten zu uns herüber, leider hatten wir keinen Ball mitgenommen, da schoss Marietta einen Ball zu uns, den sie in der Hütte gefunden hatte und wir spielten ein wenig im Wasser. Die Tiere, denen der See ja eigentlich gehörte, waren verschwunden, wir hatten in einiger Entfernung Biber fliehen gesehen, es erhoben sich auch Reiher und Gänse fluchtartig in die Luft. Wir gingen wieder aus dem Wasser und legten uns alle zum Abtrocknen auf die Holzterrasse.

Wir wurden wieder ruhig und lagen völlig entspannt, die Frauen hatten Bier und Wein auf den Tisch gestellt, wer wollte, konnte sich über das „Kum“ hermachen, was wir alle taten, den Jungen gaben wir Saft und Cola.

Wir mussten mit unseren Getränken ein wenig haushalten, damit wir für die gesamte Wanderzeit genug hatten. Es gab in der Hütte drei Räume, in dem als Wohnraum gedachten Zimmer richteten Marietta und ich uns eine Schlafecke ein, es gab ausreichend Decken in den Schlafzimmern und eine große Extramatratze. Wir saßen dann noch lange im Dunkeln und hörten den Tieren zu, die sich längst wieder beruhigt hatten. Auch die Jungen waren noch bei uns, als Aaron plötzlich auf ein Tier hinwies, das neben der Terrasse stand, es war ein Rehkitz, das völlig angstfrei zu uns schaute. Aaron streckte ihm etwas Gras hin, das das Kitz aus seiner Hand fraß, es kam sogar noch einen Schritt näher, und Aaron gab ihm noch mehr Gras, schließlich hielt er dem Kitz ein Stückchen „Kum“ hin, das es aus seiner Hand fraß. Dann ertönte mit einem Mal ein Knacken im Gehölz, das Kitz erschrak und rannte davon. Vielleicht war es seine Mutter, die das Knackgeräusch verursacht hatte.

Danach war alles friedlich, die Erfahrung mit dem Kitz war schon etwas Besonderes, und Aaron war ein wenig stolz auf sich. Um 23.00 h gingen wir alle schlafen. Einen so festen Schlaf wie in der Hütte hatte ich lange nicht, alle Körperspannungen waren gelöst, der Geist war mit nichts anderem beschäftigt, als damit, das Glück zu verarbeiten, das mir widerfuhr. Marietta war sofort eingeschlafen und auch ich schlief schnell ein.

Am nächsten Morgen sprang ich vor dem Kaffee von der Holzterrasse aus in den See, sofort erhoben sich wieder die Wasservögel in die Luft, ich genoss das Morgenbad, die Kinder kamen mit Karacho hinterher. Klar waren sie nicht leise, wir würden bald verschwunden sein und dann herrschte am Egli-See wieder Ruhe. Wir stiegen aus dem Wasser und setzten uns in Badehose an den Tisch, wo die Frauen löslichen Kaffee für uns und Saft für die Jungen hingestellt hatten. Wir aßen etwas süßen „Kum“, eine Stunde nach dem Frühstück wollten wir weiter.

Die Sonne schien warm auf uns herab und wir genossen die Stunde der Stille auf der Holzterrasse.

Marietta und ich schmierten uns mit dem Antimückenmittel ein. Dann machten wir uns fertig, setzten die Rucksäcke auf und liefen weiter. Wir hatten uns für den Tag dreißig Kilometer vorgenommen. Wir wollten die große Senke durchqueren und den leichten Anstieg auf der anderen Seite bewältigen. Es ging gut voran, sobald wir im Wald waren, spürte wir die frische Morgenkühle, die aber bald von der Mittagshitze abgelöst werden würde. In einiger Entfernung sahen wir plötzlich ein Wolfspaar über den Weg laufen. Wölfe waren scheue Tiere, nur im Rudel, wenn sie auf Beutejagd waren, waren sie gefährlich und aggressiv. Als wir uns vom See wegbewegten, begann langsam ein ganz leichter Anstieg, kaum spürbar, den wir am Mittag geschafft hatten. Wir waren auf einer Anhöhe, jedenfalls gegenüber der Geländesenke und hatten noch einmal einen herrlichen Blick auf den See. Wir verschwanden dann im Wald und erreichten anschließend eine sumpfige Landschaft.

Wir kamen an eine Stelle, die für vielleicht tausend Quadratmeter baumfrei war, eine Art Sumpfwiese, die vollgestanden war mit Moltebeeren. Seldit sagte, dass wir sie pflücken sollten, wir sollten die Früchte einfach in unsere Rucksäcke werfen, wenn die voll wären, würden wir aufhören. Zu Hause wollte Seldit vielleicht Kompott aus den Beeren machen, die Goor liebten süßen Kompott, manchmal machten sie auch Pflaumenkompott und verschlangen ihn mit Heißhunger, besonders die Kinder waren da hinterher. Die Moltebeeren waren in voller Reife und deshalb nicht so leicht zu pflücken, weil sie sehr weich waren. Wir pflückten Beeren, die in halbreifem Stadium waren und deshalb nachreifen mussten.

Die Moltebeeren waren sogenannte Sammelsteinfrüchte, die jeweils aus bis zu fünfundzwanzig Steinfrüchten bestanden. Die reifenden Früchte waren zunächst grünlich und vollständig von Kelchblättern umschlossen, dann wurden sie blassrot und schließlich gelb-orange. Sobald sich die äußeren Blütenhüllblätter von der Frucht wegrollten, war die Moltebeere reif. Die Beeren waren sehr reich an Vitaminen und Spurenelementen und daher ein wertvolles Nahrungsmittel, ihr Geschmack war bitter-säuerlich, man musste sie eigentlich zuckern, um sie roh zu essen, aber dort draußen, auf der Sumpfwiese aßen wir sie aus der Hand, auch ohne Zucker. Anfangs verzog man wegen der Säure leicht das Gesicht, dann hatte man sich an den Geschmack gewöhnt.

Wir zogen am Rande der Wiese unsere Stiefel und Strümpfe aus und liefen barfuß zu den Beeren. Das Pflücken bereitete am Anfang tatsächlich große Schwierigkeiten, weil die Frucht beim Griff unserer Finger zerquetschte, dann bekam man aber ein Gespür für die etwas festeren und noch nicht ganz reifen Früchte, die sich gut pflücken ließen. Wir pflückten ungefähr eine Stunde, als Bortan uns zur Achtung ermahnte. Wir wussten erst nicht, was los war, sahen aber dann in etwa dreißig Metern Entfernung einen Braunbären in aufrechter Haltung stehen, ich wusste nicht einzuschätzen, was er vorhatte, mir war aber bekannt, dass Moltebeeren zu den Lieblingsspeisen der Bären gehörten.

Außerdem hatte der Bär den süßen Honigduft meiner Goor-Freunde in der Nase. Er kam langsam näher und gab Brummgeräusche von sich, was Bortan zum Anlass nahm, sich mit ihm zu unterhalten. Marietta und ich staunten nicht schlecht. Als der Bär nur noch in zwanzig Metern Entfernung zu uns war, sagte uns Bortan, dass wir die Sumpfwiese verlassen und uns Strümpfe und Stiefel anziehen sollten, wir sollten uns beeilen! Er redete weiter mit dem Bären, dessen Brummen eine unüberhörbare Lautstärke annahm, kein gutes Zeichen, zumal der Bär eine stattliche Größe hatte, ich schätzte seine Körpergröße auf 2.30 Meter, wenn er stand. Der Bär war eine Bärin, mit der sicher nicht zu spaßen gewesen wäre. Bortan gab unverständliche Zischlaute von sich, sei es, dass er die Bärin warnen, sei es, dass er ihr mitteilen wollte, dass er sich zurückzöge. Die Bärin ließ sich aber nicht beirren und ging weiter auf Bortan zu, wir hatten uns an den Rand der Sumpfwiese begeben und beobachteten die Szene, die Bärin war nur noch zehn Meter von Bortan entfernt, Seldit und die Kinder schrien, er sollte doch kommen, wieder gab er die Zischlaute von sich, von denen niemand wusste, was sie zu bedeuten hatten. Wir waren von Angst um Bortans Leben besessen, die Bärin könnte Bortan mit einem Wisch ihrer Vorderpranke töten, sie würde dann ihre zweiundvierzig Zähne in Bortans Körper schlagen und sich ein Stück aus ihm herausbeißen. Ihr Kopf war sehr gedrungen, die Augen klein, aber weit geöffnet, die Ohren waren auch klein und standen ab. So putzig, wie die Braunbären auch auf Bildern aussahen, unsere Bärin hatte alle Putzigkeit verloren und war über alle Maßen aggressiv.

Ihr Gewicht wird um die hundertdreißig Kilogramm betragen haben, sie wirkte massig, ihr Fell war dunkelbraun gefärbt, man konnte aber Farbschattierungen erkennen. Eigentlich waren Braunbären im Sommer vorwiegend nachtaktiv, niemand wusste, wer oder was unsere Bärin um die Mittagszeit auf die Sumpfwiese zum Fressen trieb, vielleicht hatte sie Junge zu versorgen. Wir schauten uns nach geeigneten Bäumen um, auf die wir uns flüchten könnten, sollte die Bärin uns angreifen. Ausgewachsene Braunbären konnten in aller Regel nicht mehr auf Bäume klettern. Die Bärin brüllte inzwischen in einer ohrenbetäubenden Lautstärke, es gab keinen Zweifel mehr, dass sie Bortan angreifen würde, sie näherte sich mit aggressivem Drohgehabe Bortan immer mehr, der aber keinen Schritt zurückwich, was Marietta und ich nicht verstanden.

„Warum kommt Bortan nicht zu uns?“, schrien wir zu Seldit. Seldit antwortete, dass wir noch abwarten sollten. Die Bärin hatte inzwischen einen gestreckten Nacken, zurückgelegte Ohren und nach außen stehende Eckzähne, untrügliche Anzeichen für einen in Kürze erfolgenden Angriff, Bortan war in allerhöchster Lebensgefahr!

„Bortan, Bortan!“, schrie ich und in dem Augenblick setzte die Bärin zu einem gewaltigen Sprung auf ihr Opfer an. Bortan wäre unrettbar verloren gewesen, wenn nicht in genau diesem Moment drei Vielfraße die Bärin angesprungen und sich in ihrem Kopf und Nacken verbissen hätten. Diese Vielfraßattacke traf die Bärin völlig unerwartet, und ließ sie ihren Angriff auf Bortan abbrechen. Das waren also die unerklärlichen Zischlaute Bortans gewesen, er hatte die Vielfraße zu Hilfe gerufen. Die Bärin schrie auf, die Bisse der Vielfraße verursachten natürlich heftige Schmerzen. Bortan nutzte die Gelegenheit und kam endlich zu uns. Seldit umarmte ihn vor Erleichterung, und auch die Kinder und wir waren froh, ihn unversehrt vor uns zu sehen. Bortan zog seine Strümpfe und Stiefel an.

Wir sahen, wie die Bärin ausholte und mit einem gewaltigen Prankenhieb ein Vielfraß erwischte, er schrie auf und flog in einem hohen Bogen durch die Luft, tödlich getroffen. Die beiden anderen Tiere setzten der Bärin aber so zu, dass sie immer kraftloser wurde, sie gab noch ein paar Mal einige wütende Kampfschreie von sich, dann aber hörte man bis zu uns, wie ihre Knochen unter den ungeheuer kraftvollen Bissen der Vielfraße knackten, so heftig und brachial waren die Bisse, die Tiere waren in einem Tötungsrausch, die Bärin hatte nicht mehr lange zu leben. Sie lag röchelnd auf dem Boden und regte sich nicht mehr, dann hatten die Vielfraße ihr Tötungswerk vollendet. Bortan sagte ihnen, dass sie sich ausruhen und dann an der Bärin sattfressen sollten.

Dafür, dass sie ihm das Leben gerettet hätten, sollten sie, wenn sie einmal in der Nähe der Hauptstadt wären, die dort herumlaufenden Vielfraße nach Eemeli und Eveliina fragen, die Vielfraße lebten am Hofe des Königs und würden ihnen zum Dank von ihrem guten Fressen abgeben, Bortan wollte den beiden Tieren Bescheid sagen. Er rief ihnen noch einmal seinen Dank zu, dann winkten wir den Tieren zu und wanderten weiter, noch sichtlich benommen von dem Abenteuer beim Moltebeerenpflücken, das würden Marietta und ich unseren Lebtag nicht vergessen und die anderen sicher auch nicht.

Bortan lief schweigend mit uns, niemand wagte, ihn anzusprechen, bis er mit einem Male sagte, dass es ihm um die Bärin leid täte, er hätte sich aber nicht anders zu helfen gewusst, wenn die Vielfraße nicht im rechten Moment gekommen wären, hätten wir mit Sicherheit ohne ihn weiterwandern müssen, er wäre den beiden Tieren unendlich dankbar, ein Tier wäre ja getötet worden. Ich sagte ihm dann, dass ich froh wäre, ihn unter den Lebendigen zu sehen, wir alle hätten eine wahnsinnige Angst um ihn gehabt, am meisten wohl Seldit.

Uns wäre erst spät klargeworden, was seine Zischlaute zu bedeuten gehabt hätten, Marietta und ich hätten keine Erklärung dafür gehabt. Bortan sagte, dass wir unser schreckliches Moltebeerenerlebnis so schnell wie möglich vergessen sollten, und so liefen wir weiter, wieder durch dichtes Tannengrün. Wir sahen viele Eichhörnchen in den Ästen herumtoben, endlich sahen wir auch eine Gruppe wilder Rentiere, die für die Gegend so typisch waren. Sie verschwanden schnell im Unterholz, um sich vor den Räubern wie Wolf und Luchs zu verstecken. Ihr eigentliches Revier war aber nicht der Wald, sondern die Tundra. Unsere Rucksäcke waren voll mit Moltebeeren, wir würden bei der Ankunft an unserer Hütte davon essen. Doch zunächst machten wir eine Pause auf einer kleinen Lichtung, wo wir die Stiefel auszogen und uns hinlegten. Jeder aß ein Stück „Kum“ und trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Jeder dachte natürlich noch an die Bärin, unvorstellbar, was geschehen wäre, hätten wir die Vielfraße nicht gehabt.

Ich hielt Mariettas Hand und war glücklich, ich glaubte, aus Mariettas Gesichtsausdruck das Gleiche ablesen zu können. Ich schaute sie an, sie lächelte mir zu. Vielleicht wären wir bald eine Familie im Goor-Reich, wer wusste das schon? Bortan rief uns hoch, wir mussten weiter.

Bis zu unserer Hütte hätten wir noch ungefähr zwei Stunden, wir liefen vollkommen entspannt, unsere Stiefel waren ein wahrer Segen, sie schmiegten sich an die Beine und Füße an, dass es eine Wonne war. Bortan sagte mir dann, dass unsere Stiefel, wie alle Stiefel im Goor-Reich, aus Elch-Leder wären. Das Leder wäre weich und anschmiegsam, er hätte noch von niemandem gehört, der Probleme mit seinen Stiefeln gehabt hätte. Nur die Stiefel des Königs wären nicht aus Elch-Leder, seine Stiefel wären aus dem Leder des relativ seltenen Weißwedel-Hirsches gefertigt. Bortan glaubte aber, dass die Stiefel aus dem Leder des Weißwedel-Hirsches sich nicht für die Wanderung eigneten, dazu wären sie zu empfindlich.

Ich drehte mich zu Marietta und Seldit um, die beiden unterhielten sich die ganze Zeit und was ich so hören konnte, war das Thema die Familie. Marietta rief nach vorn, dass die Wanderung sehr schön wäre und sie schon seit langer Zeit nicht mehr gewandert wäre. Wie schön sie doch aussah, dachte ich und lächelte ihr zu. Die Jungen liefen weit vor uns und riefen mit einem Mal, dass sie unsere Hütte sehen könnten, wir hatten es also geschafft und unsere Hütte erreicht.

Sie lag ein wenig versteckt, mitten Wald, fast ganz von Tannenzweigen umwachsen, nur die Vorderseite lag frei. Es gab eine kleine Außenterrasse, auf der wir uns niederließen. Wir waren an dem ereignisreichen Tag tatsächlich dreißig Kilometer gelaufen, uns allen lag das schreckliche Erlebnis noch in den Knochen. Wir holten die restlichen Bierflaschen und den Wein aus den Rucksäcken, tranken davon und aßen „Kum“ und Moltebeeren. Die Jungen fragten, ob sie ein wenig die Umgebung erkunden dürften, Seldit und Bortan erlaubten es unter der Bedingung, dass sie nicht zu weit wegliefen, es wäre auch schon relativ spät, sie sollten in einer halben Stunde zurück sein. Aaron und Unto liefen in den Wald und wollten versuchen, ein paar Tiere zu beobachten, sie verhielten sich ganz still. Sie sahen viele Vögel, darunter auch eine Schnee-Eule. Wir ließen es uns auf der Terrasse gutgehen, es war längst keine Rede mehr von dem Bärenerlebnis.

Marietta und ich erzählten von unserem Besuch im „Museum für Geschichte“ und fragten Seldit und Bortan nach den Krat. Seldit wusste als Geschichtslehrerin vieles über die Krat zu berichten.

Ja, es hätte einen zwei Monate dauernden Krieg gegen die Krat im Goor-Reich gegeben, bei dem die Krat unterlegen gewesen wären. Die Krat wären ein imperialistisches Volk, sie hätten schon ihren gesamte Nachbarschaft überfallen und die dort lebenden Völker unterjocht. Man könnte mit den Krat kaum reden, alles drehte sich bei ihnen um Macht und Herrschaft. Zur Finanzierung ihrer Eroberungszüge brauchten die Krat viel Geld, deshalb hätten sie es auf die Goldgruben im Goor-Reich abgesehen, sie unternahmen in regelmäßigen Abständen bewaffnete Überfälle, die aber immer abgewendet werden konnten. Man müsste jederzeit mit einem erneuten Krieg rechnen, allein das Rüstungspotential auf Seiten der Goor hinderte die Krat bislang daran, einen Krieg zu beginnen. Die Goor verfügten über Raketenbatterien an der Grenze zum Krat-Reich, die ferngesteuert ihre Ziele erreichen könnten. Die Krat wären verbscheuungswürdige Wesen, allein ihr Aussehen schreckte ab, sie hätten das Aussehen großer Hunde, gepaart mit einem Verhalten, das jeder Beschreibung spottete. Sie spuckte überall herum und balgten sich auf offener Straße, sie urinierten gerade da, wo sie sich aufhielten. Es stank dementsprechend bei ihnen. Die Krat wären der große Schatten, der über dem Glück der Goor läge.

Bortan ergänzte, dass er bald wieder mit einem Krieg rechnete, es gäbe da gewisse Anzeichen, über die er sich aber nicht weiter ausließ. Dann kamen die Jungen zurück und berichteten von ihrer Tierbeobachtung im Wald. Wir hörten noch eine Zeit lang dem am Abend mächtig anschwellenden Vogelkonzert zu, dann, als es wieder stiller wurde, gingen wir schlafen. Marietta und ich hatten uns wieder eine Matratze ins Wohnzimmer gelegt, die anderen belegten die beiden Schlafzimmer. Ich sagte Marietta, dass wir am nächsten Tag wieder nach Hause gingen und wir waren darüber beide ein wenig traurig. Ich drückte und küsste Marietta und sagte ihr, wie sehr ich mich darüber freute, mit ihr zusammen zu sein, noch nie in meinem Leben wäre ich so glücklich gewesen. Dann schliefen wir ein.

Wir standen am nächsten Morgen zeitig auf und tranken auf der Terrasse Kaffee. Wir waren alle guter Dinge und scherzten miteinander. Wir saßen eine Stunde lang beieinander und aßen süßes „Kum“, dann brachen wir auf. Wir würden am Mittag wieder auf unsere Wanderroute vom Beginn treffen und so den Kreis schließen.

Die Sonne schien warm vom Himmel und hüllte alles in ein friedliches Schweigen. Wir liefen wortlos und zufrieden nebeneinander her. Seldit begann, ein Lied zu singen, in das Bortan und die Kinder einstimmten, Marietta und mir war das Lied unbekannt. Wir summten aber den Refrain mit. Hinterher sagte Seldit, worum es in dem Lied gegangen wäre, es handelte von Wandersleuten, die frohen Mutes durch die Wälder streiften und dabei immer vor sich her sangen. An einer kleinen Lichtung machten wir unsere letzte Pause. Seldit stimmte noch ein Lied an, alle sangen mit, Marietta und ich sangen den Refrain mit. Wir tranken aus unseren Trinkflaschen, die wir bei einer Quelle an der Hütte aufgefüllt hatten und liefen weiter. Auf unserem letzten Wegstück, schon relativ nahe bei der Stadt, lichtete sich der Wald ein wenig, stand aber immer noch dicht. Wir trafen am Mittag, wie angenommen, auf unsere Wanderroute vom vorletzten Tag und schlossen den Kreis. Längst sahen wir die Häuser der Stadt und das Königsschloss. Wir betraten das Stadtgebiet wieder an der Universität und liefen die zehn Minuten bis zum Schloss. Der Unterschied zu unserem abgeschiedenen Waldausflug hätte krasser kaum sein können.

Es fuhren zwar kaum Autos und wenn, dann sehr langsam, aber die Goor, die auf der Straße liefen, lärmten, besonders die spielenden Kinder waren laut. Aber das gehörte eben zu einem Leben in der Stadt dazu und störte auch nach kurzer Zeit überhaupt nicht mehr, nur wenn man gerade aus der Stille kam, dann fiel es doch stark auf.

Wie liefen am Wachposten vorbei auf den Schlosshof, wo uns sofort Eemeli und Eveliina entgegenstürmten. Wir setzten uns auf die Bank an der Eiche und streichelten die Tiere, Eveliina würde in absehbarer Zeit werfen. Dann erzählte Bortan den beiden Tieren in den ihnen eigenen und uns völlig unverständlichen Zischlauten die Geschichte mit der Bärin. Die Tiere saßen völlig reglos neben Bortan und hörten ihm zu Er sagte, dass, wenn irgendwann einmal zwei Vielfraße aus dem Wald zu ihnen kämen, sie denen zu essen geben sollten, die Tiere hätten ihm das Leben gerettet. Eemeli und Eveliina gaben zu verstehen, dass sie sich um die Tiere kümmern würden, wenn sie erschienen. Ich tätschelte die Tiere, bevor sie mit Aaron und Unto im Schlosspark verschwanden und dort mit ihnen herumtobten.

Marietta und ich dankten Seldit und Bortan für die sehr schöne Wanderung, wenn sie auch durch einen üblen Zwischenfall in dem Spaß, den sie bereitet hatte, ein wenig gelitten hätte, wir sagten aber, dass wir daran schon gar nicht mehr dächten. Wir hätten die Ruhe und den Anblick der vielen Tiere genossen. Auch das Zusammensein mit ihnen hätte uns gutgetan.

Plötzlich erschien der König auf dem Schlosshof und sagte, dass er sich freute, uns wiederzusehen. Wir erhoben uns sofort, er winkte aber ab, wir sollten doch sitzen bleiben und nicht so förmlich sein. Er wollte wissen, was wir erlebt hatten und ob uns seine Tour gefallen hätte. Wir berichteten in aller Kürze, wie wir uns Kilometer um Kilometer durch den Wald bewegt hätten, immer auf Tiere achtend, wie wir Pausen gemacht und uns lange in den Hütten aufgehalten hätten, die Hütte am See wäre besonders schön gewesen. Wir erwähnten mit keinem Wort unser Erlebnis mit der Bärin, vielleicht würden wir das am Abend tun.

„Ihr seid sicher müde, Kinder, kommt herein, ich lasse Erfrischungen bringen!“, sagte König Jarmo. Wir gingen gemeinsam in den Salon und die Diener brachten Getränke und Obst, das tat gut, wir waren wirklich müde.

„Wie geht es Prinzessin Eira?“, fragen Marietta und ich und der König antwortete, dass sie schliefe, Pekko hätte sich hervorragend um sie gekümmert und ihr ihren Tropf gegeben. Wir wollten sofort hoch zu Eira, doch der König bat:

„Lasst sie noch einen Moment schlafen, Ihr könnt schon noch früh genug zu ihr!“.

Wir aßen Obst und lobten Pekko, dass er uns an das „Kum“-Essen gebracht und uns die Rucksäcke geliehen hatte. Er wäre schon lange einer seiner treuesten Diener, sagte der König.

Dann gingen Marietta und ich, nachdem wir eine Zeit gewartet hatten, aber doch hoch zu Eira. Wir klopften an ihre Tür, hörten ein festes „Herein!“ und waren erstaunt, Eira an ihrem Zimmertisch sitzen und schreiben zu sehen. Sie lächelte vor Freude, als sie uns sah:

„Marietta, Paulo, schön dass Ihr wieder da seid!“, rief sie laut, „erzählt mir bitte, was Ihr erlebt habt!“, bat sie. „Ihr seht, dass es mir ausgezeichnet geht, ich bin längst nicht mehr so erschöpft und abgespannt, das Schreiben am Tisch ist viel angenehmer als im Bett, allerdings lege ich mich nach einer Stunde wieder hin.“ Wir freuten uns, dass Eiras Erholung solche Fortschritte machte, das sagten wir ihr auch, sie sollte sich nur nicht so früh überfordern und alles langsam angehen lassen. Dann erzählten wir von unserer Wanderung, wie toll das Zusammensein mit Seldit, Bortan und den Kindern wäre, wir wären am ersten Tag bis zur Hütte am See gelaufen und hätten viele Tiere im Wald gesehen und genau, wie es Eira damals erlebt hatte, wäre an der Hütte ein Rehkitz ganz nahe zu uns gekommen und hätte sich füttern lassen, sogar „Kum“ hätte es aus der Hand genommen. Ein Geräusch hätte es dann erschreckt und es wäre davongelaufen.

Eira erinnerte sich an ihr Erlebnis mit dem Rehkitz damals und musste lachen, weil wir das Gleiche erlebt hätten. Dann berichteten wir Eira ausführlich, wie wir am nächsten Tag in einer Sumpfwiese Moltebeeren gepflückt hätten und dort von einer Bärin attackiert worden wären.

„Wie furchtbar!“, rief Eira entsetzt. Es wäre Bortans unnachahmlichem Geschick und seinem Gespür für die Tiere zu verdanken, dass wir noch lebten. Bortan hätte Vielfraße zu Hilfe gerufen, die die Bärin im letzten Moment getötet hätten.

„Wie entsetzlich!“, schrie die Prinzessin. Die ganze Situation wäre tatsächlich entsetzlich gewesen und wir hätten lange daran zu knacken gehabt, letztlich hätte sich aber alles zum Guten gewendet und wir wären froh gewesen, wie wir aus der brenzligen Lage herausgekommen wären.

„Zum Glück seid Ihr alle heil nach Hause gekommen, ich freue mich riesig, Euch wiederzusehen!“, sagte Eira. Wir erzählten noch von der zweiten Hütte, dass wir Rentiere und einmal sogar Wölfe gesehen hätten. Eira hörte gebannt zu, wie Kinder zuhören, denen man ihnen eine Geschichte erzählt. Wir fragten sie nach ihren Schreibfortschritten und sie sagte, dass sie das erste Kapitel ihrer Geschichte abgeschlossen hätte. Sie sollte sich wieder hinlegen, sagten wir ihr, ihr Körper würde sich nur ganz allmählich wieder an die Anstrengungen des Alltags gewöhnen, am besten, sie schliefe eine Weile, am nächsten Tag würden wir uns dann im alten Rhythmus wieder um sie kümmern. In eineinhalb Wochen wäre die Therapie abgeschlossen, dann könnte sie sich wieder ganz normal bewegen. Eira befolgte unseren Rat und legte sich hin. Wir gingen wieder nach unten und sagten dem König, dass Eira mächtige Fortschritte machte. Der König ließ Kaffee bringen und wir setzten uns wieder alle an den Mahagonitisch im Salon. Der herrliche aromatische Kaffee hatte es Marietta und mir angetan, wir hatten beide selten so einen guten Kaffee getrunken. Die Kinder rannten kurze Zeit später hinaus und spielten mit Eemeli und Eveliina, die nur darauf gewartet hatten. Seldit und Bortan lobten unsere Ausdauer und wir sagten, dass wir beide nicht gedacht hätten, dass unsere Stiefel das aushalten würden, niemand hätte Druckstellen oder sogar Blasen davongetragen. Nach dem Kaffee gingen Marietta und ich hoch und stellten uns beide unter die Dusche. Ich umarmte Marietta und wir ließen uns beide das warme Wasser über unsere Körper rieseln. Mariettas Busen war mittelgroß und fest, ich streichelte und küsste ihn. Längst hatte ich eine Erektion und war begierig darauf, mein steifes Glied in Mariettas Scheide gleiten zu lassen. Sie hielt meinen Penis in der Hand und massierte ihn, dann nahm sie ihn in den Mund und liebkoste ihn mit ihrer Zunge, ich konnte fast nicht mehr zurückhalten. In Windeseile trockneten wir uns ab und warfen uns aufs Bett, wo ich sofort in Marietta eindrang. Wir waren beide so heiß, dass wir gleich kamen. Ein unbeschreiblich wohltuendes Gefühl stellte sich ein, eine angenehme Erschlaffung, eine Reglosigkeit. Wir lagen beide eng umschlungen und schliefen ein.

Am frühen Abend wurden wir wach, wir spürten schon unsere Knochen vom Wandern, standen aber auf und zogen uns an. Dann gingen wir nach unten zum Abendessen, die anderen saßen alle am Tisch und warteten auf uns. Der König ließ wieder alles, was er in der Bar hatte, auffahren, es waren alle Getränke dabei, die man sich vorstellen konnte. Marietta und ich tranken, wie auch die anderen, ein kaltes Bier, wir prosteten uns zu und stießen auf unsere erfolgreiche Wanderung an. Das Bier schmeckte sehr gut, es hatte genau die richtige Temperatur, das Bier, das wir auf unserer Wanderung dabeihatten, war natürlich den ganzen Tag im Rucksack und dementsprechend warm. Wir tranken alle ordentlich, mit dem Erfolg, dass Marietta und ich leicht angeheitert waren und die anderen über uns lachten, sie konnte ja ohne Einschränkung Alkohol trinken, sie wurden nicht betrunken. Wir hatten alle reichlich „Kum“ gegessen und waren gut satt. Marietta und ich gingen leicht schwankend aufs Zimmer und sofort ins Bett.

Wir standen am nächsten Morgen nicht allzu früh auf und gingen zu den anderen hinunter, Kaffee trinken. Es gab wieder süßes „Kum“ dazu, anschließend kümmerten wir uns um Eiras Tropf. Die Prinzessin saß längst am Tisch und schrieb, wir wünschten ihr eine guten Morgen und baten sie, sich wieder hinzulegen. Wir legten ihr den Tropf und setzten uns zu ihr, um uns mit ihr zu unterhalten. Eira war eine ausgesprochen angenehme Erscheinung, sie war offen und natürlich. Sehr schön war ihr Lachen, sie lachte von ganzem Herzen und legte all ihr Inneres in ihr Lachen. Eira war hübsch und sie würde sicher einen tollen Mann bekommen, wenngleich das für sie als Prinzessin nicht ganz so einfach wäre. Vielfach heiratete man ja zwischen den Königshäusern hin und her, das war bei den Goor aber nicht so vorgesehen, es gab keine Nachbarkönigshäuser, in denen es heiratsfähige Prinzen gegeben hätte. Wahrscheinlich würde Eira nur die Partnerbörse bleiben, sie müsste „bürgerlich“ heiraten. Aber den Entschluss müsste Eira ganz allein fassen, vielleicht träfe sie ja auch einen netten Kommilitonen während ihres Pädagogikstudiums.