Priese - Hans Müller-Jüngst - E-Book

Priese E-Book

Hans Müller-Jüngst

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Beschreibung

Priese ist zunächst seines Lebens überdrüssig und flieht eines Tages vor seinem Alltag nach Hamburg an die Landungsbrücken. Dort wird er wie in Trance in 50 Lebensfelder geführt, um Ausschau nach dem Sinn des Lebens zu halten. Am Ende fidet er sich anexakt der gleichen Stelle in Hamburg wieder und ist geläutert.

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Seitenzahl: 515

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Hans Müller-Jüngst

Priese

auf der Suche nach dem Sinn des Lebens

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Kainsfeld

In Shanghai, Peking und Xian

Auf Prosper-Haniel

In der Taklamakan-Wüste

An der Nordsee

Beim BVB

Paris

Unten

Vera und Jens

Bei Thyssenkrupp

Sphäre (1)

Hochzeit

Im Flugzeug

New York

Heppenheim

Am See

Im Schwimmbad

London

Vlissingen

Im Gymnasium

Religion

Weltraumstation

Die Yacht-Tour

Im Wald

In Ta´amervan

Liang

Sphäre (2)

Istanbul

Robol IV-8

Der Goldene Schnitt

Rügen

Landschaft

Zoo

Bingöl

Liebe

Glück

Sport

Bayram Ali

Exo

Lofoten

Irmi

Priese als Kommissar (1)

Priese als Kommissar (2)

Kuba

Sphären (3)

Priese und Nkomo

Ferganatal

Priese als Kommissar (3)

Emily und Priese im Ruhestand

Familie Priesek

Impressum neobooks

Vorwort

Der Protagonist des vorliegenden Romans ist Hans- Peter Prieseck, genannt Priese. Er ist Oberstudienrat am Gymnasium seiner Stadt und unterrichtet die Fächer Mathematik und Deutsch. Priese lebt ein geordnetes Leben mit Frau und Kindern in einem großen Haus in der Vorstadt, das Grundstück hat immense Ausmaße.

Eines Tages kommt er zum Unterricht auf dem Lehrerparkplatz an, besinnt sich dann aber eines Besseren und flieht vor dem Alltagstrott nach Hamburg an die Landungsbrücken. Dort setzt er sich auf eine Bank und beginnt zu sinnieren. Er sinniert über sein Leben und fragt sich, ob das alles so richtig ist, wie er lebt, er sucht den Sinn des Lebens. Dann begibt er sich, wie von Geisterhand geführt, in 50 Lebensfelder, in denen er nach dem Sinn des Lebens Ausschau hält. Lebensfelder sind lebensrelevante Handlungszusammenhänge, die einem Sinn folgen, der aber nicht hinterfragt wird. Er erhält so Einblick in Lebenszusammenhänge, die auch außerhalb seiner Kultur gelten und ihm die Augen für Fremdartiges öffnen. Es geht Priese gar nicht so sehr um die Frage nach seiner Existenz überhaupt, denn die wird er niemals beantworten können, es sei denn, er lehnt sich an eine Religion an, die ihm auch diese Sinnfrage beantwortet. Vielmehr sucht er Sinnansätze für sein aktuelles Handeln, und da findet er doch eine Fülle, angefangen von zweckrationalen über hedonistische und utilitaristische bis hin zu rituell begründeten Handlungen.

Kainsfeld

Wenn Priese das Haus verließ, nahm er den mit Ginsterbüschen eingefassten Weg zur Straße hin, der an die 30 Meter lang war und hielt sich den Mantel zu, wenn es regnete und stürmte, oder er ging aufrecht im Hemd, wenn die Sonne schien, und es warm war. Das Grundstück, auf dem er lebte, hatte gewaltige Ausmaße: da waren die 30 Meter vor dem Haus, aber es gab auch noch 60 Meter dahinter, und zur Seite hin waren es auch noch jeweils 40 Meter. Es hatte das Haus und das Grundstück von seinem Vater geerbt und lebte mit seiner Familie auf dem Land, da waren seine Frau Emily und seine Kinder Benny und Alice, 12 und 13 Jahre alt, er selbst war 42 und seine Frau 40 Jahre alt. Hans-Peter Prieseck war sein wahrer Name, aber alle, die ihn kannten, nannten ihn nur Priese. Das Prieseck-Anwesen lag ein Stück außerhalb von Kainsfeld, Kainsfeld war eine mittelgroße Stadt mit ungefähr 25000 Einwohnern im Norden Deutschlands.

Die Kinder hatten ihre Schule in Kainsfeld und Emily hatte dort den Kreis ihrer Freundinnen und ihren Sport, sie ging ins Fitnessstudio und spielte Tennis. Emily war sehr zufrieden mit ihrem Leben und fühlte sich als Hausfrau keineswegs gelangweilt wie einige ihrer Freundinnen, die schon morgens vor dem Fernseher saßen, weil sie nicht wussten, wie sie sich sonst die Zeit vertreiben sollten.. Natürlich hatte Emily ihre hausfraulichen Verpflichtungen zu erfüllen, aber nach dem Saubermachen und Aufräumen setzte sie sich oft in ihren Wagen und fuhr nach Kainsfeld zu ihrem Sport. Die Kinder kamen mit dem Bus nach Hause und hatten jeder einen Hausschlüssel. Meistens war Emily dann aber zu Hause und setzte sich mit den Kindern an den Tisch, wenn sie aßen. Priese war Oberstudienrat am Städtischen Gymnasium, er unterrichtete die Fächer Mathematik und Deutsch. Er wurde von den Schülern und auch von seinen Kollegen gemocht, weil er immer freundlich und aufrichtig war. Sicher stritt er sich schon mal mit einem Schüler um die Note unter einer Klausur oder mit einem Kollegen um die Bestrafung eines Schülers für dessen Vergehen. Aber im Grunde verlief sein beruflicher Alltag immer reibungslos und war keine besondere Herausforderung für Priese. Priese und Emily hatten für ihr Alter gute athletische Figuren, weil sie beide auf ihre Ernährung achteten und Sport trieben. Bei Priese zeigte sich aber schon ein Kränzchen auf seinem Kopf, das er durch einen Schnäuzer wettzumachen suchte.

Er war etwas über 1.80 Meter groß und entsprach damit dem bundesdeutschen Durchschnitt bei der Größe der Männer. Wenn er über den Schulhof lief und bei den Mädchen der Oberstufe vorbeikam, warfen die schon mal einen Blick auf ihn. Er wusste aber, dass er in dem Alter war, in dem man in deren Augen als gesetzt und altersweise galt und machte sich deshalb keinerlei Hoffnungen. Auch die Kinder fühlten sich rundherum wohl und oft waren die Freundinnen und Freunde von Benny und Alice zu Hause bei ihnen, und sie spielten zusammen. Sie kamen meistens mit ihren Fahrrädern, wenn es das Wetter zuließ, so wie Benny und Alice auch bei gutem Wetter mit ihren Rädern zur Schule fuhren.

Eines Morgens im Sommer, Priese hatte das Grundstückstor zur Straße geöffnet und ging zurück zu seinem Wagen, um mit ihm zu seiner Schule zu fahren. Auch Benny und Alice besuchten das Städtische Gymnasium, sie liefen ihrem Vater aber so gut wie nie über den Weg. Priese fuhr ganz in Gedanken in die Stadt, und als er das Gymnasium erreichte und auf den Lehrerparkplatz fuhr, sah er seine Kollegen mit ernstem Gesicht zum Schulgebäude stürmen.

„Was wäre, wenn ich heute einmal nicht in den Unterricht ginge, wenn ich auch nicht nach Hause und stattdessen irgendwo hin führe und meinem Alltag ade sagte?“, fragte sich Priese. Ein solcher Gedanke war ihm noch nie in seiner gesamten Zeit als Lehrer gekommen, und er war leicht konsterniert. Und noch ehe er sich wieder besann, startete er den Motor seines Wagens und verließ den Lehrerparkplatz wieder. Er fuhr einfach los, verließ Kainsfeld und steuerte die Autobahn an. Er nahm die A 1 nach Hamburg und fuhr nach St. Pauli zu den Landungsbrücken. Dort setzte er sich auf eine Bank und dachte nach. Es war kein zielgerichtetes Denken das ihn befiel, vielmehr beschlich ihn eine Art Tagträumen, und er wähnte sich weitab von allem. Es war inzwischen beinahe Mittag geworden und man würde in seiner Schule nach ihm fragen, aber das kümmerte ihn nicht. Priese war drauf und dran, sich zumindest für eine Zeit von allem zu verabschieden. Zwischen Emily und ihm war zwar alles in Ordnung, das Feuer, das einmal gebrannt hatte, war aber bei ihm längst erloschen.

„Das kann es doch nicht gewesen sein!“, sagte er zu sich, und je länger er da saß, desto fester wurde sein Entschluss zu fliehen, ja zu fliehen, so kam ihm das jedenfalls vor, er wollte einfach ausbrechen aus den Zwängen seines Alltags. Er wusste, dass sie ihn zu Hause vermissen würden, dieser Trennungsschmerz würde aber nur wenige Tage anhalten, davon war er überzeugt, danach würden alle ganz normal ihre Wege gehen, auch ohne ihn.

Priese erregte auf seiner Bank bei den Landungsbrücken kein Aufsehen, er saß ganz einfach gemütlich da, und kaum jemand von den vorbeieilenden Leuten nahm überhaupt Notiz von ihm. Nachdem er bestimmt 2 Stunden so dagesessen hatte, bekam er langsam Hunger und holte sich an einem der Verkaufswagen ein Fischbrötchen, setzte sich wieder auf seine Bank und aß in aller Ruhe. Sein Blick schweifte während des Essens über die Elbe und fixierte eigentlich nichts Besonderes. Lediglich ein Containerschiff aus Shanghai fiel ihm auf, das im Begriff war, den Hafen zu verlassen. Er beobachtete dann, wie Schlepper das riesige Schiff durch Drücken und Ziehen auf der Elbe in die Fahrtrichtung bewegten, bevor es durch ganz langsames Drehen seiner Schrauben Fahrt aufnahm. Priese versuchte, Menschen an Bord zu entdecken, aber das gelang ihm zunächst nicht, bis er aber auf der Brücke drei Personen ausmachen konnte, von denen eine mit Sicherheit ein Lotse war - Priese geriet ins Schwärmen, als er das Containerschiff sehr langsam vorbeifahren sah, er hatte schon viel von Shanghai gehört. Kolleginnen und Kollegen waren schon dort und haben in höchsten Tönen die Sehenswürdigkeiten von Shanghai hervorgehoben, viele haben ihren Urlaub mit einem Besuch von Peking kombiniert und sind auch nach Xian gefahren.

Plötzlich merkte Priese, wie ihm die Augen zufielen, und er in einen Schlaf geriet, in dem er von Shanghai träumte.

In Shanghai, Peking und Xian

Eine kurze Zeit später wachte er auf einer Bank am Bund mitten in Shanghai auf und sah sich unter tausenden von vorbeiströmenden Menschen. Er war gleich präsent und dachte nicht eine Sekunde daran, wie er nach Shanghai gekommen war und was er dort sollte, vielmehr fühlte er sich bei der angenehmen Temperatur pudelwohl. Er saß direkt am Huang Po und blickte auf den gegenüberliegenden Oriental Pearl Tower. Die Uhr am Kiosk neben ihm zeigte 14.15 h und er überlegte, dass er sich ein Hotelzimmer besorgen musste, als er sein Handy hörte. Emily war dran und fragte besorgt:

„Wo bist Du denn bloß, wir machen uns zu Hause große Sorgen!“

„Sorgt Euch nicht um mich“, antwortete Priese, „ich bin weit weg, es geht mir gut, ich melde mich, wenn ich wieder da bin!“ Er nahm das Handy und schaltete es aus, dann steckte er es in seine Tasche. Mit einem Mal sah er neben sich auf der Bank einen Trolley stehen. Er traute sich zuerst gar nicht, an den Koffer, um ihn zu öffnen. Aber es saß außer ihm sonst niemand auf der Bank, dem der Koffer gehören könnte, und so nahm er ihn und öffnete seinen Reißverschluss. Er fand in seinem Inneren seinen Pass mit gültigem Visum, Unterwäsche und Kleidung und in einem Seitenfach Yuan im Wert von 500 Euro. Er nahm sich ein wenig Geld, kaufte sich an dem Kiosk etwas zu essen und setzte sich wieder auf die Bank. Er aß ganz gemächlich und beschloss, sich nach einem Hotel umzusehen, das nicht allzu teuer sein und dennoch zentral liegen sollte.

Als er wieder so recht bei Sinnen war, sah er erst einmal, wie viel Abertausend Menschen um ihn herumschwirrten, und er stand auf und nahm seinen Trolley. Die kleinen Rädchen seines Rollkoffers hinterließen ein lautes Rollgeräusch, was aber angesichts des Lärms, der ihn umgab, nicht weiter störte. Preise lief ein Stück in die Fuzhou Road und fragte sich zum „Villas Hotel“ durch, nachdem er vorher wegen des starken Verkehrs von der Fuzhou Road abgebogen war. Das „Villas Hotel“ hatte ihm der Kioskbesitzer am Bund empfohlen. Priese hatte gut und gerne 500 Meter zu laufen, bis er an dem Hotel angekommen war, aber das tat ihm nach der ganzen Herumdöserei ganz gut. Zum Glück war sein Englisch so gut, dass er die Leute und die ihn verstehen konnten. Er belegte in dem Hotel ein Zimmer für zwei Nächte, am nächsten Tag wollte er sich ein wenig von der Stadt ansehen und dazu eine geführte Stadtbesichtigung mitmachen. Am übernächsten Tag wollte er mit dem Bus nach Peking fahren. Die Angestellten im Hotel waren sehr freundlich und zeigten ihm sein Zimmer, das zwar recht klein, aber sauber und mit allem eingerichtet war, was er an Komfort benötigte. Priese stellte seinen Trolley in die Ecke und ließ sich auf das Bett fallen, er lag auf dem Rücken, starrte an die Decke und fiel in einen leichten Schlaf. Anderthalb Stunden döste er vor sich hin und stand wieder auf. Vor dem Hotel gab es eine Terrasse, auf die er sich setzte und ein Stück Kuchen und Tee bestellte. Auf seinem Tisch lag eine „China daily“, und er blätterte in der Zeitung herum. Geistesabwesend überflog er einen Artikel über das Treffen von Trump mit Kim Jong-un am 12. Juni 2018 in Singapur, aß seinen Kuchen und trank seinen Tee. Er machte an der Rezeption eine Stadtrundfahrt für den nächsten Tag fest und reservierte einen Sitzplatz oben auf dem Doppeldeckerbus.

Sie würden ihn gegen 8.30 h am Hotel abholen, sagte man ihm. Danach ging Priese vor die Tür und merkte schon nach kurzer Zeit, dass er sich in dem Vergnügungs- und Einkaufsviertel der Nanjing Road befand. Es kam ihm alles so europäisch vor und er konnte alle nur erdenklichen Sprachen vernehmen, und er sprach jemanden auf Englisch an, um nach einem guten Restaurant zu fragen. Sofort zeigte man sich ihm gegenüber sehr entgegenkommend und empfahl ihm ein Restaurant nur 3 Minuten entfernt, das „Da Giacomo“ hieß, und Priese bedankte sich für den Tipp.

Es war inzwischen 18.00 h geworden und Priese verspürte inzwischen Hunger, er setzte sich vor das Restaurant nach draußen und wurde gleich nach seinen Wünschen gefragt. Er bestellte sich ein Glas Barolo und die Speisekarte. Da saß er nun bei einem Italiener in Shanghai und beobachtete, wie die Chinesen und andere Nationalitäten ihre Einkäufe nach Hause schleppten und sich dabei lauthals unterhielten, ohne ein Wort davon zu verstehen.

Als der Kellner ihm den Barolo hinstellte, bestellte er eine „Pizza Quattro Stagioni“, wie er sie auch zu Hause beim Italiener immer nahm. Der Wein schmeckte ihm hervorragend, den bekam er in Kainsfeld auch nicht besser, und er orderte gleich noch ein Glas, als der Kellner ihm seine Pizza brachte. Die Pizza war superkross und mit allem belegt, was auf eine „Quattro Stagioni“ gehörte, Priese ließ es sich schmecken. Obwohl das Viertel, in dem er saß, von Menschen beinahe überquoll, fühlte sich Priese gut aufgehoben und sehr relaxt. Nach dem Essen zahlte er und ging ein paar Schritte weiter zu einer regelrechten Bierkneipe, vor der man draußen saß und sich die Halben bringen ließ. Priese überlegte nicht lange und setzte sich mit zu den zechenden Biertrinkern, er war gleich willkommen, und alle stießen mit ihm an, als er seinen Halben vor sich stehen hatte. Priese fühlte sich in dieser überbordenden Fröhlichkeit sofort wohl und trank sein tsingtao-Bier, das ihm ausgezeichnet schmeckte und das ihn stark an deutsches Bier erinnerte. Er trank zwei Halbe in der Runde, in der er saß und unterhielt sich auf Englisch mit seinen Sitznachbarn, so gut es ging, und er wurde immer besser in seinem Englisch. Er wurde gefragt, woher er käme und sagte, dass er aus Norddeutschland stammte, mehr nicht. Die anderen waren Australier und Engländer, und sie hatten wohl schon mächtig getankt. Priese gab eine Runde und verließ das Lokal dann wieder. Er stromerte noch ein wenig durch das Nanjing-Viertel und sah die Leute einkaufen, als gäbe es am nächsten Tag nichts mehr. Es war 21.30 h geworden und Priese ging allmählich zu seinem Hotel zurück, er war müde und wollte sich gleich in sein Bett begeben. Am nächsten Morgen nahm er sein Frühstück ein und wartete im Anschluss darauf, zur Stadtbesichtigung abgeholt zu werden, und pünktlich um 8.30 h erschien jemand, der ihn mit dem Wagen zur Sammelstelle brachte, an der die Stadtbesichtigung ihren Anfang nahm.

Es stand eine Menge Leute dort und wartete darauf, in den Doppeldeckerbus einsteigen zu dürfen. In diesem Augenblick dachte Priese, dass es gut war, einen Sitzplatz in dem Bus reserviert zu haben. Nachdem jeder seinen Platz eingenommen hatte, Priese oben auf dem Sonnendeck, ertönte eine Lautsprecherdurchsage auf Englisch, dass die Führung den ganzen Tag bis 18.00 h dauern und um die Mittagszeit ein gemeinsames Essen eingenommen werden würde. Die Busfahrt begann mit der „Alten Straße“ von Shanghai, die früher eine Durchgangsstraße gewesen war, und in der es heute viele Touristenattraktionen und Geschäfte gab. Anschließend ging die Fahrt zum „Yuyuan Garten“, der der größte der alten Gärten Shanghais war und „Ming-“ und „Qingarchitektur“ zeigte. Es gab immer eine kleine Pause und die Touristen konnten aussteigen und sich die Beine vertreten. In der Mittagspause gab es ein Essen, das sich an den europäischen Geschmack anlehnte, aber auch noch viel Chinesisches hatte. Priese mochte das Essen sehr und auch die Touristen, die mit ihm an seinem Tisch saßen, es waren Amerikaner, waren voll des Lobes. Um 18.00 h wurde Priese wieder zu seinem Hotel gebracht und fand, dass er einen guten Überblick über die Sehenswürdigkeiten der Stadt bekommen hatte. Er machte sich auf seinem Zimmer kurz frisch und ging danach zu dem Italiener vom Vorabend.

Und wieder bestellte er zwei Gläser Barolo und eine „Pizza Quattro Stagioni“. Als er nach dem Essen an dem Bierlokal vorbeilief, saß wieder eine Gruppe von Biertrinkern draußen, und der eine prostete dem anderen zu. Er wurde von der Gruppe aufgefordert, sich zu ihnen zu setzen, lehnte das aber mit einer unmissverständlichen Handbewegung ab, ohne aber unfreundlich zu sein. Er drehte eine Runde durch das Viertel und ging in sein Hotel. Am nächsten Morgen beendete Friese nach dem Frühstück seinen Shanghai-Aufenthalt, zahlte das Hotel und fuhr mit dem Taxi zum Fernbus-Bahnhof. Das war ein riesiges Gebäude mit allen möglichen Busdestinationen, er wollte nach Peking. Die Fahrt nach Peking wurde mit 12-14 Stunden veranschlagt. Priese kaufte sich zuerst ein Ticket und danach an den Ständen etwas zu essen für die Fahrt. Er hatte noch eineinhalb Stunden bis zur Abfahrt des Busses und setzte sich bei dem schönen Wetter draußen auf eine Bank und wartete. Während er die Leute beobachtete, wie sie hektisch ihr Reisegepäck nahmen und ihre Busse bestiegen, verging die Zeit wie im Fluge. Dann endlich war es soweit, er gab dem Fahrer seinen Trolley, der ihn im Kofferraum verfrachtete und setzte sich in den Bus. Der Bus war sehr modern und bot dem Reisenden ausreichend Platz und Komfort. Als es losging, fuhr der Bus zunächst endlos lange durch die Agglomeration Shanghai, bis er die Autobahn nahm und die große Brücke über den Jangtsekiang überquerte. Danach drückte der Fahrer aufs Gas und raste Richtung Peking. Die große Hitze, die sich draußen einstellte, wurde im Inneren des Busses von der Klimaanlage bewältigt.

Es herrschte im Bus eine ziemliche Stimmung, Kinder schrien herum und wurden von den Erwachsenen zurechtgewiesen. Viele holten schon kurz nach der Abfahrt ihre Esspakete hervor und begannen zu essen, den Kindern gab man etwas Süßes, damit sie still waren. Priese nahm von seinem Reiseproviant und aß vor sich hin, als er bemerkte, wie er von zwei Kindern dabei beobachtet wurde. Er griff in seinen Proviantbeutel und holte Schokolade hervor, die Kinder starrten gebannt auf die Süßigkeit. Dann brach Friese jedem Kind ein Stück von der Schokolade ab und gab es ihm. Ohne ihn noch einmal anzusehen rannten sie zu ihrem Platz und waren in den Verzehr ihrer Schokolade vertieft. Priese fiel sogar in einen leichten Schlaf, was er sonst im Sitzen nicht schaffte. Bei Jinan überquerten sie den gewaltigen Gelben Fluss und Priese fing noch einmal an zu essen. Dann aber, am späten Abend, erreichten sie die Hauptstadt, und als der Bus im Busbahnhof zum Stehen gekommen war, machte Priese gar keinen großen Umstände und nahm sich eins er billigen Hotels, die es dort gab. Er buchte an der Rezeption ein Zimmer für 2 Nächte und machte für den nächsten Tag eine Stadtrundfahrt fest. Danach legte er sich ins Bett und schlief sofort ein. Wie auch schon in Shanghai wurde Priese am nächsten Morgen nach dem Frühstück zur Stadtrundfahrt abgeholt und zum Sammelpunkt gebracht. Priese hatte eine Tour gebucht, die den Tiananmen-Platz, die Verbotene Stadt, den Himmelstempel und den Sommerpalast berücksichtigte. Er hatte bewusst auf die Große Mauer und Badaling verzichtet, weil dafür zu viel Zeit gebraucht worden wäre. Auf dem Tiananmen-Platz kam er sich beinahe verloren vor, so riesig wie der Platz war. Er sah die Große Halle des Volkes, das Chinesische Natinalmuseum, das Tor des Himmlischen Friedens und die Gedenkhalle für den Vorsitzenden Mao Tse-tung. Es wurden der Besichtigungsgruppe 2 Stunden für die Erkundung der Verbotenen Stadt gewährt, danach ging es weiter zum Himmelstempel. Auf dem Weg dorthin hielt der Bus an einem Geschäft für Traditionelle Chinesische Medizin, einer Art Apotheke also. Es war für Priese interessant zu sehen, wie die Angestellten für ihre Kunden die Ingredienzien für deren Rezepturen mit kleinen Schüppen zusammenschütteten. Im Himmelstempel beteten die Kaiser früher für Frieden und reiche Ernten. Anschließend nahmen sie ein chinesisches Mittagessen in einem lokalen Restaurant, um ihre Tour mit einem Besuch eines Perlenmarktes und des Sommerpalastes abzuschließen. Der Sommerpalast wurde wegen seiner herausragenden chinesischen Landschaftsgestaltung ausgezeichnet. Die Besichtigungsgruppe hatte 80 Minuten Zeit, den Kumming-See und die Tempel und Paläste auf dem Hügel der Langlebigkeit zu erkunden. Nach 7 Stunden war die Tour zu Ende und Priese hatte Gelegenheit, etwas auf eigene Faust in Peking zu unternehmen.

Er fuhr mit der U-Bahn zur Station „Quianmen“ am Tiananmen-Platz und stromerte ein wenig durch die Gegend. Die Riverside Street, auf der er sich befand, war eine Geschäftsstraße und unterschied sich in nichts von Geschäftsstraßen in Deutschland, wie Priese fand. Er setzte sich vor ein westlich anmutendes Cafe, aß ein Stück Kuchen und trank eine Tasse Kaffee dazu, was vor ein paar Jahren sicher noch nicht möglich gewesen wäre, weil der Kaffeegenuss in China nicht verbreitet war. Um 19.00 h war er wieder in seinem Hotel und ließ den Mann an der Rezeption eine Zugfahrkarte nach Xian bestellen. Der Zug fuhr am nächsten Tag schon um 7.00 h und würde 14 Stunden brauchen. Deshalb machte er nicht mehr so lange. Ihm fiel ein, dass er den Mann an der Rezeption auch ein Hotel in Xian buchen lassen könnte und ging noch einmal zu ihm. Mit einem Anruf bei einem Bekannten in Xian erledigte er die Hotelbuchung, und Priese ging nach dem Abendessen, das er in der Nähe zu seinem Hotel in einem billigen Restaurant zu sich nahm, ins Bett. Er ließ sich am nächsten Morgen um 5.00 h ein Lunchpaket geben und fuhr mit dem Taxi zum Pekinger Bahnhof. Als er gegen 6.00 h am Bahnhof eintraf, stand sein Zug schon am Bahnsteig, und er konnte einsteigen. Er setzte sich auf einen Fensterplatz und machte sich an seinem Lunchpaket zu schaffen. Langsam füllte sich der Zug, und er startete pünktlich um 7.00 h zu seiner 1100 Kilometer langen Fahrt. Zuerst rollte er eine ganze Zeit über Pekinger Stadtgebiet, bevor sich das Häusergewirr aber auflöste und einer zunächst noch flachen Landschaft Platz machte.

Priese verfiel in ein Gespräch mit zwei englischen Touristen, die sich ihm gegenüber gesetzt hatten. Er unterhielt sich mit ihnen und stellte fest, dass sie aus London stammten und eine China-Rundreise machten. Priese stellte sich mit seinem richtigen Namen Hans-Peter vor und sagte, dass er aus Norddeutschland käme, die beiden Engländer sagten, dass sie Mike und George hießen. Während der Fahrt nach Xian entwickelte sich ein Gespräch über alles Mögliche, sie sprachen viel über London, wo Priese vor Jahren einmal mit Emily gewesen war. Um die Mittagszeit gingen Bahnangestellte herum und verkauften Tee und Kleinigkeiten zu essen, danach machte Priese ein Nickerchen, wie die Engländer auch. Als sie wieder aufwachten fragte Mike, der der Rundlichere von beiden war und rote Haare hatte:

„Hans-Peter, was hältst Du davon, wenn wir uns morgen Xian gemeinsam ansehen und anschließend zusammen Bier trinken gehen?“ Priese musste bei Mike´s Vorschlag lachen und gab sein Einverständnis:

„Das ist eine prima Idee, da sitze ich nicht allein in dem Besichtigungsbus!“

George, der im Vergleich zu Mike von geradezu zarter Statur war, nickte mit seinem Kopf. So fuhren sie bis Xian und stiegen aus dem Zug, es war inzwischen 21.00 h geworden, die Sonne schien aber noch.

„Könnt Ihr die Stadtrundfahrt in Eurem Hotel buchen?“, fragte Priese, und die beiden Engländer gaben ihr Okay. Priese gab den beiden den Namen seines Hotels und bat sie, ihn anzurufen. Dann verabschiedete er sich von ihnen und lief zum Taxistand, um sich zu seinem Hotel bringen zu lassen. Dort fiel er ins Bett und schlief gleich ein. Beim Frühstück am nächsten Morgen kam der Mann von der Rezeption und brachte ihm das Telefon:

„Hier ist Mike, George und ich haben für die Stadtrundfahrt alles klargemacht“, und er gab Priese die Adresse des Sammelpunktes. Priese fuhr mit dem Taxi dorthin und traf seine beiden Freunde, sie stiegen in den Doppeldecker und gingen auf das Panoramadeck. Dort setzten sie sich auf ihre reservierten Plätze und stellten die Lautsprecher an. Wie nicht anders zu erwarten war, war der Bus vollbesetzt, bis auf den letzten Platz. Auf dem Programm stand als Erstes ein Besuch der Terracotta-Armee, der sich lohnen sollte. Die Grabstätte des Kaisers Qin Shihuangdi war weltberühmt und zeigte Terracotta-Krieger, die zu seiner Bewachung dienten. Mit der Terracotta-Armee waren aber erst geschätzte 5% des gesamten Ausgrabungsgeländes freigelegt, der Rest war immer noch geheim. Es gab um die Mittagszeit ein Essen und im Anschluss stand die Stadtmauer der alten Kaiserstadt an.

Eine Fülle von Sehenswürdigkeiten wurde einfach außer Acht gelassen, weil sie in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu schaffen war. In Xian begann auch die berühmte Seidenstraße, über die Waren von und bis nach Europa transportiert wurden. Am Ende liefen sie die Moscheenstraße entlang und hatten am Spätnachmittag ihr Besichtigungsprogramm erledigt. Xian hatte eine wunderschön erhaltene Altstadt, in der alles fußläufig zu erreichen war. Die drei steuerten die erstbeste Bierkneipe an und ließen sich drei Halbe nach draußen bringen. Priese sagte:

„Das ist das Gute an Xian, dass man hier vieles zu Fuß erreichen kann, während Shanghai und Peking dermaßen weitläufig sind, dass das dort unmöglich ist.“ Mike antwortete, nachdem er einen mächtigen Schluck von seinem Halben genommen hatte:

„Das stimmt, wir sind vorher auch in Shanghai und Peking gewesen und haben dort das meiste mit U-Bahn und Taxi unternommen.“ George ergänzte:

„Anders hätten wir die Dinge, die uns interessiert hatten, gar nicht zu Gesicht bekommen.“ Die drei zahlten und liefen durch die Altstadt zum nächsten Bierlokal. Und wieder bestellten sie drei Halbe, die sie im Nu leergetrunken hatten, und beim dritten Lokal blieben sie hängen. Sie bestellten einen Halben nach dem nächsten und ihre Zungen wurden beim Erzählen immer schwerer, bis nichts mehr ging. Sie lagen sich am Ende in den Armen und verabschiedeten sich voneinander. Priese und Mike und George ließen sich jeweils ein Taxi kommen und zu ihren Hotels bringen. Priese schaffte es gerade noch auf sein Zimmer, wo er sich auf sein Bett fallen ließ und sofort einschlief.

Priese fiel gleich in einen tiefen Traum, aber anders als sonst, wo er zumindest in Teilen das am Tage Erlebte in seinen Träumen verarbeitete, er hatte auch nicht in Shanghai oder Peking seine Tageserlebnisse in seinen Träumen wiederauferstehen lassen, wähnte er sich in einer Kohlenmine unter Minenarbeitern auf einer Zeche in Deutschland. Kein Bisschen wurde ihm zu seinem plötzlichen Chinaaufenthalt erklärt, wie auch kein Wort darüber verloren wurde, dass er sich mit einem Mal in einer Zeche befand.

Auf Prosper-Haniel

Priese fand sich in der Kaue von Prosper-Haniel in Bottrop sitzen, unter den Kumpeln waren Steiger, Hauer und Knappen, die ihre Schicht beginnen wollten. Er sah in die angespannten Gesichter der Zechenarbeiter, die sich auf ihre Schicht konzentrierten und dabei waren, sich umzuziehen. Priese hat vom Reviersteiger Jens Holdorf Arbeitskleidung, Helm und Grubenlampe bekommen und war gerade damit beschäftigt, die Sachen anzuziehen. Natürlich fragten ihn die Kumpel, wer er wäre, und was er dort auf ihrer Zeche wollte, und Priese gab sich als Mitarbeiter der WAZ aus, der er nicht war, aber für die Kumpel musste er sich eine Notlüge überlegen. Was hätte er auch sagen sollen, warum er mit ihnen zusammen in der Kaue saß, er wusste ja selbst nicht einmal, wie er dort hingekommen war.

„Ich habe von meiner Zeitung den Auftrag bekommen, etwas von der Stimmung unter den Bergleuten im letzten Jahr der Steinkohlenförderung auf Prosper-Haniel einzufangen“, sagte er und bemerkte, wie einige von den Kumpeln verständnislos ihren Kopf schüttelten..

„Komm nur mit runter, da unten wirst Du schon mitbekommen, wie sich die Kumpel fühlen, einige haben ganz schön zu knacken!“, sagte einer von ihnen.

Priese zog die Schnürsenkel seiner Arbeitsschuhe stramm, überprüfte den Akku seiner Grubenlampe und lief mit den anderen zum Förderkorb. Als sie vor dem martialisch anmutenden Schutzgitter standen, konnten sie das laufende Stahlseil sehen, an dem der Förderkorb hing, der die Kumpel nach oben brachte, die die Bergleute, mit denen Priese zusammen war, ablösen sollten. Es wurden unter den Kumpeln nicht viele Worte gemacht, gerade einmal „Glück auf!“ sagten sie den Ankommenden, nachdem sich das Stahlgitter mit einem infernalischen Krach geöffnet hatte, und die Kumpel an den Förderkorb traten. „Glück auf!“, schallte es den Wartenden entgegen. Jeder hatte seinen Helm auf dem Kopf, und man konnte die ernsten Mienen sehen, die alle aufgesetzt hatten.

„Was muss dem Einzelnen wohl durch den Kopf gehen?“, fragte sich Priese, und er erhoffte sich dazu Aufschluss dadurch, dass er unter Tage mit den Kumpeln ins Gespräch kommen wollte.

Der Förderkorb brachte Priese und die Bergleute auf eine Tiefe von 1200 Meter, und es stellte sich eine Temperatur ein, die deutlich über der über Tage lag. Unten wartete ein sehr schmaler und niedriger Zug auf die Arbeiter, in dem sie nur hintereinander sitzen konnten, und jeder setzte sich in die kleinen Waggons. Dann ging die Fahrt in dem Zug, der natürlich elektrisch betrieben war, los bis sie eine Fördergegend erreichten, die ungefähr 20 Minuten vom Förderschacht entfernt lag. Dort waren sie vor der Kohle, das heißt, dass sich dort ein riesiger Kohlehobel ins Gebirge fraß und große Kohlebrocken herausbrach. Priese war noch nie in seinem Leben unter Tage gewesen, und ihm waren die Umgebung und der Lärm, der inzwischen herrschte, fremd. Allmählich gewöhnte er sich aber an die Bedingungen unter Tage, besonders auch an das dämmrige Licht, jeder hatte inzwischen seine Helmlampe eingeschaltet. Priese stand noch weit vom Kohlehobel entfernt und hatte Mühe, sich verständlich zu machen. Gleichzeitig konnte er sehen, wie versucht wurde, der immensen Mengen Kohlenstaubes Herr zu werden, indem man Wasser auf die Schnittstellen des Hobels leitete, das brachte aber nur mäßigen Erfolg. Man konnte einfach nicht vermeiden, dass man schon nach kurzer Zeit voll und ganz schwarz war. Die Kohle wurde auf Förderbänder geworfen und zum Füllort am Förderschacht gebracht, von wo sie mit sogenannten Skips nach oben gebracht wurde. Wenn man die Gesamtfördermenge auf jeden Kumpel umlegte, kam man auf 6 Tonnen pro Beschäftigten. Gemessen an früher, als die Kohle noch von Hand mit der Spitzhacke oder später mit dem Presslufthammer abgebaut wurde, war das eine beachtliche Menge. Bis weit in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein wurde ein Großteil der geförderten Kohle als Hausbrand verbraucht. Die Bergleute bekamen sogenannte Deputatkohle geliefert, das heißt, dass sie pro Jahr ungefähr 5 Tonnen Kohle frei Haus geliefert bekamen. Im Zuge der Ausstattung der Häuser mit Öl- oder Gasheizung oder mit alternativer Wärmeerzeugung entfiel der Hausbrand und Kohle wurde fast ausschließlich nur noch für die Kohlekraftwerke und die Kokserzeugung für die Eisenverhüttung gebraucht.

Aus zwei weiteren Richtungen wurde Druck auf die Kohleförderung erzeugt: die Menge von produziertem Stahl stagnierte bzw. war rückläufig, weil Stahl aus dem Ausland, zum Beispiel aus China, auf den deutschen Markt geworfen wurde und zum Zweiten gab es mehr und mehr Importkohle. Und obwohl die Importkohle um die halbe Erde, zum Beispiel aus Australien, nach Europa verschifft wurde, in Rotterdam auf Binnenschiffe verladen und über den Rhein nach Duisburg-Ruhrort transportiert wurde, war sie dort billiger als die heimische Kohle. Die Kohle aus dem Ruhrgebiet war in ihrer Qualität vielleicht unerreicht, es blieb aber das Preisargument, heimische Kohle lag in ihren Förderkosten um 100 % über der Importkohle. Diese Faktoren bedingten das allmähliche Zechensterben in Deutschland, in diesem Jahr verschwanden Prosper-Haniel und Ibbenbüren als letzte verbliebene Zechen und die Steinkohleförderung gingen zu Ende.

Den Kumpeln war das auch klargemacht worden, und sie nahmen das Ende ihrer Zeche teils gelassen auf, teils waren sie aber auch tief betroffen, wenn es sich um Kumpel handelte, die schon älter waren und ihre Ausbildung auf Prosper-Haniel absolviert hatten. Für sie ging ein Stück Leben verloren, wenn „Hängen im Schacht“ war, die Zeche bot ihnen mehr als nur einen Arbeitsplatz, sie bot ihnen ein Stück Identität. Für die jungen Kumpel war das natürlich etwas anderes, für sie spielte sich das Leben außerhalb der Zeche ab, sie wussten zu trennen zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Priese wandte sich einem neben ihm stehenden Kumpel zu und fragte ihn:

„Geht es Dir sehr nahe, wenn die Zeche zum Jahresende schließt?“ Der Befragte schaute Priese an, als hätte er mit allem gerechnet, nur nicht mit so einer Frage. Er zählte zu den jungen Kumpeln und antwortete:

„Die da oben kümmern sich für einen um Ersatzarbeitsplätze, von daher ist es uns um die Zeche egal.“

„Was machst Du so in Deiner Freizeit?“, fragte Priese weiter.

„Ich habe Sky zu Hause und sehe mir alle Fußballspiele an, die von Interesse sind. Das gefällt meiner Frau zwar nicht immer, wenn ich Stunde um Stunde vor dem Fernseher sitze, das ist mir aber egal. Und am Samstag fahre ich mit meinen Freunden nach Schalke, und wir sehen uns das Spiel von unserem Verein an. Klar, dass wir uns hinterher ordentlich einen hinter die Binde kippen. Am Sonntag unternehmen meine Frau und ich schon mal was mit den Kindern, das kommt aber nicht so oft vor.“ Priese nahm die Befragung mit dem Diktaphon von seinem Smartphone auf, er schaltete das Gerät dann ab. Dann ging er zu einem älteren Kumpel, dem der Kohlenstaub das ganze Gesicht eingeschwärzt hatte, sodass nur seine Augenschlitze zu sehen waren. Sein vom Schweiß verklebtes Haar schaute unter dem Helm hervor, und Priese stellte ihm die gleichen Fragen wie seinem Kumpel zuvor, er entschuldigte sich aber für seine Direktheit.

„Du fragst mich, ob mir die Zechenschließung nahegeht?“ Er nahm den Helm vom Kopf und wischte sich den Schweiß mit dem Hemdsärmel von der Stirn.

„Lieber Freund, ich bin seit 40 Jahren auf Prosper-Haniel, ich habe damals meine Lehre auf der Zeche gemacht und Höhen und Tiefen des Bergbaus hier erlebt. Natürlich geht mir die Zechenschließung nahe, sehr nahe!“ Priese sah, wie sein Blick auf den Kohlehobel, seine Kumpel und durch den ganzen Streb ging und fragte anschließend:

„Werden sie Dich abfinden, oder wirst Du auf eine andere Stelle versetzt?“

„Mir wird es wie allen hier gehen, die Mitte 50 sind, der Bergbau zahlt uns aus und schickt uns in Rente, finanziell sind wir abgesichert, aber darum geht es nicht. Das Ende meiner Beschäftigungszeit auf Prosper-Haniel ist wie eine Scheidung, ja, man kann sagen, dass ich mit der Zeche verheiratet war, und diese Ehe geht nun zu Ende. Frag die Kumpel, die in meinem Alter sind und hier angefangen haben, die werden Dir das Gleiche erzählen!“

„Was machst Du in Deiner Freizeit?“, fragte Priese weiter. Der alte Kumpel kratzte sich am Kopf und antwortete:

„Wenn meine Frau mich lässt, gehe ich zu meinen Tauben, füttere und kümmere mich um sie, oder ich helfe meiner Frau bei der Gartenarbeit, die sie sehr gerne macht. Wenn es aber zum Beispiel darum geht, ein Stück Land umzugraben, muss ich ran. Am liebsten bin ich aber bei meinen Tauben. Viele wissen gar nicht, wie intelligent sie sind, ich setze mich regelmäßig zu ihnen und rede mit ihnen, dann sitzen sie auf ihren Stangen, heben die Köpfe und hören zu. Ich habe auch Reisetauben, die bis nach Barcelona gebracht werden und wieder nach Hause finden, eine unglaubliche Leistung!“

Der Kohlehobel und das Förderband waren inzwischen sehr laut geworden, und Priese und die Befragten hatten Mühe, ihre Stimmen gegen den Lärm zu behaupten. Priese bewegte sich ein Stück weiter weg und kam zu einem Mann, dessen Bewegungsmöglichkeiten ganz offensichtlich eingeschränkt waren, er war auch mit Aufgaben betraut, die nicht in direkter Verbindung zum Produktionsprozess standen. Er überwachte vielmehr das Schaffen von Mensch und Maschine. Priese sprach ihn an und stellte ihm die gleichen Fragen wie den Kumpeln zuvor:

„Geht Dir die Schließung der Zeche sehr nahe?“

„Ich arbeite schon sehr lange auf Prosper-Haniel und mir geht die Schließung des Bergwerkes schon allein deshalb sehr nahe. Allerdings bin ich, wie Du sehen kannst, körperlich beeinträchtigt, und mir und meiner Gesundheit kommt ein Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess sehr entgegen. Ich war Opfer der Schlagwetterexplosion, die sich vor 20 Jahren auf Prosper-Haniel zugetragen hatte. Man wollte mich ursprünglich krankschreiben und von der Arbeit freistellen, ich habe aber so lange gebettelt, bis man mir die Überwachungsaufgabe gegeben hat.“

„Was versteht man unter einer Schlagwetterexplosion?“, wollte Priese wissen. Er wusste natürlich in etwa, was eine Schlagwetterexplosion war, wollte es aber einmal aus berufenem Mund hören. Der Kumpel sah Priese an, als wunderte er sich darüber, dass es jemanden gab, der nicht wusste, was eine Schlagwetterexplosion war. Danach erklärte er Priese, worum es dabei ging:

„Oftmals treten bei der Kohleförderung Grubengase auf, die zu sehr hohen Teilen Methan sind. Methan ist giftig, nicht riechbar, nicht sichtbar und hochexplosiv. Wenn in der Umgebung eine hohe Konzentration von Methan vorhanden ist, reicht schon ein kleiner Funke, den zum Beispiel eine Maschine erzeugt, um eine Explosion herbeizuführen.

Früher haben die Bergleute Kanarienvögel mit unter Tage genommen, wenn die Vögel tot im Käfig lagen, musste man schnellstens die Förderstelle verlassen.

Heute gibt es natürlich Gaswarnanlagen, in meinem Fall ist das Gas aber so plötzlich gekommen und explodiert, dass eine schnelle Reaktion nicht möglich war. Es sind damals 3 Kumpel ums Leben gekommen!“

„Das ist ja furchtbar!“, antwortete Priese und nach einer kurzen Pause fragte er nach:

„Womit verbringst Du Deine Freizeit?“, und der Kumpel sagte:

„Ich gehe sehr gerne mit meiner Frau spazieren, und wir unternehmen sogar kleine Wanderungen. Da wir schon die gesamte Umgebung erwandert haben, fahren wir oft mit unserem Wagen in das weitere Umland und laufen dort. Wir haben hier bei uns mehrfach den „Tetraeder“ und die Bergehalden der Nachbarzechen bestiegen. Natürlich gehen wir nicht jeden Tag auf Wanderschaft, aber so 2mal pro Woche mindestens und an den Wochenenden ohnehin. Wir planen schon unseren nächsten Wanderurlaub.“ Priese ging bis zum Feierabend noch herum und befragte die Kumpel aus der Schicht, und er erfuhr eine Menge von deren Ansichten über das Leben. Als er zum Feierabend mit den Kumpeln im Förderkorb wieder nach oben fuhr, kam er gar nicht erst oben an, in der kurzen Zeit des Aufwärtsfahrens döste er vor sich hin und fand sich am Ende in einer großen Wüste.

Priese hat versucht, auf Prosper-Haniel etwas über die Lebensauffassung der Kumpel in Erfahrung zu bringen und dabei sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Es war bei den Älteren durchgängig so, dass sie ihrem Leben außerhalb der Zeche Tiefe abzugewinnen versuchten, wenngleich die Zeche Teil von ihnen zu sein schien. Die Jungen hingen einem Leben nach, das konsumorientiert und oberflächlich war.

In der Taklamakan-Wüste

Priese saß im heißen Wüstensand, neben ihm stand ein kleines Zwei-Personen-Kuppelzelt und ein Rucksack mit dem Nötigsten. Ein Stück weiter ruhte ein Kamel, das mit seinem Kopf an einer langen Leine am Zelt festgemacht war. Er fand bei sich ein GPS und stellte auf der Anzeige fest, dass er sich am Südrand der riesigen Taklamakan-Wüste befand, ungefähr 100 Kilometer nordwestlich von Hotan. Um ihn herum gab es nichts als Sand, es war neben ihm eine gewaltige Düne aufgeworfen, die ihm den Blick in die Ferne versperrte, und die er umrunden musste, wenn er nicht über sie steigen wollte. Er war mit dünner Baumwollkleidung ausgestattet und sah neben dem Zelt ein Paar Wanderschuhe in seiner Größe stehen. Es gab für ihn Brot, Hartwurst und eine gefüllte Wasserflasche. Es war Priese klar, dass er in Richtung Hotan musste, denn Hotan war die nächste größere Stadt, er musste sehen, dass er mit seinen Vorräten zurechtkam. Das Kamel machte keinen durstigen Eindruck, vermutlich hatte es noch vor Kurzen ausreichend getrunken.

Priese stand auf und baute das Zelt ab, er band sich die Leine des Kamels um sein rechtes Bein. Dann packte er das Zelt auf seinen Rucksack und zog seine Wanderschuhe an, er setzte den Rucksack auf seinen Rücken und ging zu seinem Kamel, das sich langsam erhob. Erst jetzt nahm Priese den strengen Geruch wahr, den das Kamel von sich gab. Er nahm die Leine, zog mit einem leichten Zug an ihr und lief langsamen Schrittes los, das Kamel folgte ihm brav. Sofort spürte Priese, dass der lose Sand sehr stark ermüdete, weil man bei jedem Schritt einsackte. Das Kamel hatte einen aufgefächerten flachen Fuß, der ein Einsinken verhinderte. Priese bemühte sich trotzdem eine Zeit lang vorwärts zu laufen, gab dann aber erschöpft auf und setzte sich auf sein Kamel. Das Kamel lief los, gutmütig, wie es war, und Priese ritt durch die Taklamakan. Am Fuß der großen Düne, die sich neben ihm befand, schaute er nach oben und sah den rieselnden Sand auf dem Hang. Die Düne war bestimmt 80 Meter hoch und Priese war in dem Moment froh, nicht hochsteigen zu müssen. Priese wusste, dass die Taklamakan im Norden und im Süden von jeweils einem Zweig der Seidenstraße umschlossen wurde, sie war die zweitgrößte Sandwüste der Erde und wegen ihres Klimas extrem lebensfeindlich. Es herrschte vollkommene Stille um ihn herum, nur der Wind war zu hören. Mit einem Mal sah er in der Ferne, vielleicht 300 Meter entfernt, dass da zwei Kamele an einem Lager ruhten und angebunden waren. Er erschrak zuerst, weil er inmitten der Einöde nicht damit gerechnet hatte, auf jemanden zu treffen.

Er ritt dann aber zu dem Lager und freute sich sogar, jemanden zu sehen, mit dem er sich vielleicht unterhalten konnte. Zuerst bemerkten die beiden Kamele den Fremden, der auf das Lager zugeritten kam, und sie wurden unruhig. Sofort erschienen zwei Personen vor ihren Zelten und hielten Ausschau, wer denn da so angeritten käme. Priese sah zwei junge Männer, die sich erwartungsvoll neben ihre Zelte stellten, um ihn willkommen zu heißen. Das bemerkte Priese erleichtert und ritt auf sie zu, jetzt kam es darauf an, dass man sich verständigen konnte, und Priese begrüßte die beiden auf Englisch. Und siehe da, das Englische war die Sprache, in der man sich begrüßte und Priese war zufrieden. Die beiden jungen Männer sahen ein wenig anders aus als typische Chinesen. Sie hatten einen Turkeinschlag und sagten auch gleich, dass sie Uiguren wären und gaben Priese, der inzwischen von seinem Kamel abgestiegen war, die Hand.

„Wir sind aus Kashgar und von dort nach Mankit gefahren, von wo aus wir die Wüste durchqueren und in 4 Tagen hoffentlich in Hotan ankommen. Uns reizt einfach das Abenteuer, ich heiße Taylan und das ist mein Freund Can“, sagte Taylan, und Priese war hocherfreut, so nette Menschen anzutreffen und nannte seinen Namen „Priese“, weil der einfach auszusprechen war:

„Ich stamme aus dem Norden Deutschlands und bin auch auf dem Weg nach Hotan, ich reite genau wie Ihr aus Abenteuerlust durch die Taklamakan“, sagte Priese.

„Komm, setz Dich zu uns, wir machen gerade einen Tee, erzähl doch mal, was Du so in Deutschland machst!“, forderte Taylan ihn auf, und Priese antwortete:

„Ich bin Lehrer an einer Höheren Schule und unterrichte die Fächer Mathematik und Deutsch.“

„Da haben wir ja einen gebildeten Zeitgenossen unter uns, wenn Du Lust hast, kannst Du doch die Reststrecke nach Hotan mit uns zusammen bewältigen“, schlug Can vor.

„Ich nehme Eure Einladung gern an, so ganz allein durch die Taklamakan zu reiten, ist nur für kurze Zeit etwas“, antwortete Priese. Und so sollten sie zu dritt weiter reiten und die Herausforderungen der Wüste gemeinsam bestreiten. Priese setzte sich mit den beiden vor ihr Zelt, und Taylan kochte Tee, und als der fertig war, bekam Priese einen Becher von dem Tee überreicht und probierte ihn. Am Anfang war der Tee noch sehr heiß, dann aber machte sich das Aroma des Tees bemerkbar, und Priese war überwältigt von seinem Geschmack.

„Hast Du schon gefrühstückt?“, fragte Can und bot Priese an, bei den Sachen zuzulangen, die vor dem Zelt standen.

„Wir sind Studenten in Kashgar“, sagte Taylan, „ich studiere Geologie und Can Chemie, und wir sind beide im 6. Semester. Nach dem Frühstück packten sie ihre Sachen zusammen und bauten die Zelte ab. Sie verzurrten alles auf ihren Kamelen und legten das Holz dazu, das sie unterwegs gesammelt hatten.

„Wofür braucht Ihr denn das Holz, das Ihr auf Eure Kamele packt?“, fragte Priese und Taylan antwortete:

„Wir machen abends immer ein Feuer, wenn es in der Wüste frisch wird, Du solltest auch nach Holz Ausschau halten, wenn wir weiter reiten.

Die Tiere standen bereit und die drei stiegen auf, um los zu reiten, Can hielt sein GPS vor sich und wies in die Richtung, die sie nehmen mussten. Die Sonne knallte unerbittlich vom Himmel, schon am frühen Morgen, und Priese nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Die beiden anderen hatten Wasserkanister an ihren Kamelen befestigt, und Priese würde sich sicher bedienen können. Er ritt neben Taylan und Can und fragte die beiden, ob sie als Uiguren Diskriminierungen ausgesetzt wären.

„Wir bekommen an unserer Hochschule eigentlich nichts davon mit, wir hören aber von unseren Bekannten, wie sie sich permanent gegen die Han-Chinesen behaupten müssen. Es gibt im normalen Alltagsleben schon üble Beschneidungen, und die Han-Chinesen werden den Uiguren in allen Belangen vorgezogen“, sagte Taylan.

„Wir in Europa hören immer nur in Nachrichtensendungen von Konflikten, die in Xinjian bestehen und sich wie vor einiger Zeit in Urumqi entladen“, entgegnete Priese.

„Das, was Ihr in Europa von den Konflikten überhaupt mitbekommt, sind geschönte, offizielle Nachrichten, in Wirklichkeit werden diese Konflikte mit brutaler Härte ausgetragen und fordern auf Seiten der Uiguren viele Tote“, warf Can ein.

„Dennoch glauben wir jungen Uiguren, dass Gewaltlosigkeit der richtige Weg ist, auf dem die Uiguren und die Han-Chinesen langfristig miteinander auskommen können. Aber solche Konfliktherde werden oft auch erst durch die Han-Chinesen geschürt und danach deren Ursachen den Uiguren in die Schuhe geschoben“, führte Taylan aus. Sie beließen es zunächst dabei und ritten sehr gemächlich weiter. Den Kamelen schien die Last, die sie zu tragen hatten, nichts auszumachen, sie liefen einfach und sanken nicht in den Sand ein. Ab und zu sah ein Kamel zu dem vollen Wasserkanister, der an dem anderen Kamel schwappte, aber erst wenn die Kamele gierig ihre Köpfe gegen die Kanister schlugen, wurde es Zeit sie zu tränken. Die 150 Liter Wasser, die ein Kamel auf einmal zu sich nahm, reichten locker eine Woche lang aus. Gegen Mittag wurden die Gespräche zwischen den drei Reitern immer weniger, weil die Sonne heiß vom Himmel brannte und ihnen beinahe den letzten Tropfen Schweiß aus ihren Körpern sog. Sie beschlossen, unter einer aufgespannten Zeltplane eine Pause zu machen und stiegen von den Kamelen, die sie anleinten. Dann nahm Can eine Zeltplane und spannte sie mit Taylans Hilfe auf, sodass sie Schatten hatten und alle drei legten sich unter die Plane. Jeder zog seine Schuhe aus und ließ sich den heißen Sand über die Füße rieseln. Nach einer Dreiviertelstunde, als sie alle vor sich hin dösten, gab Taylan das Zeichen zum Aufbruch, und jeder nahm sein Kamel. Priese sah in der Nähe dürre Büsche wachsen und brach ein paar Zweige ab, die er als Brennholz für den Abend an seinem Kamel festzurrte.

Sie ritten weiter ohne viel zu reden und quälten sich durch die brennende Nachmittagshitze, und Can ermittelte die Strecke, die sie hinter sich gebracht hatten. Sie waren bei 23 Kilometern angelangt, bei 25 Kilometern hätten sie ihr Tagespensum erreicht. Völlig ausgepumpt machten sie am frühen Abend Halt, stiegen von den Kamelen und warfen ihre Zelte in den Sand. Sie hatten sich einen Lagerplatz ausgesucht, der am Fuß einer großen Düne lag und die Tiere angeleint. Anschließend bauten sie ihre Kuppelzelte zusammen und setzten sich in das bisschen Schatten, den sie warfen. Sie nahmen ihre Wasserflaschen und tranken viel, weil sie sich über den Tag zurückgehalten hatten. Ihre Schuhe hatten sie längst ausgezogen und bewegten ihre Zehen in dem warmen Sand. Taylan begann, für alle Tee zu kochen, und Can und Priese legten ein paar Sachen, die sie essen wollten, hin. Schweigend und ganz in Gedanken bei ihrem Ritt den Tag über aßen sie ihr Abendbrot. Die Kamele hatten sich niedergelassen und käuten wieder, auch sie waren von der Tagesanstrengung müde geworden, obwohl sie sehr belastbar waren. Irgendwann abends schichteten sie Holz übereinander und steckten ein Feuer an, sie setzten sich drumherum und starrten in die Flammen. Nach einer Weile sagte Taylan, so als hätten sie ihr Gespräch vom Morgen nur kurz unterbrochen:

„Wir Uiguren müssen gegen die Han-Chinesen zusammenhalten, vielleicht ist der beste Weg der, dass Xinjiang von China abgetrennt wird, und ein eigenständiger Staat Turkestan entsteht.“ Priese sah ihn an und erwiderte:

„Du meinst ein Kalifat und zutiefst undemokratische Strukturen?“

„Das ist keine Frage von Demokratie oder nicht, es ist die Frage unserer Eigenständigkeit!“

„Ich sehe das genauso“, sagte Can, „und ich weiß nicht, wie die Zukunft der Uiguren auch sonst aussehen soll!“ Priese ließ die Worte von Taylan und Can auf sich wirken und sah ins Feuer, er sah sich zwei uigurischen Aktivisten gegenüber und war auf ihrer Seite. Dennoch sagte er:

„Ich bitte Euch zu bedenken, dass jedweder Separatismus den Fortschritt hemmt, es gibt in Europa auch solche Bestrebungen, die aber alle im Keim erstickt wurden.

„Bist Du ein politischer Mensch?“, fragte Taylan und Priese antwortete:

„Ich engagiere mich zu Hause, so wie das von den Bürgern meines Landes erwartet wird, das heißt, dass ich meine Stimme erhebe, wenn es Ungerechtigkeiten gibt und regelmäßig zu den Wahlen für die Vertretungskörperschaften gehe.“ Und so langsam kam die Stimmung am Feuer auf, die immer am Feuer aufkommt, wenn man mit anderen daran sitzt, und sie abstrahierten irgendwann von ihren Problemen und hoben auf auf eine allgemeine Ebene ab. Schließlich wandten sie ihre Blicke auf die Sterne, die inzwischen am Himmel zu sehen waren und rissen dann allgemein-philosophische Fragen an. Sie legten sich dann schlafen und liefen in den folgenden drei Tagen nach Hotan. Sie unterhielten sich noch mehrere Male über die Uiguren und deren Probleme in China. Vor Hotan gelangten sie in eine Urbanisation, die durch Bewässerung der Wüste abgerungen worden war, auf jeden Fall war ihr Wasserproblem damit gelöst, und sie tränkten ihre Kamele ausgiebig und gaben sie wieder ab. Von Hotan aus wollten Taylan und Can mit dem Bus zurück nach Kashgar fahren, und sie nahmen alle ein Hotel in der Stadt. Den letzten gemeinsamen Abend verbrachten sie bei reichlich Bier draußen vor einer Bierbar. Priese konnte sich noch so gerade in sein Zimmer schleppen und auf sein Bett fallen lassen, und ehe er richtig fest einschlief, fand er sich an einem Nordseestrand wieder.

Priese hielt sich in einer für ihn völlig fremden Umgebung aufund war mit Angehörigen einer ihm völlig fremden Ethnie zusammen. Taylan und Can waren viel jünger als er und verfochten bestimmte politische Ziele für die Uiguren. Von daher war ihr Leben bestimmt von der Durchsetzung von Forderungen an die chinesische Staatsregierung. Sie versprühten beide die Energie junger politischer Kämpfer, und Priese bewunderte sie ein wenig um ihre Kraft.

An der Nordsee

Priese saß am Strand inmitten von Touristen, die ihren Urlaub dort verbrachten. Er drehte sich um und erkannte das „Strandhotel Juister Hof“, er erinnerte sich an Urlaube mit der Familie, als die Kinder noch klein waren und an den unglaublich feinen Sand, den es am Strand gab. Um ihn herum gab es Strandkörbe, so wie sie damals auch immer einen gemietet hatten. Priese saß auf einem Badehandtuch in Badehose, neben ihm stand ein Rucksack mit seinen Sachen. Er fühlte im Rucksack in die Hosentasche und fand dort ein Portmonee mit Geld und seine Papiere. Plötzlich rollte ein Ball auf sein Handtuch und ein Junge kam, um den Ball zu holen.

„Spielst Du Fußball?“, fragte Priese den Jungen, und der antwortete:

„Mein Bruder und ich kicken uns den Ball immer zu.“ Priese drehte sich zu dem Strandkorb direkt neben ihm und machte ein Elternpaar und einen Jungen aus, offensichtlich waren das die Eltern von dem Jungem mit dem Ball.

„Entschuldigen Sie bitte, dass mein Sohn Sie gestört hat, ich habe schon hundertmal gesagt, dass sie weiter unten Fußball spielen sollen“, sagte der Vater.

Aber ich bitte Sie, das ist doch nicht weiter schlimm, die Kinder spielen eben!“, antwortete Priese und stellte sich gleich vor. Er nannte seinen Vornamen, weil er sah, dass die Urlauber in etwa sein Alter haben mussten, und im gleichen Augenblick stellten sich die Eltern mit Nina und Herbert vor. „Ich werde wegen meines Familiennamens „Priese“ genannt und bitte Euch“, er duzte Nina und Herbert gleich, „das auch zu tun,“ sagte Priese.

„Bist Du eigentlich allein am Strand?“, fragte Nina, und Priese, der nicht wusste, wie er überhaupt nach Juist gekommen war, gebrauchte eine Notlüge und sagte:

„Die Anreise ist für mich nicht weit, und ich bin einfach losgefahren und hierher gekommen, um in Erinnerungen zu schwelgen.“

„Sind Deine Kinder schon groß?“, fragte Herbert und Priese antwortete:

„Benny ist 12 und Alice ist 13!“

„Dann sind sie gerade einmal 3 Jahre älter als unsere, Peter ist 8 und Jens ist 10“, sagte Nina.

„Wie lange seid Ihr schon auf der Insel?“, fragte Priese und Herbert antwortete:

„Das ist unser zweiter Tag“.

„Ist das Euer 1. Mal auf Juist?“, fragte Priese weiter und Herbert sagte:

„Ja , das ist unser 1. Mal auf Juist und ich muss sagen, dass die Insel etwas hat, und ich weiß nicht genau, wie ich es beschreiben soll!“

„Ich weiß schon, was Du meinst, da sind die Sauberkeit, die Ruhe, die fehlende Hektik, die Autofreiheit und das Familiäre“, sagte Priese, „und das alles fügt sich zu einem unnachahmlichen Gesamt, das Juist ausmacht.“

„Ja, Du beschreibst das völlig zutreffend, schon am 1. Tag hat man das Gefühl, dass es auf Juist so ist, wie Du sagst!“, meinte Nina.

„Wo seid Ihr untergebracht?“, fragte Priese.

„Wir haben eine Ferienwohnung im Ort und wollen abends immer essen gehen“, sagte Herbert.

„Wenn Ihr nichts dagegen habt, schließe ich mich Euch beim Essen an!“, sagte Priese und die beiden waren einverstanden. Priese fand in seinem Rucksack die Karte für eine Zimmertür im „Hotel Pabst“ und sagte:

„Und ich habe ein Zimmer im „Hotel Pabst“, habt Ihr Lust, mit ins Wasser zu gehen?“, fragte er und Nina und Herbert sprangen gleich auf und nahmen Peter und Jens mit. Eine Menge Leute tobte mit ihren Kindern im Wasser, und Priese und Herberts Familie kühlten sich ab. Die Jungen hatten ihren Ball mitgenommen, und ehe man sich versah, schwammen sie alle und warfen sich gegenseitig den Ball zu. Priese fand die Familie sehr nett und umgekehrt schien es ja auch so zu sein, denn sonst hätten sie sich ja nicht mit Priese abgegeben. Die Jungen schwammen schon sehr sicher und waren auch mit dem Ball sehr fit. Sie machten sich einen Spaß daraus, ihrer Mutter den Ball direkt vor ihr Gesicht zu werfen, sodass ihr das Wasser ins Gesicht spritzte.

„Hört sofort damit auf!, rief Herbert, und die Jungen fügten sich. Nina ging aus dem Wasser, und die vier begannen, sich den Ball regelrecht zu zu schmettern, sodass man Mühe hatte, ihn zu fangen. Dann hatten sie aber auch genug und gingen aus dem Wasser. Es war früher Nachmittag, wie Priese auf Herberts Uhr sehen konnte, und er trocknete sich ab und zog sich um, um zu seinem Hotel zu gehen.

„Ich will dann mal zu meinem Hotel, wann wollen wir uns denn heute Abend zum Essen treffen?“, fragte Priese und Nina antwortete:

„Lass uns doch um 19.00 h bei der Kurverwaltung treffen, das ist direkt bei Deinem Hotel!“

„Ist gut“, sagte Priese, „bis heute Abend also!“, und er ging zu seinem Hotel. Auf seinem Zimmer fand er es sehr komfortabel, wie auch das ganze Hotel oberer Standard zu sein schien. Priese zog die Gardinen vor sein Fenster und ließ sich auf sein Bett fallen. Es brauchte nur einen Moment, und Priese schloss seine Augen und schlief ein. Er wurde von den Rollkoffern ankommender Gäste wieder wach, es war 16.00 h geworden und er machte sich frisch. Anschließend lief er in den Ort, um zu sehen, ob er sich noch erinnerte. Dort fand er die Gebäude so, wie sie damals dastanden, und er fand den Bötchenteich, der unverändert geblieben war, seit er selbst ein Junge gewesen war, man hat die Anlage um den Teich herum etwas verschönert, mehr nicht. Zu seiner Zeit gab es neben dem Teich eine Milchbar, in der man Milchshakes bekam. Es gab aber auch als Spezialität dieser Zeit Schälchen mit Schlagsahne, die man mit einem Löffel essen konnte. Das verlor sich aber nach und nach, niemand isst heute mehr Schlagsahne aus Schälchen. Ein Stück weiter lag früher der Hafen, von dem aus das Inselbähnchen in den Ort fuhr. Man hat inzwischen einen neuen Hafen angelegt, direkt neben dem Ort, mit allem, was das Seglerherz höher schlagen lässt. Priese ging wieder zum Teich und setzte sich vor das „Cafe Baumanns“, wo er einen Kaffee bestellte und sich die vorbei promenierenden Urlauber anschaute. Dann lief er in die Billstraße, in der er früher mit seinen Eltern und seinem Bruder in einer Pension gelebt hatte.

Es gab aber keine Pension mehr, und er spazierte langsam wieder zu seinem Hotel. Er ging auf sein Zimmer und fühlte, ob er in seinem Rucksack Geld fände, und tatsächlich steckte vorne in dem Rucksackfach ein Portmonee mit ausreichend Geld. Er nahm das Geld und lief anschließend zu dem Treffpunkt mit der Familie vor der Kurverwaltung. Priese stellte sich dorthin und wartete, und schon nach kurzer Zeit erschienen Nina, Herbert und die Jungen. Sie fragten sich, wohin sie zum Essen gehen sollten und entschieden sich für „Köbes“, 80 Meter weiter in Richtung Strand, ein Fischlokal, in dem man auch Steaks essen konnte.

„Ich habe regelrechten Hunger bekommen und hoffe, Euch geht es genau so!“, sagte Priese.

„Von uns aus können wir sofort essen!“, riefen die Jungen.

„Wir hatten den ganzen Tag über noch nichts, bis auf ein paar Plätzchen“, sagte Nina, und sie gingen in das Lokal. Die Erwachsenen bestellten Scholle und die Jungen nahmen Steaks, zu trinken gab es Bier und Limo.

„Wo kommt Ihr eigentlich her?“, fragte Priese Nina und Herbert und die beiden antworteten:

„Aus Herford und Du?“

„Ich komme aus der Nähe von Stade“, antwortete Priese, „was haltet Ihr davon, wenn wir uns Morgen Fahrräder leihen und uns ein wenig von der Insel ansehen, ich will Euch beiden aber nicht meinen Willen aufzwingen!“ Nina schaute Herbert an, und als der nickte, sagte sie:

„Okay, wann soll es denn losgehen?“

„Ich finde, dass 10.00 h eine gute Zeit ist!“, sagte Priese. Die Jungen schauten ihn an, als wollten sie sagen:

„Zum Glück nicht wieder ein langweiliger Strandtag!“ Ihr Essen war ausgezeichnet und sie aßen es mit Heißhunger, die Jungen verschlangen ihre Steaks geradezu, und als sie um Nachtisch bettelten, bekam jeder noch ein Eis. Sie hielten es immerhin bis 21.00 h aus und gingen hinterher noch auf die Düne, wo es einen Spazierweg gab und setzten sich auf eine Bank.

„Die Stimmung ist am Abend auf der Insel immer besonders eindrucksvoll“, sagte Priese und Nina und Herbert gaben ihm Recht. Um 22.00 h war der Abend beendet, und sie verabschiedeten sich bis zum nächsten Morgen, wenn sie sich wieder vor der Kurverwaltung treffen wollten. Am nächsten Morgen begrüßten sie sich um 10.00 h, liefen gleich zum Fahrradverleih und holten sich für jeden das passende Fahrrad. Dann fuhr Priese vor und steuerte die alte Hafenmole an. Er setzte sich mit allen dort hin und erzählte, wie er früher dort mit dem Schiff angekommen war. Dann zeigte er zum alten Haltepunkt des Inselbähnchens uns sagte:

„Wenn unser Gepäck auf den Waggon geladen war, stiegen wir in den Zug und fuhren zum Ort, das waren ungefähr 2 Kilometer. Manchmal fuhr mein Vater mit mir zur Mole, und wir hatten geangelt. Am Ende waren wir recht erfolgreich und hatten ein paar Schollen und ein paar Aale herausgeholt.“ Die Jungen fragten gleich:

„Können wir nicht auch einmal angeln?“, und Herbert antwortete:

„Lasst uns erst einmal ein paar Tage Urlaub hier verleben, dann sehen wir weiter!“ Sie setzten sich wieder auf ihre Fahrräder, und Priese fuhr in Richtung „Domäne Bill“. Der Plattenweg war der gleiche geblieben, vielleicht war die eine oder andere der rotbraunen Platten ein Stück versetzt, aber ganz eben war der Weg auch früher nicht gewesen, und man musste auch damals vorsichtig mit den Fahrrädern fahren. Sie überholten einige Pferdefuhrwerke mit Touristen und erreichten schließlich das Ausflugslokal. Sie hatten Mühe, draußen einen Tisch zu finden, am Ende sahen sie aber einen freien Tisch und stellten einen weiteren Stuhl daran.

„Hier bestellt jeder Stuten mit Nutella und eine heiße Schokolade“, sagte Priese und bestellte gleich für alle. Den Jungen gefiel es besonders, Stuten mit Nutella essen zu können, und sie aßen jeder zwei davon.