Margas Leben - Familien nach dem Krieg (1) - Hans Müller-Jüngst - E-Book

Margas Leben - Familien nach dem Krieg (1) E-Book

Hans Müller-Jüngst

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Geschichte der Familie Goldschmid findet in der vorliegenden Erzählung ihre Fortsetzung, der historische Hintergrund ist die deutsche Nachkriegszeit und da besonders die Schritte, die zur Teilung Deutschlands geführt haben. Goldschmids leben seit nunmehr zwölf Jahren in Amsterdam, Robert Goldschmid hat seine Arztpraxis längst aufgegeben, Max Rozenbaum ist auch in Rente, genau wie Piet Gerrits. Die drei Genannten bilden zusammen mit ihren Frauen eine Einheit in den Augen der deutschen Kinder und deren Familien, sie besuchen sie regelmäßig zu am Ende festen Terminen und durchleben so die Nachkriegszeit, ebenso statten die Holländer ihren deutschen Kindern Besuche ab,in Essen und in Göttingen. Die Situation unmittelbar nach Kriegsende ist verworren, es fehlt an ordnenden Kräften und Verwaltungseinheiten, sowohl die Essener als auch die Göttinger leben in der britischen Besatzungszone und erleben dort hautnah mit wie sich ganz allmählich die Verhältnisse konsolidieren. Die Essener Familie Theißen nimmt Flüchtlinge aus Königsberg bei sich auf und arrangiert sich mit ihnen,sie wohnen am Ende im Hause der Theißens. Goldschmids, die Familie des Sohnes von Robert aus Amsterdam, lebt in einem Arzthaushalt, Manfred führt die alte Praxis seines Vaters weiter und Petra, die Tochter von Gerrits aus Amsterdam, ist Tierärztin, Marga, die Tochter von Rozenbaums, ist Studienrätin geworden und lebt mit Werner Theißen im Hause von dessen Mutter zusammen, Werner ist Philosophieprofessor in Düsseldorf geworden, von daher geht es den Protagonisten überdurchschnittlich gut. Gerda, die Tochter von Goldschmids, lebt zusammen mit Siegfried Lamprecht in Göttingen und betreibt mit ihm dort eine psychotherapeutische Praxis mit zunehmendem Erfolg.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 368

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Müller-Jüngst

Margas Leben - Familien nach dem Krieg (1)

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Auf nach Holland!

Kindergeburtstag in Amsterdam

Wieder zu Hause

In Bärbels Garten

Das Potsdamer Abkommen

Ringsdorffs

Das Jahr 1946

Impressum neobooks

Auf nach Holland!

Der Krieg war vorüber, und es standen für Marga, Gerda, Siegfried, Gerdas Mann, Petra, Werner und Manfred Entscheidungen an, von denen der Verlauf ihres weiteren Lebens abhängen sollte. Marga war nach Deutschland zurückgekehrt und ist Deutsche geworden. Sie lebte zusammen mit Werner in Essen, wo sie Studienrätin am Goethe-Gymnasium war und die Fächer Geschichte und Deutsch unterrichtete. Werner war an den Lehrstuhl für Philosophie nach Düsseldorf gerufen worden. Sie waren seit einigen Jahren verheiratet und 1941 Eltern geworden, sie hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen und lebten mit Werners Mutter zusammen im alten Theißen-Haus.

Werners Mutter war inzwischen siebzig und von sehr stabiler Natur. Jetzt, wo ihr Haus mit Menschen gefüllt war, sah sie sich in ihrem Leben von Neuem herausgefordert. Sie hatte ein sehr gutes Verhältnis zu den Kindern ihres Sohnes entwickelt, und die Kinder mochten ihre Oma über alles. Werner hatte sich ein Auto zugelegt, mit dem er jeden Morgen nach Düsseldorf fuhr, Marga nahm für ihren Schulweg ihr Fahrrad, sie musste nur die Meisenburgstraße überqueren und in die Ruschenstraße einbiegen, das waren ein paar hundert Meter. In der Zeit ihrer täglichen Abwesenheit kümmerte sich Bärbel, so der Name von Werners Mutter, liebevoll um die Kinder und kochte für alle Essen. Auch Petra und Manfred waren während der Kriegszeit ein Paar geworden und hatten 1942 geheiratet. Sie hatten seit 1942 Kinder, zwei Jungen, mit denen sie auch in Essen lebten, allerdings nicht in dem alten Goldschmid-Haus, denn das hatten Manfreds Eltern 1934 verkauft, bevor sie zu Margas Eltern und ihren Verwandten nach Amsterdam ausgewandert waren. Sie hatten sich vielmehr ein Haus kaufen müssen und waren wieder nach Bredeney gezogen, ganz in die Nähe von Marga und Werner. Manfred hatte in der alten Praxis seines Vaters bei David Zuckerberg, dessen ehemaligem Kompagnon, seine Arbeit als Arzt aufgenommen und hatte die feste Absicht, genauso erfolgreich und mit aller Kraft seinen Arztberuf auszuüben.

Petra war Tierärztin geworden und hatte Praxisräume in Bredeney gefunden. Es war für sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht einfach, ihr Leben als Tierärztin zu bestehen, weil die Menschen natürlich andere Sorgen hatten, als sich um das Wohl ihrer Tiere zu kümmern. Zusammen mit Manfred schaffte sie es aber, ihrer Familie ein überdurchschnittliches Auskommen zu sichern. Gerda ist nach ihrem Studium in Göttingen geblieben und hatte einen ehemaligen Kommilitonen geheiratet, mit dem sie eine psychotherapeutische Praxis eröffnet hatte. Auch sie hatten zwei Kinder, die allerdings noch sehr klein waren und erst vor kurzer Zeit, also 1944 und 1945 geboren worden waren. Gerda, die immer wie das fünfte Rad am Wagen gewirkt hatte, war in Wirklichkeit schon seit Beginn ihres Studiums mit Siegfried, wie ihr Mann hieß, liiert, was niemand wusste, was aber auch niemanden überraschte, denn Gerda sah sehr hübsch aus und sie war intelligent. Die alten Rozenbaums, Margas Eltern und Goldschmids, Gerdas und Manfreds Eltern, lebten ein glückliches Leben in Amsterdam. Sie hatten während der deutschen Besatzung so manche Entbehrung hinnehmen müssen, waren aber mit heiler Haut durch die Zeit der Schrecknis gekommen. Goldschmids bewohnten an der Keizersgracht ein altes vornehmes Bürgerhaus mit sehr viel Platz, Rozenbaums wohnten seit eh und je in der Tuinstraat in ihrem alten Stadthäuschen, das die Firma seinerzeit Herrn Rozenbaum zur Verfügung gestellt hatte. Die Rozenbaums mussten, nachdem der Alte in Rente gegangen war, ein wenig Miete bezahlen, die aber kaum der Rede wert war.

Auch Herr Goldschmid arbeitete nicht mehr und hatte seine Arztpraxis in der Bergstraat verkauft.

Die Goldschmids trafen sich öfters mit Rosenbaums, auch Petras Eltern, die Gerrits, gehörten zu dem Kreis, in dem wie in alten Zeiten über Politik diskutiert wurde, wobei Piet Gerrits sich immer besonders hervortat und sich gelegentlich überengagiert zeigte. Es war nicht so, dass er Genugtuung empfand, wenn er auf das geschlagene und völlig am Boden zerstörte ehemalige Großdeutsche Reich blickte, aber er machte kaum einen Hehl daraus, dass ihn die Entwicklung in Deutschland bis zu dessen bedingungsloser Kapitulation mit Zufriedenheit erfüllte. Bärbel Theißen unternahm mehre Male im Jahr die anstrengende Zugfahrt nach Amsterdam, um sich mit ihren alten Freuden zu treffen und eine Woche, manchmal auch drei Wochen lang bei Goldschmids, ihren ehemaligen Nachbarn in Essen, zu wohnen. Wenn sie in der alten Runde zusammensaßen, meistens bei Goldschmids, weil die den meisten Platz hatten, ging es schon mal hoch her wie früher, Bärbel und Piet, Petras Vater, standen sich in ihrem politischen Eifer in nichts nach und zogen über alles her, was ihrem politischen Denkschema entgegenstand. Iris, Petras Mutter und Doris, Marga Mutter, hielten sich meistens zurück, wenn sich Bärbel, Piet und Max, Margas Vater und Robert, Gerdas und Manfreds Vater, in die Haare kriegten. Die Stimmung blieb aber immer sehr erträglich und niemand der Anwesenden fühlte sich im Anschluss auf den Schlips getreten, weil sie im Grunde alle einer Meinung waren wie schon in der Vorkriegszeit, als alle gegen das Hitlerregime waren und sich deshalb nie ernsthaft in die Wolle kriegten, höchstens dass sie sich einmal über Nuancen stritten.

Piet versuchte aber immer, in seiner provozierenden Art einen Kitzel in die Runde zu bringen. Er schien die Brisanz, die dadurch in die Diskussion gebracht wurde, zu brauchen und fühlte sich sichtlich wohl, wenn er die Gemüter hochgeschaukelt hatte. Kam es hin und wieder dazu, dass sich alle Familien mit ihren Angehörigen trafen, waren sie neunzehn Personen. Da wurde nicht gekocht, sondern sie gingen essen, nachdem sie sich ein Restaurant mit ausreichend Platz ausgesucht hatten. Das war in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland natürlich gar nicht möglich, denn es gab gar keine Versorgung mit Lebensmitteln, die ein Restaurant gebraucht hätte und es gab niemanden, der die finanziellen Mittel gehabt hätte, um in einem Restaurant essen zu gehen. Jeder dachte doch nur daran, irgendetwas zu essen zu bekommen, man war nicht wählerisch, die Hauptsache war doch, dass das Essen genießbar war und satt machte. In Holland sah die Sache anders aus, in Amsterdam fing, nachdem die deutschen Besatzer abziehen mussten, schnell wieder das normale Leben an. Es hatte ja in der Stadt keine Zerstörungen gegeben und die Vorkriegszustände waren im Nu wiederhergestellt.

Das Verhältnis zwischen Holländern und Deutschen war, wie man sich leicht vorstellen konnte, für lange Zeit auf das Schlimmste belastet. Aber das betraf den Familienclan ja nicht, zu dem auch irgendwann Gerrits gehörten. Wenn man als Deutscher zu einem Holländer in Kontakt treten wollte, zum Beispiel in einem Geschäft, konnte es einem passieren, dass man gar nicht beachtet oder sogar beschimpft wurde. Es gab Holländer, die einen regelrechten Hass gegen die Deutschen hegten, der natürlich in den gemachten überaus negativen Erfahrungen wurzelte. Die „Stunde Null“, wie der Neuanfang in Deutschland nach dem Krieg bezeichnet wurde, bedeutete für die Allermeisten den tatsächlichen Neubeginn in allen lebensrelevanten Angelegenheiten. Das betraf zumindest die Befriedigung der Existenzbedürfnisse Wohnen, Essen und Kleidung. An die Befriedigung weiterer Bedürfnisse dachte in den ersten Monaten nach Kriegsende, also vom 8. Mai 1945 an gerechnet, noch kaum jemand. Die Situation stellte sich in Essen für die beiden jungen Familien noch ganz passabel dar: Petra und Manfred wurden von ihren Patienten in Naturalien bezahlt und hatten deshalb eine ausreichende bis gute Versorgung mit Lebensmitteln.

Marga und Werner waren Staatsbedienstete und hatten als Beamte deshalb ihr festes Einkommen, das bei den Positionen, die sie bekleideten, recht gut ausfiel, sodass auch sie ihr Auskommen hatten. Das Gros der deutschen Bevölkerung hungerte aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit und war auf öffentliche Speisungen angewiesen.

Menschen, die auf dem Land lebten, hatten es da besser, und wenn sie auch noch einen Hof besaßen, waren sie Selbstversorger und gut mit Lebensmitteln eingedeckt, die eigentlichen Hungersnöte betrafen fast ausschließlich die Städter. Sie gingen aus Not „hamstern“, wie man es nannte, wenn sie, ausgestattet mit Pelzmänteln, kostbaren Teppichen und Schmuck, aufs Land fuhren und dort im Tausch Lebensmittel zu ergattern versuchten. Das war natürlich erst möglich, nachdem die Gleisanlagen, die durch die alliierten Bombardements arg in Mitleidenschaft gezogen waren, wieder repariert waren. Aber eins nach dem anderen!

Als Hitler von seinem Führerbunker unter der Reichskanzlei in Berlin aus seine letzten Befehle an die immer aussichtsloser kämpfenden Soldaten herausgegeben und eingesehen hatte, dass der Krieg für Deutschland verloren war, entzog er sich am 30. April zusammen mit seiner Frau Eva Braun durch Selbstmord der Verantwortung. Es dauerte im Anschluss daran noch eine ganze Woche, bis General Keitel die Kapitulationsurkunde unterschrieb und der 8. Mai das Ende aller Kampfhandlungen in Europa bedeutete. Deutschland war von da an ein besetztes Land, die Alliierten USA, Großbritannien, die Sowjetunion und später auch Frankreich kommandierten in ihren Zonen, die Stadt Berlin wurde in vier Sektoren eingeteilt, der Sowjetunion ist mit Ostberlin die halbe Stadtfläche zugestanden worden.

Berlin lag von da an wie eine Insel in der sowjetischen Besatzungszone. Selbstverständlich hatten sich die Alliierten im Verlauf des Krieges Gedanken darüber gemacht, wie sie im Falle des Sieges - und alle gingen von einem Sieg der Alliierten über Deutschland aus - verfahren sollten. Dass das Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 in irgendeiner Weise unter den Siegermächten aufzuteilen wäre, war von Anfang an klar. Auch dass es Arrondierungen im Osten geben müsste, war klar und man traf sich zur Besprechung solcher Dinge in Teheran, Jalta und nach dem Krieg in Potsdam, wo im Juli/August 1945 das berühmte Potsdamer Abkommen verabschiedet wurde. Der Inhalt dieses Abkommens ließ sich passend mit Demokratisierung, Dezentralisierung, Demontagen, Denazfizierung und Demilitarisierung beschreiben. Wovon ließen sich die Alliierten bei ihren Überlegungen im Hinblick auf Nachkriegsdeutschland leiten, welche waren die Motive, aus denen sie an eine Politik in Deutschland herangingen? Sehr stark, wenn auch bei den Alliierten unterschiedlich stark ausgeprägt, war der Revanchegdanke, der noch Nahrung bekam, als man die Konzentrationslager geöffnet hatte und die Lagerinsassen befreite, die zum Teil nur noch Haut und Knochen und dem Tode näher als dem Leben waren. Die Deutschen zu bestrafen war die eine Seite der in Frage kommenden Maßnahmen, es überwogen am Ende aber die Meinungen derjenigen, die konstruktiv an einen Wiederaufbau Deutschlands herangehen und nur die Hauptkriegsverbrecher vor Gericht bringen wollten, unter denen sich Göring und Heß, aber auch der Industrielle Krupp befanden. Die Kriegsgefangenen kamen natürlich in Gefangenenlager und blieben dort wie einige, die in sowjetischer Gefangenschaft waren bis teilweise 1955!

Wie schon erwähnt, gab es interalliierte Zusammenkünfte während des Krieges, bei denen besprochen wurde, wie zu verfahren wäre, um Deutschland in die Knie zu zwingen, und was nach dem Krieg mit Deutschland zu geschehen hätte. Zuvor verkündete der amerikanische Präsident Roosevelt vor dem Kongress die „vier Freiheiten“, nach denen es in einem Land territoriale Veränderungen nur aufgrund des Selbstbestimmungrechtes geben dürfte, ein jedes Volk müsste über die Regierungsform in seinem Land entscheiden dürfen, jeder Nation müsste der freie Zugang zu allen Rohstoffen der Erde zugestanden werden, und ein dauernder Friede, der ein Leben frei von Furcht und Not ermöglichte, wäre anzustreben. Ferner trat das sogenannte „Leih- und Pachtgesetz“ in Kraft, nach welchem ab August 1941 Materiallieferungen an die UdSSR erfolgten, die Neutralitätspolitik der USA aufgegeben wurde und britisch-amerikanische Generalstabsbesprechungen begannen, die USA sahen sich als „Arsenal der Demokratie“. Vom 16. - 26. Januar 1943 fand die Konferenz von Casablanca statt, noch trafen sich dort nur Roosevelt und Churchill ohne Stalin, Roosevelt forderte dort die bedingungslose Kapitulation („unconditional surrender“) Deutschlands.

Im Laufe des Jahres gab es britisch-amerikanisch-sowjetische Verhandlungen in Moskau, bei denen eine Zusammenarbeit bis zum Endsieg vereinbart wurde. Auf der Konferenz von Teheran vom 28. November – 1. Dezember 1943 trafen sich Roosevelt und Churchill mit Stalin, und es wurde die Zusammenarbeit nach dem Krieg besprochen und die Landung in Nordfrankreich beschlossen, ferner wurde die Curzon-Line als polnische Ostgrenze festgelegt, im Westen sollte Polen auf Kosten Deutschlands bis zur Oder ausgedehnt werden. Die beiden Problembereiche Neuordnung Deutschlands und Modalitäten bei der Neuerrichtung des Staates Polen machten erste grundlegende Differenzen in der Anti-Hitler-Koalition deutlich, die zu diesem Zeitpunkt aber noch von dem vorrangigen Ziel der gemeinsamen Niederringung Deutschlands überdeckt wurden. Deutschland sollte als Großmacht ausgeschaltet, Nazideutschland sollte besiegt und der Faschismus ausgerottet werden. Die unterschiedlichen Vorstellungen der drei Staatsmänner fanden ihren Niederschlag in den Deutschlandplänen der Konferenz:

Die USA wollten die Aufteilung Deutschlands in fünf völlig voneinander unabhängige Länder, wobei die Wirtschaftszentren Hamburg mit dem Nord-Ostsee-Kanal, das Ruhrgebiet und das Saarland einer internationalen Behörde unterstellt werden sollten. Großbritannien wollte die Isolierung Preußens, weil man im Militarismus Preußens das Hautübel sah, ferner die Abtrennung von Baden, Württemberg, der Pfalz und Bayern und deren Zusammenlegung zu einer Donauföderation.

Die UdSSR formulierte ihre Haltung aus der Antiposition zu den Plänen der USA und Großbritanniens heraus. Stalin lehnte den Churchill-Plan unter Hinweis auf die Gefährlichkeit aller Deutschen ab, den Roosevelt-Plan sah er als Minimallösung an, obwohl für ihn die Zerstückelung Deutschlands nicht nur in der Schaffung von fünf Ländern und der Ausgliederung der Wirtschaftszentren bestehen sollte. Roosevelt wollte eine dauerhafte wirtschaftliche Schwächung Deutschlands und in diesem Sinne war auch der Plan seines Finanzministers Henry Morgenthau zu verstehen, der in Deutschland die Zerstörung der Industrie und seine Umwandlung in einen Agrarstaat vorsah. Noch im selben Jahr zogen Churchill und Roosevelt ihre Unterschriften unter diesen Plan wieder zurück, der aber gleichwohl die amerikanische Deutschlandpolitik noch bis 1946 beeinflusste. Churchill bezog schon sehr früh eine antikommunistische Position, er wollte ein starkes Deutschland als Bollwerk gegen den Kommunismus. Stalin wollte die Beeinflussung bzw. Einbeziehung eines schwachen Deutschlands, das als Sprungbrett bis zum Atlantik dienen könnte. Bemerkenswert war, dass schon während der Kriegszeit Zerwürfnisse in der Anti-Hitler-Koalition deutlich wurden, die auf die grundsätzlich verschiedenen Politikauffassungen zurückgingen:

auf der einen Seite die kapitalistische Auffassung mit repräsentativen Demokratien, auf der anderen Seite die sozialistisch-kommunistische Auffassung mit volksdemokratischer Struktur. Die wichtigere und weitreichendere interalliierte Kriegskonferenz war die Konferenz von Jalta, die vom 4. - 12. Februar 1945 stattfand. Die Konferenz stand von Anfang an unter keinem guten Stern, die latent vorhandenen Spannungen führten dazu, dass sie die Unentschlossenheit und das Fehlen eines klaren Konzeptes offenlegte. Die wichtigen Fragen nach der Zerstückelung Deutschlands, der deutsch-polnischen Grenze und der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands blieben offen oder wurden durch Formelkompromisse geregelt. Die Verhandlungsposition der USA wurde dadurch gekennzeichnet, dass man glaubte, auf die UdSSR als Verbündeten im Krieg gegen Japan angewiesen zu sein, die Position Stalins wurde somit gestärkt. Der Gesundheitszustand Roosevelt verschlechterte sich zusehends, sodass er den körperlichen und geistigen Beanspruchungen einer solchen Konferenz nicht mehr gewachsen war. Franklin D. Roosevelt starb am 12. April 1945 an Kinderlähmung, sein Nachfolger wurde Harry S. Truman. Churchill gab den Forderungen Stalin widerstrebend nach, weil er die Einheit der Koalition und damit verbunden den verbürgten Sieg nicht gefährden wollte. Die Pläne zur Zerstückelung Deutschlands wurden einem Komitee übertragen, das die Modalitäten erarbeiten sollte („dismemberment comittee“). Als Ergebnisse der Konferenz blieben:

keine Einigung über die territoriale Zukunft Deutschlands, Verhaftung und Bestrafung der Kriegsverbrecher, Reparationen, die UdSSR erhielt 50 % der von Deutschland zu zahlenden Reparationen, Bildung einer französischen Zone, die von den beiden zu schaffenden Westzonen abgetrennt werden sollte, Einrichtung eines alliierten Kontrollrates, der aus den vier Oberkommandierenden bestehen und seinen Sitz in Berlin haben sollte, und dessen Beschlüsse einstimmig gefasst werden sollten, er sollte über die Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten bestimmen. Stalins Deutschlandhaltung änderte sich nach der Jalta-Konferenz radikal: sein Maximalziel bestand nun in einem gesamtdeutschen kommunistischen Einheitsstaat, sein Minimalziel in einem kommunistischen Teilstaat, wie er ihn später mit der sowjetischen Besatzungszone verwirklichte. Den jungen Familien Goldschmid, Theißen und Lamprecht, wie Gerda jetzt mit Nachnamen hieß, stellten sich in der „Stunde Null“ ganz andere Probleme. Es war aber nicht so, dass sie sich nicht für das interessierten, was um sie herum geschah, aber sie wurden von den Alltagsproblemen bedrängt, wenngleich sie über ausreichend Geld verfügten, um sich Nahrung und Kleidung zu beschaffen. Am schwersten war es für Gerda, Siegfried und deren Kinder. Die beiden Eltern bekamen mit ihrer Therapiepraxis so recht kein Bein auf die Erde, zumindest am Anfang nicht.

Es gab in der Folge der unvorstellbar grausamen Kriegsereignisse genügend seelisch zerrüttete Menschen, die unbedingt einer Therapie bedurft hätten, eine Therapie kostete aber Geld. Das bisschen Geld, das die Menschen besaßen aber für eine Therapie einzusetzen, sahen sie nicht ein. So behalfen sich Gerda und Siegfried im Jahre 1945 damit, Nachhilfestunden zu geben und an ihrer alten Hochschule als Tutoren zur Verfügung zu stehen, damit sie wenigstens Geld für die grundlegenden Dinge des Lebens hatten. Die „Stunde Null“ bedeutete chaotische Zustände in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens:

Die Städte lagen in Schutt und Asche, gerade auch Essen, die Trümmerfrauen bestimmten das Straßenbild, große Teile der Bevölkerung waren vertrieben, vermisst, verwundet oder getötet, Familien waren zerrissen, Millionen waren nach ihrer Vertreibung aus dem Osten obdachlos, Wirtschaft und Infrastruktur waren weitestgehend zusammengebrochen, die Versorgung der Bevölkerung, die Essen, Wohnung und Arbeitsplätze mit den Flüchtlingen teilen mussten, konnte nur unzureichend gewährleistet werden , die Industrie erreichte nur einen Bruchteil der Vorkriegsproduktion wegen der Zerstörungen, des Mangels an Arbeitskräften und der schlechten technischen Ausstattung, es fehlte jedwede politische Steuerung, sodass diese Dinge in die Hände der Alliierten gelegt waren.

Der Zweite Weltkrieg hatte sechzig Millionen Tote gefordert, fünfunddreißig Millionen Verwundete und drei Millionen Vermisste, die UdSSR allein hatte zwanzig Millionen Tote zu beklagen. Wie sah nun der Alltag für die jungen Familien aus, wie nahmen sie ihre Erziehungsaufgaben gegenüber den Kindern wahr, wie übten die Erwachsenen ihre Berufe aus?Das härteste Los hatten, wie schon oben erwähnt, Gerda und Siegfried, die sich mit ihrer Nachhilfe so gerade über Wasser halten konnten und sich in der Erziehung von Gerlinde und Sven, wie ihre Kinder hießen, abwechselten, was sich relativ problemlos managen ließ. Sie besaßen ein Fahrrad, mit dem sie sich vorwärts bewegten, was in dem bergigen Göttingen nicht so einfach war. Aber Geld für ein Auto hatten sie nicht, sie lebten mit ihren Kindern in einer kleinen Wohnung zur Miete und kochten und heizten mit Kohleöfen. Sie hofften auf bessere Zeiten, die sich für sie sicher ab dem nächsten Jahr einstellen würden, wenn sich die Verhältnisse in Deutschland so weit wieder konsolidiert hätten. Marga und Werner schickten ab und zu ein Paket an Gerda und Siegfried, in das sie vornehmlich Lebensmittel gelegt hatten, und das die beiden dankbar annahmen. Gerlinde und Sven waren noch so klein, dass sie von dem ganzen Elend, das sie umgab, nichts mitbekamen. Marga fuhr mit dem Rad zum Goethe-Gymnasium und versah ihren Dienst als Studienrätin sehr gern. Sie war sich im Klaren darüber, dass sie es bei ihren Schülerinnen und Schülern mit Kindern aus den oberen Gesellschaftsschichten zu tun hatte, denn der Besuch des Gymnasiums kostete Schulgeld.

Werner setzte sich morgens in seinen VW und fuhr eine Stunde nach Düsseldorf zur Universität. Er musste über Werden fahren, um die Ruhr zu überqueren. Niemals fragte er sich, was die Menschen in ihrer großen materiellen Not mit Philosophie anfangen sollten, was etwa half die Kant´sche „Kritik der reinen Vernunft“ gegen den bohrenden Hunger, der die Studenten plagte? Um Christine und Peter, wie ihre beiden Kinder hießen, kümmerte sich Oma Bärbel liebevoll. Am frühen Nachmittag, spätestens gegen 13.30 h war Marga wieder zu Hause und erlöste ihre Schwiegermutter von ihren Erziehungsaufgaben. Bärbel Theißens Mann Georg war schon seit vielen Jahren tot, er ist nach dem Weltkrieg einem Lungenleiden erlegen. Oftmals war Werner auch schon um diese Zeit zu Hause, wenn er keine Nachmittagsveranstaltung hatte. Bei Petra und Manfred sah die Sache anders aus, sie hatten beide eine Praxis zu betreuen, Petra nur mit halber Stundenzahl, damit sie Zeit für ihre Kinder Peter und Daniel hatte, um die sich während Petras Abwesenheit eine Kinderfrau kümmerte. Petra hatte in ihrer Praxis gar nicht so viel zu tun, und es gab kaum Patienten, die mit ihren Tieren kamen. Sie wurde oft zu naheliegenden Bauernhöfen gerufen, um Kühen beim Kalben zu helfen. Bei Manfred brummte die Praxis, die Menschen litten unter den Krankheiten, die die Zeit so mit sich brachte, es gab mangel- oder fehlernährte Kinder, Atemwegserkrankungen, TBC, Würmer etc. Wenn Manfred abends nach Hause kam, war er geschafft.

In Ausnahmefällen, wenn die Kinderfrau einmal krank war, brachten sie Peter und Daniel schon mal zu Frau Theißen, der es nichts ausmachte, auch noch auf die beiden anderen Kinder aufzupassen, das kam aber zum Glück nur selten vor. Im Sommer 1945 stand ein Treffen in Amsterdam an, bei dem sich alle versammeln wollten, die zu dem Familienclan gehörten. Die Eisenbahnstrecke war wieder repariert und konnte befahren werden. Gerda und Siegfried nahmen mit ihren Kindern den Zug über Hannover, der sie direkt nach Amsterdam brachte, sie hatten den weitesten Weg. Die Zugfahrt von Essen nach Amsterdam dauerte nur vier Stunden, bei den zu der Zeit vollzogenen Gleisbauarbeiten konnte sie aber auch länger dauern. Marga und Werner hatten Sommerferien bzw. Semesterferien, Gerda und Siegfried hatten während der Sommerferien keine Nachhilfe und in den Semesterferien kein Tutorium, Petra und Manfred hielten ihre Praxen für vierzehn Tage geschlossen, David Zuckerberg würde in der Zeit die Patienten für Manfred mit versorgen. Es war Anfang Juli 1945, ein herrlicher Sommertag und reichlich heiß, wenn man in den strahlend blauen Himmel blickte, konnte man alles um sich herum vergessen, man schloss anschließend die Augen und wähnte sich im schönsten Sommerurlaub. Sobald man seine Augen aber wieder öffnete und sich umsah, hatte einen die traurige und niederschmetternde Realität wieder zurück, und man schaute über Trümmerfelder und in die ausgemergelte Gesichter von Menschen, die in abgerissener Kleidung steckten und hungerten.

Wenn sie in Amsterdam angekommen wären, hätte Peter kurze Zeit später seinen dritten Geburtstag. Was mochte so einem kleinen Erdenbewohner wohl durch den Kopf gehen, wenn er das gesamte Elend betrachtete? Aber Peter war wohl noch zu klein, um die Not in ihrer gesamten Ausprägung richtig einzuschätzen oder etwas ändern zu können.

„Habt Ihr ein Geschenk für Peter mitgenommen?“, fragte Marga Petra und Manfred im Zug und Petra antwortete:

„Ich habe im letzten Moment noch daran gedacht, dass der kleine Kerl auch schon drei Jahre alt wird und ihm etwas zum Spielen besorgt.“

Bärbel, die mit nach Amsterdam fuhr, war eigens noch in die Stadt gefahren, um dem kleinen Peter ein Geschenk zu kaufen. Der Dampfzug fuhr bedächtig seine Strecke und musste gelegentlich abbremsen und manchmal sogar halten, wenn es die Gleisbauarbeiten erforderten. Das Ruhrgebiet war eine einzige Trümmerwüste, die vier Erwachsenen schauten gar nicht groß aus dem Abteilfenster, und die Kinder interessierte ohnehin nicht, was sie da zu sehen bekamen. Die Eltern mussten daran denken, wie sie in der Vorkriegszeit mit diesem Zug gefahren waren, und Marga fragte in die Runde:

„Wisst Ihr noch, wie wir uns immer vor dem Grenzübertritt gefürchtet haben, weil die Grenzer so unverschämt gewesen sind und sich aufgespielt haben?“ Natürlich erinnerten sich alle ganz genau an dieses absurde Schauspiel, das sich ihnen damals immer geboten hatte, und Werner meinte:

„Schlimm waren auch immer die Begegnungen mit den SA-Männern, die gleich zu Schlägereien aufgelegt waren, ich weiß noch genau, wie Manfred und ich damals im Zug beinahe eine Schlägerei bekommen hätten, wenn die SA-Tölpel nicht in Wesel hätten aussteigen müssen.“ Manfred und Werner waren beide Soldaten gewesen, machten darum aber nie viele Worte, weil ihre Kriegserlebnisse zu schrecklich gewesen waren. Manfred ist trotz seiner jüdischen Abstammung als Lazarettarzt an der Ostfront gewesen und hat dort unter den erbärmlichsten Bedingungen operieren müssen. Das Grauen, das ihm während dieser Zeit zu Gesicht gekommen war, war unbeschreiblich. Manfred stumpfte aber ab und war am Ende nicht mehr sensibel genug, um die Schrecknis in ihrer ganzen Härte an sich heranzulassen. Werner war zuerst als Heeressoldat in Frankreich und ist im Anschluss wegen seiner rudimentär vorhandenen Russischkenntnisse an die Ostfront gelangt. Sowohl Werner als auch Manfred hatten den Krieg von Anfang bis zum Ende als Soldaten mitgemacht, sie waren nicht an ihren schlimmen Erlebnissen zerbrochen, weil sie von ihrem Naturell her gut ausgestattet waren und über genügend psychische Abwehrkräfte verfügten. Sie sahen ihre Frauen und später ihre Familien nur, wenn sie Urlaub bekommen hatten.

Wie schwer danach immer der Abschied war, kann kaum jemand nachvollziehen. Auf dem Weg bis zur holländischen Grenze kamen mehrmals britische Soldaten in ihr Abteil und musterten die Reisegruppe argwöhnisch. Sie befanden sich in der britischen Besatzungszone und die britischen Soldaten hatten dort das Sagen. Es wurde kein Wort gewechselt, weil die Devise „no fraternization“ galt, und die wurde zumindest am Beginn der Besatzungszeit strikt eingehalten. Vor dem Passieren der Grenze wurde die Reisegruppe von den Soldaten ordentlich gefilzt und jeder dachte in diesem Augenblick, dass sich im Grunde nichts geändert hätte, die Soldaten trugen nur andere Uniformen. Schließlich wurden sie mit strengem Tonfall gefragt, wohin sie reisten, bevor die Soldaten den Reisenden ihre Papiere wieder zurückgaben und das Abteil verließen. Immerhin warfen sie dabei die Abteiltür nicht ins Schloss, wie das die Nazi-Zöllner immer getan hatten. Die Kinder hatten sich während der ganzen Zeit ruhig verhalten, und auch als die holländischen Zöllner in ihr Abteil kamen, um ihre Papiere zu kontrollieren, regten sie sich nicht. Die Holländer blickten mit feindseligen Augen in die Runde, die deutsche Besatzung der Niederlande war erst seit geraumer Zeit vorüber, genau gesagt seit dem 5. Mai 1945. Es hatte sich ein Hass gegen alles Deutsche aufgestaut, den die Zöllner aber zurückhielten. Den Kindern war die Feindseligkeit der Zöllner aber nicht entgangen, und sie fingen an zu weinen, als der Zug schon längst die Grenze passiert hatte. Marga und Petra nahmen ihre Kinder in die Arme und trösteten sie, bis sie sich wieder beruhigt hatten und aus dem Fenster schauten.

Der Blick, der sich ihnen dort bot, war ein gänzlich anderer als der Blick auf der deutschen Seite. Sie durchfuhren eine völlig intakte bäuerliche geprägte Landschaft, alles strotzte nur so von Gesundheit und Sauberkeit, und wenn sie in den wenigen Bahnhöfen hielten, die bis Amsterdam auf ihrem Weg lagen, zeigte sich ihnen ein quirliges Bild von vergnügten Menschen. Man hätte nicht glauben mögen, dass sie bis vor Kurzem noch unter der Knute der Deutschen hatten leben müssen. Die völlig veränderte Stimmung hatte sich gleich auf die Zugfahrgäste übertragen, die Kinder und auch die Erwachsenen lachten und waren guter Dinge. Als der Zug in der Centraal Station in Amsterdam hielt, sprangen alle auf den Bahnsteig, die Kinder tollten nach der langen Zeit des Sitzen herum und mussten von den Erwachsenen zur Räson gebracht werden. Bärbel sagte:

„Lasst die Kinder doch toben, sie haben doch lange genug sitzen müssen!“ Aber es war zu gefährlich, die Kinder auf dem Bahnsteig herum hetzen zu lassen, und sie störten dabei auch die anderen Leute. Petra, Marga, Werner und Manfred erinnerten sich noch wie sie früher auf dem Bahnsteig gestanden und sich zum Abschied geküsst hatten. Max, Margas Vater, war gekommen, um alle abzuholen, und als er seine Tochter vor sich stehen sah, überkam ihn eine riesige Freude, sie so gesund wiederzusehen, und er drückte und küsste sie, bevor er auch alle anderen in seine Arme schloss, besonders die Kinder.

Margas Kinder kannten ihren holländischen Opa ja gar nicht und taten sehr scheu, als sich der fremde alte Mann so aufdringlich zeigte und sie umarmen wollte. Erst als Marga ihnen durch gutes Zureden die Scheu genommen hatte, ließen sie die Umarmung des Opas zu. Max hatte auf dem Bahnhofsvorplatz geparkt, er fuhr immer noch einen Renault, allerdings seit damals den dritten, der moderner ausgestattet war als die Vorgängermodelle, vor allem aber einen stärkeren Motor hatte. Die beiden Essener Familien standen auf den Bahnhofsvorplatz und schauten sich um, sie sahen eine völlig unzerstörte und schöne Stadt vor sich liegen, die etwas Sauberes und Properes ausstrahlte, jeder musste sich bei ihrem Anblick gleich wohlfühlen. Max lud das Gepäck der Reisegruppe in den Kofferraum, und alle zwängten sich in den Wagen, die Kinder nahmen sie auf ihren Schoß. Sie fuhren in die Keizersgracht zu Gerdas und Manfreds Eltern, weil bei ihnen der meiste Platz für alle vorhanden war.

„Und wie geht es Dir so?“, fragte Max Bärbel und Bärbel antwortete:

„Wie soll es mir schon gehen, uns geht es in Deutschland allen schlecht, wobei ich eigentlich nicht groß klagen darf, ich bin gegenüber den meisten anderen noch ganz gut dran!“ Das riesige alte Bürgerhaus, über das Goldschmids in der Keizersgracht verfügten, bot wirklich für alle Raum. Als sie in die Keizersgracht eingebogen waren, parkte Max den Wagen direkt vor Goldschmids Haus, wo sie alle wie ein Empfangskomitee standen und auf sie warteten. Sie strahlten über alle Backen, als die jungen Essener Familien und Bärbel aus Max´ Wagen stiegen und sie sie begrüßen konnten.

Es hatte sich der gesamte Familienclan dort versammelt, das hieß, dass neben den Goldschmids auch Doris, Margas Mutter, die Gerrits, Petras Eltern und Gerda und Siegfried mit ihren Kindern vor dem Goldschmid-Haus aufhielten. Iris und Piet Gerrits nahmen ihren Tochter und ihre Familie in den Arm und freuten sich, dass sie ihren Anhang einmal wiedersehen konnten. Aber auch Gerdas Kinder fremdelten, als die holländische Oma und der holländische Opa ihnen zu nahe kamen. Gerda war mit ihrer Familie zwei Stunden vor den Essenern in Amsterdam eingetroffen. Das Hauptaugenmerk aller Großeltern lag natürlich auf ihren Enkelkindern und die flüchteten sich in die Arme ihrer Mütter, als die Alten auf sie losstürmten. Es dauerte eine Zeit, bis sie auftauten und sich der allgemeinen Begrüßungszeremonie anschlossen, sie hielten sich mit einer Hand aber immer noch am Rockzipfel ihrer Mutter fest. Als sie aber ihre Anfangsfurcht vor den vielen fremden Menschen überwunden hatten, packte sie doch die Neugier, sie liefen an das Grachtenufer und blickten auf die Schiffe, die dort lagen. Das war der Moment, in dem man kein Auge von ihnen lassen durfte, es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn eines der Kinder in die Gracht gefallen wäre. Nach und nach gingen sie ins Haus und allen fiel auf, wie geschmackvoll Agnes ihre und Roberts Bleibe eingerichtet hatte.

Robert war mit Sekt zur Stelle und gab jedem Erwachsenen ein Glas zur Begrüßung, die Kinder bekamen ihre Fläschchen. Agnes hatte auf ihrer Terrasse zwei Tische zusammengeschoben und rief:

„Alle bitte auf die Terrasse, seid herzlich willkommen, und fühlt Euch bei uns wohl!“ Auf den Tischen standen zwei große Schwarzwälder Kirschtorten, die Agnes zusammen mit ihrer Schwester Doris gebacken hatte, sie hatten früher zu Hause schon immer ihrer Mutter dabei geholfen.

„Schwarzwälder Kirschtorte!“, riefen alle, „das ist ja eine tolle Idee von Euch gewesen“, und Marga fügte hinzu:

„Ich weiß gar nicht, wann ich die das letzte Mal gegessen habe!“ Doris, Robert und Max halfen Agnes, alle Sachen herauszutragen und Agnes fragte Bärbel:

„Wie geht es Dir denn in dem zerstörten Deutschland?“ Bärbel, die die ganze Zeit still gewesen war und sich zurückgehalten hatte, erwiderte:

„Ihr macht Euch kein Bild, wie es in Essen aussieht, und wie die Menschen leiden müssen!“ Sie beließ es bei dieser kurzen Antwort und wollte die schöne Stimmung, die sich eingestellt hatte, nicht durch den Hinweis auf ihr zerstörtes Deutschland eintrüben.

„Wir haben uns ja lange nicht gesehen!“, sagte Robert, der sein Leben als Ruheständler genoss und voller Stolz auf seine Enkelkinder blickte:

„Erzählt doch einmal, was ihr so macht und wie es Euch geht!“

Aber in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er mit seiner Aufforderung ein Elend heraufbeschwor, und er korrigierte sich gleich und ergänzte:

„Wir können aber auch später noch darüber sprechen, erst einmal sollt Ihr Euch von der anstrengenden Fahrt ausruhen und Euch wohl fühlen.“ Alle lobten die sehr gut gelungene Schwarzwälder Kirschtorte, und jeder nahm noch ein zweites Stück, in diesem Moment erwies sich die Entscheidung von Agnes, zwei Torten zu backen, als richtig. Für die Kinder war die Torte nichts, nicht nur wegen des Kirschwassers, das sie enthielt, sie bekamen von Agnes Plätzchen mit Schokoladenüberzug, an denen sie ihre helle Freude hatten.

„Ich weiß auch, wer übermorgen Geburtstag hat!“, rief Agnes mit einem Mal und blickte Peter an, der neben Gerda saß und nicht wusste, wie ihm geschah. Doris schlug nach einer Weile vor:

„Wenn Ihr Euch alle genügend ausgeruht habt, könnten wir doch einen kleinen Spaziergang durch die Stadt machen!“ Aber Marga entgegnete sofort:

„Zuerst müssen die Kinder eine Stunde schlafen, danach können wir alle los.“ Die drei Mütter gingen mit ihren Kindern auf die Zimmer, die ihnen von Agnes zugewiesen worden waren und legten die Kinder in die Betten. Das gab zu Anfang ein höllisches Spektakel, als die Kleinen in einer für sie völlig fremden Umgebung und in einem fremden Bett schlafen sollten, aber Petra, Marga und Gerda lasen ihnen Geschichten vor und sangen ihnen Lieder, bis sie die Müdigkeit übermannte, und die Kinder ihre Augen schlossen.

Als die jungen Mütter wieder zu den anderen stießen, sagte sie ihren Männern, dass sie sich beim Überwachen ihrer Kinder abwechseln sollten. Mit einem Mal fragte Bärbel Agnes und Robert:

„Habt Ihr als Deutsche eigentliche irgendwelche Feindseligkeiten seitens Eurer holländischen Mitbürger zu erdulden gehabt?“ Robert wies das weit von sich:

„Dafür leben wir schon zu lange hier, es sind jetzt elf Jahre, dass wir Essen verlassen haben und nach Amsterdam gezogen sind, Agnes und ich sind Holländer geworden und hatten deshalb keine Ressentiments zu befürchten.“ Robert wollte das Gespräch über die deutsche Besatzungszeit in Holland nicht weiter vertiefen, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt, er wusste, dass die Zeit dafür noch kommen würde, vielleicht schon an diesem Abend. Bärbel ließ sich leicht zufriedenstellen und bestand auch nicht darauf, unbedingt mit dem Gespräch fortfahren zu wollen, sie sah ein, dass der Sinn der jungen Familien erst einmal nach etwas anderem stand. Die drei jungen Mütter ließen sich auf ihre Stühle sinken und waren froh, einmal etwas Ruhe von ihren Kindern zu haben, wohl wissend, dass die Ruhe in spätestens einer Stunde wieder vorüber wäre. Marga fragte Doris:

„Woran hast Du denn bei unserem Spaziergang gedacht?“ und Doris antwortete:

„Ich habe an nichts Bestimmtes gedacht, mir schwebte nur eine kleine Runde zum Damrak vor, wir können aber nach Belieben verfahren, und so lange gehen, wie Ihr wollt!“

„Ich denke, wir müssen in erster Linie an die Kinder denken, Gerda hat ihre ja im Kinderwagen, aber Petra und ich haben Kinder, die schon laufen und wir müssen unser Schritttempo deren Schritttempo angleichen!“, meinte Marga. Agnes fuhr dazwischen:

„Lasst und doch einfach loslaufen und sehen wie es klappt, wir können unseren Spaziergang doch jederzeit abbrechen!“ Robert fragte die Männer, wie sie in Deutschland so zurechtkämen und Manfred berichtete von seiner Praxisarbeit:

„Der Patientenstrom reißt nicht ab, bei den zu behandelnden Fällen hat sich aber etwas verändert, ich habe sehr viele TBC-Fälle und bin froh, dass ich mittlerweile Penicillin verabreichen kann, das gut gegen den Tuberkelbazillus hilft, wenn ich abends nach Hause komme, bin ich regelmäßig erschlagen so wie Du früher auch!“ Robert entgegnete:

„Ich weiß noch genau, wie anstrengend der Praxisbetrieb in Bredeney war, hier in Amsterdam ging es deutlich ruhiger zu, ich weiß auch nicht, woran das gelegen hat.“ Werner sagte:

„Ich fahre jeden Morgen nach Düsseldorf zur Universität, und wenn ich so manchen Hungerhaken von Studenten sehe, wird mir ganz anders, aber die Zeiten sind nun einmal schlecht in Deutschland, und den Studenten geht es im Vergleich zur Restbevölkerung doch noch gut.“ Siegfried meinte:

„Gerda und ich müssen schon ganz genau sehen, dass wir zurechtkommen, die Zeiten stehen für Psychotherapeuten schlecht, und wir halten uns mit Nachhilfe und Tutorien über Wasser, aber ich denke, dass sich ab dem nächsten Jahr das Blatt für uns wenden wird, und es uns besser geht.“

„Es ist sicher nicht ganz einfach für Euch als junge Familien, durch die schlimme Zeit zu kommen“, warf Bärbel ein, „aber ich sehe das wie Siegfried, im nächsten Jahr wird Vieles besser werden, mir als alleinstehender Frau mit relativ guter finanzieller Versorgung geht es nicht schlecht, und ich schaue voller Mitleid auf die hungrig aussehenden Kinder so mancher Familie, wenn sie bei mir vorbeikommen, ich gebe ihnen schon mal etwas zu essen.“ Als Manfred von seinem Kontrollgang zu den schlafenden Kindern zurück war, sagte er:

„Ich glaube, dass die Kinder gleich wieder wach werden, ich habe erste Geräusche hören können.“ Sofort standen die Mütter auf und liefen zu ihren Kindern hoch, sie kamen nach kurzer Zeit wieder runter und hatten jeweils ein Kind auf dem Arm, die schon etwas älteren Kinder schleppten sich noch ziemlich müde auf die Terrasse und klammerten sich an ihre Mütter, als sie die vielen Menschen dort sitzen sahen. Vor Verlegenheit nuckelten sie an ihren Daumen, und als Opa Robert ihnen sagte:

„Ihr braucht keine Angst zu haben, ihr könnt ruhig zu uns kommen!“, schmiegten sie sich noch fester an die Beine ihrer Mütter. Es dauerte eine Zeit, bis sie ihre Scheu verloren hatten, und erst gutes Zureden konnte sie dazu bringen, sich an den Tisch zu setzen und etwas zu trinken.

„Da sind wir ja alle wieder beieinander, und wir können gleich unseren Spaziergang machen!“, sagte Doris, und die Kinder sahen sie an, als hätte sie sonst etwas von sich gegeben. Doris hatte zwar Deutsch gesprochen, aber mit starkem holländischen Einschlag, sodass die Kinder sie nicht verstanden, aber sie wussten ohnehin nicht, was es hieß, einen Spaziergang zu machen. Siegfried war neu in der Familienrunde, und er fühlte sich auf Anhieb wohl, er wurde aber auch von allen herzlich aufgenommen. So langsam zogen die Mütter ihre Kinder an und machten sie fertig. Die anderen halfen dabei, die Terrassentische abzuräumen und allmählich begaben sich alle vor die Haustür, wo die Kinder gleich zum Wasser wollten und das in Begleitung ihrer Eltern auch durften. Die Kinder waren hoch aufmerksam und achteten auf alles, das ihr Interesse erregen konnte. Sie merkten gleich, dass vieles anders war bei Oma und Opa. Ganz langsam liefen sie alle zur Herenstraat hoch und bogen dort rechts ab Richtung Stadtzentrum, als sie an dem Haus vorbeikamen, dass Agnes und Robert sich seinerzeit angesehen hatten und Anges sagte:

„Hier wären Robert und ich beinahe eingezogen, wir haben uns damals dieses Haus angesehen, es aber für zu klein befunden, weil Robert seine Praxis mit im Haus haben wollte.“ Gerda entgegnete:

„Da könnt Ihr ja froh sein, dass Ihr Euer schönes Haus in der Keizersgracht genommen habt, das ist wirklich wunderschön, und man kann es mit diesem hier nicht vergleichen!“

Sie liefen über die Herengracht und den Singel, bis sie über den Dirk-van-Hasseltssteg zum Damrak kamen, das war bis dorthin für die Kinder schon ein anständiger Marsch. Sie wandten sich dort nach rechts und kamen zur ehemaligen Börse, die jungen Leute fühlten sich an alte Zeiten zurückerinnert, als sie den Damrak entlang geschlendert und anschließend in den „Bijenkorf“ gegangen waren. Die Mädchen hatten dort gleich die Abteilung für Damenoberbekleidung angesteuert und in den Sachen herumgestöbert.

„Sollen wir nicht alle in den „Bijenkorf“ gehen?“, fragte Petra, sie gab sich die Antwort auf ihre Frage direkt im Anschluss selbst, als sie in die Runde blickte und die geschafften Kinder sah, was sollten sie aber auch alle in dem Kaufhaus? Von den jungen Eltern hatte jeder ein Kind auf dem Arm und trug es den Rest des Weges wieder nach Hause. Sie liefen am Königspalast vorbei in die Raadhuisstraat, überquerten wieder die beiden Grachten und bogen an der Keizersgracht rechts ab, danach waren sie schnell wieder zu Hause. Die Kinder gähnten und schliefen in den Armen der Eltern schon beinahe ein.

„Bevor Eure Kinder sich in die Betten abmelden, sollten sie aber noch etwas essen!“, sagte Agnes zu den jungen Eltern. Sie verschwand mit den Müttern in die Küche und bereitete dort zusammen mit ihnen etwas für die Kinder zu. Die Großen würden einen Grillabend veranstalten, das Grillen war das Unproblematischste, wenn alle etwas essen wollten, und niemand brauchte sich in die Küche zu stellen und aufwändig kochen.

Für die Kinder gab es eine Art Obstbrei mit Haferflocken, den sie gern aßen und der gut sättigte, jedenfalls stopften sie den Brei widerspruchslos in sich hinein, und die Mütter und Väter hatten keine Probleme damit, ihre Kinder zu füttern. Sie saßen noch eine Zeit zusammen, bis das Gähnen der Kinder so stark überhand nahm, dass die Mütter sie sich schnappten und mit ihnen nach oben auf die Zimmer gingen. Dort zogen sie sie aus und legten sie in die Betten, und sie brauchten nicht einmal eine Geschichte zu erzählen. Sie sangen gerade einmal die erste Strophe von „Hänschen klein...“, und die Kinder waren eingeschlafen. Als sie wieder nach unten gegangen waren, hatte Robert schon den Grill aufgebaut und die anderen hatten Agnes dabei geholfen, aus der Küche alles für das Grillen nach draußen zu bringen. Robert steckte das Papier an, das er unter die dünnen Holzspäne gelegt hatte, für die er vorher gesorgt hatte und die im Nu aufloderten und zu knistern anfingen. Kurze Zeit später nahm er den Sack mit der Holzkohle und schüttete daraus etwas auf das Feuer, er achtete darauf, dass er die Flammen nicht erstickte und wartete, bis die Holzkohle gut durchgeglüht war. Erst danach nahm er noch einmal den Holzkohlensack und gab eine ordentliche Portion auf die Glut. Inzwischen stand ein Kartoffelsalat auf dem Tisch, den Agnes und Doris vorbereitet und sich dabei große Mühe gegeben hatten, sie hatten zu den Kartoffeln noch Gurken, Frühlingszwiebeln, Äpfel und Radieschen gefügt und die Majonäse selbst angerührt.

Gerda und Siegfried waren schnell zum Bäcker gelaufen und hatten frisches Baguette gekauft. Es gab noch Senf und Ketchup, das Fleisch hatte Agnes am Vortag bei ihrem Metzer bestellt und am Morgen abgeholt. Robert hatte für die Frauen Wein aufgemacht und den Männern jeweils ein Bier hingestellt, als Petra sagte:

„Ich trinke zu Hause auch schon mal ein Bier, aber wenn Du für uns Wein vorgesehen hast, ist mir das auch recht!“ Plötzlich meldete sich Piet zu Wort, stand auf und erhob sein Glas:

„Liebe deutsche Freunde, so nenne ich Euch trotz aller Schande, die Euer Land über und gebracht hat, aber ich kenne Euch seit früher, und Ihr seid mir ans Herz gewachsen, seid in Holland recht herzlich willkommen und fühlt Euch wohl bei uns!“ Alle hoben ihr Glas und stießen mit Piet an, seine Worte hatten in den Ohren des Besuchs etwas Warmes und Wohltuendes, und sie kamen sehr gut an.

„Werner, Du musst noch einmal hochgehen und bei den Kindern hören, ob sie auch alle schlafen!“, sagte Marga, und Werner ging ohne ein Wort des Widerspruchs nach oben und kam ganz kurze Zeit später wieder zurück.

„Die schlafen alle wie die Murmeltiere“, sagte er und setzte sich wieder zu den anderen. Robert hatte inzwischen für alle ein Stück Fleisch aufgelegt, sie mussten nicht lange warten bis es gar war, und er gab jedem ein Stück auf seinen Teller. Danach stand Robert auf und hielt eine Kurzansprache:

„Ihr Lieben, ich freuen mich zusammen mit den anderen Großeltern über den Besuch unserer Kinder und Enkelkinder, ich weiß, dass Ihr zu Hause eine schlimme Zeit durchstehen müsst, aber Ihr seid noch jung und nicht schlecht gestellt, Ihr werdet die Zeit ohne große Probleme hinter Euch bringen, ich wünsche Euch dafür jedenfalls die nötigen Energiereserven und alles Gute!“ Robert erhob sein Glas und stieß mit allen an, bevor er ausrief:

„Und nun lasst es Euch schmecken!“, und alle aßen mit ziemlichem Hunger von dem guten Fleisch und nahmen von dem köstlichen Kartoffelsalat und dem Baguette. Bärbel meinte:

„Ich fühle mich bei Euch wie im Paradies!“, woraufhin Piet einwarf:

„Das kann ich gut verstehen, wenn Du aus dem zerstörten Deutschland in das intakte Holland gekommen bist!“ Er wollte gerade loslegen und mit einer provokanten Thesen eine Diskussion vom Zaun brechen, aber Iris sah ihn mit drohendem Blick an, und Piet schwieg. Er würde sich das für den späten Abend aufheben, wenn sie mit dem Essen fertig wären. Den anderen war schon klar, dass Piet nichts von seinem alten Habitus eingebüßt hatte, mit dem er seine Provokationen vorbrachte und die Gemüter aller Diskussionsteilnehmer bis zum Kochen hochtreiben konnte. Sie sahen einem Gesprächsabend entgegen, bei dem die Jungen den Alten erzählen sollten, wie es sich in Deutschland unter dem Besatzungsregime lebte.

Als alle zwei Stücke Fleisch gegessen hatten, was für die Frauen ungewöhnlich war, aber sie hatten sehr viel Hunger entwickelt, holte Robert die Schnapsflasche und fragte, wer von den Anwesenden einen Cognac trinken wollte. Bei den jungen Männern regte sich auf seine Frage hin niemand, Schnaps war bei ihnen seit eh und je verpönt. Nur Bärbel und Piet gaben zu verstehen, dass sie gern eine Cognac hätten, und Robert schüttete jedem ein Gläschen voll. Er nahm sich selbst auch einen Cognac, die drei führten ihre Gläschen zum Mund und kippten den Schnaps in eins hinunter.