Margas Leben - Familien unter Hitler (1) - Hans Müller-Jüngst - E-Book

Margas Leben - Familien unter Hitler (1) E-Book

Hans Müller-Jüngst

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Beschreibung

Der Autor hat die historischen Fakten in eine Familiengeschichte eingebunden, um nicht eine bloße historische Abhandlung zu schreiben, von denen es eine unermessliche Fülle gibt. Er möchte so den Versuch unternehmen, die gesellschaftlichen Entwicklungen zwischen den zeitgeschichtlichen Fakten deutlich werden zu lassen und sie auf diese Weise mit Leben füllen, damit sich auch junge Menschen mit dieser für Deutschland so wichtigen Weichenstellung beschäftigen. Im Mittelpunkt des Romans steht das jüdische Mädchen Marga, das mit seiner Familie in Amsterdam lebt und dort zur Schule geht, weil sein Vater nach Amsterdam versetzt worden war. Amsterdam ist somit ein Handlungsort, ein anderer ist Essen in Deutschland, wo Margas Tante Agnes, die Schwester ihrer Mutter, zusammen mit ihrer Familie lebt. Während Margas Vater als leitender Angestellter für eine deutsche Glasfirma in Holland arbeitet und Margas Familie deshalb in guten Verhältnissen lebt, ist Margas Essener Onkel Arzt und deshalb finanziell auch gut gestellt.Gerda und Manfred, Margas Cousine und Cousin, sind Studenten in Göttingen und Marburg. Werner, der Freund von Manfred, der in der Nachbarschaft wohnt, ist der Geliebte von Marga, Manfred bändelt mit Margas Freundin Petra an. Gerda, eigentlich das fünfte Rad am Wagen, ist aber eine eigenständige Persönlichkeit und fühlt sich durch die Pärchen in keiner Weise in ihrer Lebensführung beeinträchtigt. Werners Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes ins gesellschaftliche Abseits abzudriften drohte, wird mit Margas Hilfe wieder eine attraktive Frau und sie ist wie auch Margas Tante Agnes politisch sehr engagiert. Sowohl in Margas als auch in der Essener Familie werden die sich im Deutschen Reich im Hinblick auf die Etablierung einer Führerdiktatur verdichtenden Ereignisse diskutiert.

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Seitenzahl: 355

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Hans Müller-Jüngst

Margas Leben - Familien unter Hitler (1)

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Marga fährt nach Essen

Im Zug nach Amsterdam

Agnes und Robert in Amsterdam

Marga macht ihr Abitur

In Zandvoort

Marga und Petra schreiben sich ein

Werner gerät an die SA

Die Metamorphose von Frau Theißen

Das Unwesen der SA

Impressum neobooks

Marga fährt nach Essen

Marga war ein 17-jähriges Mädchen, das zusammen mit seinen Eltern in Amsterdam lebte und dort die Höhere Schule besuchte, sie war schwarzhaarig und trug rechts und links lange Zöpfe. Ihre Figur war schlank, Marga war groß und sicher ein hübsches Mädchen, sie war von vielen begehrt, weil sie obendrein offen und natürlich und nicht so zickig war wie viele ihrer Altersgenossinnen. Es war im Frühjahr 1933, Marga hatte gerade Osterferien und saß in einem Zug von Amsterdam nach Essen, wo sie Tante Agnes und Onkel Robert besuchen wollte, Tante Agnes war die Schwester ihrer Mutter und herzensgut.

Marga mochte sie sehr und freute sich schon auf den Besuch, ihre Tante wohnte in Essen-Bredeney, gehörte also zu den Wohlhabenderen, denn im Essener Süden wohnte nur, wer Geld hatte, der Norden von Essen war Zechen-, Industrie- und Arbeitergegend. Der Dampfzug von Amsterdam näherte sich nach zweistündiger Fahrt der deutschen Grenze bei Arnheim und hielt an, um die Zöllner aufzunehmen, die die Reisenden kontrollierten und das zweimal: einmal stiegen die holländischen Zöllner ein und überprüften schnell die Papiere und das Gepäck, sie schauten, ob die Reisenden nicht unberechtigterweise Waren ausführten, die unter Ausfuhrverbot standen, oder ob sie zu viele Waren ausführten, und ein anderes Mal betraten deutsche Zollbeamte den Zug, die schon viel strenger und bestimmter auftraten und sich die Gepäckstücke, Papiere und mitgeführten Waren der Reisenden ganz genau ansahen. Nachdem der holländische Zoll seine Arbeit verrichtet hatte, verließ er den Zug wieder und nach einer Weile wurde die Tür zu Margas Abteil aufgerissen und ein deutscher Schäferhund stürmte auf sie zu, er wurde von einem deutsche Zollbeamten an einer Leine geführt und der schrie nur:

„Pässe!“ Marga erschrak wegen des Hundes und bat den Zöllner, doch seinen Hund zurückzunehmen, weil sie sich vor ihm fürchtete. Sie sprach ein sehr gutes Deutsch, weil sie bis vor acht Jahren mit ihren Eltern noch in Essen gelebt hatte und erst danach wegen einer Versetzung ihres Vaters mit ihren Eltern nach Amsterdam gezogen war. Ihr Vater war leitender Angestellter bei der Firma Treibel-Glas und sollte sie in Holland vertreten. Der Zollbeamte entgegnete Marga:

„Der Hund beißt ja nicht, und wenn Sie nichts zu verbergen haben und er nichts findet, brauchen Sie sich auch nicht zu fürchten!“ Er überprüfte Margas Ausweis und las abschätzig ihren Nachnamen vor, wobei er die Silben betont auseinanderzog:

„Ro-zen-baum, also jüdisch, was?“

„Ja jüdisch!“, rief Marga trotzig.

„Mit Euch Juden werden wir irgendwann noch aufräumen!“, setzte der Zollbeamte entgegen und händigte Marga ihren Ausweis wieder aus. Auf eine Gepäckuntersuchung verzichtete er, Marga hatte auch nur eine kleine Reisetasche dabei.

„Wohin soll die Reise denn gehen?“, fragte der Zöllner mit spöttischem Unterton in der Stimme und Marga antwortete:

„Nach Essen!“ Wortlos verließ der Zollbeamte wieder Margas Abteil und knallte die Tür hinter sich zu. Als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, hatte Marga noch eine ganze Zeit lang den Geruch von Rasierseife und Stiefelfett in der Nase, den der deutsche Zollbeamte in ihrem Abteil hinterlassen hatte. Seine Worte klangen Marga noch lange im Ohr, was er wohl damit gemeint hatte, als er sagte: „Mit Euch Juden werden wir irgendwann noch aufräumen!“? Der Zug trudelte langsam nach Essen und als er in den Hauptbahnhof eingelaufen war, stand Tante Agnes auf dem Bahnsteig und wartete dort auf ihre Nichte.

Marga sprang auf den Bahnsteig, ihre rote Reisetasche in der Hand, sie sah ihre Tante sofort und rannte auf sie zu, ihre Zöpfe flogen durch die Luft und ihr Mantel flatterte im Wind. Tante Agnes sah Marga erst im letzten Augenblick, sie öffnete ihre Arme und Marga fiel hinein, sie umarmten sich beide sehr herzlich, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. Aber es war auch schon zwei Jahre her, dass Agnes mit ihrem Mann Robert in Amsterdam zu Besuch bei den Rozenbaums gewesen war.

„Meine kleine Marga“, rief Agnes über den Bahnsteig, „wie bist Du groß geworden!“ Marga hatte es eigentlich immer schon gehasst, wenn die Erwachsenen ihr gegenüber solche Sprüche von sich gaben, besonders den, den ihre Tante gerade von sich gegeben hatte, aber der von ihr so geliebten Tante sah sie das nach, sie konnte zu ihr sagen, was sie wollte. Sie drückten sich und gaben sich gegenseitig einen Kuss auf die Wange.

„Wie geht es Dir denn in Essen?“, fragte Marga sie, und Agnes antwortete:

„Uns geht es sehr gut! - Und wie geht es Euch in Amsterdam?“

„Auch gut.“, antwortete Marga. Sie hakten einander unter und verließen den Hauptbahnhof, um gegenüber dem „Hotel Handelshof“ in einen Bus zu steigen, der sie nach Bredeney bringen würde. Der Bus fuhr bis Werden, sie stiegen am Bredeneyer Kreuz aus und liefen die dreihundert Meter bis zum Haus der Goldschmids.

Robert war Allgemeinmediziner und noch in seiner Praxis, als die beiden Frauen nach Hause kamen, die Mäntel auszogen und sich einen Kaffee kochten.

„Ich habe für Dich einen Kuchen gebacken“, sagte Agnes und Marga freute sich sehr, als sie sah, dass es ihren Lieblingskuchen gab, Schwarzwälder Kirschtorte, die sie in Holland doch sehr vermisste. Es nicht so, dass es in Amsterdam nicht auch guten Kuchen zu kaufen gegeben hätte, es gab aber keine Schwarzwälder Kirschtorte und der holländische Kuchen war durch und durch süß und in der Regel auch noch mit Zuckerguss überzogen, da musste man schon großer Zuckerliebhaber sein.

„Du hast also meinen Lieblingskuchen nicht vergessen!“, freute sich Marga, in Amsterdam machte ihre Mutter hin und wieder schon mal eine Schwarzwälder Kirschtorte, das passierte aber höchstens zweimal im Jahr zu den großen Feiertagen Weihnachten, Pfingsten und Ostern. Sie wusste es aber, die Torte fachgerecht zu machen und vergaß auch nicht den Schuss Kirschwasser, der unbedingt in die Füllung gehörte und der Torte den typischen Geschmack gab. Auch Margas Vater war ein großer Liebhaber der Schwarzwälder Kirschtorte und er beklagte den Umstand, dass man sie in Amsterdam nicht kaufen konnte. Agnes setzte sich mit ihrer Nichte an den Küchentisch und sie erzählten sich, was sie in den vergangenen zwei Jahren erlebt hatten, beide hatten sie eine Tasse Kaffee und ein Stück Torte vor sich stehen.

„Onkel Robert hat seine Praxis erweitert und einen Kollegen zu sich aufgenommen, weil er die immer weiter ausufernde Arbeit allein nicht mehr bewältigen konnte“, berichtete Agnes Marga, „seitdem kommt er abends nicht mehr so geschafft und abgekämpft nach Hause.“ Die Entscheidung, jemanden in seine Praxis zu nehmen, der ihm ein Stück Arbeit abnahm, ist ihm nicht leichtgefallen, er ist im Nachhinein aber froh, das getan zu haben.“ Marga sah sich in der Wohnung um und fand alles mehr oder weniger unverändert, im Wohnzimmer standen immer noch das große Radio und das Grammophon, daneben das Regal mit den vielen Schellackplatten, Marga erinnerte sich noch an früher, wenn ihr Onkel eine Beethoven-Symphonie aufgelegt hatte und mit seinem ganzen Körper mitgegangen war. Besonders bei dem Da-Da-Da-Daaa der Fünften war er immer völlig weggetreten und wurde nur sehr ungern bei dem Hörerlebnis gestört. Es gab die schwere Ledergarnitur, die sicher noch ein ganzes Leben halten würde, die Agnes und Robert schon seit ihrer Eheschließung besaßen, und auf der Marga schon sooft gesessen hatte. Auch in der Küche hat sich praktisch nichts verändert, Dreh- und Angelpunkt war hier der große Gasherd, an dem Agnes herrliche Gerichte bereiten konnte. Die Küche hatte beträchtliche Ausmaße und man konnte gemütlich in ihr sitzen.

„Und was hat sich bei Dir in den letzten beiden Jahren getan, hast Du einen Freund?“, fragte Agnes ihre Nichte frei heraus und Marga ertappte sich dabei, wie sie bei dieser Frage ein wenig errötete, sie verneinte Tante Agnes´ Frage. Marga hatte einmal etwas mit Jaap Moelders von ihrer Schule, das war aber nur ein kurzes Geplänkel, das vielleicht ein halbes Jahr gedauert hat, und das Marga schließlich wieder beendete:

„Im Moment bin ich solo“, sagte Marga mit fester Stimme. Um 18.30 h kam Onkel Robert nach Hause und umarmte gleich seine Nichte:

„Ich freue mich, Dich einmal wieder bei uns begrüßen zu dürfen“, und er warf einen Blick auf Marga, als wollte er ihre Güteklasse einschätzen und Marga nahm das wahr. Robert setzte sich zu den beiden Damen, „wie lange ist es her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen haben?“, fragte er und Marga antwortete:

„Zwei Jahre“, sie fand, dass ihr Onkel müde aussah und sagte ihm:

„Du hast sicher einen anstrengenden Tag gehabt!“, aber Robert meinte:

„Das war ein Tag wie jeder andere, der Patientenstrom reißt nicht ab, und jeder will eine Sonderbehandlung haben.“ Dr. Goldschmid war in Bredeney ein angesehener Arzt und die Leute ließen sich gern von ihm behandeln, er verstand es, ihnen das Gefühl zu geben, dass er sich um sie ganz besonders kümmerte und das ließ ihn in der Wertschätzung aller steigen.

„Wenn Ihr wollt, kann ich Euch Morgen mit in die Praxis nehmen und Euch die neuen Räume zeigen“, schlug Robert vor.

„Ja gerne, ich würde sehr gerne einmal Deine Praxis sehen!“, rief Marga.

„Danach fahren wir beide in die Stadt und gehen Kaffee trinken“, sagte Agnes und Marga nickte nur, sie war einverstanden. Sie aßen gemeinsam zu Abend, Agnes und Marga hatten vorher den Tisch vorbereitet, zu Ehren des Besuchs aus Amsterdam hatte Agnes einen Kartoffelsalat gemacht und Würstchen dazu gekauft, sie wusste noch von früher, dass Marga das sehr gerne aß.

„Ich fühle mich bei Euch wie im Paradies“, meinte Marga, „neben meiner Lieblingstorte gibt es auch noch meine Lieblingsspeise“ und sie lachte Tante Agnes dabei an. Agnes wusste den Kartoffelsalat auf eine sehr schmackhafte Weise zuzubereiten, sie machte die Majonäse selbst und fügte gebratenen Speck und Würfel von Gewürzgurken hinzu.

„Der schmeckt aber auch wirklich wieder gut“, meinte Robert zu seiner Frau und Agnes nahm das Lob mit Stolz zur Kenntnis. Robert Goldschmid war in Essen geboren worden und hatte am Helmholtz-Gymnasium sein Abitur gemacht, anschließend hatte er in Marburg Medizin studiert. Während seines praktischen Jahres am Krupp-Krankenhaus hatte er Agnes kennen gelernt, die dort auf der Inneren Abteilung ihren Dienst als Stationsschwester versah, sie waren beide auf Anhieb ineinander verliebt.

Sie trafen sich in der Folgezeit oft nach Feierabend, um ins Kino oder tanzen zu gehen, oder sie fuhren gemeinsam nach Kupferdreh. Nach einem Jahr des Verlobtseins heirateten sie, nachdem ihre Eltern ihr Einverständnis gegeben hatten. Robert bekam schnell seine Praxisräume in Bredeney und fühlte sich sofort wohl dort, auch ihre Wohnung hatten sie in der Zeit bezogen, sie war eigentlich für die beiden zu groß, als aber ihre Tochter und ihr Sohn bei ihnen gelebt hatten, brauchten sie den Platz. Jetzt studierte der Sohn Manfred in Marburg Medizin, wie der Vater das getan hatte und die Tochter Gerda Psycholgie in Göttingen, sie kamen beide sehr unregelmäßig nach Hause, meistens zum Semesterende. So konnte Marga fürs Erste im Zimmer von Gerda schlafen, wenn Gerda über Ostern nach Hause käme, würde eine Matratze auf den Boden gelegt. Robert mochte seine Nichte sehr, wie auch Agnes sie mochte, Marga war aufgeweckt und intelligent und sie sah sehr gut aus. Robert hatte seiner Schwägerin immer gesagt, dass sie ein Auge auf Marga haben müsste, damit sie sich nicht eines Tages auf irgendeinen dahergelaufenen Jungen einließ, aber dazu war sie damals noch zu jung. Robert war jetzt fünfundfünfzig Jahre alt wie auch Agnes, er hatte ergrautes Haar, das in einem Kranz um seinen Kopf stand und er war sehr groß, das hieß, er war über 1.80 m.

Was er nicht hatte, was aber viele Männer in seinem Alter hatten, war ein Bauch, er war athletisch gebaut und hatte früher viel Sport getrieben, meistens Leichtathletik, er war im Alter von siebzehn Jahren einmal die hundert Meter am Gymnasium in der Fabelzeit von 10.7 Sekunden gelaufen. Agnes war als junges Mädchen und als junge Frau sehr hübsch, und sie sah auch mit Mitte fünfzig noch sehr gut aus, wenngleich ihr Körper nach der Geburt zweier Kinder an Fülle zugelegt hatte. Sie hatte dunkles mittellanges Haar, das an den Spitzen und am Scheitel ergraute, was sie aber nicht grämte.

„Was macht es für einen Sinn, sich über solche Alterserscheinungen zu ärgern und sie mit Haarfärbemitteln zu übertünchen?“, pflegte sie zu diesem Thema zu sagen. Aber Agnes machte durchaus noch etwas her, sie hatte eine ganz gute Figur und ihre Gesichtszüge waren weich, sie war immer freundlich. Eines war an ihr allerdings bemerkenswert, das war der häufige Gebrauch der Floskel „nicht wahr?“, wenn sie einen Satz beendet hatte, so als wäre sie sich unsicher und müsste sich die Richtigkeit ihrer Aussage bestätigen lassen. Leute, die sie nicht kannten, mochten sie deshalb für affektiert halten, aber zumindest Marga und Robert wussten damit umzugehen und ihre Kinder auch, sie hatten sich daran gewöhnt.

Roberts Eigenart war es, wenn er etwas aussprach, das er für wichtig hielt, seine Hände wie zum Gebet zu falten, die Arme dabei auszustrecken und die Hände nach Innen zu drehen, danach löste er sie wieder. Auch das musste Menschen, die Robert nicht kannten, affektiert vorkommen, andere hatten sich aber längst daran gewöhnt. Obwohl die Goldschmids Juden waren, übten sie ihre Religion nicht wie orthodoxe Juden aus, sie gingen hin und wieder in die Synagoge am Porscheplatz, mehr taten sie aber nicht zur Einhaltung der religiösen Gebote, auch Manfred und Gerda kümmerten sich nicht um ihre jüdische Religionszugehörigkeit. Bei den Rozenbaums in Amsterdam sah es ganz ähnlich aus, Amsterdam hatte eine beachtlich große jüdische Gemeinde mit vielen orthodoxen Gemeindemitgliedern. Rozenbaums befolgten die strengen religiösen Vorgaben aber genauso wenig, sie aßen koscher, das war aber auch alles, bei den Goldschmids in Essen tat man nicht einmal das. Marga wusste zwar, dass sie eine Jüdin war, das spielte aber in der Wahrnehmung ihres Umfeldes und in der Pflege ihrer Freundschaften, die sie über ihre Schule aufgebaut hatte, überhaupt keine Rolle, musste es auch nicht. Allerdings war Holland und gerade Amsterdam in diesen Dingen liberaler als Deutschland, wo der Antisemitismus eine Tradition hatte. Agnes, Marga und Robert saßen am Abend noch zusammen und beredeten alles Mögliche, sie sprachen auch über die alten Zeiten, als die Rozenbaums noch in Essen wohnten, und man sich beinahe an jedem Sonntag traf, um miteinander Kaffee zu trinken oder spazieren zu gehen. Oft gingen sie zur „Zornigen Ameise“ oder in den Stadtwald, die Kinder genossen diese Ausflüge immer, weil es am Ende für sie ein Eis oder einen Apfelsaft gab. Marga sagte:

„Wir sollten uns einmal wieder als Familie treffen, das haben wir schon so lange nicht mehr getan, wir müssen uns nur darauf verständigen, ob in Amsterdam oder in Essen.“ Agnes und Robert stimmten zu:

„Ich finde, dass das eine gute Idee ist, und wir sollten ein Familientreffen nicht zu lange vor uns herschieben, nicht wahr!“, meinte Agnes. Robert entgegnete:

„Von mir aus können wir uns ruhig einmal wieder in Essen treffen so wie früher, wir würden Euch alle in den Kinderzimmern unterbringen und wenn Gerda und Manfred auch dabei sind, werden wir schon irgendetwas finden, wo ihr bei uns schlafen könnt, wir würden gut essen und einen unserer alten Spaziergänge machen.“

„Ich werde, wenn ich wieder zu Hause bin, meinen Eltern diesen Vorschlag unterbreiten, sicher sind sie einverstanden, denn so ein großer Umstand ist die Zugfahrt ja auch nicht.“ Robert verließ am Morgen um 7.00 h das Haus, weil er seine Praxis um 8.00 h öffnete. Er fuhr nur drei Minuten mit dem Fahrrad dorthin, er traf aber immer vor Arbeitsbeginn seinen neuen Kollegen und besprach sich mit ihm.

Der Name des Kollegen war David Zuckerberg, er war ebenfalls Jude, das spielte aber bei seiner Einstellung keine Rolle, es ergab sich eher zufällig so, ohne dass Robert auf seine Religionszugehörigkeit geachtet hätte. Gegen 10.00 h kamen Agnes und Marga in die Praxis, die Sprechstundenhilfe kannte die Frau ihre Chefs natürlich und sagte:

„Guten Morgen Frau Goldschmid, bitte warten sie einen Moment, ich will den Doktor von ihrer Ankunft unterrichten, damit er sich für sie freimachen kann.“

Sie verschwand kurz im Praxisraum und kam gleich darauf wieder zurück:

„Der Doktor behandelt noch gerade den Patienten, den er hat, danach will er gleich zu Ihnen kommen.“ Eine Weile später öffnete sich die Praxistür und Dr. Goldschmid kam heraus, er freute sich, seine Frau und Marga in seiner Praxis zu sehen:

„Schön, dass Ihr gekommen seid, ich lasse uns gleich einen Kaffee bringen“, und er bat seine Sprechstundenhilfe, sich darum zu kümmern. Er ging mit seiner Frau und Marga in seinen Praxisraum und ließ ihretwegen die Patienten einfach warten, was er natürlich nicht beliebig lange machen konnte, für eine Tasse Kaffee und einen kurzen Praxisrundgang war das aber schon möglich. Bis der Kaffee kam, zeigte er den beiden Frauen die erweiterten Praxisräume, er klopfte bei seinem Kollegen Dr. Zuckerberg, der in der Praxiserweiterung seine Räume und gerade einen Patienten hatte.

„Das ist ja toll geworden“, sagte Agnes, „dadurch hat die gesamte Praxis gewonnen!“ Die beiden Frauen begrüßten den neuen Kollegen von Robert, der vielleicht dreißig Jahre alt und Berufsanfänger war, er freute sich über den Damenbesuch.

„Ich habe in Marburg Medizin studiert wie Ihr Mann“ sagte Dr. Zuckerberg, „ich bin froh, gleich eine Stelle erhalten zu haben, meine Frau und ich haben auch direkt eine Wohnung bekommen.“

„Das ist ja fein“, entgegnete Agnes, „wollen sie denn auch einmal Kinder haben?“ Dr. Zuckerberg zeigte sich einerseits überrascht über eine solche doch sehr direkt Frage, er erklärte aber:

„Mein Frau und ich haben natürlich darüber nachgedacht und vielleicht ist es auch schon so weit, sie hat in der letzten Woche angedeutet, dass sie möglicherweise schwanger ist.“ Agnes und Marga sahen sich weiter um, sie sagten aber kurze Zeit später, dass sie den Betrieb nicht weiter stören wollten, sie tranken noch ihren Kaffee in der Praxis von Robert und Agnes sagte:

„Marga und ich wollen nicht weiter stören und fahren in die Stadt.“ Die beiden Frauen standen auf und verließen die Praxis, um zur Bushaltestelle zu gehen. Sie kamen an einer Litfaßsäule vorbei, an der noch die Plakate der Reichstagswahl vom 5. März. hingen, auch das der NSDAP, es hing dort neben vielen anderen Plakaten von Parteien, die sich auch um Sitze im Reichstag bemüht hatten wie Z, DNVP, DVP, SPD, KPD und andere. Marga warf einen flüchtigen Blick auf die Wahlplakate und sah auf dem Plakat der NSDAP das Konterfei Hitlers, der seit dem 30. Januar der neue Reichskanzler war.

Die beiden Frauen stiegen in den Trolleybus, der sie von Bredeney zum Porscheplatz brachte, wo sie wieder ausstiegen und von dort zum Stadtzentrum auf die Kettwiger Straße liefen. Sie gingen den Zwölfling hoch und kamen neben der „Lichtburg“ auf die Haupteinkaufsstraße.

„Sollen wir durch die Kettwiger und Limbecker Straße bummeln oder gleich Kaffee trinken gehen?“, fragte Agnes ihre Nichte und Marga überlegte kurz, bevor sie antwortete:

„Lass uns doch zuerst ein wenig an den Schaufenstern vorbeigehen!“ Also zogen sie los und schauten sich die in den Geschäften ausgestellten Waren an und bei „Loosen“, dem alten jüdischen Bekleidungsgeschäft, blieb Marga plötzlich stehen und zeigte Tante Agnes die Bluse, die ihr aufgefallen war. Sie gingen in das Bekleidungshaus und ließen sich die Bluse zeigen, Marga nahm sie, ging mit ihr in die Umkleidekabine und zog sie über. Sie passte ihr auf Anhieb und Marga drehte sich vor dem Spiegel, um die Bluse von allen Seiten sehen zu können. Schließlich lief sie zu Tante Agnes und zeigte ihr die Bluse, Agnes meinte:

„Na, die Bluse steht Dir aber ganz besonders gut, Du solltest sie unbedingt nehmen, ich werde sie für Dich kaufen, damit Du eine Erinnerung an unseren gemeinsamen schönen Einkaufsbummel in Essen hast!“

Sie liefen zur Kasse und Agnes zückte ihr Portmonee, es war nicht so, dass sie sich als die große Gönnerin zeigen wollte, sie ließ Marga aber spüren, dass sie diejenige war, die das Geld besaß.

„Vielen Dank für die schöne Bluse, Tante Agnes“, rief Marga voller Freude und ließ sich die Bluse in Papier einwickeln. Anschließend liefen die beiden noch die Limbecker Straße entlang und kehrten bei Althoff wieder um, sie gingen in die Kettwiger Straße zurück und Agnes steuerte zielstrebig das „Cafe Overbeck“ an.

„Jetzt haben wir uns aber eine Tasse Kaffee und ein Stück Torte verdient, nicht wahr!“, sagte Agnes und Marga gab ihr Recht, sie freute sich schon auf Kaffee und Kuchen. Als sie das altehrwürdige Cafe betraten, wurden sie freundlich begrüßt und man zeigte ihnen im ersten Stock einen freien Tisch. Das Cafe war sehr gut besucht, es saßen viele alte Damen an den Tischen, die alle ihre Hüte aufbehalten hatten und riesige Tortenstücke in sich hineinschoben. Agnes und Marga bestellten sich jede eine Tasse Kaffee und ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Als beides vor sie hingestellt worden war, probierten sie zuerst den Kuchen und obwohl er Marga ausgezeichnet schmeckte, sagte sie zu ihrer Tante:

„Im Vergleich zu Deiner Torte schmeckte diese hier bei Weitem nicht so gut“, was Agnes gern hörte, was sie aber nicht davon abhielt, ihre Torte mit Genuss zu vertilgen.

Marga blühte in dem Cafe neben ihrer Tante so richtig auf und lächelte ihr zu, man unterhielt sich leise an den Tischen, sodass man die anderen nicht störte.

„Da hat Deutschland ja seit zwei Monaten einen neuen Reichskanzler!“, sagte Marga mit einem Mal und ihre Tante blickte sie an, als hätte sie ein verbotenes Thema angerissen.

„Ja“, antwortete Agnes, „aber der ist doch nur eine Marionette in den Händen der Schwerindustrie und der Banken!“ Marga fragte nach:

„Was meinst Du damit?“ und Agnes führte aus:

„Die reichen Industriellen und Bankiers machen mit ihm, was sie wollen und setzen ihn für ihre Zwecke ein, damit er auch immer so handelt, wie sie das für richtig halten und wie es ihren Interessen am besten dient.“ Marga wunderte sich über die profunden Kenntnisse ihrer Tante, was die aktuelle Politik betraf und fragte sie:

„Woher weißt Du das alles so genau?“ Agnes antwortete:

„Man muss doch nur die Zeitung lesen und Augen und Ohren offen halten, so bekommt man alles mit, worauf es ankommt, nicht wahr!“ Als ein älteres Ehepaar das Cafe betrat, meinte Agnes, dass der Mann aussähe wie Hindenburg, der amtierende Reichspräsident, der Hitler zum Reichskanzler ernannt hat.

„Aber warum hat der denn eine Marionette in das Amt gehievt, wie Du gesagt hast?“, fragte Marga und Agnes antwortete, dass es nach dem letzten demokratisch gewählten Reichskanzler Hermann Müller eine Reihe von Kanzlern gegeben hatte, die per Notverordnung regiert hatten, Präsidialregierungen vorstanden und letztlich gescheitert waren.

„Ich denke, dass Hindenburg über achtzig Jahre alt war, als er Hitler in das Amt des Reichskanzlers einsetzte und die Nase voll hatte von unfähigen Regierungen, der Feldmarschall setzte den Gefreiten ein, der Hitler im Ersten Weltkrieg gewesen war, Hindenburg hatte erfolgreich gegen die Russen in der Schlacht bei Tannenberg gekämpft, was in den Augen der meisten Deutschen zum Mythos wurde, ich war damals knapp vierzig Jahre alt und habe das alles hautnah miterlebt wie sich Jubel in der gesamten Bevölkerung breitmachte und wie alle Hindenburg hochleben ließen.“ Marga war fasziniert davon, wie Tante Agnes ihr das alles erzählte, Marga war ein sehr geschichtsinteressierter Mensch und stand in ihrer Schule 10 (in Deutschland wie sehr gut) in dem Fach. Was ihre Tante ihr von der Zeitgeschichte zu erzählen wusste, fand sie toll und sie war überzeugt davon, dass dazu nicht Viele in der Lage waren.

„Nach dem Tod von Friedrich Ebert 1925, der der erste Reichspräsident gewesen war, wurde Hindenburg vom Volk zum Reichspräsidenten gewählt und sieben Jahre später, 1932, im Amt bestätigt“, fuhr Agnes fort, „er war für viele Deutschen der Ersatzkaiser, denn die Demokratie, die nach dem verlorenen Krieg eingeführt worden war, und in deren Folge der deutsche Kaiser Wilhelm II. nach Holland emigrierte, war längst nicht im Volk verankert, Opa Hindenburg wurde der Reichspräsident von vielen Deutschen liebevoll genannt.“ Da saßen sie bei „Cafe Overbeck“ auf der Kettwiger Straße und Tante Agnes hielt eine Geschichtsstunde, sie fand in ihrer Nichte eine wissbegierige Zuhörerin und fühlte sich durch sie in ihren Erzähldrang nur noch bestärkt. Sie hielt ihre Stimme dabei ein wenig bedeckt, um nicht die Aufmerksamkeit des gesamten Lokals auf sich zu ziehen, sie sprach aber dennoch so deutlich, dass Marga sie gut verstehen konnte und auch den leicht oberlehrerhaften Tonfall mitbekam, aber der machte Marga nichts aus, den kannte sie ja aus ihrer Schule, wo ihr Geschichtslehrer sich auch darin gefiel, dozierend aufzutreten. Überhaupt erinnerte Marga Tante Agnes in Vielem an ihren Geschichtslehrer, sie erschien bestimmend, aber nicht niedermachend, sie belehrte, ja und diese Art in ihr mochte den einen oder anderen abschrecken, Marga kam aber damit zurecht. Und Agnes war noch nicht fertig mit der Berichterstattung über das politische Zeitgeschehen, da waren noch zwei wichtige Ereignisse, die sie besonders hervorheben wollte:

„Vor vier Wochen hatte der Reichstag in Berlin gebrannt, man hatte in der Folge den Verdacht auf die Kommunisten gelenkt und einen holländischen Kommunisten mit Namen Marinus von der Lubbe verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Man hat die kommunistischen Mandate vor der Reichtagswahl vom 5. März kassiert und alle politischen Kräfte der linken Parteien in ihrem Wahlkampf stark behindert, um so beschämender musste eigentlich das Wahlergebnis für die NSDAP erscheinen, musste sie doch eigentlich mit der absoluten Mehrheit rechnen können, sie erhielt aber nur 44% der Stimmen.“ Marga fragte nach.

„Warum haben die Nationalsozialisten den Verdacht beim Reichstagsbrand auf die Kommunisten gelenkt?“ und Agnes antwortete erheitert:

„Weil die Kommunisten die Erzfeinde der Nazis waren, und denen die Gelegenheit gerade recht kam, sie aus dem Reichstag zu jagen. Von einem sehr wichtigen Ereignis, das sich erst in den letzten Tagen abgespielt hat, erzähle ich Dir, wenn wir wieder zu Hause sind.“ Sie gab der Kellnerin ein Zeichen, dass sie bezahlen wollte, anschließend verließen sie das Cafe und liefen zum Hauptbahnhof hoch, um dort in den Trolleybus nach Bredeney zu steigen. Als sie das Haus der Goldschmids betreten hatten, ging Agnes mit ihrer Nichte gleich in die Küche, stellte für Marga und sich ein Glas Wasser auf den Küchentisch und setzte sich mit ihr daran.

„Was soll ich denn heute kochen?“, fragte Agnes und Marga antwortete, dass ihr das völlig egal wäre und sie keine Antipathien gegen bestimmte Gerichte hätte.

„Wenn Du mich aber so direkt fragst, möchte ich Schnitzel mit Kartoffeln und Salat essen, die Schnitzel haben mir immer schon sehr gut bei Dir geschmeckt!“, rief sie und Agnes registrierte ihren Wunsch und wollte gleich mit Marga zum Metzger gehen und dort fünf schöne Schnitzel kaufen. Sie tranken beide ihr Glas Sprudel, bevor sie aufbrachen und Schnitzel und Salat kauften.

„Du hilfst mir doch beim Kochen?“, fragte Agnes und Marga sagte, dass sie sich um den Salat kümmern wollte. Als sie wieder zu Hause waren und jede von ihnen sich ihrem Anteil am Kochen widmete, fing Agnes an, vom „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ zu erzählen, das auch Ermächtigungsgesetz genannt wurde:

„Hitler hatte seit seiner Amtsübernahme keinen Hehl daraus gemacht, dass er die gesamte Staatsgewalt auf seine Person vereinigen wollte und mit Demokratie nichts am Hut hatte, vor zehn Tagen schaffte er es, ein Gesetz durch den Reichstag zu bringen, das ihm genau diese Machtvollkommenheit zuwachsen ließ, der 23. März 1933 war der Tag, an dem die Gleichschaltung von Volk und Staat Gesetz wurde.“ Marga wusch den Salat und rupfte anschließend die Blätter ab, sie hörte bei dieser Beschäftigung aufmerksam zu, sie gab die Blätter in eine Schüssel.„Was meinst Du mit Gleichschaltung?“, fragte sie die Tante und bevor Agnes erklärte, was man unter Gleichschaltung verstand, gab sie ein Ei in eine kleine Schüssel und zerschlug es mit etwas Paniermehl.

„Gleichschaltung ist eigentlich ein Begriff aus der Elektrizitätslehre, er beschreibt einen Zustand, in dem alles in die gleiche Richtung schwingt und es nichts Andersartiges gibt. Bezogen auf Staat und Gesellschaft bedeutet das, dass es innerhalb der Gesellschaft nur Kräfte gibt, die in die gleiche Richtung zeigen und die Schwingungsrichtung wird von der Staatsführung vorgegeben.“ Marga überlegte und ließ sich ein solches Gesetz durch den Kopf gehen, sie hatte im Physikunterricht von Gleichschaltung gehört und erinnerte sich, dass alle Elektronen in die gleiche Richtung schwangen. Wenn man das auf die Gesellschaft übertrüge, wäre das in ihren Augen furchtbar, alle verhielten sich wie die Lemminge, niemand wagte es, aus der Strömungsrichtung auszubrechen und den Versuch zu unternehmen, seine eigenen individuellen Interessen zu verfolgen.

„Aber dann braucht es ja gar keine politischen Parteien mehr zu geben!“, rief Marga verwundert aus und Agnes gab ihr Recht:

„Die Parteien sind mit dem Ermächtigungsgesetz de facto abgeschafft, die Gesetzgebung geht auf den Reichskanzler über und man fragt sich, warum sich der Reichstag mit der Mehrheit seiner Stimmen quasi selbst abgeschafft hat!“

„Die Frage stelle ich mir auch“, entgegnete Marga und begann, eine Salatsoße zuzubereiten, sie nahm dazu Essig, Öl, Salz, Pfeffer und Senf und goss sie über den Salat.

Und auch zu diesem relativ komplizierten und für den Normalbürger nur schwer zu verstehenden Sachverhalt gab Agnes die nötigen Erklärungen:

„Das Gesetz musste, um durch den Reichstag zu kommen, mit mindestens zwei Dritteln aller Stimmen beschlossen werden, weil es ein verfassungsänderndes Gesetz war. Um es zu boykottieren, hätte es theoretisch ausgereicht, wenn die Abgeordneten der Oppositionsparteien der Abstimmung ferngeblieben wären und so dafür gesorgt hätten, dass gar nicht erst zwei Drittel aller Abgeordneten anwesend waren. Weil der Reichstagspräsident, der Hermann Göring war, das wusste, änderte er einfach die Geschäftsordnung des Reichstages und bestimmte, dass alle unentschuldigt Fehlenden als anwesend galten, und wer unentschuldigt fehlte, bestimmte er.“ Marga war bestürzt darüber, was Agnes ihr da erklärte, „das ist ja reine Willkür gewesen“, sagte sie, und Agnes fuhr fort und erläuterte:

„Jetzt mussten die Nazis nur noch eine Partei auf ihre Seite ziehen, die mit ihnen für das Ermächtigungsgesetz stimmen würde, und das war das Zentrum. Hitler hat ihm seine Unversehrtheit zugesichert und das Zentrum hat sich bereiterklärt, das Amt des Reichspräsidenten ist de facto auf das Amt des Reichskanzlers mit übergegangen und somit ist bereits zu dem frühen Zeitpunkt dem Reichskanzler und Führer Adolf Hitler die denkbar größte Machtfülle übertragen worden.“

Marga war völlig perplex und gleichzeitig fasziniert vom Sachverstand ihrer Tante und sie verstand alles, was sie erklärt hatte, obwohl sie schließlich erst siebzehn war, aber sie hatte in der Schule ja Geschichte und politischen Unterricht. Um 17.00 h waren die beiden mit der Essensvorbereitung fertig und Agnes wollte mit den Schnitzeln noch warten, bis Robert nach Hause gekommen wäre. Während sie ihrer Nichte Marga eine Nachhilfestunde in Sachen deutsche Politik gegeben hatte, hatten sich in ihrem Gesicht rote Flecken gebildet, die sie immer bekam, wenn sie sich aufregte, sie verschwanden im Laufe der Zeit wieder. Um 17.30 h kam Robert nach Hause: „Na wie war der Einkaufsbummel?“, fragte er die beiden Frauen und Agnes erklärte ihm, dass sie ihrer Nichte eine kleine Einführung in die deutsche Politik, so wie sie sich seit zwei Monaten darstellt, gegeben hat.

„Du musst ihr das nicht übel nehmen“, sagte Robert zu Marga gewandt, „aber Politik ist nun einmal ihr Steckenpferd, und sie glaubt immer, der ganzen Welt ihre politische Haltung überstülpen zu müssen.“

Marga winkte ab und erwiderte:

„Ich habe mir sehr gerne angehört, was Tante Agnes mit erklärt hat, sie hat nun einmal so profunde Kenntnisse, warum sollte sie damit hinterm Berg halten?“

Sie aßen zu Abend und Marga langte zu, als hätte sie schon seit Langem nichts mehr zu essen gehabt.

„Das ist mein absolutes Lieblingsessen!“, sagte sie zu ihrer Tante und Agnes freute sich über das Lob. Marga wollte die Ostertage in Essen verbringen und fragte ihre Tante und ihren Onkel:

„Was macht ihr eigentlich an Ostern?“, und Robert antwortete:

„Nicht viel, Gerda und Manfred kommen am Karfreitag nach Hause, und wir sitzen eigentlich immer viel zusammen und die beiden erzählen von ihrem Studium, wir können ja zusammen Ausflüge unternehmen, was meinst Du, Agnes?“, und Robert faltete seine Hände vor seinem Körper und streckte die Arme aus, anschließend drehte er die gefalteten Hände zurück und löste sie. Agnes antwortete:

„Wir können doch zum Baldeneysee fahren und dort zusammen Kaffee trinken gehen!“ und Robert fand, dass das eine sehr gute Idee war. In den Folgetagen unternahmen Agnes und ihre Nichte noch einige Einkaufstouren in die Stadt und setzten sich anschließend wieder in die Küche und tranken gemeinsam Kaffee, für Marga war es das Größte, zusammen mit ihrer klugen Tante zu sein und sich von ihr die Welt erklären zu lassen. Als der Karfreitag angebrochen war, war Marga gespannt darauf, Gerda und Manfred einmal wieder zu sehen, es war zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre her, dass sie zusammen waren, sie war noch keine fünfzehn Jahre alt.

Um die Mittagszeit erschien zuerst Manfred aus Marburg, er war mit dem Zug gekommen. Er war zuerst nach Kassel gefahren, wo er umstieg und danach nach Essen weitergefahren ist, er war den halben Tag unterwegs. Gerda, die am frühen Nachmittag eintraf, ging es ähnlich, auch sie kam mit dem Zug und musste in Hannover umsteigen, auch sie war den halben Tag unterwegs. Beide fielen sie ihren Eltern um den Hals, Manfred noch vor Gerda.

„Manfred wie schön, dass Du einmal wieder zu Hause bist, mein Junge, Du hast sicher Hunger, stell Deine Schmutzwäsche nur in die Diele, ich kümmere mich Morgen darum.“ Das waren die Worte von Agnes zum Empfang ihres Sohnes gebrauchte, und als Gerda erschien, freute sie sich ebenso, dass ihre Tochter da war, um ihre Schmutzwäsche musste sie sich aber selbst kümmern. Als die beiden Marga sahen, waren sie verblüfft zu sehen wie groß, und wie hübsch sie geworden war, sie hatten sie beide als pickeligen Teenager in Erinnerung, etwas moppelig dazu. Jetzt stand eine wunderschöne junge Frau vor ihnen, selbstbewusst, sie umarmten sie beide und freuten sich, sie wiedergetroffen zu haben, wenngleich die Unbekümmertheit im Umgang miteinander weg war, man tobte nicht mehr zusammen oder machte irgendwelchen Quatsch miteinander. Marga fand, dass Manfred immer mehr seinem Vater glich, er hatte das gleiche feine Gesicht und die gleiche Körpergröße und schlanke Figur, auch vom Habitus her ähnelten sich die beiden. Manfred hatte einen ähnlichen Gestus mit seinen Händen an sich, wenn er sprach, er faltete sie zwar nicht, er streckte aber beide Handflächen von sich und unterstrich auf diese Weise die Bedeutung seiner Worte.

Gerda kam ganz auf ihre Mutter wie Marga fand, beide waren sie sehr offen und es ging eine Herzenswärme von Gerda aus, die sie von ihren Eltern, besonders von Agnes geerbt hatte.

„Erzählt mir doch einmal etwas von Eurem Studium!“, bat Marga, „vielleicht könnt Ihr mich ja zu etwas anderem inspirieren als Lehrerin werden zu wollen.“ Gerda, die in Göttingen Psychologie studierte, sagte:

„Ich kann Dir zu Psychologie raten, Du musst Dich ja nicht mit seelisch Verkrüppelten beschäftigen und Therapeutin werden, es gibt in der Psychologie inzwischen viele verschiedene Zweige, das Studium macht einfach Spaß!“ Manfred schwärmte für seine Medizin:

„Die Medizin ist eine uralte Wissenschaft, für die ich ja wohl nicht erst noch werben muss, ich denke, dass Du Medizin nur studieren kannst, wenn Du Dich berufen fühlst, Ärztin zu werden!“ Marga fand es interessant, was die beiden erzählten, meinte aber:

„Ich glaube, ich werde doch Lehrerin, ich fühle mich einfach zu diesem Beruf hingezogen und denke, dass ich eine Ader dafür habe, Kindern und Jugendlichen etwas beizubringen.“ Den Karfreitag verbrachten alle Goldschmids mit Marga zu Haus und sie tranken Kaffee miteinander, wie sie das früher immer getan hatten, Margas Tante stellte die Reste der Schwarzwälder Kirschtorte auf den Tisch, die noch übriggeblieben waren, und alle aßen ein Stück oder wie Manfred und Marga auch zwei Stücke davon. Nach dem Kuchen fragte Robert:

„Wem kann ich denn mit einem Glas Wein oder einem Schnaps eine Freude machen?“, und Agnes, Gerda und Manfred ließen sich erst gar nicht groß bitten und nahmen jeder ein Glas Wein, sie sahen Marga an, die noch zögerte, schließlich aber auch einen Wein nahm, den sie vorsichtig trinken wollte, da sie keine große Weintrinkerin war, und der Alkohol ihr sicher zusetzen würde. Robert genehmigte sich einen Cognac, nachdem er den vier anderen ein Glas Wein eingeschenkt hatte, er sagte „Prost“ und hob sein Glas. Er kippte den Schnaps mit einem Schluck herunter, und die anderen nahmen einen kräftigen Schluck aus ihren Gläsern, bis auf Marga, die nur nippte und den Wein erst einmal schmeckte.

„Bei uns zu Hause in Holland gibt es eigentlich nie Wein, Holland ist kein Weinland und meine Eltern trinken, wenn überhaupt, höchstens einmal einen Cognac und Bier“, sagte Marga. Sie war nach dem ersten Nippen auf den Geschmack gekommen und trank ihr Glas schließlich aus, sie ließ sich auch noch ein zweites einschenken, das die anderen längst getrunken hatten. Robert öffnete die nächste Flasche und als Marga in dieser Zeit ihr Glas zur Hälfte ausgetrunken hatte, machte sich plötzlich bei ihr der Alkohol bemerkbar, nicht stark, aber sie merkte doch, wie ihr die Glieder schwer wurden und sie nur noch eingeschränkt sehen konnte. Agnes bekam das mit und fragte:

„Was ist mit Dir, Marga?“ und Marga antwortete:

„Ach nichts, ich bin nur den Wein nicht gewohnt.“

„Du solltest besser mit dem Weintrinken aufhören und lieber etwas Antialkoholisches zu Dir nehmen!“, sagte Agnes. Marga überlegte und meinte:

„Vielleicht hast Du Recht, und ich nehme ein Mineralwasser.“ Agnes stand auf und holte ihrer Nichte ein Wasser, Marga trank es in großen Zügen und merkte, wie ihr allmählich wohler wurde. Sie nahm sich vor, in Zukunft Alkohol nur in Maßen zu sich zu nehmen. Robert schlug nach dem Kaffetrinken vor, einen gemeinsamen Spaziergang zu machen:

„Lasst uns doch vor dem Abendessen noch eine Runde um den Block laufen und frische Luft zu uns nehmen!“, und alle waren einverstanden. Jeder zog einen Mantel oder eine Jacke über und sie liefen vor das Haus, Robert führte seine Familie und seine Nichte zu seiner Praxis, sie wohnten im Voßbusch und mussten in die Grashofstraße, die dort ein Hufeisen beschrieb. Er sagte Gerda und Manfred:

„Ich habe meine Praxis vor Kurzem erweitert und einen jungen Kollegen mit hineingenommen, weil ich der immer stärker werdenden Zahl der Patienten allein nicht mehr Herr werden konnte.“ Er wollte aber nicht in die Praxis gehen, auch weil er den Schlüssel nicht dabei hatte, und sie liefen langsam weiter.

Das Haus der Goldschmids lag so, dass sie dem Verlauf der Grashofstraße folgen und anschließend wieder in den Voßbusch einbiegen mussten, am Ende waren sie einen Kilometer gelaufen.

„Was haltet Ihr eigentlich von dem vom Reichstag beschlossenen Ermächtigungsgesetz?“, fragte Manfred mit einem Mal in die Runde, und als niemand antwortete, erhob Marga ihre Stimme und sagte mit der Direktheit einer Jugendlichen:

„Also für mich ist dieser Vorgang nicht nachvollziehbar, man sollte doch meinen, dass im Reichstag Abgeordnete sitzen, die Herren ihrer Sinne sind, sie sind aber hingegangen und haben sich selbst entmachtet, das will mir nicht in den Kopf!“ Kurze Zeit später entgegnete Agnes:

„Hätten sich die Nazis mit ihrem Reichstagspräsidenten Göring nicht dieses fiesen Tricks bedient, der es ihnen erlaubte, alle im Reichstag Fehlenden als anwesend zu zählen, wäre das Ermächtigungsgesetz nicht zu Stande gekommen.“ Robert schwieg lange, bevor er seiner Befürchtung Ausdruck verlieh, dass Hitler nun gegen die Juden vorgehen würde:

„Er hat nun alle Fäden in der Hand und kann schalten und walten wie er will, und wenn er auch nur einen Teil dessen, was er vor Jahren schon gegen die Juden vorgebracht hat, durchsetzen will, weiß ich nicht, was da auf uns zukommt!“ Gerda hielt sich ganz zurück, sie interessierte sich nicht für Politik und das bei dieser Mutter, das war erstaunlich, aber vielleicht war das auch gerade die Erklärung, sie hatte aus der Tatsache, dass ihre Mutter in ihren Augen überengagiert war, für sich die Konsequenz des gegenteiligen Verhaltens gezogen.

Als sie wieder zu Hause waren, bereitete Agnes mit Gerdas und Margas Hilfe das Abendessen vor, sie setzten sich später alle an den Küchentisch und setzten eine Zeit lang ihre politischen Gespräche fort. Robert meinte:

„Es kann wohl jetzt nicht mehr die Rede davon sein, dass Hitler die Marionette der Schwerindustrie ist, man wird sehen müssen, welche seine nächsten Schritte sind, es ist in der Bevölkerung bereits das langsame Aufkeimen eines neuen Antisemitismus zu spüren.“

„Ich merke an meiner Universität davon aber nichts“, bemerkte Gerda, „die Kommilitonen verhalten sich mir gegenüber ganz normal wir treffen uns und gehen zusammen auf Feiern.“ Manfred meinte:

„Auch in Marburg ist von einem Antisemitismus nichts zu spüren, ich merke an meiner Uni davon nichts, alle haben nur ihr Studium und die vielen Feierlichkeiten im Auge, ob jemand Jude ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle.“ Robert entgegnete:

„Ich sagte auch, dass ein Antisemitismus im Keimen ist, voll ausgebrochen ist er noch nicht.“ Marga hörte sich konzentriert an, worüber ihr Onkel, ihre Tante, ihr Cousin und ihre Cousine sprachen, sie dachte darüber nach und wusste nicht so recht, welche Schlüsse sie daraus ziehen sollte. Gerda teilte sich mit Marga ihr Zimmer, es wurde einfach eine Matratze auf den Boden gelegt, auf der Marga schlief.

Es handelte sich im Grunde um Gerdas Mädchenzimmer, in dem nichts verändert war, und in dem Gerda die ganze Zeit ihres Aufwachsens gelebt hatte, Gerda mochte dieses Zimmer, sie saß auf dem Stuhl an ihrem Schreibtisch und Marga auf dem einzigen kleinen Clubsessel in dem Raum.

„An diesem Schreibtisch habe ich alle Schulaufgaben erledigt, die jemals auf mich zugekommen sind“, sagte Gerda. Ihre Schreibtischplatte war vollgekritzelt mit den Namen ehemaliger Freundinnen und Freunde, Gerda hatte sie mit der Spitze ihres Zirkels eingeritzt, deshalb waren sie noch heute zu sehen. An den Wänden hingen Fotos von Klassenfahrten, von Manfred und von ihren Eltern, auch das Foto eines früheren Freundes hing dort.

„Mit dem bin ich zwei Jahre lang gegangen, danach wurde mir die Beziehung zu eng, und ich habe wieder Schluss gemacht“, sagte Gerda, „hast Du eigentlich einen Freund?“ Marga errötete leicht, als sie antwortete, dass sie im Moment nicht in einer Beziehung zu einem Freund lebte, sie fragte:

„Wie alt warst Du eigentlich, als Du mit Deinem Freund zusammen warst?“ Gerda überlegte kurz und sagte darauf:

„Ich war glaube, ich achtzehn, und obwohl ich schon relativ alt war, war ich doch sehr unerfahren, ich bin jetzt einundzwanzig und habe während meiner Studienzeit ein Menge an Lebenserfahrung sammeln können.“ Einmal beim Thema, frage Marga weiter:

„Weißt Du, ob Manfred eine Freundin hat?“