Margas Leben - Familien unter Hitler (2) - Hans Müller-Jüngst - E-Book

Margas Leben - Familien unter Hitler (2) E-Book

Hans Müller-Jüngst

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Autor hat die historischen Fakten in eine Familiengeschichte eingebunden, um nicht eine bloße historische Abhandlung zu schreiben, von denen es eine unermessliche Fülle gibt. Er möchte so den Versuch unternehmen, die gesellschaftlichen Entwicklungen zwischen den zeitgeschichtlichen Fakten deutlich werden zu lassen und sie auf diese Weise mit Leben füllen, damit sich auch junge Menschen mit dieser für Deutschland so wichtigen Weichenstellung beschäftigen. Im Mittelpunkt des Romans steht das jüdische Mädchen Marga, das mit seiner Familie in Amsterdam lebt und dort zur Schule geht, weil sein Vater nach Amsterdam versetzt worden war. Amsterdam ist somit ein Handlungsort, ein anderer ist Essen in Deutschland, wo Margas Tante Agnes, die Schwester ihrer Mutter, zusammen mit ihrer Familie lebt. Während Margas Vater als leitender Angestellter für eine deutsche Glasfirma in Holland arbeitet und Margas Familie deshalb in guten Verhältnissen lebt, ist Margas Essener Onkel Arzt und deshalb finanziell auch gut gestellt.Gerda und Manfred, Margas Cousine und Cousin, sind Studenten in Göttingen und Marburg. Werner, der Freund von Manfred, der in der Nachbarschaft wohnt, ist der Geliebte von Marga, Manfred bändelt mit Margas Freundin Petra an. Gerda, eigentlich das fünfte Rad am Wagen, ist aber eine eigenständige Persönlichkeit und fühlt sich durch die Pärchen in keiner Weise in ihrer Lebensführung beeinträchtigt, sie nimmt sich später Siegfried zum Mann. Werners Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes ins gesellschaftliche Abseits abzudriften drohte, wird mit Margas Hilfe wieder eine attraktive Frau und sie ist wie auch Margas Tante Agnes politisch sehr engagiert. Sowohl in Margas als auch in der Essener Familie werden die sich im Deutschen Reich im Hinblick auf die Etablierung einer Führerdiktatur verdichtenden Ereignisse diskutiert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 269

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Müller-Jüngst

Margas Leben - Familien unter Hitler (2)

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Marga und Petra fahren nach Hause

Iris und Piet

Piet liebt den Streit

Schnee in Essen

Zandvoort im Winter

Goldschmids ziehen nach Amsterdam

Impressum neobooks

Marga und Petra fahren nach Hause

„Habt Ihr auch nichts vergessen und überall noch einmal nachgesehen?", fragte Agnes.

„Wir schicken Euch die Sachen, die Ihr hier liegen gelassen habt, natürlich nach, aber das dauert, bis die in Amsterdam ankommen!"

„Ich glaube, dass wir alles eingepackt haben, so viel hatten wir ja auch gar nicht mit", antwortete Marga, und Petra und sie standen langsam auf, die Stunde des Abschieds war gekommen. Alle waren aufgestanden, um die beiden zum Abschied zu umarmen, Petra und Marga hatten sich fest vorgenommen, beim Abschied nicht zu weinen. Als Marga aber sah, dass Tante Agnes die Tränen in den Augen standen, als sie sie umarmte, konnte sie nicht mehr an sich halten und fing bitterlich an zu weinen, sie weinte, was das Zeug hielt, auch Petra weinte, und sie trockneten sich mit Servietten vom Tisch die Tränen.

„Es war so schön bei Euch", schluchzte Marga und Petra sagte:

„Ich werde nie vergessen, wie ich von Euch aufgenommen worden bin!" Die Mädchen umarmten Gerda, die auch kurz davor war, in Tränen auszubrechen, Frau Theißen sah Marga in die Augen und kämpfte auch mit den Tränen, Robert umarmte Petra und Marga und wünschte den beiden eine gute Heimreise. Die beiden nahmen ihre Rucksäcke auf und liefen mit Werner und Manfred zum Wagen, den ihnen Robert geliehen hatte. Manfred hatte das Dach geöffnet und Petra und Marga riefen bei der Abfahrt aus dem Wagen:

„Bis zum nächsten Mal, alles Gute!"

„Gute Reise", kam zurück, „bis zum Herbst in Amsterdam !", und weg waren sie. Petra und Marga wischten sich die Tränen aus ihren Gesichtern und dachten an die schöne Zeit in Essen zurück, als Manfred auf den Bahnhofsvorplatz fuhr und dort parkte. Sie stiegen aus dem Wagen, nahmen die Rucksäcke und liefen auf den Bahnsteig, Petra mit Manfred und Marga mit Werner, stellten sich getrennt voneinander dorthin und warteten eng umschlungen auf ihren Zug. Marga dachte wehmütig an ihren Ausflug nach Langenberg und ihren Tanzabend, ihr war noch gar nicht danach, wieder nach Hause fahren zu müssen, ebenso ging es Petra.

Sie hatten noch eine Viertelstunde, in der sie sich umarmten und küssten, in der sie sich ihrer Liebe versicherten, bis die Durchsage für den D-Zug nach Amsterdam kam. Mit lautem Getöse schnaubte die D-Zug-Lok an ihnen vorbei, und als der Zug zum Stehen gekommen war, stiegen die Mädchen ein, sie versuchten, keine großen Umstände zu machen, was ihnen auch halbwegs gelang, sie stellten sich gleich an das geöffnete Fenster. Marga schaute Werner in die Augen, Petra blickte Manfred an, sie schwiegen, und als die Durchsage kam "Bitte Zurücktreten" und der Abfahrtspfiff ertönte, weinten die Mädchen wieder und winkten den Jungen so lange zu, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Der Augenblick des Abschieds war auch Werner und Manfred sehr nahegegangen und sie kämpften beide gegen ihre Tränen an, sie weinten aber nicht und fuhren wieder nach Hause. Die Mädchen saßen in ihrem Abteil mit einer Familie und deren Kindern, die sie anstarrten, weil sie so verweint aussahen:

„So ein Abschied ist immer schwer!", sagte der Familienvater. Petra und Marga schwiegen die ganze Zeit und blickten aus dem Fenster, sie sahen zunächst noch die vielen qualmenden Schlote der Fabriken, bis sie ins Münsterland kamen, wo von Industrie keine Spur war. In Wesel stieg die Familie aus dem Zug, und sie saßen allein in ihrem Abteil, plötzlich fand Petra ihre Sprache wieder und sie Fragte Marga:

„Wann kommen wir denn in Amsterdam an?" Marga antwortete:

„Wenn wir gut über die Grenze kommen und dort keinen langen Aufenthalt haben, so gegen 16.30 h." In Emmerich hielt der Zug erst einmal an der Grenze, und die Zollbeamten stiegen ein, sie schrien „Pässe!" und hatten wieder einen scharfen Hund dabei. Als sie die Abteiltür aufrissen, kläffte der Hund sofort los und hing mit triefenden Lefzen an seiner kurz gehaltenen Leine.

„Wohin fahren Sie?", fragte der eine Zollbeamte und Marga antwortete.

„Nach Amsterdam", in diesem Moment sah der Zöllner in Margas Pass ihren jüdischen Nachnamen und er blökte los:

„Sie sind ja Jüdin, Sie sollten wissen, dass Juden im Deutschen Reich nicht mehr so gern gesehen sind, also hüten Sie sich davor, noch einmal wiederzukommen!" Er gab Marga ihren Pass zurück, Petras Nachname Gerrits gab ihm keinen Grund zur Beanstandung. Wortlos zog er den ununterbrochen kläffenden Hund zurück und verließ das Abteil wieder, die Abteiltür knallte er mit lautem Krach zu.

„Wie kann man nur so dreist sein", fragte Marga entrüstet, jemandem ins Gesicht zu sagen, dass er nicht erwünscht ist, weil er Jude ist? Petra entgegnete:

„Das ist der neue Ton in Deutschland, daran muss man sich wohl jetzt hier gewöhnen, als Jude hat man in diesem Land keinen leichten Stand mehr." Kurze Zeit später setzte sich der Zug wieder in Bewegung, er hielt wegen des Zolls auf holländischer Seite nicht noch einmal an, und die Mädchen fuhren weiter Richtung Amsterdam.

Sie erreichten bald Utrecht und liefen eine halbe Stunde danach in die Centraal Station ein. Die Mädchen beschlich ein Gefühl aus Freude und Trauer, Freude darüber, dass ihre Heimatstadt sie wieder hatte und Trauer, weil sie doch einige Zeit von ihren Liebsten getrennt wären. Sie liefen auf den Bahnhofsvorplatz und blickten den Damrak hinunter, den sie vor ein paar Wochen alle zusammen entlanggelaufen waren. Sie schlenderten die Touristenstraße langsam entlang, bis sie zum Dirk-van-Hasseltssteeg kamen und Petra und Marga trennten sich fürs Erste voneinander. Marga bog in die Verbindung zur Herentstraat ein, und als sie die Tuinstraat erreichte, schlug ihr Herz höher. Sie sah ihr Elternhaus vor sich liegen, und in der Haustür stand Doris und wartete mit geöffneten Armen auf ihre Tochter. Marga rannte los und ließ sich von ihrer Mutter auffangen und umarmen:

„Meine Liebe Marga, schön dass Du wieder zu Hause bist", rief Doris vor Freude aus. Marga kam sich vor, als wäre sie endlos lange von zu Hause fort gewesen, sie ging langsam ins Haus und beäugte alles, als hätte sie das Hausinnere noch nie gesehen. Doris führte ihre Tochter in die Küche, und dort stand auf dem Tisch eine Schwarzwälder Kirschtorte, Marga bekam den Mund nicht mehr zu, als sie sie sah:

„Mama, meine Lieblingstorte!", schrie sie und setzte sich gleich an den Tisch. Aber Doris schickte sie zum Händewaschen wie ein kleines Mädchen, das musste nach der langen Zugfahrt sein.

Als Marga wiederkam, hatte Doris ihr ein Stück Torte auf ihren Teller gelegt, und Marga aß mit Heißhunger ihren Lieblingskuchen. Doris schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein und fragte sie, wie es denn noch in Essen gewesen wäre? Marga antwortete:

„Kann ich nicht erst einmal meine Torte aufessen, danach werde ich Dir alles erzählen?" Und Doris wartete, sie fragte, ob Marga nicht noch ein Stück von der Torte haben wollte, aber Marga winkte ab: „Vielleicht später noch einmal!" Im Anschluss fing sie an zu erzählen, sie berichtete bis ins kleinste Detail von allen Dingen, die sie in Essen erlebt hatte und beantwortete akribisch genau die Rückfragen von Doris. Den absoluten Schwerpunkt setzte sie in ihren Schilderungen bei Werners Mutter:

„Du kannst Dir nicht vorstellen, wie sich die Frau verändert hat!" Sie wusste gar nicht, mit welchen Worten sie den Verwandlungsprozess von Frau Theißen am treffendsten wiedergeben konnte, ihre Mutter hörte jedenfalls sehr interessiert zu.

„Du kennst sie nur als in sich gekehrte graue Maus, hässlich, unansehnlich, das ist völlig vorbei,. Du glaubst es nicht, nur durch andere Kleidung und eine neue Frisur sieht sie um mindestens zehn Jahre jünger aus, sie benimmt sich auch wie ein junger Mensch, das ist alles so schwer zu beschreiben, Du musst es in der Realität sehen, ich soll Dir und Max von allen herzliche Grüße bestellen und ausrichten, dass sie sich schon alle auf den Herbst in Amsterdam freuen."

Doris bedankte sich für die Grüße und fragte aber doch noch einmal nach Werners Mutter, sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie aus dieser nichtssagenden Frau mit einem Mal eine blühende Rose hätte werden sollen. Aber Marga wiederholte einfach nur ihre Schilderungen, zu der äußeren Veränderung wäre auch noch eine innere gekommen: „Frau Theißen gibt sich jetzt selbstbewusst, was sie ja vorher nie getan hat, am Samstagabend waren wir zum Tanzen in der „Zornigen Ameise" und dort ist sie von einem Verehrer angehimmelt worden, sie konnte ihn aber abschütteln." Als Doris das hörte, wollte sie es kaum glauben, sie beließ es dabei und fragte Marga nach dem Fahrtverlauf, besonders danach wie es an der Grenze zugegangen wäre. Doris berichtete zuerst von ihrer unangenehmen Grenzerfahrung, die sie mit Max hatte machen müssen, danach schilderte Marga ihre Erfahrung an der Grenze:

„Ich bin von einem unverschämten Zollbeamten darauf aufmerksam gemacht worden, dass Juden im Deutschen Reich in Zukunft nicht mehr gern gesehen wären, und dabei wurde ich ständig von einem scharfen Schäferhund angekläfft, ich hatte ähnliche Erfahrungen bei meiner ersten Einreise nach Deutschland an Ostern machen müssen."

„Davon hast Du ja damals gar nichts erzählt!", sagte Doris vorwurfsvoll. Solche Dinge blieben eben unerwähnt, sie wurden nicht in Amsterdam und nicht in Essen ausgebreitet, auch Robert hatte nichts von seinem unangenehmen Erlebnis mit der beschmierten Mauer vor der Praxis und der zerborstenen Fensterscheibe erwähnt. Vielleicht war das ein Fehler, man wollte sich aber einfach nicht die gute Stimmung vermiesen.

„Hat es Petra auch so gut in Essen gefallen?", fragte Doris und Marga antwortete:

„Petra ist jetzt mit Manfred zusammen, es hat wohl aber schon damals gefunkt, als Werner und Manfred hier waren, die beiden sind sich nun endlich nähergekommen."

„Wie schön!", sagte Doris, „das freut mich aber für Sie und ich wünsche Ihnen, dass ihre Beziehung eine Zeit lang halten wird, das wünsche ich Dir und Werner natürlich auch!"

„Was hat sich denn hier ereignet, während ich weg war?", fragte Marga und Doris entgegnete:

„Es ist nichts Nennenswertes geschehen, alles läuft seinen normalen Gang, es passiert nichts Außergewöhnliches." Um 17.00 h kam Max von der Arbeit nach Hause, und auch er freute sich riesig, seine Tochter in seinen Arme nehmen zu können. Marga musste alles noch einmal erzählen, was sie so erlebt hatte, und auch Max bekam ganz spitze Ohren, als Marga von der Verwandlung erzählte, die Frau Theißen mitgemacht hatte.

„Du kannst es Dir einfach nicht vorstellen und musst sie in Wirklichkeit erleben", sagte Marga, „Du wirst Deinen Augen nicht trauen, wenn Frau Theißen im Herbst hier bei uns erscheinen wird." Marga nahm ihren Rucksack, öffnete das kleine Vorderfach und zog die Schachtel mit dem Füller heraus.

„Seht mal, was ich von Frau Theißen geschenkt bekommen habe, das ist der Füller Ihres Mannes gewesen, und Sie hat ihn mir geschenkt, weil Sie der Ansicht ist, dass ich Ihr zu Ihrem neuen Leben verholfen habe." Doris und Max betrachteten das gute Stück und Max sagte:

„Das ist ein sehr kostbarer Füller", und er nahm ein Blatt aus der Schublade des Küchentisches und machte einige Schreibversuche mit dem Montblanc-Füller.

„Toll, wie der schreibt", sagte Max bewundernd und er verwendete beim Schreiben seines Nachnamens ganz ähnliche Schleifen wie Marga. Auch Doris schrieb etwas mit dem Füller und meinte:

„Der schreibt ja beinahe von selbst", und ihr Schrifttypus glich dem von Marga, sie verwendete aber nicht so viele Schleifen, den Namen Rozenbaum schrieb sie in einer weichen mädchenhaften Schrift, die schön und sauber war. Der Füller stand auch Doris sehr gut, und sie schien ein Auge auf ihn zu werfen, aber Marga machte unmissverständlich klar, wem der Füller gehörte, nämlich ihr. Max fragte, ob sich das diktatorische Regime in Deutschland noch einmal von seiner schlimmen Seite gezeigt hätte, und Marga erzählte von dem Vorkommnis, als die zwei SA-Männer den unbescholtenen Mann zusammenschlugen, der es dem beherzten Einschreiten von Frau Theißen zu verdanken hatte, dass die SA-Männer ihre Schläge einstellten. Doris und Max wollten erst gar nicht glauben, was Marga da erzählte, dass ausgerechnet die blasse und kraftlose Frau Theißen den SA-Leuten Furcht eingeflößt haben sollte, aber Marga bestand darauf, dass es so war wie sie erzählt hatte.

„Du hast ja noch drei Wochen, in denen Du Dich zu Hause auf Dein Studium vorbereiten kannst, hast Du in der Zeit etwas Bestimmtes vor?", fragte Doris ihre Tochter, aber Marga erwiderte:

„Nein, nichts Bestimmtes, ich werde mich häufig mit Petra treffen und mit ihr reden, mehr nicht!"

„Weißt Du, ob Onkel Robert irgendwelche unangenehmen Dinge in der Praxis erlebt hat?", fragte Max und Marga antwortete:

„Er hat nie etwas davon erzählt, und ich glaube, dass er sich mit seiner Praxisarbeit sehr wohl fühlt!" Doris hatte die Wohnzimmerfenster geöffnet, um die gute Sommerluft hineinzulassen, man konnte die Vögel singen hören, was Marga aber am meisten das Gefühl gab, wieder zu Hause zu sein, war das Läuten der Glocken der Westerkerk, sie empfand ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als sie sie hörte. Marga ging auf ihr Zimmer und öffnete gleich das Fenster, um das Glockengeläut hören zu können, sie legte sich auf ihr Bett und dachte an Werner, sie schloss die Augen und träumte, wie sie zusammen den Glockenturm bestiegen hatten und glücklich waren, der Klang der Glocken verkörperte alles, was ein schönes Leben in Amsterdam ausmachte. Marga lief später noch einmal nach unten, über die Treppe, die sie hinuntergeschlichen war, als sie nachts das Zimmer von Werner erreichen wollte und mit Manfred das Bett getauscht hatte. Doris und Max saßen im Wohnzimmer und blickten ihre Tochter an:

„Na, ist es schön, wieder zu Hause zu sein?", fragte Max, Marga nickte nur uns setzte sich zu den beiden.

„Ich bin in Gedanken noch ganz in Essen", sagte sie, „aber als ich eben die Glocken der Westerkerk gehört habe, fühlte ich mich gleich in meine Heimatstadt versetzt", kurze Zeit später legte sie sich schlafen.

Beim Frühstück am nächsten Morgen gab es wieder nur das holländische Brot, aber Marga hatte keine Schwierigkeiten damit und streute auf eine Schnitte ihren geliebten Hagelslag, das war etwas, das sie in Deutschland vermisst hatte. Doris las im „Telegraaf" und blätterte die Zeitung durch, bis sie auf die Seite mit den Auslandsnachrichten stieß, „Reichsnährstand in Deutschland gebildet" stand da geschrieben, und Doris las die Überschrift vor.

„Was ist das denn schon wieder?", fragte Marga und Doris las den Bericht ganz vor. Aus ihm wurde ersichtlich, dass am 13. September 1933 der sogenannte „Reichsnährstand" gebildet worden war, dessen Aufgabe es sein sollte, die Produktion, den Vertrieb und die Preise landwirtschaftlicher Produkte zu lenken, er war eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit eigenem Haushalts-, Beitrags- und Beamtenrecht. Alle landwirtschaftlichen Kräfte wurden danach in die Reichsbauernschaft eingegliedert und waren Zwangsmitglieder. Mit der Bildung des „Reichsnährstandes" wurde die gesamte Landwirtschaft im Deutschen Reich gleichgeschaltet, fasste Doris den Artikel im „Telegraaf" zusammen.

Dahinter stand natürlich die Idee der NSDAP, auch die Bauern auf ihre Seite zu ziehen und der Landflucht Einhalt zu gebieten. Durch die staatliche Lenkung der Landwirtschaft wurde vielen Bauern eine Existenz gesichert, die ohne die NSDAP vielleicht gezwungen gewesen wären, aufzugeben. Der massive Eingriff in die wirtschaftliche Eigenständigkeit des landwirtschaftlichen Bereiches entsprach auch dem „Blut und Boden"-Gedanken der Nationalsozialisten, er war ein zentrales Element ihrer Ideologie, so der Kommentator im „Telegraaf". Das Blut galt als das Sinnbild für die Abstammung und der Boden als die Quelle der Nahrungsgewinnung und als Lebensraum. Insofern war die Bildung des „Reichsnährstandes" nur die logische Konsequenz im Sinne der NS-Ideologie gewesen. Über den Eingriff in das freie Spiel der Marktkräfte hinaus war dieser Schritt ein zutiefst ideologisch begründeter gewesen, er verdeutlichte, wie ernst es den Nationalsozialisten mit der Gleichschaltung war. Gleichschaltung meinte die Vereinheitlichung des gesamten gesellschaftlichen und politischen Lebens mit dem Ziel, den als zerstörerisch angesehenen Pluralismus in Staat und Gesellschaft aufzuheben.

„Vor diesem Hintergrund muss man auch die Aufhebung der Parteien verstehen", meinte Marga, „Parteien sind ja Ausdruck eines pluralen Willensbildungsprozesses mit allen damit verbundenen Kontroversen, die NSDAP versteht sich ja auch nicht als Partei, wenngleich der Begriff Namensbestandteil ist, sondern als Bewegung, was eine Geschlossenheit im Willen und einen Gemeinschaftsgedanken suggeriert." Doris schenkte beiden noch eine Tasse Kaffee ein und sagte nur:

„Wer weiß, wo das alles noch in Deutschland enden soll?" Plötzlich schellte es, Marga öffnete und begrüßte Petra.

„Petra, schön Dich wiederzusehen!", sagte Doris zur Freundin ihrer Tochter, „wie hat es Dir denn in Essen gefallen?" Petra erwiderte, dass Marga ja sicher schon alles erzählt hatte, „ich bin jetzt mit Manfred zusammen."

„Das weiß ich doch schon längst und ich wünsche Euch beiden, dass Eure Beziehung lange anhält!", sagte Doris und umarmte Petra leicht. Petra setzte sich mit an den Küchentisch und trank auch eine Tasse Kaffee.

„Wie hast Du denn in Deinem eigenen Bett geschlafen?", fragte sie Marga.

„Gut", antwortete sie, „ich bin gestern Abend früh schlafen gegangen und heute Morgen früh wieder aufgewacht, ich hatte mein Fenster geöffnet und konnte die Glocken der Westerkerk hören, da wusste ich, dass ich wieder zu Hause war."

„Ist bei Euch zu Hause alles in Ordnung?", fragte Doris Petra, und Petra sagte nur, dass es ihren Eltern gut ginge, und sie sich gefreut hätten, sie wiederzusehen.

„Ich dachte, dass wir sie zu uns zum Grillen einladen sollten, jetzt, bei dem schönen Wetter, können wir doch gut auf der Terrasse sitzen, sag doch bitte Deinen Eltern, dass sie zu uns eingeladen sind, wenn sie können, wollen wir Morgen grillen!"

Petra und Marga zogen in die Stadt und wollten einmal wieder so richtig den „Bijenkorf" durchwühlen, sie liefen über den Damrak und sahen das schöne Kaufhaus vor sich liegen. Es kam nicht oft vor, dass sie dort etwas kauften, weil die Preise dort einfach zu hoch waren, aber es reichte ihnen, sich an dem Warenangebot zu erfreuen und nur zu schauen, was es Neues gab. Sie schlenderten anschließend den Damrak entlang und liefen bis zum Leidseplein runter, wo sie sich kurz in die Sonne setzten.

„Musst Du oft an Manfred denken?", fragte Marga ihre Freundin und Petra antwortete:

„Ich denke praktisch ununterbrochen an ihn und Du?" Marga überlegte kurz, bevor sie sagte:

„Auch ich muss permanent an Werner denken, es vergeht eigentlich kaum einmal eine Minute, in der ich nicht von ihm träume!" Sie fuhren mit der Straßenbahn wieder zum Dam zurück und liefen von dort aus in die Tuinstraat. Zu Hause setzten sie sich mit Doris auf die Terrasse und tranken mit ihr noch einmal eine Tasse Kaffee.

„Ich glaube, Petra und ich essen noch ein Stück von der Schwarzwälder Kirschtorte", sagte Marga und Doris holte für jede ein Stück.

„Na, habt Ihr Euch wieder eingelebt?", fragte Doris die Mädchen. Sie wusste sehr wohl, dass sie leicht betrübt waren und sie kannte natürlich auch den Grund dafür.

Es gab keine Worte, die den Mädchen den Trennungsschmerz nehmen konnten, ihr war aber klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie wieder ein normales Leben führen könnten. Petra fuhr am Nachmittag mit ihrem Rad wieder nach Hause und überbrachte ihren Eltern die Einladung zu Rozenbaums, worüber sie sich sehr freuten und kommen wollten.

Das berichtete Petra am nächsten Tag, als sie wieder nach dem Frühstück bei Marga erschien.

„Das ist ja prima!", sagte Doris, „so kann ich in aller Ruhe alles vorbereiten, vielleicht könnt Ihr mir dabei helfen, Kartoffelsalat zu machen?" Das war zwar nicht unbedingt das, wonach den Mädchen in diesem Augenblick der Sinn stand, sie halfen am Ende aber mit, den Grillabend vorzubereiten. Doris lief zum Metzger und ließ sich von ihm schöne Fleischstücke zum Grillen geben, und als sie wieder nach Hause kam, hatten die Mädchen die Kartoffeln vom Herd genommen und waren schon dabei, sie zu pellen. Sie hatten jede eine Gabel in eine Kartoffel gesteckt, mit der sie sie hielten, um sich nicht die Finger zu verbrennen. Doris kochte Eier und schnitt eine Gewürzgurke in kleine Stücke, sie verrührte vorsichtig Eigelb mit Öl, um Majonäse zu machen, zum Schluss würfelte sie eine Zwiebel und als die Pellkartoffeln in Scheiben geschnitten waren, vermengte sie alle Zutaten miteinander, stellte den Kartoffelsalat in den Schatten und deckte ihn mit einem Tuch ab. Anschließend machte sie eine Marinade aus Öl, Salz und Pfeffer her und stellte sie zur Seite.

Sie hatten die Grillvorbereitungen so weit erledigt und Max müsste, wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen wäre, noch überprüfen, wie es mit den Getränken aussah. Doris und die Mädchen bereiteten auf der Terrasse schon einmal den Grillplatz vor und richteten den Tisch und die Stühle aus. Petra meinte, dass Wim wohl nicht mitkommen würde:

„Es könnte höchstens sein, dass er kurz mit seinem Fahrrad vorbeikommt, ein Stück Fleisch isst und wieder verschwindet, denn er ist ein absoluter Grillfan." Als sie mit der Terrasse so weit waren, setzten sie sich draußen hin und warteten auf Max, der danach erschien und alle begrüßte.

„Wir grillen heute Abend zusammen mit Gerrits bei uns", sagte Doris, „überprüfe doch bitte einmal den Getränkebestand", und Max sah nach, was noch da war.

„Ein Kasten Bier muss noch geholt werden, das werde ich gleich erledigen", sagte er und fuhr zum Lebensmittelladen. Der Laden verfügte über einen Kühlraum, in dem die Getränke immer kalt blieben. Man konnte sich zu Hause mit Stangeneis behelfen, einen Kühlschrank hatte jedoch kaum jemand. Um 19.00 h erschienen Petras Eltern und wurden freundlich empfangen, Frau und Herr Gerrits gaben ihnen die Hand, und sie gingen gleich durch auf die Terrasse. Max steckte ein kleines Holzfeuer in der Grillschüssel an, auf das er Holzkohle schüttete als es richtig loderte.

Doris versorgte jeden mit Getränken und goss in der Küche die Soße über den Salat, vermischte alles miteinander und stellte den grünen Salat zusammen mit dem Kartoffelsalat auf den Terrassentisch, sie holte noch das Fleisch, Senf und Brot und stellte die Sachen dazu.

„Das sieht ja alles richtig toll aus!", sagte Frau Gerrits, „zu Hause bei uns grillen wir auch gelegentlich, weil unser Sohn das so mag, er wollte später vielleicht noch vorbeischauen." Max hob sein Glas und prostete allen zu, „auf die Gesundheit!", sagte er, weil ihm nichts Anderes einfiel. Als die Holzkohle gut durchgeglüht war, legte er Fleisch auf, das im Nu gar war. Er legte allen ein Stück auf ihren Teller und wünschte einen guten Appetit. Jeder nahm sich von dem Kartoffelsalat, dem grünen Salat und dem Brot. Als sie ihr Fleisch halb aufgegessen hatten, fing Herr Gerrits an, von Deutschland zu sprechen, er vergewisserte sich, dass das auch das richtige Thema war, und er nicht Dinge zur Sprache brächte, über die die anderen nicht so gerne reden wollten. Bevor er weiter redete, sagte Max:

„Ich finde, dass wir uns duzen sollten, auch wenn das vielleicht plump von mir wirkt, aber ich meine, das macht den Umgang miteinander weniger kompliziert, also meine Frau heißt Doris und ich bin Max."

Iris und Piet

„Meine Frau heißt Iris und ich bin Piet und ich finde es überhaupt nicht plump, wenn Du uns das Du anbietest, ich meine auch, dass das Sie zu gestelzt ist. Sie standen alle auf, umarmten sich und stießen miteinander an, danach setzten sie sich wieder und Piet schnitt das Thema „Reichsnährstand" an. Er fragte, ob die Rozenbaums davon in der Zeitung gelesen hätten.

„Ich habe mit den Mädchen am 14. darüber gesprochen, ich fand den Artikel im „Telegraaf" sehr aufschlussreich, besonders, was der Kommentator dazu geschrieben hat", sagte Doris. Piet fuhr fort:

„Man muss der Landwirtschaft ja nicht unbedingt große Bedeutung beimessen, aber ihre de-facto-Gleichschaltung steht doch stellvertretend für den gesamten Prozess der Gleichschaltung, von dem alle Bereiche des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens betroffen sein werden, ich muss sagen, dass es mit ein wenig Angst macht, wenn ich nach Deutschland schaue." Marga erwiderte:

„Petra und ich waren ja gerade in Deutschland und wir müssen beide sagen, dass vieles nicht so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde, ich will damit nichts kleinreden, meine aber, dass man sich vor Übertreibungen hüten muss, ich glaube, dass die deutschen Staatsbürger, die nicht direkt von dem Gleichschaltungsprozess betroffen sind, sich dessen gar nicht bewusst sind, weil sich an ihrem Leben auf Anhieb nichts ändert."

„Ich will ja nicht übertrieben pessimistisch sein, aber ich glaube, dass auf das deutsche Volk noch einiges an Unangenehmem zukommen wird, Ihr habt drüben doch jüdische Verwandtschaft, wie seht Ihr denn deren Zukunft?", fragte Piet.

„Ich glaube, ich muss Dir in Deiner Einschätzung Recht geben, besonders die Juden werden es immer schwerer haben, und ich habe meine Schwägerin und meinen Schwager schon öfter aufgefordert, alles aufzugeben und nach Amsterdam zu ziehen, aber das ist leichter gesagt als getan", antwortete Max. Piet erschien Max sehr engagiert und politisch sachkundig, er fand aber nicht, dass er ein Hitzkopf war und Iris, die kaum ein Wort sagte, schon gar nicht. Doris war schon eher jemand, die sich einbrachte und ihre Meinung vortrug. Das hatte sie mit ihrer Schwester gemein, die sich auch immer so gut informiert zeigte und Partei für die Schwachen ergriff. Eigentlich war diese Eigenschaft von Frauen bei Männern gar nicht so erwünscht, weil sie ihnen gegenüber den Männern eine dominante Rolle zuwies. Max mochte das aber sehr an Doris, sie zeigte damit, dass sie sich vom Gros der Hausfrauen abhob und neben ihrem Haushalt auch andere Dinge in ihrem Leben gelten ließ. Doris sagte:

„Agnes und Robert geht es in Essen wahrlich nicht schlecht, obwohl sie Juden sind, aber ich befürchte, genau wie ihr, dass es um ihre Zukunft nicht gut bestellt ist.“ Marga mischte sich nicht weiter ein, der Gedanke, dass ihre geliebte Tante Agnes vielleicht bald in Amsterdam, möglicherweise sogar in ihrer Nähe wohnen würde, hatte in den Augen Margas etwas Bestechendes, sie mochte sich das gar nicht weiter ausmalen, weil es doch noch in so weiter Ferne lag. Die Gerrits erwiesen sich als sehr angenehme Gäste und Doris und Max waren glücklich, ihren Bekanntenkreis um zwei so nette Zeitgenossen erweitert zu haben.

Sie hielten es bis Mitternacht auf Rozenbaums Terrasse aus, Wim war zwischenzeitlich kurz einmal gekommen, hatte ein Steak verschlungen und ist danach gleich wieder gefahren. Um 12.00 h standen Iris und Piet auf und sagten allen Auf Wiedersehen, Petra würde bei Marga schlafen. Sie hatten verabredet, in der nächsten Woche einen Grillabend bei Gerrits zu veranstalten, bevor die sich auf ihre Fietsen schwangen und nach Hause fuhren. Alle räumten schnell die Terrasse auf, brachten das schmutzige Geschirr in die Küche, löschten die Grillglut mit Wasser und gingen im Anschluss ins Bett. Petra lag neben Marga in deren Bett und fragte ihre Freundin:

„Denkst Du an Werner?" und Marga antwortete:

„Ja!"

„Ich denke an Manfred, unentwegt", sagte Petra, danach schliefen sie beide ein. Die Zeit bis zur Aufnahme ihres Studiums wurde immer kürzer, und sie fuhren noch einmal mit ihren Fietsen zur Uni. Sie fanden sie reichlich verlassen vor und tranken in der Mensa einen Kaffee, in der sie sich Wochen zuvor zusammen mit Gerda, Manfred und Werner und verschiedenen Kommilitonen so angeregt unterhalten hatten. Nach ihrem Kaffee verschwanden sie wieder, nachdem sie festgestellt hatten, dass sie bis auf zwei weitere Studenten die Einzigen dort waren. Es machte sich bei beiden nicht gerade Langeweile breit, eine gewisse Lethargie war aber schon zu spüren, und beide sehnten sich nach dem Beginn ihres Studiums.

Als sie Morgen des 23. September zusammen mit Margas Mutter beim Frühstück in der Küche saßen und Doris wieder im „Telegraaf" blätterte, stieß sie auf der Seite mit den Auslandsnachrichten auf die Überschrift: „Reichskulturkammer im Deutschen Reich gegründet" und las sie vor. Petra und Marga wurden hellhörig und baten Doris, den gesamten Artikel vorzulesen. Als Doris las, wurde deutlich, dass die „Reichskulturkammer" von Goebbels gegründet worden war, der die Ansicht hatte, die Kulturschaffenden dem Zugriff Robert Leys und seiner „Deutschen Arbeitsfront" zu entziehen und sie der Kammer zwangsweise anzugliedern. Damit war ein weiterer Schritt auf dem Wege der Gleichschaltung getan, ein wichtiger wie der Kommentator des „Telegraaf" befand, der der gleiche war, der auch den Artikel zum „Reichsnähstand" geschrieben hatte. Gleichschaltung der Kultur bedeutete, dass man alle schöpferischen Tätigkeiten auf Stromlinie brachte und alles, was nicht auf der Linie der Nationalsozialisten lag, verbot. Es musste ein Ariernachweis erbracht werden, wenn man aufgenommen werden wollte, das hieß, dass man die „arische" Abstammung aus der „arischen Volksgemeinschaft" erbringen musste. Damit wurden Juden, Sinti und Roma von vornherein ausgegrenzt, aber auch solche Künstler wurden abgelehnt, die aus Sicht des NS-Regimes „entartete Kunst" produzierten, sie wurden als Kulturbolschewisten bezeichnet.

Die „Reichskulturkammer" war ein sehr effizientes Instrument, um alle Kulturschaffenden zu kontrollieren und im Falle der Missbilligung deren Werke zu verbieten. So wurde moderne Kunst verboten und viele Kunstwerke wurden aus Museen entfernt, es gab im gesamten Spektrum der deutsche Kultur nur noch regimekonforme Kunst.

„Das ist ja furchtbar!", schrie Marga, „der 22. September 1933 ist der Todestag der deutschen Kultur, das, was man mit der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 angefangen hat, ist nun auf die gesamte Kultur übertragen worden.“ Doris fragte:

„Kann es denn überhaupt eine staatlich verordnete Kultur geben, ich meine, das Kulturelle erwächst in einer Gesellschaft doch immer aus den Besonderheiten, die sich in ihren einzelnen Teilbereichen gebildet haben und zwar ohne staatliches Zutun."

„Das sehe ich auch so", sagte Petra, „die Absicht, die sich dahinter verbirgt, ist vollkommen klar: der Staat versucht damit die Intellektuellen, die sich in Kreisen der Kulturschaffenden bewegen, an die Kandare zu nehmen und so frühzeitig oppositionelle Strömungen im Keim zu ersticken, „Reichskulturkammer", was für ein Wortungetüm!" Der Kommentator ließ sich am Schluss in seinem Artikel über den verlangten „Ariernachweis" aus, der als Abstammungsnachweis die Zeit bis 1800 zurückzuverfolgen hatte, alle aufgeführten Vorfahren mussten mit Namen, Beruf, Religion, Geburts- und Sterbedatum aufgelistet werden.

Das konnte den Einzelnen schon einmal in Schwierigkeiten bringen, wenn er den Nachweis nicht erbringen konnte. Es setzte ein Run auf die Kirchen ein, die ihre Taufregister offenlegen mussten, damit sich die Menschen daraus mit den nötigen Daten versorgen konnten. Der Kulturschaffende war mit der Errichtung der „Reichskulturkammer" seiner künstlerischen Freiheit beraubt, er musste alles, was er produzierte, an den strengen Vorgaben des NS-Regimes messen. Eine Woche vor Studienbeginn überlegten Petra und Marga, ob sie alles hätten, was sie für die Uni brauchten, aber außer Schreibzeug und einer Tasche war das zunächst einmal nichts. Marga würde die Tasche benutzen, die sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag von ihren Freundinnen geschenkt bekommen hatte. Ihren Füller würde sie nicht mit in die Uni nehmen, der war ihr zu kostbar. Es wäre nicht auszudenken, wenn er ihr in der Uni verloren ginge oder vielleicht sogar gestohlen würde, was sollte sie danach Frau Theißen erzählen? Als der Grillabend bei Gerrits anstand, schwangen sich Rozenbaums auf ihre Fietsen und fuhren zu ihren neuen Freunden. Es war der letzte Samstag im September, der 30.09.1033, an dem sie zum Grillen fuhren. Sie wurden herzlich begrüßt, und es war auch schon alles vorbereitet. Gerrits bewohnten wie auch die Rozenbaums ein älteres Haus, das aber im Bau grundsolide war und für alle ausreichend Platz bot. Sie gingen gleich auf die Terrasse und Iris holte die Getränke, es war Petras und Margas letztes Wochenende ohne Verpflichtung, danach wären sie Studentinnen, der Unibetrieb ging am Montag, d. 02.10.1933 los.

Petra und Marga ließen sich jede von Iris ein Glas Wein einschenken und prosteten sich zu. Bis die anderen so weit waren, um mit ihnen anzustoßen, hatten sie ihr Glas schon leergetrunken und ließen sich von Iris eine neues einschenken. Piet stand mit erhobenem Glas am Tisch und trank auf die Freiheit der Niederländer, und alle stießen mit ihm an. Wenngleich die Freiheit der Niederländer eigentlich nur zusammen mit der Unfreiheit der Deutschen gedacht werden konnte und den Rozenbaums dabei nicht ganz wohl war. Es gab herrliches Fleisch bei Iris und Piet, Wim saß mit am Tisch und ließ sich von seiner Mutter bedienen, die ihm ein riesiges Stück Fleisch auf den Teller lud. Als er sein Fleisch vertilgt hatte, stand er auf und ging wortlos von dannen, was Doris merkwürdig vorkam. Iris bemerkte Doris´ verstörten Blick und sagte ihr:

„Wim war immer so, er hat seinen eigenen Kopf und wenn man ihn lässt, eckt er mit niemandem an, kommt man ihm aber in die Quere, bekommt man übelsten Krach mit ihm." Nach einer Weile fing Piet prompt mit der „Reichskulturkammer" in Deutschland an und fragte:

„Ihr habt doch sicher von der „Reichskulturkammer" in Deutschland gelesen, was sagt ihr dazu?" Max antwortete:

„Das ist für uns unvorstellbar, jede intellektuelle Regung wird kontrolliert, und wenn sie nicht auf Linie ist, verboten."