Morde und Leben - Kerger und Richter - Hans Müller-Jüngst - E-Book

Morde und Leben - Kerger und Richter E-Book

Hans Müller-Jüngst

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Beschreibung

Klara Buchloh lebt allein in einem reparaturbedürftigen Haus in einer mittelgroßen Stadt. Eines Tages findet man ihren Torso mit Kopf in ihrem Keller, ihre Gliedmaßen sind im Quadrat um ihren Wohnort ausgelegt. Die beidenmit dem grausamen Fall betrauten Kommissare stehen zunäxchst or einem Rätsel, lösen den Fall aber schließlich wie gewohnt.

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Hans Müller-Jüngst

Morde und Leben - Kerger und Richter

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Klara Buchloh

Gertis Exorzismus

Lezek Kuczinsky

Klaras Kinder

Die Kommissare

Endlich ein Anhaltspunkt

In Hamburg

Stralsund

Die Festnahme der fünf Frauen

Impressum neobooks

Klara Buchloh

Frau Buchloh war alleinstehend und wohnte in einem alten Haus in der Vorstadt. Sie stand kurz vor ihrem 72. Geburtstag und war schon Witwe, sie war für ihr Alter sehr gut aussehend und sehr vital. Ihr ehemaliger Mann hatte ein Lungenleiden und war letztlich daran gestorben.,das war zwei Jahre, bevor sie ihre Goldene Hochzeit gefeiert hätten.

Frau Buchloh hatte sich nach dem Tod ihres Mannes soweit eingerichtet, sie war das, was man als rüstig bezeichnen konnte und übernahm das Arbeitsquantum, das früher ihr Mann verrichtet hatte, mit. Da war vor allem der Garten, der zu pflegen war, und den ihr Mann über alles geliebt hatte. Er hatte alles im Griff, was mit dem Garten zu tun hatte, und er wusste genau, wann etwas zu düngen war, wann Kalk aufgebracht werden musste und wann Gift zu spritzen war. Denn dass Gift gegen die Pflanzenschädlinge einzusetzen war, war für ihn klar, wie sonst hätte man gegen die Schädlingsplage vorgehen sollen? Hin und wieder wurden seine Pflanzen davon befallen, und da konnten die jungen Leute wie seine Kinder reden wie sie wollten. Sicher, das E 605, das er früher eingesetzt hatte, war inzwischen verboten, weil es DDT enthielt. Er nahm Roundup, das zwar auch verboten war, er ließ es sich aber immer von seinem polnischen Nachbarn aus dessen Heimat mitbringen, denn in Polen konnte man Roundup überall problemlos kaufen. Frau Buchloh pflegte zum Umgang ihres Mannes mit dem Pflanzengift nichts zu sagen, sie mischte sich überhaupt nicht in die Gartenbelange ihres Mannes ein.

Sie war schlank und drahtig, was daran liegen mochte, dass sie ein Leben lang gearbeitet hatte. Das hatte sie von ihren Eltern, die zur Kriegsgeneration gehört hatten und, da sie selbst in bescheidenen Verhältnissen lebten, die Mark dreimal umdrehten, bevor sie sie ausgaben. Frau Buchloh hatte langes, fast weißes Haar, das sie an jedem Morgen zu einem Knoten zusammenband und unter einem Haarnetz versteckte. Sie trug über einer schlichten Bluse und einem grau-grünen Flanellrock einen Allerweltskittel, wie ihn beinahe alle Frauen in ihrem Alter trugen. Früher mochte so ein Kittel dazu gedacht sein, die Kleidung vor dem Schmutz zu schützen, der bei der Hausarbeit anfiel, heute war er eigentlich überflüssig. Wenn Frau Buchloh ihn trotzdem jeden Tag aufs Neue anzog, dann geschah das, weil sie nicht mit dem Althergebrachten brechen wollte, und mochte es noch so überholt sein. Dadurch, dass ihr Haar völlig aus dem Gesicht verschwunden war, stach die Warze, die sie auf ihrer rechten Wange trug, besonders ins Auge, und nicht genug damit, dass es die Warze nun einmal gab, saß mitten auf ihr gut sichtbar ein Haar. Die Haut an ihren Armen warf Falten und war voller Altersflecke. Aber das scherte sie nicht, sie trug einfach langärmlige Blusen, die die Flecken verdeckten. Sie war von ihrer Erscheinung her eher unscheinbar und man nahm kaum Notiz von ihr. Nur der polnische Nachbar, Herr Kuczinsky, hielt schon einmal ein Schwätzchen über den Gartenzaun und unterhielt sich mit ihr über scheinbar Belangloses wie das Wetter.

Es kam aber auch vor, dass sie ein Fachgespräch über den Anbau von Topinambur oder Melde hielten. Das waren zwei Pflanzen, die früher nur von armen Leuten angebaut und gegessen wurden, und die heute Einzug in die moderne Küche gehalten haben. Herr Kuczinsky war immer adrett gekleidet und machte einen gepflegten Eindruck. Er war ebenfalls Witwer und 3 Jahre jünger als Frau Buchloh. Er trug sein Haupthaar glatt nach hinten gekämmt, was seine an sich sanften Gesichtszüge hervortreten ließ und ihn zu einer sympathischen Erscheinung machte. Man hätte meinen können, dass zwischen Frau Buchloh und ihm eine Beziehung möglich gewesen wäre, aber dazu war es noch zu früh, der Tod von Herrn Buchloh lag erst ein Jahr zurück, und Frau Kuczinsky war erst seit 2 Jahren tot. Das Haus, in dem Frau Buchloh lebte, war verwohnt, um es einmal neutral auszudrücken, es war in Wirklichkeit heruntergekommen und musste an allen Ecken und Enden repariert werden, angefangen beim Keller bis zum Dach. Die Reparaturbedürftigkeit betraf die Wasserleitungen, die Stromleitungen, die Fenster und das Dach selbst, um nur die neuralgischsten Punkte zu nennen. Immer, wenn es durch das Dach regnete, es durch die Fenster zog, die Wasserleitungen undicht waren oder die Sicherung herausflog, holte Frau Buchloh Herrn Kuczinsky zu Hilfe, der dann eine provisorische Reparatur durchführte. Danach hielt er Frau Buchloh immer einen Vortrag darüber, wie wichtig ein dichtes Dach oder dichte Fenster wären, und Frau Buchloh hatte sich fest vorgenommen, die Großreparaturen durchführen zu lassen, soviel Erspartes hatte sie. Sie konnte das Dach eindecken und neue Fenster einbauen lassen.

Die Alternative hätte geheißen, das Haus zu verkaufen und in eine Mietwohnung zu ziehen, das hatte sie sich wohl überlegt. Dafür hätte gesprochen, dass sie alle Sorgen um anstehende Reparaturen los gewesen wäre und vielleicht in Kontakt zu netten Mietern hätte kommen können, dagegen die inzwischen doch sehr hohen Mieten und der Status als Nichteigentümer, der sich an die Vorgaben des Vermieters zu halten hatte. Dazu käme noch der Umzug in ein völlig neues Wohnumfeld, wo sie eine Unbekannte wäre, um die sich erst einmal niemand kümmern würde.

Zu ihrem Haus gehörte auch ein Vorgarten, in dem sie ab dem Frühling immer zu tun hatte, und jeder, der vorbeikam, grüßte sie und sie grüßte zurück. Nein, diese Vertrautheit mochte sie doch nicht missen, und da würde ihr in einer Mietwohnung doch einiges fehlen. Stavenkirchen hieß die Kleinstadt, in der sie lebte, und sie fühlte sich wohl in der norddeutschen Stadt. Ihre Kinder lebten mit ihren Enkeln am anderen Ende von Stavenkirchen, sie besaßen Autos, und so war es ein Leichtes für sie, zu Besuch zu kommen. Mindestens einmal in der Woche kamen Lotti, ihre Tochter mit Bernd, deren Mann und Leni und Felix, deren 9 und 11 Jahre alte Kinder oder Oliver, ihr Sohn und Gabi, dessen Frau mit Sascha und Dorith, deren 7 und 9 Jahre alten Kindern zu Besuch.

An ihrem Geburtstag oder an hohen Feiertagen wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten waren sie natürlich alle da, und zu diesem Anlass backte Frau Buchloh dann immer eine Buttercremetorte, die ihre Kinder besonders gern aßen.

„Oma, hast Du wieder so eine leckere Torte für uns gebacken?“, fragten sie dann und Frau Buchloh antwortete:

„Ihr wisst doch, dass es zu solchen Festtagen immer eine Buttercremetorte gibt!“ Manchmal kam es vor, dass die Enkel bei der Oma schlafen durften. Das war das Größte für die Kleinen, und Frau Buchloh hatte einen Heidenspaß mit ihren Enkeln.

„Ich möchte heute oben schlafen!“, forderte Sascha dann, und er meinte den Speicher, der zwar nicht regelrecht ausgebaut war, auf dem man aber auf Matratzen, die dort ausgelegt waren, gut schlafen konnte.

„Wer möchte denn mit Sascha auf dem Speicher schlafen?“, fragte die Oma dann die Kinder, aber eigentlich kam nur Felix in Frage. Die beiden Jungen machten dann auf dem Speicher immer ordentlich Rabatz, bevor sie schliefen, und die Oma ließ sie gewähren.

„Beim nächsten Mal sind die Mädchen wieder dran, oben zu schlafen“, sagte sie und die Enkel akzeptierten, was ihnen ihre Oma sagte.

An ihrem Geburtstag, der im August lag, saßen sie immer alle draußen auf der Terrasse, und die Kinder tobten im Garten herum. Besonders der Schuppen, den Herr Buchloh dort errichtet hatte, hatte es ihnen angetan, und sie durchwühlten ihn von oben bis unten. Entsprechend verdreckt kamen sie wieder zur Terrasse und wurden dort von ihren Müttern erst einmal wieder saubergemacht, sofern sich das dort regeln ließ. An Frau Buchlohs Geburtstagen war auch immer Herr Kuczinsky eingeladen, und er kam sehr gern. Er brachte für die Kinder Bonbons mit und war deshalb von ihnen besonders geschätzt, aber sie bekamen natürlich auch von Oma Buchloh Süßigkeiten. Frau Buchloh hatte eine alleinstehende Schwester, die in Hamburg lebte und immer zu ihrem Geburtstag und an Weihnachten erschien, so auch an dem 72. Geburtstag. Sie war zwei Jahre jünger als ihre Schwester und sah ihr zum Verwechseln ähnlich. Herr Kuczinsky fühlte sich durch die Anwesenheit der unwesentlich älteren Damen geradezu herausgefordert und übertraf sich beinahe selbst mit Komplimenten. Die Schwestern saßen nebeneinander und hatten sich viel zu erzählen. Gerti, die Schwester aus Hamburg, war die redseligere:

„Also, ich muss Dir unbedingt erzählen, was ich neulich bei mir in Hamburg erlebt habe...“. So fing sie an und hörte fast nicht mehr auf, wenn Klara, so der Vorname von Frau Buchloh, sie nicht regelmäßig unterbrochen hätte. Gerti hielt sich beim Kuchen nicht zurück, genau wie Herr Kuczinsky, sie nahm sich zwei Stücke Buttercremetorte und war danach pappsatt.

Natürlich hatte Klara auch noch weiteren Kuchen, eine Buttercremetorte hätte für alle sicher nicht gereicht. Die Kinder stromerten durch den Garten, während sich die Erwachsenen unterhielten, und sie nahmen sich wieder den Schuppen vor. Nachdem sie dort alles von oben nach unten geräumt hatten, kamen sie voller Dreck zur Terrasse und die Mütter wussten sich nicht anders zu helfen, als den Wasserschlauch zu nehmen, den Klara dort liegen hatte und die Kinder so lange abzuspritzen, bis sie sauber waren. Lotti und ihre Familie wohnten nicht weit von Oliver und seiner Familie am anderen Ende von Stavenkirchen, sie brauchten mit ihren Wagen eine Viertelstunde, um Klara zu besuchen. Lotti war eine Mitvierzigerin, die sich ihrer Schönheit bewusst war. Bernd arbeitete als Informatiker bei einer Computerfirma in der Nachbarstadt Nordwyk, die auch gleichzeitig Kreisstadt war. Er war das, was man einen Nerd nennen würde, wenn man ihn nicht näher kannte. Oliver war Einzelhandelskaufmann im örtlichen Baumarkt, er war vom Äußeren her rundlich und hatte auch schon ein Kränzchen. Die beiden Frauen waren Hausfrauen. Lotti und Bernd legten großen Wert auf sportliche Betätigung und das sah man auch an deren Figuren, sie waren durchtrainiert und schlank. Lotti trug langes Blondes Haar, und wenn sie in Jeans die Straße entlanglief, hätte an sie für ein junges Mädchen halten können. Bernd sah in dem Anzug, in dem er zur Arbeit ging, aus wie ein junger Mann. Bei Oliver und Gabi lag die Sache etwas anders, beide hielten sie von Sport nicht so viel, sie setzten sich nach Feierabend zusammen und tranken jeder Bier. Sie waren nicht gerade dick, aber man konnte erkennen, dass sie übergewichtig waren.

Die Kinder gingen auf die Grundschule in Stavenkirchen, nur Felix besuchte die Gesamtschule in Nordwyk. Sie verbrachten ihre Freizeit wie alle Kinder vor ihren Computern und tauschten sich mit Freunden regelmäßig in der Schule über die neuesten Spiele aus. Die jungen Familien trafen sich in lockeren Abständen mal bei dem einen und mal bei dem anderen, sie wohnten 2 Minuten zu Fuß auseinander.

Bei Klara ging es langsam auf den Abend zu, und sie hatte natürlich alle zum Abendessen eingeladen. Auch hier ließ sie sich nicht lumpen und brachte gute Sachen auf den Tisch: es gab verschiedene Fleisch- und Fischsalate, kalten Braten, selbstgemachte Sülze, die die Kinder nicht so gern mochten, viele Wurst- und Käsesorten und vor allem ausgezeichnetes Brot. Sie hatte in der Nachbarschaft einen Bäcker, dessen Spezialität ein sehr gutes Roggenbrot war, es war sehr kräftig und hatte eine knusprige Kruste. Zum Essen gab es für die Erwachsenen Bier und Wein und für die Kinder Sprudel. Meist war es so, dass eine der beiden Mütter den Fahrdienst übernahm und deshalb auch zum Sprudel griff, die drei anderen konnten trinken und hielten sich auch nicht zurück. Obwohl der Platz reichlich eng bemessen war, fuhren sie mit nur einem Wagen, sie mussten eben zusammenrücken und die Kinder auf den Schoß nehmen.

Herr Kuczinsky sah sich immer genötigt, eine kurze Rede zu halten und er stand dazu auf:

„Liebe Frau Buchloh, wir freuen uns alle, heute mit Ihnen Ihren 72. Geburtstag feiern zu dürfen. Wir wünschen Ihnen alles Gute und noch viele weitere Lebensjahre!“ Daraufhin erhob er sein Bierglas und prostete mit allen anderen Klara zu, die sich sichtlich gerührt über die netten Worte freute.

„Lieber Lezek“, fing sie mit einem Male an, „wir beide kennen uns nun schon so lange, ich biete Dir hiermit das Du an!“ Herr Kuczinsky wusste im ersten Moment gar nichts zu entgegnen und sagte schließlich:

„Ich heiße Lezek“ und Frau Buchloh:

„Und ich Klara“.

Die beiden sahen sich an, hakten sich unter und gaben sich eine Kuss auf die Wangen. Die anderen brachen in lautes zustimmendes Gegröle aus und freuten sich darüber, dass sich die beiden Alten endlich duzten. Gegen 21.00 h machte Klara Schluss, die Kinder mussten ins Bett, am nächsten Tag mussten sie früh aufstehen, um in die Schule zu gehen, und Felix musste mit dem Bus fahren. Ihre Väter mussten noch früher hoch, um zur Arbeit zu gehen und zu fahren.

Gerti blieb noch bei Klara und würde erst am nächsten Tag den Zug zurück nach Hamburg nehmen. Lezek wünschte den jungen Familien eine angenehme Rückfahrt und bedankte sich bei Klara für das schöne Geburtstagsfest, danach ging er nach nebenan zu sich. Klara und Gerti saßen noch eine Zeit draußen am Tisch und unterhielten sich.

„Was empfindest Du eigentlich für Lezek?“, fragte Gerti ihre Schwester und Klara antwortete:

„Ich finde, dass Lezek ein sehr entgegenkommender Mensch ist, der mir jeden Gefallen tut, er hat mir über die schwere Zeit nach dem Tod meines Mannes hinweggeholfen. Ich weiß nicht, wie ich diese schwere Zeit sonst hätte überstehen sollen. Wenn Du aber darauf abhebst, dass sich da eine Beziehung zwischen ihm und mir anbahnt, muss ich Dich enttäuschen, für eine neue Beziehung ist es noch zu früh.“

Gerti fuhr am nächsten Tag gegen Mittag wieder nach Hamburg zurück, Klara hatte sie zum Bahnhof begleitet. Sie stand bei der Abfahrt des Zuges auf dem Bahnsteig und winkte, bis von Gerti nichts mehr zu sehen war. Gerti schloss das Zugfenster und setzte sich auf ihren reservierten Platz. Sie dachte an das Exorzistentreffen, das an diesem Abend bei ihr stattfinden sollte. Es trafen sich mit ihr zusammen immer fünf Frauen abwechselnd, mal bei der einen, mal bei der anderen, dieses Mal bei Gerti, in lockerer Runde. Es ging gar nicht erst immer um exorzistische Gespräche oder Handlungen, sondern man saß einfach beieinander und fühlte sich wohl. Diejenige, bei der das jeweilige Treffen stattfand, musste sich um Speisen und Getränke kümmern und die musste Gerti noch besorgen, sobald sie zu Hause bei sich angekommen war.

Es kamen Lydia, Gerda, Helene und Doris zu ihr, und alle hatten sie in etwa das Alter von Gerti, nur Helene war etwas älter. Es wurde bei ihren Zusammenkünften immer gut gegessen und getrunken, und manchmal kam es sogar vor, dass sie so betrunken waren, dass niemand mehr zu sich nach Hause gefunden hätte. Sie mussten dann bei der betreffenden Einladenden übernachten. An die Durchführung ihres exorzistischen Rituals war dann natürlich kein Denken mehr, und sie ließen es einfach ausfallen. Sie hatten sich schon einen Namen als die exorzierenden Frauen erarbeitet und es in ihrem näheren Wohnumfeld in Hamburg zu einiger Bekanntheit gebracht. Dennoch wusste Klara nichts von den exorzistischen Umtrieben ihrer Schwester, und sie hätte mit Sicherheit alles getan, um sie von diesem Übel abzubringen. Gerti, deren Mann vor mehr als zehn Jahren gestorben war, war schon kurz nach seinem Tod zu ihren exorzistischen Freundinnen gestoßen, und ihr Erfolg, wenn auch noch sehr bescheiden, beflügelte sie.

Gertis Exorzismus

Sie nahmen sich der vom Teufel Besessenen an und vollführten an ihnen ihre exorzistischen Rituale. Diese Personen waren in der Regel junge Frauen, manchmal auch noch Kinder und wurden ihnen von deren Eltern gebracht. Die fünf Exorzistinnen vergewisserten sich natürlich, dass die Besessenen nicht an einer psychischen Krankheit litten oder sonst einen gesundheitlichen Schaden hatten, derentwegen sie in Verzückungen oder eine Exaltiertheit gerieten. Es war nicht so, dass die Fünf besonders stark im christlichen Glauben verankert waren und deshalb die Teufelsaustreibungen vornehmen wollten.

Vielmehr war es so, dass ihnen das Spektakel als solches Vergnügen bereitete, wenngleich sie sich das nie anmerken ließen. Besonders Lydia und Helene bereitete der Akt des Exorzierens immer eine riesige Freude, obwohl doch in er Regel ein Mensch vor ihnen stand oder besser lag, der furchtbare Qualen litt. Vielleicht war es die Tatsache, dass es dem Teufel an den Kragen ging, und sie ihn in ihrem Zimmer dem Opfer entreißen wollten. Vielleicht war es aber auch der Umgang mit dem Anrüchigen und Verbrämten, das sie ans Tageslicht befördern konnten. Es gab ganz unterschiedliche Ausprägungen der Besessenheit bei den Betroffenen: manche schrien, manche machten ganz verrückte Verrenkungen und andere entwickelten unmenschliche Kräfte. Immer waren die Opfer der Teufelsbesessenheit aber ganz hilflose Wesen, denen die fünf Exorzistinnen zu helfen gedachten. War es verwerflich, was sie da mit den armen Besessenen trieben, wie manche dachten?

Der Exorzismus war in den Augen vieler selbst des Teufels, er galt als Verschwörung, wenn nicht Hexerei. Dabei wusste kaum jemand, worum es bei dem Exorzismus überhaupt ging, und was dabei getan wurde. Man unterschied zwischen kleinem und großem Exorzismus, wobei der kleine alle Maßnahmen umfasste, die unterhalb der von der Kirche praktizierten exorzistischen Übungen angesiedelt waren, letztere waren der große Exorzismus und durften auch nur von der Kirche durchgeführt werden. Insofern war das, was die Fünf während ihrer Treffen mit ihren Schutzbefohlenen so anstellten, äußerst grenzwertig. Sie führten nämlich den großen Exorzismus durch, wie er eigentlich nur mit dem Segen der Kirche praktiziert werden durfte. Ausgangspunkt war immer die Frage, ob die betreffende Person wirklich besessen war, oder ob sie einer Krankheit, die medizinische Ursachen hatte, erlegen war.

Typische Anzeichen von Besessenheit waren der Wechsel des Charakters, epileptische Anfälle, Tobsucht, ungewöhnliche Kräfte und Aggression gegen alles Religiöse. Keine der fünf Exorzistinnen hatte jemals an einer offiziellen Ausbildung zum Exorzisten teilgenommen, die es ja gab. Weder Gerti, noch Lydia, Helene, Gerda oder Doris hatten sich jemals um so eine Ausbildung gekümmert. Im April 2015 fand erstmals in Rom ein Seminar zur Exorzistenausbildung statt, an dem nicht nur Geistliche, sondern auch Laien teilnehmen durften, Sie sollten lernen, die wahren Fälle von Teufelsbesessenheit von psychischen Erkrankungen unterscheiden zu können. Die fünf Frauen hatten das, was sie während der Treffen taten, bei anderen abgeschaut, sich angelesen oder von Priestern erzählen lassen.

Demnach schufen sie bei sich zunächst eine beruhigende Atmosphäre, indem sie vor allem das Licht abdunkelten und Kerzen ansteckten. Sie selbst hüllten sich in wallende Gewänder, bei denen nicht zu viele Farben sichtbar waren. So sollte von der eigenen Person abgelenkt und die Besessene in das Zentrum der Wahrnehmung gerückt werden. Die wiederum lag auf einem Bett mitten im Zimmer und trug ein weißes Nachthemd. Es kam vor, dass die Besessene so von Tobsucht befallen war, dass die Frauen sie im Bett an ihren Gliedern festbinden mussten, um sie dazu zu bringen, still zu liegen. Manche schrien sehr laut und hatten weit aufgerissene Augen, sodass die Frauen ihnen gegen das Schreien Tücher auf den Mund legten. Auf eine Beschallung des Zimmers verzichteten die Frauen, damit die Aufmerksamkeit der Anwesenden nicht vom Akt des Exorzierens abgelenkt werden würde. Der große Exorzismus und die damit verbundene Unterweisung von Interessenten oder zur Schulung geschickter Geistlicher wurde in Deutschland ausschließlich von der Katholischen Kirche praktiziert. Die Protestantische Kirche hatte sich zunehmend von exorzistischen Praktiken distanziert, nachdem die Geisteskrankheiten doch mehr und mehr erforscht und deshalb auch behandelbar waren.

Die Anerkennung der Tatsache, dass es das Böse gab, und es in der Person des Teufels Besitz von jemandem oder einer Sache ergriffen hatte, war Grundvoraussetzung für den Exorzisten. Damit wurden der Kritik Tür und Tor geöffnet, der Teufelsglaube wäre mittelalterlich, im modernen Computerzeitalter würde man nicht an den Teufel glauben, meistens wären Krankheiten die Ursache für das, was man als Besessenheit einschätzte. Nichtsdestotrotz hielt die Katholische Kirche an den Regelungen fest, die das Rituale Romanum in Bezug auf Exorzismus festgelegt hatte. Das Rituale Romanum enthielt wichtige liturgische Formulare, wie sie nicht im Messbuch oder anderen Veröffentlichungen zur gottesdienstlichen Ordnung zu finden waren. Das Exorzieren vollzog sich bei den Frauen streng nach den Maßgaben der Kirche, denn alle fünf waren sie Christinnen und wollten nicht von der Lehre abweichen. Die Besessene lag somit auf dem Bett und wurde mit Weihwasser besprengt, was oft schon eine heftige Reaktion zur Folge hatte, denn das Böse wehrte sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht gegen alles Heilige. Das Resultat war, dass die Frauen ihr Opfer oft festhalten mussten, und wenn das nicht half, wie schon gesagt, es mit Stricken regelrecht fesseln mussten. Oft halfen dabei die Eltern oder sonstigen anwesenden Personen mit, sie waren völlig verblüfft, solche Kräfte bei der Besessenen am Werke zu sehen, die sie vorher noch nie bei ihr bemerkt hatten.

Darauf folgte ein gemeinschaftliches Gebet mit der Anrufung Gottes und der Fürsprache der Heiligen. Immer wehrte sich das Böse im Opfer gegen alle Versuche, von ihm loszukommen. Lydia übernahm dann das Verlesen des Evangelientextes, und in dieser Phase des Exorzierens kam die Besessene langsam zur Ruhe. Allerdings konnte man an ihr ein hektisches Hin und Her der Augen beobachten, ein Zeichen dafür, dass das Böse in ihr noch aktiv war. Gerti legte zum Abschluss ihre Hände auf das Opfer und rief die Macht de Heiligen Geistes an, sie hob dabei das Kreuz, um den Teufel endgültig aus der Besessenen herauszutreiben. Immer noch gab es sehr heftige Gegenwehr und die Frauen hatten zu tun, um das Opfer ruhigzustellen. Am Ende des Exorzieraktes wurde ein Dankgebet gesprochen und die Prozedur war vorbei. Die ehemals Besessene war befreit und stand von ihrem Bett auf, um zu den Eltern oder den anderen betreuenden Personen zu gehen. Die schätzten sich überglücklich, dass das Exorzieren einen so positiven Abschluss gefunden hatte. Die Frauen nahmen einen kleinen Obolus entgegen, sie ließen sich nicht mit großen Summen für ihre Dienste bezahlen. Sie sahen die Prozedur des Exorzierens nicht als ein Geschäft an, sondern sie war für sie wie ein Gottesdienst, den sie mit allem Ernst betrieben. Damit war die Teufelsaustreibung beendet und die ehemals Besessene und ihre Eltern, oder die sie begleitenden Personen verließen voller Dank die Frauen wieder. Die Fünf setzten ihr Treffen fort, und Gerti stellte das vorbereitete Essen auf den Tisch. Es war nichts Großartiges, aber Gerti hatte warmes Essen vorbereitet, es war eine Gemüsesuppe mit Würstchen.

Nachdem alle gegessen hatten, ging es ans Trinken, und da hielt sich niemand von ihnen zurück. Sie begannen mit Bier und Wein und tranken am Ende auch Schnaps und davon so viel, dass sie zu kaum noch einer Bewegung in der Lage waren und am Ende alle bei Gerti übernachten mussten. Gerti hatte für solche Gelegenheiten Matratzen, die sie auslegte und zwei von ihnen schliefen in dem Bett, das zuvor im Mittelpunkt ihrer Behandlung gestanden hatte. Noch nie hatte Gerti auch nur ein Wort gegenüber ihrer Schwester über ihre Exorzierpraxis verlauten lassen. Erstens sahen sie sich nicht so oft, dass sich die Möglichkeit dafür bot, und zum Zweiten wusste sie nicht, wie Klara reagieren würde. Die fünf Frauen unternahmen in Hamburg auch sonst viele gemeinsame Dinge und gingen oft durch die Stadt spazieren. Doris, die Kleinste von allen, war immer ganz wild darauf, vor den Schaufenstern zu stehen und sich die Kleidung anzusehen, die dort ausgestellt war. Doris war lustig und lebensfroh, sie hatte ein paar Pfunde zu viel, scherte sich aber nicht darum. Lydia war auch leicht pummelig, aber auch sie gab nicht viel darum. Sie war die Schweigsame von den Fünfen, sie lief manchmal eine ganze Stunde neben den anderen, ohne einen Ton von sich zu geben. Helene hatte Gerti besonders in ihr Herz geschlossen, weil sie so warmherzig und offen war. Sie hatte in etwa Gertis Statur und hakte sich oft bei ihr ein, wenn sie spazieren gingen. Gerda war nicht gerade die Außenseiterin, aber sie musste zuerst angestoßen werden, bevor sie mit den anderen etwas anstellte, und wenn es auch nur darum ging, einen gemeinsamen Spaziergang zu machen.

Alle Fünf hatten sie wie Klara langes weißes Haar, das sie zu einem Knoten zusammenbanden und unter einem Haarnetz verschwinden ließen. Nie zogen sie aber so einen Haushaltskittel über, wie Klara das immer tat. Stattdessen trugen sie nicht gerade vornehme, aber doch feine Alltagskleidung. Wie oft waren sie schon in St. Pauli an der Cap San Diego vorbeigelaufen, immer den Blick auf die im Entstehen

begriffene neue Elbphilharmonie. Die Elbphilharmonie in der Speicherstadt war ein Blickfang und wollte es auch sein. Jeder, der sich zu Wasser St. Pauli oder der Speicherstadt näherte, musste seine Augen auf die Elbphilharmonie richten. Wenn sie in einem Monat fertiggestellt sein und im Januar 2017 das Eröffnungskonzert gegeben würde, würden sie es zusammen im Fernsehen verfolgen. Irgendwann würden sie sich auch ein Konzert live ansehen. Sie waren alle Fünf Klassik begeisterte Hörerinnen und würden sich an dem Abend schick anziehen. Sie wussten, dass der Eintritt nicht gerade billig wäre, aber sie waren bereit, sich das Vergnügen in der Elbphilharmonie etwas kosten zu lassen. Schließlich war ein Konzert in dieser noblen Umgebung etwas ganz Besonderes, um das sie viele beneiden würden.

Manchmal stiegen sie auch auf die Fähre und fuhren mit ihr nach Övelgönne, um sich ein Strandgefühl zu verschaffen. Schon das An- und Ablegemanöver der Fähre war so eindrucksvoll für sie, dass sie öfter einfach nur dastanden und zusahen, wie die Fähre anlegte. Der Kapitän hatte das Manöver so verinnerlicht, dass er auf der Elbe wendete und mit praktisch unverminderter Geschwindigkeit auf die Hafenmauer zuraste, sodass man als Zuschauer dachte, es käme zur Kollision. Im letzten Augenblick aber drosselte der Kapitän die Geschwindigkeit und legte ganz normal an. Unter den Zuschauern waren dieses Mal die fünf Frauen, und ihnen schlug das Herz bis zum Hals hoch. Nachdem das Anlegemanöver aber tadellos vollbracht war, gingen sie an Bord und setzten sich bei dem herrlichen Wetter, das gerade herrschte, an Deck. Die Fähre füllte sich nach und nach und sie waren froh, dass sie so früh an Bord gegangen waren und einen Platz an Deck abbekommen hatten.

Die Fahrt dauerte gerade einmal zwanzig Minuten und sie legten im alten Hafen von Övelgönne wieder an, um danach zum Strand zu laufen. Es waren viele Menschen am Strand und einige gingen sogar im Elbwasser baden, was wegen der Verschmutzung, aber auch wegen der Strömung des Flusses, nicht ungefährlich war. Die fünf Frauen setzten sich auf eine Decke, die sie mitgebracht hatten und beobachteten das Treiben. Auf der Elbe herrschte reger Schiffsverkehr und immer, wenn einer der großen Pötte vorbei schob, kam die Rede auf Ausbaggerung der Elbe. Ohne sich groß mit der Materie auseinandergesetzt zu haben, waren alle Fünf aus einem tief in ihnen verwurzelten Umweltbewusstsein heraus gegen eine Vertiefung des Flusses. Die großen Pötte wurden natürlich von einem Lotsen in den Hafen dirigiert.

„Haben wir eigentlich heute Abend jemanden bei uns zum Exorzieren?“, fragte Lydia mit einem Mal in die Runde, als wäre sie gerade aufgetaut.

„Wir haben heute bei Helene ein 13-jähriges Mädchen und sollten uns deshalb auch nicht allzu lange hier aufhalten!“, antwortete Gerda, und sie standen kurze Zeit später alle wieder auf und liefen wieder zum Hafen zurück. Nachdem ihre Fähre wieder in St. Pauli angelegt hatte, nahmen sie die S-Bahn und fuhren zu Helene, dort bereiteten sie alles für die Sitzung vor. Sie rückten Helenes Bett in die Mitte des Zimmers und zogen ihre wallenden Gewänder über. Das Essen für die Zeit nach der Exorzierprozedur hatte Helene schon am Vortag vorbereitet und brauchte es nur aufzuwärmen. Schon schellte es, und das Mädchen kam mit seinen Eltern, die es hielten, denn es war sehr unruhig und wollte sich andauernd von seinen Eltern losreißen. Auf die fünf Frauen kam eine anstrengende Sitzung zu.

Lezek Kuczinsky

Lezek Kuczisnky stand in seinem Keller vor einem Regal mit Militaria und begutachtete einen alten NS-Stahlhelm, den er vor Kurzem aus dem Internet erstanden hatte, und der ihm gerade per Post zugestellt worden war. Lezek war Sammler vom Militaria und da besonders solcher aus der NS-Zeit. Das war in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: einmal war es verboten, solche alten NS-Symbole bei sich zu horten, und zum anderen sammelte er als ehemaliger Pole gerade NS-Militaria, wo doch Polen als Land ganz besonders unter der NS-Diktatur zu leiden gehabt hatte. Lezek war geradezu vernarrt in die NS-Symbole, er konnte auch nicht sagen, warum, vielleicht war es gerade, weil sein Heimatland von der NS-Diktatur so stark betroffen war.