Brüder Blut - Lele Frank - E-Book

Brüder Blut E-Book

Lele Frank

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Beschreibung

Die Rivalität zweier Brüder scheint unüberwindbar, und grenzenlos. Es gab Zeiten, in denen sie sich bis aufs Blut gehasst haben. Einander nichts gegönnt, und sei es auch noch so wenig. Willem, der Ältere von beiden, macht von seinen Rechten skrupellos Gebrauch, und schreckt nicht davor zurück, dem Jüngeren das Leben schwer zu machen. Clever und abgeschlagen ist seine Haltung. Kleine Unehrlichkeiten erhalten seine Lebensfreude. Sie scheinen eine Art Sport für ihn zu sein. Wie eine unaufhaltsame Dampfwalze rollt er durchs Leben. Bei Frauen hat er einen Schlag, was ihn aber nicht davon abhält, sich auch noch die zu nehmen, die ihm eigentlich nicht zustehen. Sein viriler Charme kommt ihm dabei Zugute. Man nennt ihn "den Büffel". Alles, erreicht Willem "der Büffel", im Leben. Alles was er aufs Korn nimmt. Doch wieviel es auch sein mag, es ist nie genug. Es kommt der Tag, an dem Willem etwas braucht, was man mit Währung nicht kaufen kann, und er bekommt es ohne eine Sekunde des Zögerns. Die wahre Größe eines Menschen liegt in seiner Fähigkeit zu vergeben.

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Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Lele Frank

 

B R Ü D E R    Blut

 

Buch 15

Das Buch

Die Rivalität zweier Brüder scheint unüberwindbar,  und grenzenlos. Es gab Zeiten, in denen sie sich bis aufs Blut gehasst haben. Einander nichts gegönnt, und sei es auch noch so wenig.

Willem, der Ältere von beiden, macht von seinen Rechten skrupellos Gebrauch, und schreckt nicht davor zurück, dem Jüngeren das Leben schwer zu machen. Clever und abgeschlagen ist seine Haltung. Kleine Unehrlichkeiten erhalten seine Lebensfreude. Sie scheinen eine Art Sport für ihn zu sein. Wie eine unaufhaltsame Dampfwalze rollt er durchs Leben. Bei Frauen hat er einen Schlag, was ihn aber nicht davon abhält, sich auch noch die zu nehmen, die ihm eigentlich nicht zustehen. Sein viriler Charme kommt ihm dabei Zugute. Man nennt ihn „den Büffel“.

Alles, erreicht Willem „der Büffel“, im Leben. Alles was er aufs Korn nimmt. Doch wieviel es auch sein mag, es ist nie genug.

Es kommt der Tag, an dem Willem etwas braucht, was man mit Währung nicht kaufen kann, und er bekommt es ohne eine Sekunde des Zögerns.  

B R Ü D E R Blut

Nach wahren Begebenheiten.

 

Lele Frank

 

 

Impressum

© 2015 Lele Frank

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-6947-7

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Wolfgang 

Wahrhaft gebt ihr erst, wenn ihr von euch selbst gebt.

Khalil Gibran

 Januar 1895 – April 1931

„Ment sakkament …sakka. Himmel ment, sakka. Ze…ment…, Himmel.“ Der kleine Willem stampft zornig mit dem rechten Fuß auf den Dielenboden. Sein Blick ist nach unten-, fest, auf diesen Boden gerichtet, und er stapft und flucht bis ihm sein Fuß schmerzt. Er beschließt, sich nur noch aufs Fluchen zu beschränken, das tut weniger weh. Sein Onkel Ernst sagt zwar immer: „de Dunderwedder noch e mool“, aber Willem sind in dieser Variante zu wenige zackige „K`s“ und „T`s“ drin, und es kracht nicht genug. Lieber mit seiner Version, den Unmut auszudrücken, da hat er länger etwas davon. Damit ist man nicht so schnell fertig. „Sakkament.“

Willem hatte die Faxen ganz schön dicke. Den lieben, langen Tag ständig das Gedöns um die Mutter, die bald ihr Junges wirft. Nee aber auch. Wieso konnte sie nicht einfach aufs Klo gehen, und das Ding ausscheißen? Auf was wartet sie denn noch? Sie sieht aus, als würde sie jeden Augenblick platzen. Dann sähe sie auch wieder besser aus, wenn sie diese riesige Trommel endlich los wäre, die Willem daran hinderte, die Mutter zu umarmen. Und ins Auto würde sie auch wieder besser hineinpassen. „Sakkament.“  Seitdem Willem wusste, dass das neue Geschwisterchen bei seiner Ankunft nicht seinen eigenen Fußball dabei haben würde, war es sowieso schon durch das Raster seiner seltenen Sympathiebekundung gesaust. Ein Schmarotzer, das fehlte gerade noch im Karton. Braucht kein Mensch sowas. „Na ja“, dachte Willem. „Vielleicht findet sich eine Gelegenheit, wo wir es gegen einen schönen, großen Hund eintauschen können.“ Zu Willems viertem Geburtstag hatte man diesen innigen Wunsch schamlos ignoriert. Es war schon allerhand, worüber sich die Eltern so alles hinwegsetzten. Wirklich allerhand. Sein Vater Kurt hatte ihm zum Geburtstag ein Schießgewehr aus Holz geschenkt. So ein Quatsch. Es machte nicht einmal richtig „peng.“ Willem hatte eine Schnute bis zu den Knien gezogen, als der Hund ausblieb. „Mit einem Baby im Haus hat das keinen Wert jetzt“, hatte ihm Mutter Heide weißzumachen versucht. Alles faule Ausreden. Er solle mit dem Jagdhund von Onkel Ernst spielen, wenn er da sei. Aber der hörte wie ein Backstein. Oft genug ignorierte er den kleinen Willem auch, weil der ihn manchmal heimlich drangsalierte. Jacco war ein grundanständiger Münsterländer, mit Nerven wie breite Nudeln. Ein anderer Hund hätte schon längst  Zähne gezeigt. „Wie soll man so seine Grenzen kennenlernen“, überlegte Willem zu tiefst enttäuscht. Außerdem gehörte ihm dieser langweilige Köter nicht, und alles was einem nicht wirklich gehört, ist nicht von Wert. „Sakkament.“ 

Aufgrund vielerlei, tiefschürfender Überlegungen und Erkenntnisse, beschloss Willem eines Tages, reich zu werden. Sehr reich. Koste es was es wolle, er – Willem -  würde das schaffen. Das war so sicher wie das Halleluja in der Kirche.  Dann …, das wusste Willem, könne er sich einen ganzen Stall voller temperamentvoller Hunde kaufen, und brauchte niemanden mehr, vergeblich darum zu bitten. Genau so wollte er es machen. Willem schreit wie am Spieß, und klagt über Bauchschmerzen. Theatralisch krümmt er sich in der Wohnstube, auf dem harten Sofa, hin und her. Sogar Tränen laufen ihm übers hochrote Gesichtchen. Tränen der Wut. Seit über einer Stunde schon, schenkte ihm keine Laus mehr Beachtung, denn alle rannten wild durcheinander, und riefen sich unverständliche Dinge zu. Eine Frau mit dem seltsamen Namen „Hebamme“ führte dabei das Wort an. Sie hatte sich Willem gegenüber sogar die Ungeheuerlichkeit erlaubt, ihn kurzerhand zu schnappen, und auf das große, harte Sofa zu verfrachten. Er solle nicht ständig im Weg umherlaufen, am Ende würde sie noch über ihn stürzen. Unfassbar! Gerade so, als wäre er noch so klein, dass man ihn übersehen könnte. Die Schmerzattacke sollte dazu dienen, die Aufmerksamkeit umzulenken, war aber zum Scheitern verurteilt. „Sakkament.“

Vater Kurt rief nach oben – dort waren die Schlafzimmer der Familie – dass er jetzt dringend auf die Baustelle müsste, er könne nicht länger bleiben. Willem war sofort klar: Es war die reinste Fahnenflucht, und kein wichtiger Termin, der nicht Zeit gehabt hätte. Nein, nein. Das war schnöde Flucht. Sonst, war Vater ja auch um diese Zeit zu Hause, um zu frühstücken. Es war halb zehn Uhr, und Willem knurrte der kleine Magen. Alles war heute durcheinander geraten. Alles. Und kein Mensch nahm von seinem Leiden Notiz. Ganz vorsichtig, vergewisserte er sich, ob denn die auch Luft tatsächlich rein war. Willem stand – vollkommen genesen - auf, und machte einen kleinen Rundgang durch die unteren Zimmer des großen Familienhauses. Gemächlichen Schrittes, trottete er von Raum zu Raum. Bloß nicht auffallen. Sein Oberkörper schwankte leicht hin und her, um besonders große Interessenlosigkeit zur Schau zu tragen. Das ging schon mal gut. Seine Schnute - zum Pfeifen gespitzt, es kam nur warme Luft und ein leises zischen - die Ärmchen hin und her schlenkernd, warf Willem erst einen Blick in die drei großen Büros, die vor drei Jahren ans Haus angebaut worden waren. Keiner da. Frau Kummer – die alte Sekretärin des Vaters – hatte heute, aus gegebenem Anlass, auch ihren freien Tag. Der Bauhof war leer, die Männer alle auf den Baustellen draußen. Optimale Bedingungen, um einem ganz besonderen Schrank auf die Lagerbestände zu überprüfen. Das große Sonntagsesszimmer war unverschlossen. Prima. Hektik hat auch ihre guten Seiten. Leise öffnete Willem die Tür, und luscherte ins Zimmer. Totenstille. Der große, schwarze Schrank aus der Gründerzeit machte immer einen düsteren Eindruck auf Willem, aber er verbarg ungeahnte Schätze, die, einem die Angst schon einmal überwinden lassen. Vorsichtig schob er einen der schweren, hochlehnigen Stühle vor das Schrankmonster, und erklomm-, den Blick, getrieben zwischen Hoffnungs-losigkeit und Gier, abwechselnd zwischen Zimmertür und Schrank, vorwärtsstrebend, unaufhaltsam, geschickt die gewölbte Sitzfläche. Seinem Ziel- der Verlockung, bereits ein großes Stück näher gekommen, hielt er inne um zu lauschen. Immer noch unentdeckt, ungestört. Leicht hätte es passieren können, dass das Unentdeckte, auch für ihn unentdeckt geblieben wäre, wenn jemand unverhofft die Zimmertür geöffnet hätte. Ein letzter Blick zur Tür - er konnte den süßen Genuss schon auf der Zunge schmecken – dann ein beherzter Griff nach oben … Ah, ja. Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Willem musste alles geben. Er streckte sich soweit es sein kleiner Körper zuließ, und öffnete die Tür, ohne ein einziges Mal, damit zu quietschen. Sesam öffne dich, du Guter. Oh ja …, alles da, was ein hungriger Magen so begehrt. Man musste jetzt strategisch vorgehen, um keine Auffälligkeiten zu hinterlassen. Ganz vorsichtig, ganz sachte, zog Willem eine Tafel Schokolade aus dem sauber aufgestapelten Türmchen, als sein Blick auf eine besonders hübsche Schachtel fiel. Auf dem Bild der hübschen Schachtel waren lauter leicht gekrümmte, einzelne Schokoladenstücke abgebildet. Eigentlich eine viel bessere Variante, denn es würde beim Auseinanderbrechen keine verräterischen Geräusche verursachen. Gut. So war Willems Entscheidung schnell getroffen. Vorsorglich nahm er die Schokoladentafel aber trotzdem mit. Willem wollte sie in seinem Zimmer für schlechte Zeiten deponieren. Jetzt, wo er den Sesam schon so ungestört öffnen konnte, durfte man nicht zimperlich sein. Vorsichtig verschloss er wieder die Schranktür, und schob vorschriftsmäßig den Stuhl, wieder zurück an seinen Platz. Jetzt musste er nur noch ungesehen am Schlafzimmer des Geschehens vorbei, dann war der Fisch geputzt, und er, der Schokoladenpirat, in seinem Zimmer in ungestörter Sicherheit. Zum Verzehr solcher Schätze musste man unbedingt ganz ungestört sein. Schon alleine deshalb, um so, eventuelle Begierden anderer Mitesser auszuschließen. Diese Gefahr lief man schließlich immer. Das erste Stück der glatten, glänzenden, einzelnen, leicht gekrümmten Schokoladenstücke, schmeckte einfach widerlich. Willem verzog enttäuscht das Gesicht, und schüttelte sich. Was war das für ein bitterer Geschmack? Trotzdem wollte Willem die Tafel jetzt nicht auch noch anbrechen, das wäre zu schade gewesen. Aus der Not heraus, futterte er noch ein Zweites, Drittes, Viertes, dieser seltsamen, gefüllten Schokoladenstücke. Innendrin – wie kam das dort nur hinein? - war diese Flüssigkeit, die diesen, für den kleinen Willem, undefinierbaren, leicht scharfen Geschmack hatte. Trotzdem irgendwie auch süß. Anders süß eben. Es roch auch so seltsam. Gar nicht richtig nach Schokolade. „Sakkament.“ So einfach war das auch gar nicht, sie auf einen Happen in den Mund zu stecken. Für Willems Mund waren sie zu groß, diese glatten Stücke. Ein wenig Gekleckere ließ sich da leider nicht vermeiden. Wenn doch nur die Finger nicht so kleben würden, „Sakkament.“ Nach dem zehnten Stück allerdings, empfand Willem den bitteren, säuerlichen Geschmack, nicht mehr als besonders störend. Ganz und gar nicht. In der Not frisst der Teufel die Wurst auch ohne Brot. Ihm wurde es nur etwas heiß unter seiner groben Strickjacke. Dafür …, ließ der Schmerz der Missachtung etwas nach.

„Wo ist denn der Kurze“, rief die Frau Namens „Hebamme“, besorgt aus der Küche. Es blieb still. Keine Antwort. In diesem Augenblick betrat der Vater ängstlich die Küche, und wollte von Frau Weirich wissen, ob alles glatt gegangen sei, und nein, er wisse nicht wo Willem steckte. „Ein strammer Bub isses, und es is` alles dran, und ohne Mängel“, berichtete die Hebamme mit Erleichterung im verschwitzten Gesicht. „Ich suche den Willem, hast du ihn nicht gesehen? Ist er vielleicht draußen im Hof?“ Kurt schüttelte geistesabwesend mit dem Kopf, und eilte an der Hebamme vorbei, die Treppe hoch, zu seiner Frau. Frau Weirich schaffte indes wieder Ordnung, und verstaute schon mal alle Utensilien auf ihrem Fahrrad, die sie für eine Hausgeburt, immer mit sich herumschleppen musste. Einen allerletzten Blick wollte sie noch in das Zimmer der Wöchnerin werfen, um Bescheid zu sagen, dass sie spät abends nochmals vorbeikommen würde, um nach Kind und Mutter zu sehen. Sie stapfte schwerfällig nach oben. Ihre Beine schmerzten von der ganzen Rennerei. Bevor sie die Türklinke des Wöchnerinnenzimmers in die Hand nahm, fiel ihr Blick auf die Tür nebenan. Sie sah sofort, dass die Tür von Willems Zimmer nur angelehnt war. Frau Weirich wollte den kleinen Kerl kurz trösten, und ihm berichten dass alles vorbei sei. Ein Brüderchen hätte er jetzt, und bald könne er mit ihm im Hof spielen. Sie öffnete die Tür ganz leise, weil sie ihn nicht aufschrecken wollte, und verharrte im bedachtsamen Schritt. Der Anblick der sich ihr bot, ließ sie unentschlossen-, zwischen echter Besorgnis, und einem herzhaften Lachanfall, hin und her schwanken. Willem lag schlafend auf dem Fußboden vor seinem Bett, nicht darin. Über und über mit Schokolade beschmiert, und … so wie es aussah, voll wie eine Sommerhusse. Neben dem kleinen Kerl, lag die fast vollständig geleerte Schachtel mit Weinbrandbohnen. „Jesses Maria, wenn das die Heide sieht. Die kriegt einen Anfall“, murmelte sie leise. Schnell zog sie die Tür leise zu, ging nach nebenan, tat so, als wüsste sie von rein gar nichts, als hätte sie nie etwas gesehen. Das sollten sie unter sich ausmachen. Dazu war ihre Meinung nicht gefragt. Der kleine Willem hatte die Ankunft dieses neuen Erdenbürgers, anständig begossen. Ohne einen Hauch von absichtlicher Absicht, hatte er lediglich die Gunst der Stunde zu nutzen gewusst. Der Bub würde es mal zu was bringen. Keine halbe Stunde später, entdeckte Vater Kurt das Malheur, und fragte besorgt seine Frau, was er mit dem kleinen Unhold nun anstellen solle. „Lass ihn seinen Rausch ausschlafen, ich gehe später nach ihm sehen.“ Die Mutter schüttelte mit dem Kopf. „So ein Schelm aber auch. Ganz der Vater.“

So schnell würde Willem nicht vergessen, wie schlecht es ihm war, als er aufwachte. Speiübel war ihm. Immer noch leicht benebelt, schlich er hinunter in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken. Sein Mund war wie ausgedörrt. Als hätte er eine Pudelmütze verspeist. Vater Kurt saß auf der Eckbank, und rauchte in Ruhe eine Pfeife zu seinem doppelstöckigen Schnaps. Amüsiert beobachtete er seinen Erstgeborenen, wie der sich verlegen durch die Küche drückte, der kleine Zecher. Ein bisschen unsicher auf den Beinen, Trotz um den Mund, den Blick auf den Boden gesenkt, schlich er schuld-bewusst umher. „Bald gibt es Abendbrot“, sagte Kurt, breit grinsend. Weiter sagte er nichts. Was es da zu grinsen gäbe, konnte sich klein Willem nicht erklären. Ihm war ganz und gar nicht nach Grinsen zumute. Er gab unumwunden für sein Unwohlsein, einzig und alleine, dem neuen Geschwisterchen die ganze Schuld. Anlass zum Grinsen sah er hier nun wirklich nicht. Frechheit.

Außer, dass man sich deutlich sichtbar, nun weniger um ihn kümmerte, lief mittlerweile alles wieder in normalen Bahnen. Das Tageslicht draußen, war Willem nicht ganz geheuer, war es doch draußen, zu Beginn seiner Expedition schon später Nachmittag. Wie konnte es dann jetzt früher Nachmittag sein? Ihm fehlte ein ganzes Stück. Was war mit dem Abend? Fiel der heute aus, der Abend? Egal. Scheint ja alles wieder ganz normal zu sein. Bloß …, dauernd hatte die Mutter dieses neue, unerwünschte Plag auf den Arm. „Schön ist anders“, dachte Willem. Krebsrot und verschrumpelt sah es aus. Und heilige Seuche …: wie es manchmal stank. Wi-der-lich! Und wenn es nicht stank, brüllte „Es“ das ganze Haus zusammen. Das fängt ja gut an. Eine echte Zumutung. Eigener Fußball? Natürlich Fehlanzeige. Freundschaft würde er mit diesem stinkenden Brüllsack nicht schließen. Nie im Leben. Der geschundene Willem war zu tiefst enttäuscht von dem Ergebnis. Dennoch: Willem, nahm eine sehr schwergewichtige, prägende Erkenntnis, mit in sein künftiges Leben. Ohne Befugnis hatte er sich etwas genommen, was ihm nicht zustand. Ohne Strafe ist er aus dieser Situation, ungeschoren hervorgegangen. Keine fünfzehn Jahre später würde er die Weinbrandbohnen gegen einen warmen, weichen Gegenstand eintauschen, der Brüste hätte, und eine willige Gesinnung.

Mit tränennassen Augen, tief in sich gekauert, saß Willem an seinem Schreibtisch. Er stützte seinen Kopf in die raue Schale seiner Hände, und lächelte wehmütig, wenn er an diese Ereignisse von damals zurück dachte. Was war er doch sein ganzes Leben lang für ein Tor. Was war dies alles für ein sinnlos vertanes Leben. So viele falsche Werte hatte er gelebt. So viele falsche Werte. Immer und immer wieder. Nicht hingesehen, mit Absicht übersehen. Und jetzt? Über fünfzig Jahre später? Jetzt war es zu spät. Man konnte nichts mehr wiedergutmachen, sich nicht bei ihm entschuldigen. Nicht mit Worten. Worte waren eine zu billige Währung, sie hätten nicht gereicht, nein. Sein verhasster Bruder …, war das wertvollste was er je im Leben besessen hatte, je besitzen würde. Das wusste er jetzt. Heute…, seit einer knappen Stunde.

Der Altersunterschied von etwas mehr als vier Jahren, stellte sich für Bastian als großen, unverhofften Vorteil heraus. Am Tage seiner Einschulung, verließ der große Bruder die Schule, um aufs Gymnasium zu wechseln. Wenigstens war er diesen Schinderhannes, jetzt, in der Schule los. Schlimm genug was er Zuhause alles zu ertragen hatte. „Späße“, nannte Willem das. Späße! Sehr witzig. Neulich erst, hatte dieser Quälgeist, ihm mit dem Tacker aus Vaters Büro, die Ärmel von seiner groben Strickjacke fest zugetackert. Bastian wollte schnell hineinschlüpfen, um auch mit dem Vater auf dem großen Bagger mitzufahren, aber das konnte er getrost vergessen. Ohne Jacke, durfte er nicht mit, es war noch zu kalt draußen, in aller Herrgottsfrühe. Der Sommer zeigte sich in diesem Jahr von seiner launischen Seite. Sparsam mit Wärme. Dauernd regnete es in Strömen, das Thermometer wollte nicht über die Zwanzig klettern, oder es war sehr windig. Und dieser Wind…, er nahm den niedrigen Temperaturen, auch noch den allerletzten Charme. Willem hatte sich fast schlapp gelacht, als er in das verdutzte Gesicht seines kleinen Bruders blickte. „Gibt’s Probleme mit der Joppe?“, hatte er scheinheilig vom Bagger herabgerufen, und laut gelacht. Der Vater hatte sich nicht darum gekümmert, und ist mit Willem, einfach, ohne ihn losgefahren. Witzig. Wirklich sehr witzig. Na gut. Dafür war Bastian – zurückgelassen, und ausgetrickst, wie er sich fühlte – der Meinung, dass in Willems Fahrradreifen entschieden zu viel Luft drin war, und hat kurzerhand-, mit wenigen, geübten Griffen, eben mal wirkungsvolle Abhilfe geschaffen. Dann wollen wir doch mal sehen, wer sich hier anschließend mehr ärgert. Mit ihm nicht. So nicht. Nicht mit Bastian. Nein. Bastians Freude über den Schulwechsel des großen Bruders war allerdings von kurzer Dauer. Ein Jahr später kehrte er wieder zurück an die alte Schule. Selbst wenn Willem das Zeug dazu gehabt hätte, sein Abitur zu machen, er hätte seine Kapazitäten ungenutzt verpuffen lassen. Wichtigeres stand im Vordergrund. Unsinn und Streiche. Sich mit Gleichaltrigen herumtreiben, Leute ärgern, auf Bäume klettern. In der Schule tat er dann so, als kenne er den kleinen Bruder nicht. Er wollte ihn einfach nicht am Halse haben, und sich kümmern müssen. Soll er zusehen, wie er zurechtkommen würde.  Raufen durften sie nicht miteinander, weil, sonst, gab es von Mutter, für Willem, ordentlich eins auf die dunklen Locken. Schließlich sei der Bruder ja viel kleiner als er, und er solle es sich nur ja nicht wagen, predigte sie immerzu. Auch nicht einmal ansatzweise. Eigentlich doch ganz gut, wenn die Eltern sich ab und zu doch einmischten. So konnte Bastian sich wenigstens einigermaßen sicher fühlen, und heimlich - hin und wieder - einen kleinen Elfmeter für Willem vorbereiten.

Ja, der erste Schultag. Das war so eine Sache, dieser erste Schultag. Sinn und Zweck dieser Schule, wollte ihm noch nicht so ganz einleuchten. Bastian brauchte keine volle Stunde um festzustellen, dass er sich hier schrecklich langweilen würde. Er vermisste seinen Hund Seppel, den er endlich letztes Jahr zum Geburtstag bekommen hatte. Mit Vaters Jagdhund durfte er immer noch nicht spielen, weil er sonst seinen Gehorsam gefährdet hätte. Außerdem, war der Jagdhund draußen im Hof, in einem Zwinger, und durfte nur selten ins Haus. Also: Musste, als des Rätsels Lösung, ein eigens für Bastian, vorgesehener Hund her. Und das …, das hatte ihm Willem richtig übel genommen. Er hatte zu Bastian gesagt, dass er wegen ihm, damals keinen Hund bekommen hatte, und das, würde er ihm niemals verzeihen. Niemals. „Aber, er hat doch nichts gekostet, hat die Mutter gesagt. Weil es ein Bastard ist“, argumentierte Bastian gekränkt. Das war Willem reichlich egal. „Hund ist Hund“, hatte er ihn angebrüllt. „Und wenn er noch so hässlich ist wie, der da“, und zeigte dabei angewidert auf Seppel. Bastian war damals in großer Sorge um seinen Hund. Hoffentlich hatte er die gehässigen Worte des älteren Bruders nicht verstanden. Seine Seele würde sicher großen Schaden nehmen. Das wäre schlimm, denn ihm – Bastian – war es egal, ob Seppel ein Bastard-, hässlich oder schön war. Seppel war trotzdem sein ganzer Stolz. Er liebte ihn. Sinnierend, tief in Gedanken verloren, blickte Bastian aus dem raumlangen Fenster, dass praktischer Weise, bis ganz unter die hohe Raumdecke reichte, und so, ein schönes, großes Sichtfeld bot. Ohne sich zur Seite lehnen zu müssen, konnte man den ganzen Himmel sehen.  Draußen flog eine große Formation Stare am Schulfenster vorbei. So etwas durfte man auf keinen Fall verpassen. Interessiert folgten Bastians Blicke dem eleganten Ballett der Vögel. Wie konnte es nur möglich sein, dass sich die Tiere im Flug nicht berührten, wo sie doch so eng beieinander flogen? Dies war für Bastian eine essenzielle Frage, die der Klärung bedurfte. Was die Lehrerin erzählte, hingegen … Den Kopf in die Hände gestützt, den Blick in die Ferne schweifend, dem Tag entgegen träumend, saß Bastian im Klassenzimmer, und war alles andere als im Unterricht anwesend. Ganze neun Jahre lang.

Wenn man beide Brüder in einen unmittelbaren Vergleich einbezog, dann konnte man das – wir versuchen es mal - ungefähr so beschreiben:  Bastian, entdeckte er einen bunten Schmetterling - konnte sich ganz in seine Beobachtung vertiefen. Er studierte die Farben und Bewegungen des Falters mit aller Hingabe, vergaß dabei die Zeit und Welt um sich herum, ohne es zu bemerken. Die vergaß er immer – die Zeit. Irgendwie kam sie ihm ständig abhanden. Später-, Zuhause dann, suchte er in Vaters Jäger-Büchersammlung, ob nicht irgendwo einen Bildband stand, der ihm weitere, detaillierte Informationen liefern konnte, um seine Studien abzurunden. Willem hingegen, würde sich in derselben Situation, bestenfalls darüber Gedanken machen, wie man möglichst schnell dieses Tier töten- und es zu Geld machen könnte, indem man das Exemplar, an einen gut zahlenden Sammler verscherbelte. Der berechnende, skrupellose Geschäftsmann, der kalkulierende Macho, der Büffel. Im Gegensatz dazu: Der sensible Träumer, immer hilfsbereit, und ständig irgendwie …, ein bisschen zu spät. Eine Ordnung, irgendwo zwischen Anarchie und Akribie.