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"Oktobermond" ist aus zweierlei Gründen entstanden. Erstens: nicht selten fällt auf, dass es Menschen gibt, die nach Beendigung ihres Arbeitslebens rein gar nichts mit sich selbst anfangen können, und dadurch schneller altern als ihnen lieb ist. Sie werden häufig mäkelig, nichts ist ihnen mehr recht, alles stellen sie infrage, gehen großzügig mit Kritik um, und glauben von sich selbst immer alles richtig gemacht zu haben. Selbstmitleid ziehen sie hinter sich her wie einen üppigen Brautschleier. Sie geben sich als Moralisten und sparen nicht mit Urteilen, über jeden, der ihnen in die Quere kommt. In diesem Buch treffen wir einen Pensio-när, der ein pikantes Geheimnis mit sich herumträgt, und sich großzügig selbst vergibt. Entmachtet durch den Ruhestand, vergräbt er sich immer mehr in sich selbst, und zieht Bilanz. Vergeblich. Der Sinn des Lebens lässt sich einfach nicht auffinden. Zweitens: Unsere Justiz, scheint immer irgendwie, auf dem "rechten Auge" blind zu sein. Daran hat sich seit 1922 nicht viel geändert. Lasse Mocho - der Protagonist - hat ein Leben lang beim Amtsgericht gearbeitet. Abteilung "Betreuung." Ein heißes Eisen für diejenigen, die, in die Speichen dieser Räder fallen. Dieses Berufsleben hat seinen Charakter stark geprägt. Oder war er die Voraussetzung? Man weiß es nicht.
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Seitenzahl: 248
Veröffentlichungsjahr: 2016
www.tredition.de
Die Autorin Lele Frank wurde 1957 in Bad Kreuznach geboren, ist Bauingenieurin, und hat über 35 Jahre in dieser Branche gearbeitet. 2012 hat sie Beruf und Firma aus persönlichen Gründen aufgegeben, und wegen einer dramatischen Beziehung die Liebe zur Schriftstellerei entdeckt.
Mit ihrem ersten Buch „Tanz der Optimisten“, welches eigentlich einen therapeutischen Zweck erfüllen sollte, hat sie sich zurück ins Leben geschrieben.
Sie lebt an der Ostsee und bezeichnet ihre jetzige Tätigkeit als:
„Das Leben genießen.“
„Oktobermond“ ist aus zweierlei Gründen entstanden.
Erstens: nicht selten fällt auf, dass es Menschen gibt, die nach Beendigung ihres Arbeitslebens rein gar nichts mit sich selbst anfangen können, und dadurch schneller altern als ihnen lieb ist. Sie werden häufig mäkelig, nichts ist ihnen mehr recht, alles stellen sie infrage, gehen großzügig mit Kritik um, und glauben von sich selbst immer alles richtig gemacht zu haben. Selbstmitleid ziehen sie hinter sich her wie einen üppigen Brautschleier. Sie geben sich als Moralisten und sparen nicht mit Urteilen, über jeden, der ihnen in die Quere kommt. In diesem Buch treffen wir einen Pensionär, der ein pikantes Geheimnis mit sich herumträgt, und sich großzügig selbst vergibt. Entmachtet durch den Ruhestand, vergräbt er sich immer mehr in sich selbst, und zieht Bilanz. Vergeblich. Der Sinn des Lebens lässt sich einfach nicht auffinden. Zweitens: Unsere Justiz, scheint immer irgendwie, auf dem „rechten Auge“ blind zu sein. Daran hat sich seit 1922 nicht viel geändert. Lasse Mocho - der Protagonist - hat ein Leben lang beim Amtsgericht gearbeitet. Abteilung „Betreuung.“ Ein heißes Eisen für diejenigen, die, in die Speichen dieser Räder fallen. Dieses Berufsleben hat seinen Charakter stark geprägt. Oder war er die Voraussetzung? Man weiß es nicht.
Lele Frank
„Oktobermond“
Lasse macht Platz.
© 2016
Lele Frank
Umschlag, Illustration: Lele Frank
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Paperback
ISBN 978-3-7345-1543-9
e-Book
ISBN 978-3-7345-1544-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
„Gesunde Kompromisse machen aus Konflikten chronische Krankheiten.“
Johann Wolfgang von Goethe
Der Anfang vom Ende…
Müde, schwerfällig und nachdenklich setzte Lasse seinen Fuß auf das regennasse Trottoir vor seinem Haus, um zur nahegelegenen Bushaltestelle zu laufen. Ihm war kalt, obwohl er doch gerade erst die Straße betreten hatte, und noch die Wärme des Hauses in sich trug. Ein unberechenbarer Sturm, hauchte ihm seinen launischen, zerrenden Atem ins Gesicht. Der Himmel, ganz tief über der Stadt, zeigte seine grauen Varianten, griff nach der Straße und versprach keine Besserung. Das Wetter hatte sich eingeregnet und beständig angegraut. Dunkelgrau, mit einem Hauch Violett. Mit jedem Schritt, das kurze Stückchen die steile Straße hinab, sank Lasses Zuversicht, und mit jedem Schritt stieg diese undefinierbare Sinnlosigkeit in ihm hoch, wie ein lästiges Sodbrennen. Ab Morgen wäre er seiner Wichtigkeit beraubt, und würde sich auf dem Abstellgleis der „Alten“ befinden. Das Leben hatte kaum mehr Sinn für ihn. Ab Morgen nicht mehr. Ab heute war er schon ein Niemand, wollte man es genau betrachten. Verrentet, verurteilt, verstoßen, aussortiert, gebrandmarkt. Das Leben war nur ein Durchgang, eine Leihgabe von dem, an den viele mit Inbrunst zu gerne glaubten. Er nicht. Zumindest dann, wenn das Leben ihnen - den Menschen - eine Schieflage bescherte, glaubten sie mit Vehemenz, nur weil sie sich eine Linderung davon versprachen, die es so doch nicht geben würde. Dann funktionierte die Sache mit „dem Glauben“ umso besser. Wie geschmiert, auf Abruf, je nach Bedarf. Lasse wusste schon in jungen Jahren nicht so recht, ob er an den Glauben glauben sollte, und hatte sich Zeit seines Lebens dagegen entschieden. „Glauben hieße nichts zu wissen“, referierte er überheblich. So herrschte wenigstens Klarheit. Seine Götter hießen: „Selbst ist der Mann.“ Ordnung, Recht, Disziplin und Leistungsfähigkeit. Zuverlässigkeit und Kontinuität, das waren die Götter, für die er lebte. Sein Glauben galt den Gesetzen, die es strikt einzuhalten galt. So, hätte man noch eine Weile weiter aufzählen können. Die Liste war lang. Kurzum: Lasse war ein gesetzestreuer Spießer wie er im Buche stand. Durchgang und Leihgabe ja, daran glaubte er auch. Aber nicht von einem Gott, den sowieso noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte. Einer, der keine Antworten gab. Ein Leben nach dem Tod? Das war für Lasse ausgeschlossen, und landete in seiner geistigen Schublade der unmöglichen Unmöglichkeiten. Lasse war davon überzeugt, dass es sich um einen theologischen Trick handelte, mit dessen Verbreitung die Menschheit dazu angehalten werden sollte, ein haltbar anständiges Leben zu fristen, und keinen Ärger zu machen.
Schließlich musste man sich doch verantworten, wollte man Einlass ins dieses große Tor. Dieses letzte imaginäre Tor, das es zu durchschreiten galt, wenn man ein Plätzchen im Paradies ergattern wollte. Ein Trick. Mehr nicht. Religion war ein höchst geeignetes Instrument, um Furcht zu verbreiten. Einzuschüchtern, kleinzuhalten. Dieses Tor-, dieses Paradies existierte nur in den Köpfen seiner Artgenossen, dumm wie sie waren. Gegen seine Frau Matilda hatte er sich nie durchsetzen können. Beide Kinder, Sohn und Tochter, waren getauft worden. Der Leute wegen zahlte er die Kirchensteuer, nicht wegen eines Gottes aus dem Land des Unbeweisbaren, des Fabulösen, der von Menschen gemachten Religion. Der Leute wegen, seiner Arbeit wegen, seiner Reputation und Makellosigkeit wegen, und wegen des lieben Friedens zu Hause. Ein teurer Spaß, wen man bedenkt, dass man nichts davon hatte, außer eine vollgefressene Konfession mit fragwürdigem Personal zu füttern, die sich damit anschließend utopisch teure Residenzen baute, und dann auch noch die Frechheit besaßen, sich zu rechtfertigen. Darüber wollte Lasse jetzt nicht weiter nachdenken, sonst wäre der Tag nicht nur versaut, sondern auch noch ärgerlich obendrein. Ja. Ärgerlich.
Lasse zog, seinen behüteten Kopf noch ein wenig mehr in den aufgestellten Kragen seines sehr altmodischen Bekleidungsstückes, zu dem man - mit etwas gutem Willen - auch „Mantel“ sagen konnte, und stapfte missmutig los. Sein ebenso altmodischer, grauer Hut drohte davonzufliegen, so sehr zerrte der Sturm an ihm herum. Lasse zog seinen alten, grauen Regeschirm ganz dicht an sich heran, sonst würde er sich noch davonmachen. Das reinste Akrobatenstück, den Schirm so fest an den Körper zu klemmen, dass der Wind nicht unter die Bespannung fassen konnte. In einer Hand den Schirm, in der anderen seine alte, abgenutzte Aktentasche aus braunem Leder. Um den Hut festzuhalten hatte er keine Hand mehr frei. Er drückte ihn mit dem Regenschirm sicher auf seinen Kopf. So ging es. So handhabte er es immer. So war er sicher vor den Händen des Windes. So war es gut.
An der Bushaltestelle, welche direkt vor der kleinen Bäckerei ihren Platz hatte, angekommen, traf Lasse auf eine Frau, die er nur vom Sehen aus der Nachbarschaft kannte. Nicht sehr nahe kannte man sich, es gab immer wieder Wechsel in diesem Haus all die Jahre, nur so viel eben, dass man sich grüßte wie es sich gehört. Sie stand da mit hochgezogenen Schultern, und verbarg die untere Gesichtshälfte hinter ihrem großen, dunkelgrauen Mantelkragen, der sich von der Farbe des Himmels kaum unterschied. Heute zeigte sich wirklich alles grau in grau. Sogar die Menschen. Lasse sagte ein halbherziges „guten Morgen. Ist das ein Wetter heute“, und nickte dabei bestätigend mit seinem, zwischen- Hut, Regenschirm und Mantelkragen, eingeklemmten Kopf. Die Nachbarin warf ihm einen kurzen, toxischen Blick zu, und drehte ihm grußlos den Rücken zu. Lasse starrte erstaunt auf ihren schlanken Rücken. Mehr Missbilligung, so auf die Schnelle, konnte man kaum ausdrücken. Dass sie, seinen Gruß nicht gehört hatte, war sehr unwahrscheinlich, stand Lasse doch fast neben ihr. Gesehen hatte sie ihn selbstverständlich auch, sie hatte ihm doch in die Augen geblickt. Also daran konnte es nicht liegen. Ihr seltsames Verhalten war eine glatte, unübersehbare, provokante Beleidigung ihm gegenüber. Anders konnte am diese barsche Geste nicht verstehen. Der Tag war nun nicht nur versaut, sondern auch ärgerlich.
Verlegen drehte Lasse sich seinerseits ebenfalls um, so, dass sie nun, fast Rücken an Rücken standen. Weniger als einen Meter Abstand zwischen den beiden Körpern. Sein Blick ging ins Innere der kleinen Bäckerei. Lasse wollte sich vergewissern, dass niemand sonst den peinlichen Vorfall beobachtet hatte. Er durfte sich beruhigen. Niemand hatte es gesehen. Die Kunden waren mir ihrem Einkauf beschäftigt, oder unterhielten sich. Lasse atmete erleichtert aus. Trotz der eisigen Kälte wurde ihm von innen heraus glutheiß, begleitet von einer leichten Übelkeit. Ein Gefühl, dass ihm vollkommen neu war, so derart betroffen zu sein. Ein Gefühl, dass man nicht deklarieren konnte. Ein Gefühl, dass ein Anderer vielleicht als Scham bezeichnet hätte. Lasse hingegen attestierte sich selbst eine berechtigte Wut. Er ärgerte sich so sehr über sich selbst, dass ihm davon regelrecht übel wurde. Eine kurze Überlegung, zurückzulaufen und doch lieber das Auto zu nehmen, brachte ihn nicht weiter. Dafür war es nun zu spät. Der Bus würde jeden Augenblick vorfahren, und die schutz-suchenden Menschen in seinem Inneren verschlingen. Unpünktlich wollte Lasse auch nicht sein. Nicht am letzten Tag. Nicht an diesem Tag.
Einen Gruß hatte man ihm verwehrt. Unglaublich, wie sehr ihn das aus der Fassung brachte. So, zur Freundlichkeit angehalten-, war er erzogen worden in seinem konservativen Elternhaus, dass man gesellschaftliche Anstandsregeln zelebrierte. Wenigstens im Ansatz, wenn auch nicht vollendet. Gerade der Gruß war doch in der unmittelbaren Nachbarschaft ein Minimum an erforderlichem Respekt, an erforderlicher Höflichkeit, die man nicht so einfach ignorieren konnte, durfte, sollte. Was dachte diese Frau sich dabei, als sie ihm die kalte Schulter zeigte? Und dann auch noch derart offensichtlich und in aller Öffentlichkeit. Geradezu provozierend. Wütend betrachtete Lasse die tanzenden Regentropfen, wie sie auf dem Asphalt ihr geübtes Ballett vollführten, und hasste jeden einzelnen von ihnen. Gut, dass die restlichen-, auf den Bus wartenden Menschen, zum größten Teil aus Schulkindern bestanden, die sich, in ihrem eigenen Universum kreisend, über junge Belanglosigkeiten unterhielten, noch unbeleckt vom Leben, dass auf sie wartete, wenn sie eines Tages das schützende Schulgebäude verlassen mussten. Hätte jemand anderer diese Geste bewusst registriert, wäre die Situation an Peinlichkeit kaum zu überbieten gewesen, ging es ihm wieder und wieder durch den behüteten Kopf. Lasse stieß es abermals sauer auf. Sein Magen rebellierte und bemängelte das lieblos eingenommene Frühstück.
Immer das gleiche Frühstück, immer exakt um die gleiche Zeit, auf die Minute genau, immer der gleiche Teller, die gleiche Tasse. Nur das Besteckdas konnte er nicht identifizieren, und vermutlich wechselte es tagtäglich. Zumindest dieses Ritual würde sich ab morgen schlagartig ändern. Ab Morgen hätte er alle Zeit der Welt, um-, wenn er es wollte, bis zum Mittag zu frühstücken, und stundenlang zu kauen, ohne dabei auf die Uhr sehen zu müssen. Ab Morgen könnte er zum Wiederkäuer werden, und keine Menschenseele würde das noch interessieren. Außer vielleicht Matilda - seine Frau. Sie würde schon eine Gelegenheit finden um an ihm herumzumeckern. Matilda die Kluge. Matilda sein treues Dienstpferd. Matilda, deren Magen er mit seiner anständigen Arbeit, all die Jahre gefüllt hatte. Ihren Magen, und den der Kinder. Danklos hatten sie alle sein Konto leergefressen, ohne nachzufragen, ob ihnen das überhaupt zustand, oder mit welcher Berechtigung sie sich derartige Privilegien verdient hatten. Das Dach über dem Kopf, das Bett in dem sie schliefen, das Essen dass sie verzehrten, die Kleider die sie trugen, die Urlaube, die Heizölrechnung, überhaupt alles was sie am Leben hielt. Alles das, hatte er all die Jahre über anstandslos bezahlt, ohne dabei an sich zu denken. Lasse versäumte nicht sein Glück zu loben, dass es damals-, als die Kinder noch auf seine Versorgung angewiesen waren, noch keine Smartphones und derartigen, technischen Schnickschnack gab, der nicht nur kostspielig war, sondern auch zur Verblödung der Synapsen beitrug. Davon abgesehen, war diese exzessive Nutzung auch noch schlecht für die Augen, die Sinne und die Nackenmuskulatur. Die Zeit, als damals im Amt die Computer Einzug hielten, würde er im Leben nicht mehr vergessen. Damals spürte er zum ersten Mal in seinem Leben, greifbare Angst zu versagen, und den Anschluss zu verlieren. Und was ihn selbst betraf - in all dem großflächig verbreiteten Konsumterror - sein Hobby; über all die Jahre blieb er ihm treu, seinem großen Aquarium mit den Malawi-Barschen. Brachte es doch schließlich jedem in der Familie Freude. Nicht nur er selbst konnte stundenlang vor der erleuchteten Glasscheibe davorsitzen und den fleißigen Maulbrütern bei ihrer Arbeit zusehen, auch seine Tochter und sein Sohn - das verpfuschte Kind - als sie noch zu Hause lebten, saßen oft vor der großen Scheibe, und drückten sich die Nasen platt um nichts zu verpassen, wenn die Mütter ihre Fischkinder für einen Augenblick aus ihren Mündern entließen, um sie anschließend wieder einzusaugen, und sie vor den gefräßigen Vätern zu beschützen. Was die Kosten betraf, waren außer einem neuen Fisch, den es als Ersatz anzuschaffen galt, wenn einer von ihnen das Zeitliche gesegnet hatte und mit dem Bauch nach oben an der Oberfläche trieb, oder einem Ersatzteil für den Rieselfilter, eine neue Blaulichtröhre hier, und da eine neue Pflanze für die abgestorbene als Ersatz, und das Futter für den Besatz, keine großen Summen aufzubringen. Matilda hatte er verheimlicht dass er die Nachzucht abfischte, separierte und zur Zoohandlung brachte. Lasse hatte ihr erzählt, dass er sie einem Kollegen schenkte, was aber nicht stimmte. Sie interessierte sich viel zu wenig für seine Leidenschaft, als dass sie seine Aussage auf den Wahrheitsgehalt überprüft hätte. Zwar gab es keine großen Geldbeträge für die kleinen Barsche, aber die Summe machte hier den Kohl fett. Über dreißig Jahre lang hatte Lasse diese kleinen Beträge seiner Frau unterschlagen. Erst als der Eurodiese unselige Währung - eingeführt wurde, und er den angesammelten Betrag umtauschen musste, der stets unbeachtet im Kellerregal sein Dasein fristete, erst da bemerkte Lasse, dass ein ganz hübsches Sümmchen zusammengekommen war. Umgetauscht in Geldscheine, ließen sie sich deutlich besser verbergen als das ganze Klimpergeld, all die vielen Jahre. Von da an konzentrierte er sein Hobby auf die Nachzucht. Die Anschaffung weiterer Zuchtbecken hatte sich gelohnt. Mittlerweile waren es neun Stück. Zwei kleinere- und sieben größere Aquarien standen auf drei stabilen Holzregalen, sauber nebeneinander aufgereiht. Und solange sie im Keller standen, hatte Matilda auch keine Einwände. Sie maulte höchstens über den Stromverbrauch und muffigen Geruch, der in diesem – seinem - Raum herrschte. Weiter sagte sie nichts dazu, und Lasse konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Matilda eigentlich froh darüber war, wenn er so viele Stunden im Keller zubrachte, und sie, oben im Haus, ihre Ruhe hatte. Zu reden gab es ohnehin nicht viel - nicht nach mehr als fünfunddreißig Jahren Ehe. Nach all dieser abgeschliffenen, grauen Gewohnheit und Konvention. Was sollte man sich auch dauernd erzählen, wenn man alles voneinander wusste und berechnen konnte. Was?
Der Bus kam, und hielt mit seinem typischen Seufzer vor den Wartenden an. Die Nachbarin stand so dicht an der aufgleitenden Tür des Ungetüms, dass sie eigentlich nur noch den Fuß anzuheben brauchte, um einzusteigen. Sie zögerte einen Moment, trat zurück, und ließ den anderen Fahrgästen-, auch ihm den Vortritt. Lasse wagte sich nicht den Blick zu heben, und ging wortlos, blicklos an ihr vorbei um einzusteigen. Er verstand ihre Entscheidung nicht, nicht einzusteigen, machte sich regelrecht Gedanken darüber, was seine Übelkeit nur noch mehr verstärkte. Sein Magen fühlte sich an, als hätte er einen heißen Backstein verschlungen. Verärgert über sich selbst, entschied er: „Was geht es mich an? Nichts!“ Mit einem stillen Kopfnicken begrüßte er den Busfahrer, und hielt mit gesenktem Kopf Ausschau nach einem freien Platz. Die Wärme umschloss seine alten Knochen mit gütiger Einsicht, und machte den klammen Geruch nach feuchter Bekleidung allemal wett. Im hinteren Teil des Busses waren zwei Sitze nebeneinander frei. Lasse steuerte zielbewusst darauf zu, und nahm umständlich Platz. Von hier aus-, so ganz weit hinten, hatte Lasse einen guten Blick Über die Fahrgäste. Zu seiner Überraschung bestieg die unhöfliche Nachbarin nun doch den Bus. Seine Hoffnung, sie hätte es sich anders überlegt, erfüllte sich nicht. Sie zögerte einen Moment, so als studiere sie die Anwesenden. Ihr Blick ging suchend in seine Richtung. Schnell hatte sie ihn ausgemacht, und starrte ihn an. Reflexartig zog sich ihre Stirn in Falten, ihr Blick verdunkelte sich Zusehens. Der Kragen ihres dunkelgrauen Wollmantels war nach unten gekippt, und gab jetzt ihr ganzes Gesicht frei. Ein schönes Gesicht. Schmal und apart, aber abweisend. Lasse konnte sich keinen Reim darauf machen, was mit ihr los sein könnte, was sie gegen ihn hatte, dass sie ihre Abscheu so unverkennbar vor sich hertrug wie ein aufgeschlagenes Buch. Vier Sitzplätze waren noch frei. Drei davon im vorderen Bereich - vor dem mittleren Ausgang, neben lärmenden Kindern und ein paar wenigen Erwachsenen, die sich die Anschaffung eines Autos nicht leisten konnten, ein freier Platz direkt neben Lasse, gut sichtbar, offensichtlich, und nicht zu übersehen. Ihre Entscheidung schien schnell getroffen, denn sie steuerte zielsicher auf die Mitte des langen Fahrgastraumes zu, und stellte sich auf die freie Fläche, gegenüber der pneumatischen Doppeltür. Sie griff mit einer Hand nach der Haltestange um ihren Stand zu sichern, und drehte Lasse erneut den Rücken zu. Er konnte gut beobachten wie sie eine andere Frau begrüßte. Ob sie lächelte konnte er nur ahnen, denn die andere Frau tat es. Seine verkrampften Bemühungen diesen Vorfall zu ignorieren, gelangen ihm nicht. Es wurmte ihn, nicht zu wissen, warum sie sich so verhielt. Unentwegt schoss er wütende Blicke in ihren Rücken ab, und sinnierte darüber, dass es sicherlich an seiner Frau liegen musste, die sich vermutlich mit der Nachbarin erzürnt-, und ihm nichts davon berichtet hatte. Womöglich ein lächerliches Missverständnis unter Frauen. Nicht der Rede wert. Trotzdem. Schließlich waren sie fast Nachbarn, und er hätte zu gerne gewusst was es mit diesem Theater-, diesem abweisenden Verhalten, auf sich hatte. Heute Nachmittag würde er Matilda zur Rede stellen. So, wollte Lasse die Sache nicht auf sich sitzen lassen. So nicht.
Fünf Haltestellen später – kurz vor Lasses Ziel und letztem Arbeitstag, der eigentlich gar kein richtiger Arbeitstag mehr war, sondern eher ein Übergabetag, ein Verabschiedungstag, hoffentlich ohne großes Tamtam – hielt der Bus an, um drei neue Fahrgäste aufzunehmen. Zwei ältere Frauen und ein schlampig wirkender Junge im rebellischen Alter, der auf sein Display starrte. Für gewöhnlich passierte hier an diesem Haltepunkt nicht sonderlich viel. Aussteigen wollte um diese frühe Stunde hier niemand. Erst an der nächsten Haltestelle wäre der Teufel los, weil dort alle Kinder ausstiegen, und jeder von ihnen der Erste sein wollte, gerade so, als ginge diese Brut mit Freude zur Schule. Doch jetzt setzte sich die unhöfliche Nachbarin in Bewegung, und steuerte auf die Tür zu um auszusteigen. Lasse verfolgte sie mit den Augen. Jeden Schritt, jede Bewegung, erleichtert darüber, dass sie sich immer weiter von ihm entfernte. Sie ging auf eine Frau zu, die offensichtlich an der Haltestelle auf sie zu warten schien. Sie lächelte ihr erwartungsvoll entgegen, und breitete ungeduldig die Arme aus, um ihr ihre Freude mitzuteilen. Die Nachbarin blieb dicht vor ihr stehen, umarmte sie Wartende kurz, und tausche mit ihr offenbar ein paar Worte aus, woraufhin die Wartende einen langen Hals machte und suchend in seine – Lasses - Richtung blickte. Lasse erkannte dieses Gesicht sofort wieder, und versuchte auf seinem Sitz zu schrumpfen, ging schützend in Deckung, so, als gelte es sich vor dem Feind zu verbergen. Jetzt war Lasse auch klar warum die Nachbarin so schroff zu ihm war. Sie schien die Freundin- oder eine Verwandte der wartenden Frau zu sein.
Lasses letzter Fall. Nicht nur sein letzter Fall, sondern „der letzte Fall.“ Das Allerletzte, um etwas präziser zu werden. Diese freche Frauensperson, die von dort draußen zu ihm hineinschielte, war die Tochter eines sehr alten, betagten Ehepaares, das er noch gerne vor seiner Verrentung zur Ader gelassen hätte. Sie hatte ihm seinen Beutefeldzug ordentlich versaut. Nichts war daraus geworden, nichts als eine peinliche, ärgerliche Akte, die es abzulegen galt. Sie hatte es geschafft, dass der Richter einen Beschluss zur Aufhebung der Betreuung aussprechen musste. „Eine Betreuungsanordnung gegen den Willen der Betroffenen, sei nicht angezeigt“, hieß es dort. Schwarz auf Weiß. Eine Niederlage für Lasse. Eine erbärmliche Niederlage. Dabei hatte alles so gut angefangen. So gut. Zu gut. Geradezu auf dem Silbertablett hatte eine übertüchtige Nachbarin der beiden „Alten“ diesen Fall ins Gerichtsgebäude getragen. Vor lauter Übereifer- unter dem Deckmantel der Fürsorge, hatte diese laute Nachbarin ihm berichtet, dass dieses Ehepaar alleine lebte, weil die Tochter weiter weg wohnen würde, und sich einen Teufel um das Wohlergehen der Eltern scheren würde. Nichts würde sie tun, diese arrogante Tochter. Nicht einmal im Krankenhaus wäre sie zu Besuch gewesen. Nicht einmal das. Zustände seinen das. So etwas könne man nicht dulden. Sie – diese laute Nachbarin – sei die Einzige die sich kümmere, und das ginge so nicht weiter. So nicht. Eile sei geboten. Auf der Stelle. Lasse ließ sich das nicht zweimal sagen. Diese bösen Worte – zur Bekräftigung der Missstände erhielt er sie noch schriftlich – waren wie zuckersüßes Karamell auf seiner gierigen Zunge. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, setzte er die Maschinerie des Gerichtes in Gang. Was zu tun war, konnte Lasse im Schlaf. in- und auswendig. Ein wundervoller Fall. Geradezu bestens geeignet um sich zu verabschieden, und seine Tüchtigkeit mit Nachdruck - für alle Kollegen und seine Vorgesetzten gut sichtbar - zu hinterlassen. Seine übrigen Kollegen konnten sich eine beispielhafte Scheibe von ihm abschneiden. Gleich „Zwei auf einen Streich“, die üppige, überzogene Betreuungsgebühren in die Landeskasse spülen würden. Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Was für ein Abgang.
Mehr als dreißig Jahre saß Lasse auf diesem Stuhl und hatte sein Bestes gegeben. Amtsgericht. Das war schon was. Damit konnte man sich erwähnen, auch wenn man kein Abitur hatte. Dafür musste man geschaffen sein. Weiche Herzen waren hier, in diesem stolzen Haus, ohne Aussicht auf Erfolg, schnell verbrannt. Mit militärischer Disziplin galt es hier dem Gesetz zu dienen, und dafür zu sorgen, das Geld in die Haushaltskassen des Landes hineingespült wurde. Wie ein Hund hatte Lasse gelitten, als man den Begriff „Vormundschaftsgericht“ abgeschafft hatte. „Betreuung“, hieß es jetzt. Ohne einen Hauch von Autorität. Einfach nur noch „Betreuung.“ Gerade so, als gäbe es etwas zu betreuen, wo es doch tatsächlich immer in einer Bevormundung endete. Einer Betreuung, aus der man nicht so schnell wieder herauskam, zappelte man erst einmal am ausgeworfenen Haken. Wer hier seine Unterschrift auf ein Dokument setzen musste, für denjenigen hatte es sich mit der Freiheit. Für denjenigen hatte es sich mit der gewohnten, freien Entscheidung. Ein- für allemal. Klappe zu, Affe tot. Ganz einfach. Ein paar verwirrende, amtliche Schreiben, zwei verschiedene Sachbearbeiter für ein einziges Ehepaar, fast identische Aktenzeichen und schon hatte man eine wundervolle Verwirrung gestiftet. Die Erwähnung einiger Paragraphen machte immer Eindruck, und war zur Einschüchterung bestens geeignet. Außerdem legitim. Unrecht geschah hier nicht, höchstens ein wenig unverständlicher Nachdruck, verfasst in himmelsschreiendem Beamtendeutsch, gespickt mit zahlreichen Paragraphen und Anordnungen. Je mehr, je besser. Dies alles geschah doch nur zum Besten der Betroffenen. Zu ihrem-, und dem Schutz ihres Vermögens, damit es nicht in falsche Hände geriet. Dort wo es etwas zu holen gab, standen reihenweise Erben, unseriöse Pflegedienste, oder übereifrige Nachbarn in der Tür, und boten ihre Hilfe an. Die reinste Seuche.
Lasse hatte sich also nicht lange bitten lassen, und sofort seinen Kettenhund mobilisiert, der sich auf den Weg gemacht hatte, sein medizinisches Sachverständigen-Gutachten gekonnt zu verfassen, um dem hochbetagten Ehepaar seine Lebensunfähigkeit zu bescheinigen. Wenn jemand gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden war-, noch etwas wacklig auf den alten, krummen Beinen, angestrengt den Rollator umfassend durch den kleinen Rest ihres Lebens rollend, standen die Aussichten auf ein niederschmetterndes Gutachten immer noch am allerbesten. Man musste die Gelegenheit nutzen. Keine Zeit verlieren. Ob berechtigte Aussicht auf Besserung bestand, interessierte zu diesem Zeitpunkt keine Laus. Das „Jetzt“ war ausschlaggebend und gewinnbringend. Wer sollte in die Zukunft blicken können? Kein Mensch, kein Mediziner, kein Sachverständiger. Erst recht keiner, der selbstlos, dem Amtsgericht als Handlanger diente. Er – der ärztliche Sachverständige - hatte schließlich eine ganze Menge zu verlieren, wenn man sich von ihm abwenden würde. Eine Hand wäscht die andere.
Alles lief wie am Schnürchen. Die laute, selbstlose Nachbarin, hatte Lasse mit weiteren, delikaten Informationen versorgt, der Gutachter seinerseits mit dem nötigen, niederschmetternden, sachverständigen Gutachten. Und dann geschah es. Das, womit niemand rechnen konnte. Plötzlich flatterte dem emsigen Sachbearbeiter Lasse Mocho, ein Schreiben von dieser abwesenden Tochter auf den überfüllten Schreibtisch, und verdarb ihm, seinen wunderschönen Tag, der doch so gut angefangen hatte. Genau diese Frau, die jetzt dort draußen im Regen an der Bushaltestelle stand, und einen Blick auf seine Person zu erhaschen versuchte, sie ließ ihn wissen, dass man keineswegs mit dieser Vorgehensweise einverstanden sei, und weder eine Betreuung ihrer Eltern-, noch ein Einblick in deren wirtschaftlichen Verhältnisse erforderlich sei, den sie sowieso niemals zulassen würde. Es solle sich niemand wagen weitere Schritte zu unternehmen, denn dann liefe sie zur Höchstform auf. Solche Drohungen waren Lasse während seiner Dienstzeit etliche untergekommen, und beeindruckten ihn nur wenig. Er saß immer am längeren Ende des Hebels. So schnell ließ Lasse sich nicht ins Box Horn jagen. Nicht Lasse, der alte Hase im Geschäft mit der Bevormundung. Also verfasste er ein Schreiben, und schoss zurück. Gespickt mit Begründungen, Argumenten, Bezeugungen und Paragraphen. Reine Routine. Er war damals so stolz auf sein Werk. Und dann…
Zunächst war eine Weile nichts geschehen. Lasse glaubte den Sieg schon in der Tasche, und auf dem Konto der Landeskasse. Doch eines Tages ging die Tür von seinem Büro auf, und diese freche Frauensperson, baute sich vor seinem Schreibtisch auf, wie eine keifende, hungrige Hyäne. Auch das war für Lasse keine Neuigkeit. Er hatte da schon Sachen erlebt, er könnte glatt ein Buch darüber schreiben, wenn plötzlich nie erwähnte oder weit weg wohnende Kinder auftauchten, die um ihr Erbe fürchteten. Die alten Leutchen- oder diejenigen die etwas deppert waren, sie bekamen ohnehin nichts mehr richtig mit-, verstanden kein Wort, sahen schlecht, und waren spielendleicht einzukassieren. In diesen Generationen fand man wenigstens noch die große Furcht vor Amtspersonen, Titeln und weißen Kitteln. Mit der unseligen Nachkommenschaft sah es schon ganz anders aus. Sie waren aufsässig, furchtlos, frech und unverschämt. Oder, wie in diesem Fall: Gewaltbereit. Sie ließen sich längst nicht alles bieten, gingen dagegen vor und setzten sich zur Wehr. Kam man alleine nicht zurande, und hatte die entsprechenden Geldmittel, gaben sie die Akte in die Hände eines Winkeladvokaten, mit dem man sich dann herumschlagen musste. Hinzu kam noch eine äußerst unangenehme Begleiterscheinung: In den letzten Jahren war es regelrecht eingerissen, dass man ärgerliche Fälle der Öffentlichkeit zugänglich machte, und man sich diskreditieren lassen musste. Das Internet stellte sich hierbei ebenso als Pest heraus, wie die privaten Fernsehsender als Seuche. Lasse hatte auch so einen Fall, der, ihn um ein Haar seinen Posten hätte kosten können. Er hing ihm lange in den Knochen, und vermieste ihm das ohnehin bescheidene Leben. Damals stellte der amtierende Gerichtsdirektor sich schützend vor seinen Sachbearbeiter Lasse Mocho. Aber nur, weil er um den guten Ruf dieser Institution fürchtete. Natürlich auch um seinen eigenen. Ohne diese weiße Fassade zu beschädigen, hätte er Lasse nicht opfern können. Also rechtfertigte er vor der Presse dessen Vorgehensweise. Nur knapp schrammten sie an einem weittragenden Skandal vorbei. Ganz knapp. Das war gerade nochmal gut gegangen. Mit der Zeit wuchs Gras über die unberechtigte Zwangseinweisung in eine Psychiatrieklinik.
Da stand sie also, diese Frau, die jetzt dort draußen im Regen einen langen Hals machte, um einen Blick auf ihn zu werfen. Lasse erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie drohend, unangemeldet vor seinem Schreibtisch aufgetaucht war. Durch die offene Bürotür, konnte er damals noch eine zweite Person erblicken. Die Nachbarin- erinnerte er sich. Die Nachbarin, die ihm heute so unverhohlen die kalte Schulter gezeigt hatte, und die jetzt dort draußen – mit verschwörerischem Blick - von seiner Anwesenheit in diesem Bus berichtete. Er erinnerte sich ganz genau. Um die urplötzlich aufgetauchte Tochter, möglichst schnell wieder abzuwimmeln, hatte Lasse seinen alten Trick angewandt, und sie keinen einzigen Satz aussprechen lassen. Immer wieder war er ihr ins Wort gefallen, um sie aus dem Konzept zu bringen. Eigentlich funktionierte das immer. Kaum jemand, der nicht den Faden verlor, wenn er dauernd unterbrochen wurde. Aber so etwas Hartnäckiges, wie diese Person dort draußen, war ihm noch nie untergekommen. Keinen einzigen Treffer konnte er landen. Sie ließ sich partout nicht verunsichern. Als letztes, wirkungsvolles Mittel, das ihm zur Verfügung stand, hatte er sie des Hauses verwiesen, damit aber, ihren Zorn nur noch weiter angestachelt. Sie ließe sich nicht hinauswerfen, hatte sie mit zu ruhiger, leiser werdender Stimme gesagt. Nicht von ihm- dem kleinen unhöflichen Sachbearbeiterchen. Nicht von ihm, der doch seine Brötchen mit Steuergeldern bezahlen würde, aus dem seine Bezüge bestehen würden. Nicht von ihm, dem kleinen, hässlichen Flegel, der keinerlei Benehmen hätte, nicht mal im Ansatz. Das war dann Zuviel. Das musste er sich nicht sagen lassen. Das Fass war voll. Lasse musste zum Äußersten gehen, um diese Person endlich wieder loszuwerden. Unbeeindruckt von diesem Ausbruch, der jeden Augenblick aus dem Ruder laufen konnte, beugte er sich wichtig über seine Akten, und ignorierte sie so lange, bis es ihr zu dumm geworden war, und sie von selbst das Weite suchte. Das Knallen der Tür war ausgeblieben, sie ließ sie einfach sperrangelweit offen stehen, und ging hinaus zu der anderen Frau. Der Nachbarin. Was folgte, war ein paar Tage später, ein weiterer Brief, der deutlich an Schärfe zugenommen hatte, und ein Dokument mit der Unterschrift ihrer Eltern, dass man eine Betreuung nicht wünschte, und diesen eingeleiteten Vorgang sofort zu stoppen habe. Lasse hatte verloren. Die Akte musste zwangsläufig dem zuständigen Richter überstellt werden, der dann, mit seinem gefassten Beschluss, anschließend Lasses Niederlage bestätigte. Der beschlossene Beschluss war tatsächlich aufgehoben-, der Vorgang angeschlossen worden. Ende. Akte zu, und ab damit zur Ablage, und in die Vergessenheit des Archivs. Aus einem hübschen, finalen Ende, passend zur Verabschiedungsfeier, war leider nichts geworden. Lasse hatte nur noch einen Wunsch: Dieser Person, wollte er nie wieder im Leben begegnen. Nicht dieser Frau, die dort draußen - unbeeindruckt vom Regen - neben seiner unhöflichen Nachbarin stand.
Endlich fuhr der Bus wieder an, und entfernte sich von den beiden langhalsigen Frauen, die immer noch an derselben Stelle verharrten, und durchs Fenster gafften. Augen wie Schießgewehre auf ihn gerichtet, jederzeit bereit ihn zu vernichten.