Club Freitag der Dreizehnte Teil 2 - E. Y. Meyer - E-Book

Club Freitag der Dreizehnte Teil 2 E-Book

E. Y. Meyer

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Beschreibung

Ein Schweizer Spiegel der Jahrtausendwende. Die Geschichte eines Clubs mit dem Namen 'Freitag der Dreizehnte'. Vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2008. Das Schweizervolk ist weder im Aufstieg noch im Abstieg. Es befindet sich vielmehr in einer Metamorphose, einem Wandel zu etwas Neuem. E. Y. Meyer sieht dies als Apotheose eines alten europäischen Volkes, das sich zögerlich dem 21. Jahrhundert öffnet. Apotheose bedeutet aber bei ihm nicht einseitige Verherrlichung, Verklärung, sie ist mehrschichtig, mit ironischen Untertönen durchsetzt. Der Autor setzt fort, was er in seinem Buch 'Wandlung' begonnen hat: Die Geschichte einer Männergruppe, die den Wandel der Zeit erlebt und reflektiert. Der grosse Schweizer Schriftsteller, dem schon Marcel Reich-Ranicki huldigte, baut in seinen Roman einen Kranz meisterhaft erzählter Geschichten ein und liefert ein Zeitgemälde, in dem sich jeder Leser erkennen oder spiegeln kann. Ein wahres Lesevergnügen. E. Y. Meyer ist einer der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller. Er hat während mehr als vierzig Jahren die Aufmerksamkeit vieler Leser in Deutschland und der Schweiz auf sich gezogen. Aus dem stets revolutionären Kanton Baselland stammend, siedelte er bald in den Kanton Bern über und schrieb dort in der Nachfolge Gotthelfs und Dürrenmatts über die Gegenwart. Als weitgereister Schweizer, der immer gerne in seine Heimat zurückkehrte, hat er die letzten zwanzig Jahre seinem 'Diptychon der Jahrtau-sendwende' gewidmet, worin er die Schweiz im Übergang aus einer alten in eine neue Welt aufleuchten lässt. Seine Charaktere sind ebenso grimmig wie weltgewandt und gebrochen – ein Stück der wahren Schweiz.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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E.Y.MEY­ER

Club Frei­tagder Drei­zehn­teTeil 2Apo­theo­se

Ro­man zur Jahr­tau­send­wen­de

 

Erst­mals er­schie­nen 2015

© 2021 E.Y.MEY­ER

ey­mey­er.ch

 

 

Co­ver:

Bron­ze­kopf des Au­tors

Ge­schaf­fen 1997 von PAN YI QUINAca­de­my of Arts & De­sign

Tsing Hua Uni­ver­si­tyBei Jing, Chi­na

 

El arte es una men­ti­ra que nos acer­ca a la ver­dad

Pa­blo Pi­cas­so

Ob­wohl die­ser Ro­man auf re­a­len Er­eig­nis­sen ba­siert, sind ei­ni­ge der dar­in ge­schil­der­ten Cha­rak­tere vom Au­tor ge­schaf­fe­ne Kom­po­si­ti­o­nen oder Er­fin­dun­gen, und eine An­zahl von Epi­so­den sind fik­tiv.

Mit Aus­nah­me ge­wis­ser Fi­gu­ren und his­to­ri­scher Er­eig­nis­se sind die Cha­rak­tere, Er­leb­nis­se und Na­men der por­trä­ti­er­ten Per­so­nen fik­tiv, und jede Ähn­lich­keit mit Na­men oder bio­gra­phi­schen Da­ten ir­gend­wel­cher Per­so­nen ist voll­kom­men zu­fäl­lig und un­be­ab­sich­tigt.

Das The­a­ter-Ho­tel Cha­sa de Ca­pol und des­sen Be­sit­zer, E.T.A. und Ra­mun Schwei­zer, sind ein re­a­ler Ort und zwei real exis­tie­ren­de Men­schen, die der Au­tor so wahr­haf­tig, wie es ihm mög­lich ist, dar­ge­stellt hat.

Ein Tref­fen des CLUBS FREI­TAG DES DREI­ZEHN­TEN hat in der Cha­sa de Ca­pol nie statt­ge­fun­den.

 

Ka­pi­tel

Pro­log

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Epi­log

Dank

 

Pro­log

»Der Mensch denkt, Gott lenkt.«

Ich er­in­ner­te mich, wie der Abt von Ma­ri­en­berg dies ge­sagt hat­te.

Um gleich dar­auf hin­zu­zu­fü­gen:

»Der Mensch dach­te, Gott lach­te.«

Ohne da­nach aber sel­ber in ein ir­gend­wie schal­len­des, ei­nem ro­man­haf­ten Kli­schee ent­spre­chen­des Ge­läch­ter aus­zu­bre­chen. Son­dern sich mit ei­nem fei­nen, aber deut­lich er­kenn­ba­ren Schmun­zeln be­gnü­gend, das sei­ne Lip­pen um­spiel­te.

Wir be­fan­den uns im kirch­lich stil­ge­recht, aber nicht über­präch­tig, nicht all­zu prunk­voll, son­dern wohl­tu­end do­siert ein­ge­rich­te­ten gros­sen Emp­fangs­raum des Klos­ters, der wei­te Leer­stel­len zu­liess und des­halb umso be­ein­dru­cken­der wirk­te.

Weis­se Wän­de, die zu ei­ner ho­hen weis­sen De­cke hin­auf­führ­ten, wie dies auch in den Räu­men des mäch­ti­gen al­ten Hau­ses von E.T.A. üb­lich war.

Dunk­le Mö­bel. Gros­se Öl­bil­der. Spar­sam, aber wir­kungs­voll ein­ge­setz­te christ­li­che In­si­gni­en ka­tho­li­scher Prä­gung. Ein Kru­zi­fix. Ein paar Kult- oder Schmuck­ge­gen­stän­de, de­ren Na­men und Be­deu­tung ich nicht kann­te.

Und da­zwi­schen im­mer viel frei­er Raum.

Raum zum At­men. Zum Den­ken.

In den Hän­den hiel­ten wir die Glä­ser mit dem fruch­ti­gen Süd­ti­ro­ler Weiss­wein, den der statt­li­che, den welt­li­chen Freu­den an­schei­nend nicht ab­ge­neig­te, wohl um die sech­zig Jah­re alte, hoch­ge­wach­se­ne Mann in sei­nem gut aus­ge­füll­ten schwa­r­zen Rock uns zum Emp­fang kre­denzt hat­te.

E.T.A. hat­te uns im Ran­ge Ro­ver in der Abend­däm­merung durch die win­ter­lich ver­schnei­te Land­schaft über die Lan­des­gren­ze zu der am Hang ge­le­ge­nen, hoch auf­ra­gen­den, bur­g­ähn­li­chen, fes­tungs­ar­tig wir­ken­den, weis­sen Ge­bäu­de­mas­se ober­halb der Tal­stras­se hin­auf­ge­fah­ren, die vom süd­ti­ro­li­schen Mals zum Re­schen­pass und von dort aus wei­ter nach Lan­deck führ­te.

Er hat­te dies ge­tan, nach­dem er er­fah­ren hat­te, dass die sech­zehn Jah­re jün­ge­re Frau, mit der ich da­mals haupt­säch­lich zu­sam­men­leb­te und mit der ich mich für ei­ni­ge Tage bei ihm auf­hielt, sich auf eine Wei­se mit En­geln be­schäf­tig­te, die über ein ge­wöhn­li­ches, seit ei­ni­ger Zeit wie­der mo­disch ge­wor­de­nes Aus­mass hin­aus­ging.

Kri­na hat­te ihm einen Falt­plan der En­gel ge­schenkt, den sie und eine Freun­din ge­schaf­fen hat­ten: Ein wie ein Stadt­plan oder eine Land­kar­te ge­fal­te­tes gros­ses Blatt mit be­rühm­ten Ge­dich­ten über En­gel und ei­nem La­ge­plan, wo in der Ber­ner Alt­stadt En­geldar­stel­lun­gen zu fin­den wa­ren.

Und E.T.A. hat­te ge­meint, dass wir uns des­halb, zu­mal wir bei­de noch nichts von ih­nen ge­hört hät­ten, un­be­dingt die als ein­zig­ar­ti­ges Denk­mal ro­ma­ni­scher Kunst gel­ten­den En­gel­fres­ken im na­he­ge­le­ge­nen, sich nur un­weit der Lan­des­gren­ze auf der ita­lie­ni­schen Sei­te be­fin­den­den Klos­ter Ma­ri­en­berg an­se­hen müss­ten.

Zu die­sen hat­te uns dann ein spe­zi­ell da­für be­auf­trag­ter Klos­ter­bru­der ge­führt.

Ein Pa­ter, der eine glei­che schwa­r­ze Kut­te wie sein Chef trug, ohne das gros­se sil­ber­ne Kreuz na­tür­lich, das an ei­ner lan­gen Ket­te über dem Bauch des Ab­tes ge­han­gen hat­te, das Brust­kreuz oder Pek­to­ra­le.

Ein klei­ner, viel­leicht schon sieb­zig oder noch mehr Jah­re al­ter, as­ke­tisch aus­se­hen­der Mann mit ei­nem dün­nen Haar­kranz um den kah­len Schä­del, aber ei­nem von Run­zeln noch be­mer­kens­wert frei­en Ge­sicht, der eine ru­hi­ge Vi­ta­li­tät ausstrahl­te.

Und dann hat­ten wir in den tie­fen Un­ter­grün­den des Klos­ters un­ter dem Kreuz­ge­wöl­be der Kryp­ta ge­stan­den, in dem ver­bor­ge­nen Raum, in der ehe­ma­li­gen Gruft, und wa­ren rings­um, von al­len Wän­den und auch von der De­cke her­ab, von teils kraft­voll leuch­ten­den, teils zar­ten, pas­tel­lar­ti­gen Fa­r­ben um­ge­ben ge­we­sen.

In­ten­si­ves Oran­ge bis Rot und ein tie­fes Blau als Um­rah­mung und Hin­ter­grund.

Dar­in, kreuz und quer hin­ein­ge­malt dem Men­schen nach­emp­fun­de­ne Ge­stal­ten.

En­gel. Apo­stel­fi­gu­ren. Hei­li­ge. In der Mit­tel­ni­sche, in ei­ner Man­dor­la, wie der Pa­ter er­klär­te, Chris­tus. Eine streng ge­hal­te­ne Ma­je­stas Do­mi­ni.

Je­des Ge­wöl­be­feld war voll­stän­dig aus­ge­malt und in ei­nem un­glaub­lich gu­ten Er­hal­tungs­zu­stand.

»Die Fres­ken«, so der Pa­ter, »sind im zwölf­ten Jahr­hun­dert ent­stan­den und am Ende des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts wie­der­ent­deckt wor­den. Und neun­zehn­hun­dert­acht­zig, nach­dem man die Gruf­tein­bau­ten aus der Zeit der Ba­rocki­sie­rung der über der Kryp­ta ge­le­ge­nen Klos­ter­kir­che ent­fernt hat­te, sind sie zur Gän­ze frei­ge­legt wor­den.«

Die in lan­ge Ge­wän­der gehüll­ten En­gel­ge­stal­ten, so der Pa­ter wei­ter, wür­den auf einen by­zan­ti­ni­schen Ein­fluss hin­wei­sen. Ihre gros­sen Au­gen hät­ten, wie wir se­hen könn­ten, kei­ne oder nur schwach wahr­nehm­ba­re Pu­pil­len. Das Ni­ko­l­aus­fres­ko sei in der go­ti­schen Zeit hin­zu­ge­kom­men und wohl zwei­hun­dert Jah­re jün­ger.

Auf merk­wür­di­ge Wei­se schie­nen sich die über­wie­gend in zar­tem Pas­tell ge­hal­te­nen En­gel­bil­der in ei­nem Schwe­be­zu­stand zu be­fin­den, als woll­ten sie in der Mau­er, auf die sie ein­mal ge­malt wor­den wa­ren, ent­we­der wie­der ver­schwin­den oder aus ihr her­aus­tre­ten, um sich dann in der Luft, wel­che die Mau­ern um­gab, auf­zu­lö­sen, un­sicht­bar zu wer­den, um in der Welt, die uns um­gab, ihr Werk auf eine für uns sinn­lich nicht di­rekt oder über­haupt nicht er­kenn­ba­re Wei­se in An­griff zu neh­men und durch­zu­füh­ren.

Worin die­ses Werk auch im­mer be­ste­hen moch­te.

Dass wir Zu­gang zu den Fres­ken be­kom­men hat­ten, war ein Pri­vi­leg ge­we­sen.

Denn aus Sor­ge um die Be­wah­rung des gu­ten Er­hal­tungs­zu­stan­des war die Kryp­ta nur noch zum Ge­bet zu­gäng­lich. Zur Ves­per. Dem Abend­ge­bet.

Dank­sa­gung nach voll­brach­tem Tag,Ge­bet, be­vor die Nacht be­ginnt,ge­lob­ten Diens­tes heil’ge Pflichtsei vor dir un­ser Lob­ge­sang.

In den Win­ter­mo­na­ten blieb der 1160 als ers­ter Teil des Klos­ters ge­bau­te, der hei­li­gen Drei­fal­tig­keit, der Got­tes­mut­ter Ma­ria und al­len Hei­li­gen ge­weih­te, ver­bor­ge­ne Raum zum Schutz der Fres­ken ge­schlos­sen.

Das Pri­vi­leg, ihn trotz­dem be­sich­ti­gen zu kön­nen, hat­ten wir E.T.A. zu ver­dan­ken, der mit dem Abt in ei­ner eben­so freund­schaft­li­chen wie re­spekt­vol­len Be­zie­hung stand, wie er das auch mit wei­te­ren Wür­den­trä­gern der ka­tho­li­schen Kir­che dies­seits wie jen­seits der Lan­des­gren­ze zu tun pfleg­te.

Die Be­mer­kung über Gott und die Men­schen – »der Mensch denkt, Gott lenkt, der Mensch dach­te, Gott lach­te«– hat­te der Ma­ri­en­ber­ger Abt ge­macht, nach­dem E.T.A. mich als Schrift­stel­ler vor­ge­stellt und wir ei­ni­ge Sät­ze über die Schrift­stel­le­rei, über das Schrei­ben und über die Ge­heim­nis­se der schrift­li­chen Über­lie­fe­run­gen aus­ge­tauscht hat­ten.

»Der Geist ist der an­de­re Teil der sicht­ba­ren Na­tur«, hat­te der Abt ge­sagt. »Die un­sicht­ba­re Na­tur.«

Und dann noch hin­zu­ge­fügt:

»Und über dem al­len, mein Sohn, lass dich war­nen, denn des vie­len Bü­cher­ma­chens ist kein Ende, und viel Stu­die­ren macht den Leib müde.«

DO­MI­NUS FOR­TI­TU­DO VI­TAE MEAE.

Dies war sei­ne De­vi­se.

Das Le­bens­mot­to des Abts.

Der Herr ist die Kraft, die Stär­ke mei­nes Le­bens.

Auf der Vi­si­ten­kar­te, die er mir über­reich­te, stand sein

Name mit den nach­ge­stell­ten Buch­sta­ben O.S.B. – Ordo Sanc­ti Be­ne­dic­ti. Dann: Abt. Dann: Be­ne­dik­ti­ne­r­ab­tei Ma­ri­en­berg. Dann die ita­lie­ni­sche Post­leit­zahl von Mals und eine ita­lie­ni­sche Te­le­fon­num­mer.

OLD EU­RO­PE.

Der Kon­vent im höchst­ge­le­ge­nen Be­ne­dik­ti­ner­klos­ter Eu­r­o­pas mit ei­ner neun­hun­dert­jäh­ri­gen Ge­schich­te be­stand da­mals aus drei­zehn Mit­glie­dern.

Die­se Be­geg­nung, die­se Be­sich­ti­gung, die­ser Be­such muss­te ir­gend­ein­mal zwi­schen 1997 und dem Jahr 2000 statt­ge­fun­den ha­ben.

In ei­nem der Win­ter je­den­falls, die dem Frei­tag, dem 13. Au­gust 1999, vor­an­ge­gan­gen wa­ren.

Dem Tag, an dem der Club sich, weil ich da­mals für ein Jahr dort leb­te, in Lon­don ge­trof­fen hat­te.

Und da es nicht der Win­ter 96/97 ge­we­sen sein konn­te, weil ich E.T.A. und sein Haus in die­sem Win­ter erst ken­nen­ge­lernt hat­te, und auch nicht der Win­ter 98/99, weil ich die­sen in Lon­don ver­bracht hat­te, muss­te es der Win­ter 97/98 ge­we­sen sein.

Und viel­leicht war die­ser Be­such in Ma­ri­en­berg und die Tat­sa­che, dass die Klos­ter­ge­mein­schaft da­mals aus drei­zehn Mit­glie­dern be­stan­den hat­te, so­gar der ent­schei­den­de Aus­lö­ser da­für ge­we­sen, dass ich mich im Jahr 2000 dazu ent­schlos­sen hat­te, das Haus von E.T.A. nicht mehr nur für mich al­lein oder für mich und Kri­na zu be­hal­ten, son­dern es auch dem Club, den zwölf an­de­ren Mit­glie­dern, für ein Tref­fen zu­gäng­lich zu ma­chen.

Das Klos­ter Ma­ri­en­berg und sei­ne En­gel.

Der Mensch soll sich be­hut­sam schnäu­zen und nur hin­ter sich aus­spu­cken, we­gen der En­gel, die vor ihm ste­hen.

Alte deut­sche Mönchs­re­gel.

Wer weiss schon, was ein En­gel in ei­nem Jahr­hun­dert wie die­sem zu su­chen hat.

Pa­trick Mc­Grath.

Zwei der Tex­te, die auf dem Falt­plan der En­gel ab­ge­druckt wa­ren, den Kri­na und ihre Freun­din zu­sam­men­ge­stellt hat­ten.

Jetzt, am Frei­tag, dem 13. Juni 2008, ei­nem heis­sen Som­mer­tag, da die­se Er­in­ne­rung an Ma­ri­en­berg ein­mal mehr in mir auf­ge­stie­gen war, be­fand ich mich er­neut im Haus von E.T.A.

In die­sem mehr als fünf­hun­dert Jah­re al­ten ein­s­ti­gen Gra­fen­sitz, den E.T.A. nach dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs vor dem Ver­fall ge­ret­tet und re­no­viert hat­te und den er nun so­wohl als ei­ge­nen Wohn­sitz be­nutz­te wie als Ho­tel führ­te.

Mit dem Na­men, den er von den ein­s­ti­gen Her­ren des mäch­ti­gen Hau­ses über­nom­men hat­te:

CHA­SA DE CA­POL

Auf tief­grün­den­den Fun­da­men­ten ei­nes noch frü­he­ren Baus war hier ab 1199 ein Ge­bäu­de­kom­plex mit Haus­ka­pel­le, Re­fek­to­ri­um und ei­nem Hos­piz ent­stan­den, in dem meh­re­re Jahr­hun­der­te lang das aus Ve­ne­dig stam­men­de Ge­schlecht Polo re­si­dier­te.

Ent­deckt hat­te ich das mäch­ti­ge Haus auf ei­ner Rü­ck­fahrt von Ve­ne­dig im Fe­bru­ar 1997. Auf der Rü­ck­fahrt von ei­ner Rei­se, die ich un­ter­nom­men hat­te, um ein letz­tes Mal eine Über­prü­fung der Orts­be­schrei­bun­gen und an­de­re Nach­re­cher­chen für die No­vel­le zu ma­chen, die im Herbst un­ter dem Ti­tel Ve­ne­zi­a­ni­sches Zwi­schen­spiel er­schei­nen soll­te.

Die Er­in­ne­run­gen ver­misch­ten sich.

Die ge­nau­en Da­ten und die chro­no­lo­gi­sche Rei­hen­fol­ge der Ge­scheh­nis­se muss­ten aus ei­nem Ge­dächt­nis her­auf­ge­holt wer­den, das sich Zah­len nur schwer mer­ken konn­te: aus ei­nem Er­in­ne­rungs­kon­glo­me­rat, für das die Zeit, die­ses im Grun­de un­de­fi­nier­ba­re Phä­no­men, zu et­was ver­schmolz, das über die Zah­len hin­aus­ging.

Zu ei­nem Phä­no­men, das mit dem Le­ben eine iden­ti­sche Ein­heit zu bil­den schien.

Auch wenn das Ge­dächt­nis die Zah­len, die auf eine un­se­rem Ver­stand zum Teil zu­gäng­li­che Art dar­in ver­wo­ben sind, nicht aus­ser Acht las­sen kann.

Jetzt, im Jahr 2008, im Som­mer, im Juni, an ei­nem Frei­tag, der ein Drei­zehn­ter und ein heis­ser Tag war, be­fand ich mich also ein wei­te­res Mal bei E.T.A. in der Cha­sa de Ca­pol.

Zu ei­nem wie­der­hol­ten Mal aber nicht mehr al­lein oder nur mit Kri­na, son­dern ohne Kri­na, da­für mit Mit­glie­dern des Clubs, den ich 1992 ins Le­ben ge­ru­fen hat­te.

Mit Mit­glie­dern ei­nes Clubs, der so­zu­sa­gen eine Ant­wort hät­te sein sol­len auf die in eben­die­sem Jahr kurz zu­vor in die Welt ge­setz­te, wie ich und die an­de­ren Club­mit­glie­der fan­den, ab­sur­de Be­haup­tung des US-ame­ri­ka­ni­schen Po­li­tik­wis­sen­schaft­lers Fran­cis Fu­ku­ya­ma vom Ende der Ge­schich­te.

Eine klei­ne, eine win­zi­ge Ant­wort zwar nur, die aus­ser von den Mit­glie­dern des Clubs von nie­man­dem sonst gross zur Kennt­nis ge­nom­men wer­den wür­de, aber doch eine Ant­wort.

Eine Klein­sta­nt­wort auf eine gros­se Fest­stel­lung.

Auf eine ge­wal­ti­ge Be­haup­tung.

Auf die un­er­hör­te, aber da­mals viel be­ach­te­te Dia­gno­se eben, dass die Ge­schich­te nun zu Ende sei.

Zwar nicht die Ge­schich­te der Mensch­heit. Und auch nicht die Ge­schich­te der Welt.

Und schon gar nicht die Ge­schich­te des Welt­alls na­tür­lich. Aber die Ge­schich­te der po­li­ti­schen Sys­te­m­ent­wick­lung.

Die­se habe nun, wenn man die Ge­schich­te der Mensch­heit, so wie Fu­ku­ya­ma, als eine ge­setz­mäs­si­ge und te­leo­lo­gi­sche Ver­ket­tung von Er­eig­nis­sen und nicht als eine zu­fäl­li­ge An­häu­fung von Um­stän­den ver­ste­hen woll­te, ihr end­gül­ti­ges Ziel er­reicht.

Einen Ide­a­l­zu­stand, von dem aus es kei­ne wei­te­re Ent­wick­lung mehr ge­ben kön­ne.

Her­bei­ge­führt durch einen letz­ten Drei­sch­ritt im Sin­ne der He­gel’schen Di­a­lek­tik.

Mit The­se, An­ti­the­se und Syn­the­se.

Zu­erst ex­tre­mer Li­be­ra­lis­mus.

Dann To­ta­li­ta­ris­mus.

Dann li­be­ra­le De­mo­kra­tie.

Und dann de­ren Tri­umph.

De­ren Apo­theo­se.

De­ren Ver­herr­li­chung.

De­ren Ver­klä­rung.

De­ren Ver­gött­li­chung.

Die li­be­ra­le De­mo­kra­tie als End­s­ta­di­um.

Ein­ge­lei­tet durch den Zu­sam­men­bruch der UdSSR und der von ihr ab­hän­gi­gen so­zi­a­lis­ti­schen Staa­ten.

Ein­ge­lei­tet durch den Fall der Ber­li­ner Mau­er 1989.

Im zwei­hun­derts­ten Jahr nach dem Be­ginn der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on.

Vier­und­vier­zig Jah­re nach dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs.

Das 1992 vom Ame­ri­ka­ner mit ja­pa­ni­schen Vor­fah­ren be­haup­te­te und auf eine ein­fa­che For­mel ge­brach­te gros­se Ende, sein Ende der Ge­schich­te, hat­te mich ge­reizt, et­was da­ge­gen­zu­set­zen.

Und was hät­te das an­de­res sein kön­nen als sein Ge­gen­teil.

Ein An­fang.

Aber ein An­fang wo­von?

Der An­fang ei­ner Ge­schich­te.

Aber der An­fang ei­ner Ge­schich­te wel­cher Art?

Der An­fang ei­ner Ge­schich­te, die, wie ich, ei­ner auf ver­schlun­ge­nen We­gen ent­stan­de­nen Ein­ge­bung fol­gend, schliess­lich be­fun­den hat­te, die Ge­schich­te ei­nes Clubs sein soll­te.

Kei­nes gros­sen Clubs. Und schon gar nicht ei­nes gross­ar­ti­gen.

Im Ge­gen­teil. Es soll­te ein mög­lichst klei­ner Club wer­den.

Und ja. Wenn mög­lich na­tür­lich auch ein fei­ner.

Es soll­te ein Club wer­den, der die Grös­se der nächst­kleins­ten ge­sell­schaft­li­chen For­ma­ti­on hat­te, die gleich nach der Fa­mi­lie kam. Dem Kern ei­ner Fa­mi­lie. Nicht ei­nes gan­zen Fa­mi­li­en­ver­bands.

Eine klei­ne Grup­pe.

Wie einst eine stein­zeit­li­che Jagd­grup­pe.

Oder heu­te eine Fuss­ball­mann­schaft.

Und zwi­schen­durch auch ein­mal eine Apo­stel­ge­mein­schaft.

Elf Män­ner.

Drei­zehn Män­ner...

Ein Män­ner­club also.

Aber was für ein Män­ner­club?

Nicht ei­ner von de­nen, die es be­reits zur Ge­nü­ge gab. Kein ge­wöhn­li­cher Män­ner­club.

Son­dern ei­ner, der spe­zi­el­ler war.

Aus­ge­fal­le­ner.

Kein ein­zig­ar­ti­ger.

Aber ein sel­te­ner.

So dass es schliess­lich ein Club ge­wor­den war, des­sen Name, wie sich her­ausstell­te, gleich­zei­tig auch sein Pro­gramm war.

Ein Club mit dem Na­men:

CLUB FREI­TAG DER DREI­ZEHN­TE

Ein Club, der, wie mei­ne merk­wür­di­ge Ein­ge­bung es ge­wollt hat­te, nur aus drei­zehn Män­nern be­stand, die sich im­mer an ei­nem Frei­tag, der ein Drei­zehn­ter war, an ei­nem im­mer wie­der an­de­ren Ort tra­fen.

An ei­nem Ort, den je­weils ein Mit­glied im Sin­ne ei­nes Über­ra­schungs­ef­fekts aus­zu­wäh­len hat­te – ohne, wenn das lo­gis­tisch mög­lich war, die an­de­ren lan­ge zu­vor da­von zu in­for­mie­ren.

Mit Ein­la­dun­gen, die in schrift­li­cher Form zu er­fol­gen hat­ten.

In Form ei­nes re­a­len, pa­pie­re­nen Brie­fes und nicht bloss als elek­tro­ni­sche Nach­richt.

Und mit den je­des Mal dar­un­ter ge­setz­ten Buch­sta­ben:

S.c.J.

Der Ab­kür­zung für Sub con­di­ti­o­ne Ja­co­bi.

Oder Ja­co­bea.

Be­zo­gen auf den Ja­ko­bus­brief.

Ja­ko­bus 4, 13–16:

Und nun ihr, die ihr sagt: Heu­te oder mor­gen wol­len wir in die oder die Stadt ge­hen und wol­len ein Jahr dort zu­brin­gen und Han­del trei­ben und Ge­winn ma­chen –, und wisst nicht, was mor­gen sein wird. Was ist euer Le­ben? Ein Rauch seid ihr, der eine klei­ne Zeit bleibt und dann ver­schwin­det. Da­ge­gen soll­tet ihr sa­gen: Wenn der Herr will, wer­den wir le­ben und dies oder das tun. Nun aber rühmt ihr euch in eu­rem Über­mut. All sol­ches Rüh­men ist böse.

Oder ein­fa­cher, kür­zer, auf die For­mel ge­bracht:

So Gott will und wir le­ben.

Als ein Hin­weis dar­auf, dass die Er­eig­nis­se, die auf die Zu­kunft ge­plant sind, nicht in un­se­rer Hand lie­gen.

Was be­deu­te­te, dass wir uns, so Gott woll­teund wir leb­ten, also min­des­tens ein­mal und höchs­tens drei­mal im Jahr tref­fen wür­den.

Nicht zu we­nig und nicht zu viel.

Wo­bei man das Wort Gott na­tür­lich auch durch Wör­ter wie Schick­sal, Zu­fall oder Fü­gung hät­te er­set­zen kön­nen, was uns je­doch des von uns als nicht un­be­trächt­lich emp­fun­de­nen Ver­gnü­gens be­raubt hät­te, wel­ches uns die Ver­wen­dung ei­ner al­ten bib­li­schen For­mel be­rei­te­te.

Das jet­zi­ge Tref­fen, das Tref­fen in der Cha­sa de Ca­pol am Frei­tag, dem 13. Juni 2008, war un­ser fünf­und­zwan­zigs­tes.

Und in­zwi­schen be­reits das ach­te, das im Haus von E.T.A. statt­fand.

Ich war als Ein­zi­ger schon am Tag zu­vor, am Don­ners­tag, dem 12. Juni, an­ge­reist.

Mit E.T.A. hat­te ich den zwi­schen uns üb­lich ge­wor­de­nen Will­kom­mens­drink, einen Ve­ne­zia­no, ge­trun­ken und mich da­nach im al­ten Swim­ming­pool im Gar­ten un­ter­halb des Hau­ses er­frischt.

Dann hat­te ich an ei­nem der im Frei­en, zwi­schen dem Haus und dem Swim­ming­pool ste­hen­den Ti­sche zu Abend ge­ges­sen: an dem von mir be­vor­zug­ten Tisch, der bei ei­ner vier­stäm­mi­gen Er­len­grup­pe plat­ziert war und den Na­men Erl­kö­nig trug.

Und zum Schla­fen hat­te ich mich in das Zim­mer im obers­ten Stock un­ter­halb des Dachs be­ge­ben, das ich stets be­zog

In ein Zim­mer, das, wie alle Zim­mer im Haus, kei­ne Num­mer, son­dern einen Na­men trug, der in weis­ser Frak­tur­schrift auf ein wap­pen­för­mi­ges, an der Zim­mer­tür hän­gen­des, schwa­r­zes Tä­fel­chen ge­malt war.

Ein Name, der bei die­sem Zim­mer aus vier Wör­tern be­stand:

WALT­HER VON DER VO­GEL­WEI­DE

Die an­de­ren wa­ren am Frei­tag, dem Drei­zehn­ten, ein­ge­trof­fen.

Am spä­ten Vor­mit­tag oder frü­hen Nach­mit­tag.

Fuchs und Gi­lo­men mit dem Post­au­to.

Frank, Gerd, Vin­zenz und Qui­rin mit ih­ren Pri­va­t­au­tos.

Es war das ers­te Mal, dass wir nur noch sie­ben wa­ren.

 

1

Die Jahr­tau­send­wen­de, den Wech­sel vom Jahr 1999 zum Jahr 2000, den die Mensch­heit ent­ge­gen den Ge­set­zen der Ma­the­ma­tik, rech­ne­risch un­rich­tig, ein Jahr zu früh fei­er­te, hat­te ich in Grau­bün­den ver­bracht.

Nicht in der Cha­sa de Ca­pol al­ler­dings.

Nicht bei E.T.A. Nicht in San­ta Ma­ria im Müns­ter­tal.

Son­dern im En­ga­din. Im Tal des Inns.

In der be­rühm­ten Ge­gend der Obe­ren­ga­di­ner Seen.

In Sils Ma­ria.

Im Nietz­sche-Haus.

In ei­nem der vier ein­fach ein­ge­rich­te­ten Dop­pel­zim­mer, die ober­halb des im Erd­ge­schoss un­ter­ge­brach­ten Mu­se­ums la­gen und für eine be­grenz­te Zeit an Künst­ler, Schrift­stel­ler, Ge­lehr­te, Stu­den­ten, Jour­na­lis­ten und im wei­te­ren Sinn phi­lo­so­phisch, li­te­ra­risch und kul­tu­rell in­ter­es­sier­te Men­schen ver­mie­tet wur­den.

Zu­sam­men mit Kri­na.

Das klei­ne Haus, das ein be­schei­de­n­es ehe­ma­li­ges Bau­ern­haus war, aber wie ein ein­fa­ches Wohn­haus aus­sah, stand am Fuss ei­nes steil auf­ra­gen­den, von Fel­sen durch­setz­ten Hangs, der von dunk­len Tan­nen be­wach­sen war.

Von der Stras­se zu­rück­ver­setzt. Von den Ho­tels und Ge­schäf­ten an ihr fern­ge­hal­ten. Durch ein vor ihm lie­gen­des, un­be­baut ge­blie­be­nes Land­s­tück.

Der vom Schnee frei­ge­schau­fel­te, aber im­mer noch von ei­ner fes­ten weis­sen Schicht be­deck­te Weg, der von der Stras­se zu dem Haus führ­te, war links und rechts von un­be­rühr­ten, einen gu­ten Me­ter ho­hen Schnee­fel­dern ge­säumt ge­we­sen.

Hier, in die­sem Haus, das nun sei­nen Na­men trug, hat­te der klas­si­sche Phi­lo­lo­ge, der po­s­tum als Phi­lo­soph zu Welt­ruhm ge­kom­men war, in den Som­mer­mo­na­ten der Jah­re 1883 bis 1888 ein Zim­mer im ers­ten Stock be­wohnt. Als Un­ter­mie­ter ei­ner Fa­mi­lie Du­risch.

Fried­rich Nietz­sche. Der schnauz­bär­ti­ge Mann mit dem Sil­ber­blick, der er­klärt hat­te, dass Gott tot sei und dass wir, die Men­schen, es sei­en, die ihn ge­tö­tet hät­ten.

Der von ge­sund­heit­li­chen Pro­ble­men ge­plag­te Mensch. Der Pfar­rers­sohn, der al­lein durch die Kraft sei­nes Geis­tes, mit den Bü­chern, die er schrieb, ver­sucht hat­te, die Mensch­heit wei­ter­zu­brin­gen. Sie auf eine hö­he­re Stu­fe des Be­wusst­seins, der Evo­lu­ti­on, zu he­ben.

Mit sei­nen Kon­zep­ten des Über­menschen.

Des Wil­lens zur Macht.

Der ewi­gen Wie­der­kunft.

Den Tod Got­tes am ein­drü­ck­lichs­ten ver­kün­det hat­te er in sei­ner Schrift Die fröh­li­che Wis­sen­schaft. Im Apho­ris­mus mit dem Ti­tel Der tol­le Mensch.

»Wo­hin ist Gott?« rief er, »ich will es euch sa­gen! Wir ha­ben ihn ge­tö­tet, – ihr und ich! Wir Alle sind sei­ne Mör­der!... Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir ha­ben ihn ge­tö­tet! Wie trös­ten wir uns, die Mör­der al­ler Mör­der?«

Also hat­te der Mann ge­schrie­ben, der eine ra­di­ka­le Le­bens­be­ja­hung in den Mit­tel­punkt sei­ner Phi­lo­so­phie hat­te stel­len wol­len.

Der scha­r­fe Kri­tik an Mo­ral, Re­li­gi­on, Phi­lo­so­phie, Wis­sen­schaft und For­men der Kunst in der zeit­ge­nös­si­schen Kul­tur ge­übt hat­te, die er als le­bens­schwä­cher als die des an­ti­ken Grie­chen­lands be­ur­teil­te.

Der letzt­lich den Wert der Wahr­heit über­haupt in Fra­ge stell­te.

Be­vor er im Al­ter von fünf­und­vier­zig Jah­ren in Tu­rin einen geis­ti­gen Zu­sam­men­bruch er­litt, der ihn für die rest­li­chen zehn Jah­re sei­nes Le­bens in eine blei­ben­de geis­ti­ge Um­nach­tung ver­bann­te.

Dass sich der fünf­und­vier­zig Jah­re alte Ge­lehr­te da­mals, in Tu­rin, auf of­fe­ner Stras­se, wei­nend vor Mit­leid, an den Hals ei­nes Drosch­ken­pfer­des ge­hängt habe, weil das Tier vom Kut­scher miss­han­delt wor­den sei, be­ru­he aber, wie man heu­te meint, nur auf spä­te­rer münd­li­cher Über­lie­fe­rung und gel­te des­halb als we­nig glaub­wür­dig.

Nach dem Tod sei­ner Mut­ter, die ihn zu­nächst pfleg­te, hat­te der um­nach­te­te Mann ab 1897 bis zu sei­nem Tod im Jahr 1900, dem Jahr vor der da­ma­li­gen Jahr­hun­dert­wen­de, dann noch bei sei­ner Schwes­ter in der Vil­la Sil­ber­blick in Wei­mar ge­lebt.

Wo aus­ge­wähl­ten Be­su­chern, etwa Ru­dolf Stei­ner, dem Be­grün­der der An­thro­po­so­phie, das Pri­vi­leg ge­währt wor­den war, zu dem de­men­ten Phi­lo­so­phen vor­ge­las­sen zu wer­den.

Ein Mann mit ei­nem Sil­ber­blick be­en­de­te sein Le­ben im Jahr 1900.

In ei­ner Vil­la mit dem Na­men Sil­ber­blick.

Eine je­ner merk­wür­di­gen Ko­in­zi­den­zen, von de­nen das Uni­ver­sum voll ist und die dem Men­schen, wenn er sie er­kennt, manch­mal be­deu­tungs­voll und manch­mal be­lan­g­los er­schei­nen.

Win­ter.

Die Zeit, in der die Erde un­frucht­bar ist.

Wenn sich das Le­ben um­kehrt.

Wenn das Le­ben zu Ne­bel wird.

Wenn Pro­ser­pi­na, die Toch­ter der Göt­tin des Korns und der Frucht­bar­keit, beim Blu­men­pflü­cken auf ei­ner Wie­se vom Gott der Un­ter­welt ge­raubt, wäh­rend ei­nes Drit­tels des Jah­res im To­ten­reich lebt.

Dann sei die Erde un­frucht­bar.

Wäh­rend zwei­er Drit­tel des Jah­res soll sie sich da­nach aber wie­der bei ih­rer Mut­ter in der Ober­welt auf­hal­ten.

Dann sei die Erde wie­der frucht­bar.

Pro­ser­pi­na. Die To­ten­göt­tin der rö­mi­schen My­tho­lo­gie. Die zu­vor, in der grie­chi­schen My­tho­lo­gie, wo sie Per­se­pho­ne ge­heis­sen hat­te, zu­gleich eine Ve­ge­ta­ti­ons­göt­tin ge­we­sen war.

Eine Er­in­ne­rung an die Pro­ser­pi­na-Grot­te in der Ere­mi­ta­ge von Arles­heim.

Dem gröss­ten eng­li­schen Gar­ten der Schweiz.

Dem Ort, der beim sechs­ten Tref­fen des Clubs mit dem Na­men CLUB FREI­TAG DER DREI­ZEHN­TE als Zu­satz­pro­gramm an die Be­sich­ti­gung des Goe­the­an­ums an­ge­hängt wor­den war – des Sit­zes der von Ru­dolf Stei­ner ins Le­ben ge­ru­fe­nen All­ge­mei­nen An­thro­po­so­phi­schen Ge­sell­schaft im ne­be­n­an ge­le­ge­nen Dor­nach.

An ei­nem Frei­tag, der ein 13. De­zem­ber ge­we­sen war.

Ein Tag, der mit Ne­bel be­gon­nen hat­te, dann aber er­staun­lich hell ge­wor­den war.

Mit weiss­grau­en Wol­ken, die über einen blass­blau­en Him­mel zo­gen.

Be­vor sich am Abend wie­der ein zu­nächst hell­grau­er, dann dun­kel­grau wer­den­der Dunst­schlei­er über ihn zu zie­hen be­gon­nen hat­te.

Für die Nacht war ein Sturm an­ge­sagt ge­we­sen. Hier, im Obe­ren­ga­din, in Sils Ma­ria, gab es kei­nen Ne­bel.

Die Tage wa­ren vom Mor­gen bis zum Abend strah­lend klar.

Ein strah­lend blau­er Him­mel.

Und dar­un­ter eine strah­lend weis­se Land­schaft.

Eine weis­se Schnee­land­schaft, de­ren Glit­zern und Blen­den die In­ten­si­tät und End­lo­sig­keit des tie­fen Blaus über ihr noch zu ver­stär­ken schien.

Am spä­te­ren Vor­mit­tag des 31. De­zem­ber, am Tag des Sil­ves­ters, der auch wie­der so ein strah­lend kla­rer Tag ge­we­sen war, hat­ten Kri­na und ich auf der Stras­se, die vor dem Nietz­sche-Haus vor­bei­führ­te, über­ra­schend einen Mann in Be­glei­tung ei­ner Frau ge­trof­fen, den ich von Bern kann­te.

Die bei­den wa­ren, wie sich her­ausstell­te, am Vor­tag in das ne­ben dem frei­en Land­s­tück vor dem Nietz­sche-Haus ge­le­ge­ne Ho­tel Edel­weiss ge­zo­gen und woll­ten nun ins Fex­tal wan­dern, was wir auch vor­hat­ten.

So dass wir ge­mein­sam wan­der­ten.

Hugo war jah­re­lang ei­ner der zwei oder drei wich­tigs­ten Nach­rich­ten­spre­cher des Schwei­zer Ra­di­os ge­we­sen. Ei­ner der Haupt­spre­cher der Mit­tags- und der Abend­nach­rich­ten. Eine Stim­me, die man kann­te.

Eine an­ge­nehm nüch­ter­ne, un­auf­dring­li­che, neu­tra­le Stim­me, die auf über­trie­be­ne, auf­ge­setz­te und des­halb oft falsch und un­na­tür­lich wir­ken­de Emo­ti­o­nen ver­zich­tet hat­te.

Hu­gos Stim­me hat­te ein­fach Fak­ten mit­tei­len wol­len.

Und sie hat­te sich des­halb, wie das einst noch mög­lich und üb­lich ge­we­sen war, der Zu­hö­rer­schaft, ohne dass die brei­te Öf­fent­lich­keit ge­wusst hät­te, wie der Be­sit­zer der Stim­me aus­sah, über lan­ge Jah­re hin­weg so­zu­sa­gen als eine all­ge­mein an­er­kann­te und be­kann­te Stim­me der Na­ti­on ein­ge­prägt.

Per­sön­lich ken­nen­ge­lernt hat­te ich ihn, als mein da­ma­li­ger Ver­lag, Suhr­kamp, in der Woh­nung des Lei­ters sei­ner Zür­cher Fi­li­a­le eine sze­ni­sche Le­sung aus mei­nem eben fer­tig­ge­stell­ten ers­ten The­a­ter­stück Sun­day­mor­ning or­ga­ni­siert hat­te.

Hugo war für den Vor­trag ei­ner der Rol­len en­ga­giert wor­den.

Der Rol­le des ne­ben­bei mit Cham­pa­gner und al­ten Au­tos han­deln­den, zu­sam­men mit ei­ner eng­li­schen Freun­din in ei­nem Ber­ner Stö­ck­li woh­nen­den Gym­na­si­al­leh­rers Bopp.

Dass die wirk­li­che eng­li­sche Freun­din des wirk­li­chen Bopp, die mir als An­re­gung für zwei mei­ner Sun­day­mor­ning-The­a­ter­fi­gu­ren ge­dient hat­ten (wo­bei der wirk­li­che Bopp na­tür­lich an­ders ge­heis­sen hat­te), zu­vor auch ein­mal Hu­gos Freun­din ge­we­sen war, hat­te ich erst spä­ter er­fah­ren.

Hu­gos jet­zi­ge Be­glei­te­rin war eine um et­li­che Jah­re jün­ge­re, at­trak­ti­ve, dun­kel­haa­ri­ge Psy­cho­lo­gin mit war­men brau­nen Au­gen.

Dass sei­ne Freun­din­nen im­mer wie­der wech­sel­ten, wuss­te ich in­zwi­schen.

Das Fex­tal.

Die­ses er­reich­ten wir auf ei­nem Fuss­weg, der durch eine von Sand­stein­wän­den ge­säum­te Schlucht führ­te. Auf ihm über­wan­den wir die ers­te, wald­be­wach­se­ne Hang­stu­fe und ge­lang­ten so zum ers­ten Wei­ler des Tals, zu den we­ni­gen Stein­häu­sern von Fex Plat­ta, wo sich die gan­ze Pracht die­ses viel­leicht schöns­ten Sei­ten­tals des En­gad­ins vor uns aus­brei­te­te.

Der wei­te, sanft ge­schwun­ge­ne, weis­se Tal­bo­den.

Die seit­lich all­mäh­lich an­stei­gen­den weis­sen Hän­ge.

Und die über den Hän­gen in den tief­blau­en Him­mel ra­gen­den weis­sen Berg­gip­fel.

An den Son­nen­hän­gen prak­tisch baum­los.

Auf der Schat­ten­sei­te mit aus­ge­dehn­ten Ar­ven- und Lär­chen­be­stän­den.

Das etwa zehn Ki­lo­me­ter lan­ge, ober­halb von Sils Ma­ria di­rekt nach Sü­den füh­ren­de Sei­ten­tal war ei­nes der we­ni­gen noch ganz­jäh­rig be­wohn­ten Hoch­tä­ler der Al­pen und für sei­ne Un­be­rührt­heit be­rühmt.

Es gab hier kei­ne ober­ir­di­sche Strom­lei­tun­gen, kei­ne Ski­lift­an­la­gen, kei­ne Ka­bi­nen- oder Ses­sel­lif­te. Und es galt in ihm ein all­ge­mei­nes Mo­tor­fahr­ver­bot.

Aus­ser na­tür­lich für Zu­fahr­ten zu den paar Wei­lern und zu den we­ni­gen ver­ein­zelt in der Land­schaft ver­teil­ten üb­ri­gen Häu­sern so­wie zu den paar Ho­tels und Pen­si­o­nen. Al­les zu­meist ein­fa­che Stein­häu­ser.

Hier gin­gen wir auf der schma­len, aber un­ter der fest ge­press­ten Schnee­schicht, wie man er­ken­nen konn­te, ge­teer­ten Fex­ta­ler­stras­se wei­ter.

Da es be­reits nach elf Uhr war, wa­ren schon ziem­lich vie­le Men­schen un­ter­wegs.

Sol­che, die, wie wir, ins Tal hin­auf­stie­gen. An­de­re, die uns, das Tal hin­un­ter­ge­hend, ent­ge­gen­ka­men.

Die Son­ne stand hoch, und fast alle Leu­te, de­nen wir be­geg­ne­ten, ob sie nun zu Fuss gin­gen oder sich in den jetzt im Win­ter hier ver­keh­ren­den, sich mit Glo­cken­klin­geln be­merk­bar ma­chen­den Pfer­de­schlit­ten ins Tal hin­auf- oder nach Sils Ma­ria hin­un­ter­fah­ren lies­sen, tru­gen Son­nen­bril­len.

Eben­so weiss und strah­lend wie der sie um­ge­ben­de Schnee er­schien vor uns dann, nach­dem wir etwa eine Stun­de ge­gan­gen wa­ren, auf ei­ner klei­nen An­hö­he von ei­ni­gen Häu­sern um­ge­ben eine klei­ne Kir­che, bei der an­stel­le ei­nes Turms ein kur­z­es Mau­er­stück in die Höhe rag­te, in des­sen Mit­te ein läng­li­ches Stück frei ge­las­sen war, in dem die Glo­cke hing.

Eine di­cke Mau­er um­gab den klei­nen Fried­hof, der vor der Kir­che an­ge­legt war.

Das Berg­kirch­lein des Wei­lers Cras­ta Fex. Das Wahr­zei­chen des Tals.

»Da drin gibt es Fres­ken, die wir uns an­se­hen soll­ten«, mein­te Hu­gos Freun­din.

Wand­ma­le­rei­en aus dem An­fang des 16. Jahr­hun­derts, die den gan­zen Chor fül­len wür­den.

Die­se zo­gen den Blick, wenn man ein­trat, denn auch so­fort auf sich.

Durch das Schiff hin­durch, das ein über­ra­schend klei­ner Raum mit ei­ner tief­hän­gen­den, dunk­len Holz­leis­ten­de­cke war und Sei­ten­wän­de hat­te, die völ­lig schmuck­los und wie die Aus­sen­sei­te der Kir­che weiss ge­tüncht wa­ren.

Zen­tra­ler An­zie­hungs­punkt im Halb­rund der Ap­sis, die et­was hö­her als der nied­ri­ge Raum des Kir­chen­schiffs auf­rag­te, war ein gros­ses Oval oder viel­mehr eine senk­recht ste­hen­de El­lip­se.

Die Man­dor­la, in der ein über­gros­ser Gott­va­ter zu se­hen war, der sei­nen klei­nen ge­kreu­zig­ten Sohn, der ihm bis zum Bauch reich­te, an den Hän­den vor sich hin­hielt, wäh­rend die Viel­zahl der üb­ri­gen Ge­stal­ten, Apo­stel, Hei­li­ge und auch die Mut­ter Got­tes, die Ge­bä­re­rin des Got­tes­soh­nes, in viel klei­ne­ren For­men, wie in Film­strei­fen ne­ben­ein­an­der oder in Drei­ecks­fel­dern über­ein­an­der, um die­se Mit­te her­um an­ge­ord­net wa­ren.

Als die Re­for­ma­ti­on einen neu­en Glau­ben in die Welt ge­bracht hat­te, der schliess­lich auch in einen Teil der Al­pen­tä­ler hat­te vor­drin­gen kön­nen, wa­ren die­se Fres­ken im Zuge des­sen, was man Kir­chen­rei­ni­gung ge­nannt hat­te, über­pin­selt wor­den, be­vor man sie zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts un­ter dem weis­sen Ver­putz wie­der­ent­deckt hat­te.

Er­in­nern und Ver­ges­sen.

Wie­der er­in­nern.

Wie­der ver­ges­sen.

Wie­der er­in­nern.

Ver­ges­sen.

Wo­her kom­men wir?

Wo­hin ge­hen wir?

OLD EU­RO­PE.

Nach dem Ab­ste­cher in die Ver­gan­gen­heit hat­ten wir uns in das am Rand des Wei­lers ge­le­ge­ne Ho­tel Son­ne be­ge­ben, um in des­sen Re­stau­rant eine Gers­ten­sup­pe, Pi­zo­kel, Ca­puns oder eine an­de­re lo­ka­le Spe­zi­a­li­tät zu es­sen, wie man das in Grau­bün­den, wenn man heut­zu­ta­ge als Tou­rist un­ter­wegs ist, eben­so tut.

Die »Son­ne« war das je­weils ers­te Ziel der zahl­rei­chen Wan­de­rer, die im Fex­tal un­ter­wegs wa­ren, ob­wohl man noch wei­ter nach hin­ten ge­hen konn­te, bis zum zwei­ten Ho­tel, dem Ho­tel Fex, und da­nach bis zum Fex­glet­scher, der, wie es hiess, von Jahr zu Jahr wei­ter zu­sam­men­schrump­fe und bald ganz ver­schwun­den sein wer­de.

Von dort aus wür­den nur noch Tram­pel­pfa­de ohne Weg­wei­ser und Zie­l­an­ga­be wei­ter­füh­ren, die einst dem Klein­schmug­gel nach und von Ita­li­en ge­dient hät­ten.

Und in dem bis auf den letz­ten Platz be­setz­ten Spei­se­saal, in dem wir ei­ni­ge Zeit auf einen frei­wer­den­den Tisch hat­ten war­ten müs­sen, hat­ten Kri­na und ich mei­nem Freund Hugo und sei­ner Freun­din, wäh­rend wir as­sen, von den Wan­de­run­gen er­zählt, die wir in den Ta­gen zu­vor un­ter­nom­men hat­ten.

Von der ob­li­ga­ten Wan­de­rung zum Za­ra­thus­tra-Stein, zu je­nem am Ufer des Sil­va­pla­ner Sees un­ter­halb von Sur­lej ge­le­ge­nen, ei­ner auf­ge­dun­se­nen Py­ra­mi­de glei­chen­den, mäch­ti­gen Fels­block, auf dem ein Blatt Pa­pier mit dem Text von Nietz­sches Ge­dicht Sils-Ma­ria auf­ge­klebt ge­we­sen war.

Ob­li­gat war des Wei­te­ren na­tür­lich auch das Ge­hen auf dem zu­ge­fro­re­nen See von St. Mo­ritz ge­we­sen, das Pro­me­nie­ren auf der schnee­be­deck­ten Eis­flä­che, wo man den dort eben­falls ob­li­ga­ten, un­über­treff­lich ele­gant und stil­be­wusst ge­klei­de­ten, die neus­te und teu­ers­te Mode vor­füh­ren­den Män­nern, Frau­en und Kin­dern be­geg­ne­te.

Mit Män­teln, Müt­zen, Hü­ten und Kap­pen ent­we­der aus edels­ten Stof­fen oder er­le­sens­ten Pel­zen. Zum Teil ohne, meist aber mit Hund oder Hünd­li, wie man auf Schwei­zer­deutsch sagt.

Mit klei­nen oder kleins­ten Tier­chen, für de­ren Win­zig­keit manch­mal nicht ein­mal das schwei­ze­ri­sche Di­mi­nu­tiv aus­rei­chend ge­nug zu sein schien. Oft eben­falls, wie ihre Her­rin oder ihr Herr­chen, in ei­nem ne­cki­schen Nerzum­hang.

Und wenn das Tier­chen Glück hat­te, zu­sätz­lich noch mit ei­nem di­a­mant­be­setz­ten Hals­band.

Eine wei­te­re ob­li­ga­te Wan­de­rung war die nach Iso­la ge­we­sen, je­nem kaum be­sie­del­ten, wie das Fex­tal au­to­frei­en klei­nen Wei­ler in der Mit­te des Sü­d­u­fers des Sils­er­sees, vor dem sich ein aus­ge­dehn­tes, jetzt im Win­ter ver­schnei­tes und zu­ge­fro­re­nes Fluss­del­ta aus­brei­te­te, um dort auch wie­der ob­li­ga­ter­wei­se im Re­stau­rant des Ho­tels La­grev ein­zu­keh­ren, wo sich un­ter den Fo­to­gra­fi­en, die an den Wän­den hin­gen, auch eine Por­trät­auf­nah­me von Max Frisch be­fand.

Und schliess­lich war da auch noch die ob­li­ga­te Um­run­dung der Halb­in­sel Chastè ge­we­sen, die vor Sils Ma­ria in den Sils­er­see hin­aus­rag­te und an de­ren Spit­ze sich ein Rast­platz be­fand, bei dem auf eine Fels­wand der be­rühm­te Rund­ge­sang des Za­ra­thus­tra ein­ge­meis­selt war. Das trun­ke­ne Lied.

Mit der An­fangs­zei­le: »O Mensch! Gib acht!«– und den Schluss­zei­len: »Weh spricht: Ver­geh! Doch alle Lust will Ewig­keit – will tie­fe, tie­fe Ewig­keit!«

Der Text auf dem Blatt Pa­pier, das auf dem Za­ra­thus­tra-Stein auf­ge­klebt ge­we­sen war, hat­te ge­lau­tet:

Hier sass ich, war­tend, war­tend, – und doch auf nichts, jen­seits von Gut und Böse, bald des Lichts ge­ni­es­send, bald des Schat­tens, ganz nur Spiel, ganz See, ganz Mit­tag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötz­lich, Freun­din! Wur­de Eins zu Zwei – Und Za­ra­thus­tra ging an mir vor­bei.

Wor­te, die das Ein­tref­fen der In­spi­ra­ti­on be­schrie­ben, aus der je­nes Buch ent­stan­den war, das wohl das be­rühm­tes­te des Man­nes mit dem Sil­ber­blick wur­de.

Also sprach Za­ra­thus­tra.

Ein Buch für Alle und Kei­nen.

Hugo, der sei­ne Kar­rie­re mit ei­ner Schau­spie­ler­aus­bil­dung be­gon­nen hat­te und nach ver­schie­de­nen En­ga­ge­ments in En­sem­bles an deut­schen Büh­nen und sei­ner Rol­le als ei­ner der Haupt­nach­rich­ten­spre­cher der Schweiz jetzt an ei­ner Pri­vat­schu­le in Bern Deutsch un­ter­rich­te­te, hat­te, wie er sag­te, sei­nen Schü­lern und Schü­le­rin­nen den Mann, der habe zei­gen wol­len, wie man mit dem Ham­mer phi­lo­so­phiert, eben­falls nä­her­zu­brin­gen ver­sucht.

»Das hat er ja als be­wuss­te Pro­vo­ka­ti­on in Form ei­nes Un­ter­ti­tels sei­ner Göt­zen-Däm­me­rung hin­zu­ge­fügt«, hat­te Hugo ge­sagt. Göt­zen-Däm­me­rung – oder Wie man mit dem Ham­mer phi­lo­so­phiert.

Letzt­lich schät­ze er, Hugo, die Ge­dich­te und das Ly­ri­sche in Nietz­sches Pro­sa aber mehr als einen gros­sen Teil der Grun­d­i­de­en, die hin­ter sei­ner Phi­lo­so­phie steck­ten.

An­schau­un­gen, wie er mein­te, die wir heu­te, mit al­lem, was seit­her aus den Na­tur­wis­sen­schaf­ten, den Geis­tes­wis­sen­schaf­ten und der Kunst hin­zu­ge­kom­men sei, wie­der in ei­ner neu­en Wei­se zu den­ken, zu ver­ste­hen, zu füh­len und zu spü­ren wür­den ver­su­chen müs­sen.

»Nietz­sche hat al­les ge­sagt und das Ge­gen­teil von al­lem, hat ein­mal je­mand ge­meint«, sag­te Hugo, »Rous­seau, dem ar­men Jean-Jac­ques, hat Nietz­sche, im Ge­gen­satz zu sei­ner Be­ur­tei­lung Goe­thes, zum Bei­spiel sehr kri­tisch ge­gen­über­ge­stan­den.«

Der Mensch Rous­seau habe das gröss­te Feu­er, habe Nietz­sche ge­schrie­ben, und sei sich der po­pu­lä­ren Wir­kung ge­wiss, aber er sei auch der ge­fähr­lichs­te.

Rous­seau drän­ge auf Re­vo­lu­ti­on und wol­le zur Na­tur zu­rück, wo­durch die wil­des­ten und ver­nich­tends­ten Kräf­te ent­bun­den wür­den, wenn die­ses Feu­er die Mas­sen er­fas­se...

Der Mensch Goe­thes da­ge­gen, habe Nietz­sche ge­meint, sei kei­ne so be­droh­li­che Macht. Der goe­the­scheMensch ver­kör­pere den kon­tem­pla­ti­ven Ty­pus, der zu­tiefst un­re­vo­lu­ti­o­när, ja so­gar an­ti­re­vo­lu­ti­o­när sei.

Ihm, dem goe­the­schen Men­schen, gehe es um ihn selbst. Er trach­te da­nach, alle Reich­tü­mer der Welt in sei­ne See­le auf­zu­neh­men.

Auch die­ses Bild vom Men­schen wer­de aber von der Men­ge miss­ver­stan­den, die nicht fä­hig sei, es Goe­the gleich­zu­tun.

Ganz ab­ge­se­hen, so Hugo, von der Rol­le, die Nietz­sches Schwes­ter, Eli­sa­beth Förs­ter-Nietz­sche, als al­lei­ni­ge Nach­lass­ver­wal­te­rin ih­res Bru­ders in der ers­ten Hälf­te des Jahr­hun­derts ge­spielt habe, um den Nietz­sche-Kult in Deut­sch­land zu in­sze­nie­ren und zu len­ken, mit ih­ren Fäl­schun­gen an den Schrif­ten und Brie­fen, die nach dem Zwei­ten Welt­krieg zum Glück all­ge­mein be­kannt ge­wor­den sei­en.

Nur habe das von die­ser Frau ver­brei­te­te Bild ih­res Bru­ders of­fen­bar dem da­ma­li­gen Zeit­geist, ins­be­son­de­re dem, der von den Na­zis ver­brei­tet wur­de, halt weit­ge­hend ent­spro­chen und sei von zahl­rei­chen Ge­lehr­ten und Li­te­ra­ten vor­be­halt­los ge­teilt wor­den.

Dann zi­tier­te er drei Stro­phen ei­nes Win­ter­ge­dichts von Nietz­sche, das den Ti­tel Ver­ein­s­amt trug, aber auf eine merk­wür­di­ge Wei­se auch einen Be­zug zu un­se­rer jet­zi­gen Si­tua­ti­on zu ha­ben schien.

Men­schen im Win­ter.

Wenn Pro­ser­pi­na sich in der Un­ter­welt be­fin­det...

Hugo, der einst Schau­spie­ler ge­we­sen war, dann ei­ner der Haupt­nach­rich­ten­spre­cher der Schweiz und der jetzt an ei­ner Pri­vat­schu­le in Bern Deutsch un­ter­rich­te­te und zur­zeit mit ei­ner Frau zu­sam­men­leb­te, de­ren Vor­na­me Ur­su­la war...

Die Krä­hen schreinUnd zie­hen schwir­ren Flugs zur Stadt;Bald wird es schnein. –Wohl dem, der jetzt noch – Hei­mat hat!

Nun stehst du bleich,Zur Win­ter-Wan­der­schaft ver­flucht,Dem Rau­che gleich,Der stets nach käl­tern Him­meln sucht.

Die Krä­hen schreinUnd zie­hen schwir­ren Flugs zur Stadt;Bald wird es schnein. – Weh dem, der kei­ne Hei­mat hat!

In der Nach­fol­ge Nietz­sches wa­ren dann wei­te­re Schrift­stel­ler, Dich­ter und Den­ker, Ma­ler, Mu­si­ker und an­de­re Künst­ler, The­a­ter­leu­te und Film­men­schen, Schau­spie­ler und Re­gis­seu­re nach Sils Ma­ria ge­kom­men.

Tho­mas Mann, Ri­chard Strauss, Her­mann Hes­se, Al­bert Ein­stein, C.G. Jung, Marc Cha­gall, Theo­dor W. Ad­or­no, Lu­chi­no Vis­con­ti...

Und alle wa­ren sie im Ho­tel Wald­haus ab­ge­stie­gen.

Dem ein­zi­gen Grand­ho­tel in Sils Ma­ria. Dem Ho­tel, des­sen Name ei­ner­seits zu­tref­fend, an­de­rer­seits eine Un­ter­trei­bung ist.

Denn die be­schei­de­ne Be­zeich­nung als »Haus« ist eine nur un­zu­rei­chen­de Be­schrei­bung für das mäch­ti­ge weis­se Ge­bäu­de, das auf ei­nem Fels­vor­sprung am Rand des Dorfs und am Ein­gang zum Fex­tal wie eine Burg oder ein Schloss an die zehn Stock­wer­ke hoch aus den Tan­nen und Lär­chen des dich­ten Hang­walds auf­ragt.

Mit an der einen Ecke ei­nem schma­len, von ei­ner spit­zen Hau­be be­deck­ten, run­den Turm und mit zwei wuch­ti­gen, mit ei­nem fla­chen Dach ver­se­he­nen, recht­e­cki­gen wei­te­ren Eck­tür­men als mar­kan­tes­ten ar­chi­tek­to­ni­schen Merk­ma­len.

Rings­um ver­se­hen mit un­zäh­li­gen Fens­tern und ge­krönt von ei­ner auf ei­nem der recht­e­cki­gen Eck­tür­me an ei­ner lan­gen Stan­ge hän­gen­den Schwei­zer Fah­ne.

In sei­nem Spät­werk, im Band VIII sei­ner Stof­fe, ei­ner un­kon­ven­ti­o­nel­len, ei­gen­wil­lig an­ge­leg­ten Art von Au­to­bio­gra­phie an­hand der li­te­ra­ri­schen Kom­plex­bro­cken, die ihn durch sein Le­ben hin­durch be­schäf­tigt hat­ten, hat Fried­rich Dür­ren­matt mit ei­ni­gen we­ni­gen Sät­zen be­schrie­ben, wie er ein­mal vom »Wald­haus« in Sils Ma­ria ins Fex­tal hin­auf­ge­stie­gen sei und in der Gast­stu­be der »Son­ne« eine Er­zäh­lung mit dem Ti­tel Vin­ter zu schrei­ben be­gon­nen habe, wozu er, wie im­mer, einen Blind­band be­nutzt habe.

Auf dem Rü­ck­weg, beim Ein­dun­keln, sei er auf der stei­len und ver­eis­ten Stras­se dann aus­ge­rutscht und auf den Rü­cken ge­fal­len. Wor­auf es warm und feucht über sein Ge­sicht ge­glit­ten sei, und er einen gros­sen weis­sen Abruz­zen Schä­fer­hund über sich habe ste­hen se­hen, so als ob die­ser ihn habe be­wa­chen wol­len. Der Hund ei­nes Bau­ern, dem er zu­sam­men mit sei­nem Be­sit­zer zu­vor schon in der »Son­ne« be­geg­net war.

Das gros­se weis­se Tier habe et­was Ge­spens­ter­haf­tes, Un­wirk­li­ches ge­habt.

Aber er, Dür­ren­matt, habe sich trotz­dem selt­sam ge­bor­gen ge­fühlt.

Dann habe je­mand ge­pfif­fen, und der Hund sei laut­los in den Hang von Schnee hin­auf ver­schwun­den.

Das, was er, Dür­ren­matt, in der »Son­ne« ge­schrie­ben habe, der Blind­band, sei je­doch eben­falls ver­schwun­den ge­we­sen, so dass er die Ar­beit an der Er­zäh­lung von neu­em habe be­gin­nen müs­sen.

Se non è vero, è ben tro­va­to.

Wie ich bei li­te­ra­risch ver­a­r­bei­te­ten Rü­ck­bli­cken auf das ei­ge­ne Le­ben, nicht nur bei Dür­ren­matt, son­dern auch bei an­de­ren Schrift­stel­lern, oft den­ken muss­te.

Denn galt das nicht für die meis­ten Schrift­stel­ler?

Oder je­den­falls für vie­le von ih­nen?

Dass die Din­ge, die sie be­schrie­ben, gut er­fun­den wa­ren, aber viel­leicht nicht wahr.

Je­den­falls nicht in ei­nem üb­li­chen Sinn von Wahr­heit.

Dich­tung und Wahr­heit.

Wahr­heit und Dich­tung.

Zur Fei­er des Ta­ges hat­ten Hugo, Ur­su­la, Kri­na und ich uns je­den­falls dazu ent­schlos­sen, von der »Son­ne« im Fex­tal nicht wie­der zu Fuss nach Sils Ma­ria zu­rück­zu­ge­hen, son­dern uns in ei­nem der auf der Tal­stras­se ver­keh­ren­den Pfer­de­schlit­ten zu­rück­fah­ren zu las­sen.

Aber in der leicht eu­pho­ri­schen Stim­mung, in die uns der bis­he­ri­ge Ver­lauf des Ta­ges und wohl auch der in der »Son­ne« ge­trun­ke­ne Wein ver­setzt hat­ten, hat­ten wir dem Kut­scher, der, wie wir mit Be­frie­di­gung fest­stell­ten, zwi­schen­durch freund­lich zu sei­nem Pferd sprach, kurz be­vor die Fahrt zu Ende ge­we­sen wäre, dann noch die An­wei­sung ge­ge­ben, von der Fex­ta­ler­stras­se ab­zu­zwei­gen und uns auf der gros­sen Auf­fahrt vor dem Ho­tel Wald­haus ab­zu­set­zen.

Zu ei­nem, wie wir ge­fun­den hat­ten, des Ta­ges wür­di­gen Zwi­schen­halt.

Über die lan­gen Trep­pen­stu­fen, die zum Haup­t­ein­gang führ­ten, wa­ren wir in den Emp­fangs­be­reich und von dort, über ein paar wei­te­re Trep­pen­stu­fen, zu ei­ner holz­ge­fass­ten mehr­tei­li­gen Glas­tür ge­langt, hin­ter der sich das Herz­stück des in sei­nen Grund­zü­gen an­schei­nend bis heu­te un­ver­än­dert ge­blie­be­nen Bel­le-Epo­que-Pracht­baus be­fand.

Ein wei­ter Saal.

Eine gros­se Hal­le.

Ein ho­her Raum, der an sei­nem hin­te­ren Ende von ei­ner halb­run­den Fens­ter­front ab­ge­schlos­sen wur­de. Mit Schei­ben, die von der De­cke bis fast zum Bo­den hin­un­ter­reich­ten. Nur von we­ni­gen schma­len Mau­er­strei­fen zwi­schen den gros­sen Glas­flä­chen un­ter­bro­chen.

Eine Fens­ter­front, durch die man auf die Schnee­land­schaft und die aus ihr auf­ra­gen­den, mehr oder we­ni­ger dicht ne­ben­ein­an­der­ste­hen­den, schnee­be­deck­ten, dunk­len Tan­nen und Lär­chen se­hen konn­te.

So dass auch die letz­ten Zweif­ler, falls es sol­che noch ge­ge­ben hät­te, da­von über­zeugt wer­den muss­ten, dass sie sich hier tat­säch­lich in ei­nem Wald­haus, in ei­nem mit­ten in ei­nem Wald ste­hen­den Haus, auf­hiel­ten.

Dem Er­bau­er des 1908 er­öff­ne­ten Ho­tel­pa­las­tes mit sei­nen hun­dert­vier­zig Zim­mern habe, wie Hugo er­zähl­te, die Er­schaf­fung ei­nes voll­kom­me­nen Hau­ses vor­ge­schwebt, das mit al­len tech­ni­schen Neu­e­run­gen sei­ner Zeit aus­ge­stat­tet war, zu de­nen da­mals auch ein ei­ge­nes Elek­tri­zi­täts­werk ge­hör­te.

Eine Neu­heit, die heu­te mit der Ener­gie­wen­de wie­der ak­tu­ell ge­wor­den sei.

Mö­bliert war die einst auch als Ball­saal ge­nutz­te Hal­le mit schwe­ren So­fas und Ses­seln, die auf ori­en­ta­li­schen Tep­pi­chen stan­den. Grup­piert um nied­ri­ge Ti­sche.

Und die Men­schen, die sich dar­in auf­hiel­ten, die auf den So­fas und in den Ses­seln sas­sen oder sich durch den Raum be­weg­ten, wa­ren, wie es auf den ers­ten Blick schien und auch nicht an­ders zu er­war­ten ge­we­sen war, alle der Um­ge­bung ent­spre­chend ele­gant ge­klei­det.

---ENDE DER LESEPROBE---