Venezianisches Zwischenspiel - E. Y. Meyer - E-Book

Venezianisches Zwischenspiel E-Book

E. Y. Meyer

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Beschreibung

Dies ist eine Neuauflage der Novelle aus Anlass des 75. Geburtstages des Autors E. Y. Meyer am 11. Oktober 2021 mit einem neu geschaffenen superben Nachwort von Samuel Moser, das dem Leser eine grossartige und ausserordentlich geglückte Einordnung dieser Novelle ins gesamte Werk von E. Y. Meyer anbietet. Vier Theaterleute und ein Schriftsteller reisen von Paris nach Venedig, um zu feiern. Die Vergnügungsreise entwickelt sich völlig überraschend zu einem Alptraum. Als sie in der Serenissima eintreffen, ist die legendäre Harry's Bar schon geschlossen, die Vorfreude darauf dahin. Riccardo Malino, ein venezianischer Dramatiker, wird zu ihrem Cicerone. Er führt die Venedig-Besucher durch das Labyrinth der Stadt, lädt sie in kleine versteckte Kneipen ein, lässt sie hinter feudalen Fassaden des Canal Grande blicken. Grosszügig stellt er ihnen für einige Tage sein in der Nähe des »Teatro La Fenice« gelegene Haus zur Verfügung. Eine alte venezianische Falle droht auf erschreckende Weise neue Wirklichkeit zu werden. In einer gespenstischen, unheimlichen Nacht kommt es zu der unerhörten Begebenheit, die das Herz dieser Novelle ausmacht. Die italienische Reise wird zu einer Reise in die Abgründe der menschlichen Seele. Ein geradezu Faustisches Erlebnis…

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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E.Y.MEY­ER

Ve­ne­zi­a­ni­schesZwi­schen­spiel

No­vel­le

Mit ei­nem Nach­wort vonSa­mu­el Mo­ser

 

Erst­mals er­schie­nen 1997

© 2021 E.Y.MEY­ER

ey­mey­er.ch

 

 

Co­ver:

Bron­ze­kopf des Au­tors

Ge­schaf­fen 1997 von PAN YI QUINAca­de­my of Arts & De­sign

Tsing Hua Uni­ver­si­tyBei Jing, Chi­na

 

FÜRFLO­RI­CA

 

Was ist eine No­vel­le an­ders alseine sich er­eig­ne­te un­er­hör­te Be­ge­ben­heit.

Jo­hann Wolf­gang Goe­the

 

Ka­pi­tel

I

II

III

IV

V

VI

NACH­WORT

 

I

Die Un­ter­bre­chung der Ro­man­a­r­beit soll­te nur eine kur­ze sein, ei­ni­ge Tage bis höchs­tens eine Wo­che, und hät­te doch bei­na­he ihr Ende be­deu­tet.

Ob man das Er­eig­nis, um das es hier geht, wirk­lich als so gra­vie­rend ein­stu­fen oder ob man es an­ders se­hen will, hängt von den Mo­ra­l­vor­stel­lun­gen des Ein­zel­nen ab. In ei­nem Jahr­hun­dert, in dem mil­li­o­nen­fa­cher tech­no­kra­tisch ge­plan­ter Mord statt­ge­fun­den hat, die Atom­bom­be er­fun­den, ge­baut und ein­ge­setzt wur­de, ist auch die Be­ur­tei­lung von Mord re­la­tiv ge­wor­den.

Al­les scheint mög­lich und als Wert­vor­stel­lung ak­zep­tier­bar. Und viel­leicht wird der Mord, wenn man spä­ter auf un­ser Jahr­hun­dert zu­rück­sieht, mög­li­cher­wei­se so­gar als die Kunst an­ge­se­hen, die es kenn­zeich­net, wie an­de­re Jahr­hun­der­te durch das Ge­bet oder das Bet­teln ge­kenn­zeich­net wa­ren.

Das Böse, das es in der Welt gibt, be­ginnt oft er­staun­lich ba­nal und ent­fal­tet plötz­lich eine gros­se Wir­kung.

Da­mals, als die Be­ge­ben­heit statt­fand, an die ich seit­her re­gel­mäs­sig zu­rück­den­ken muss, schuf mei­ne Frau die Ko­s­tü­me für eine Auf­füh­rung von Nic­colò Ma­chi­a­vel­lis Man­dra­go­la im Théâtre de l'Est Pa­ri­si­en (heu­te heisst es Théâtre Na­ti­o­nal de la Col­li­ne), und der aus Ita­li­en stam­men­de Re­gis­seur hat­te die Idee, am Tag nach der Pre­mie­re mit ei­ni­gen Freun­den nach Ve­ne­dig zu fah­ren, um dort den Ab­schluss sei­ner Ar­beit noch ein zwei­tes Mal in der be­rühm­ten Har­ry's Bar zu fei­ern.

Ein Ein­fall, der, wie ich zu­ge­ben muss, et­was ei­gen­wil­lig, wenn nicht ver­rückt oder je­den­falls zu­min­dest ex­zen­trisch er­schei­nen mag. Kennt man Gior­gio Ma­rel­li und sei­ne Ar­beit nä­her, ver­wan­deln sich sol­che Ein­ge­bun­gen, wie ich ver­si­chern kann, aber schon bald ein­mal in Vor­schlä­ge, die für die Ver­hält­nis­se die­ses Man­nes durch­aus nor­mal, ja bei­na­he ge­wöhn­lich sind.

War­um mei­ne Frau und ich aus­ge­rech­net auf die­se Lau­ne Gior­gi­os ein­gin­gen, hat­te recht un­ter­schied­li­che Grün­de. Da wäre zu­nächst si­cher ein­mal an­zu­füh­ren, dass auch wir, mei­ne Frau und ich, ge­wis­sen Ex­tra­va­gan­zen oder so­ge­nann­ten Ver­rückt­hei­ten ge­gen­über nicht un­emp­fäng­lich sind.

Und dann war da na­tür­lich vor al­lem Gior­gi­os gross­zü­gi­ges An­ge­bot, nicht nur den Abend in Har­ry's Bar zu über­neh­men, son­dern mei­ner Frau und mir, wenn wir un­se­ren Wa­gen für die Rei­se zur Ver­fü­gung stell­ten, auch noch das Ben­zin zu be­zah­len.

Mei­ne Ar­beit hat­te durch den Pre­mie­ren­be­such in Pa­ris oh­ne­hin eine Un­ter­bre­chung er­fah­ren, und mir wür­de sich wahr­schein­lich nicht so bald wie­der die Ge­le­gen­heit bie­ten, mei­ne Ve­ne­dig-Er­fah­rung mit ei­nem so ex­zel­len­ten Ken­ner zu er­wei­tern, wie die­ser ita­lie­ni­sche Re­gis­seur ei­ner zu sein schien. Dar­über hin­aus liess sich der Ab­ste­cher, wie es der Zu­fall oft auf merk­wür­di­ge Wei­se will, zu­dem noch mit ei­ner so­wie­so fäl­li­gen Re­cher­che­rei­se für den Ro­man ver­bin­den, an dem ich ge­ra­de ar­bei­te­te – wo­bei Zu­fäl­le, wie ich in zwi­schen weiss, ei­gent­lich kei­ne Zu­fäl­le sind, son­dern bloss Zu­sam­men­hän­ge, die wir nicht ge­nü­gend über­bli­cken.

Und schliess­lich, zu gu­ter Letzt oder last, but not le­ast, bot Gior­gi­os Vor­schlag mei­ner Frau und mir eine schö­ne Ge­le­gen­heit, uns ge­gen­sei­tig ein Ge­burts­tags­ge­schenk zu ma­chen – hat­ten wir doch bei­de eben un­se­re Wie­gen­fes­te im Zei­chen der Waa­ge ge­trennt von­ein­an­der ge­fei­ert. Mei­ne Frau das ihre zwei Wo­chen zu­vor zu­sam­men mit den Freun­den in Pa­ris und ich das mei­ne neun Tage spä­ter sie­ben­hun­dert Ki­lo­me­ter ent­fernt an un­se­rem Wohn­ort.

Mei­ne Frau kann­te Gior­gio da­mals schon seit etwa zehn Jah­ren. Mit ih­rer Emi­gra­ti­on hat­te sie ihn aber über einen län­ge­ren Zeit­raum hin­weg aus den Au­gen ver­lo­ren und bis zu die­ser er­neu­ten Zu­sam­me­n­a­r­beit in Pa­ris nur noch spo­ra­disch durch Freun­de et­was von ihm ge­hört. Ich sel­ber be­geg­ne­te dem Mann, der ein Jahr jün­ger ist, an­läss­lich der Man­dra­go­la-Pre­mie­re zum ers­ten Mal – zu­vor kann­te ich ihn nur aus den Er­zäh­lun­gen mei­ner Frau von frü­he­ren Zei­ten, von Zei­ten, als sie noch nicht mei­ne Frau war.

Ende der sech­zi­ger Jah­re, so mei­ne Frau, hat­te Gior­gio am Fes­ti­val RAS­SE­G­NA DEI TEA­TRI in sei­ner Hei­mat­stadt Flo­renz den Di­rek­tor des ru­mä­ni­schen Na­ti­o­nalthe­a­ters von Cluj ken­nen­ge­lernt, und die­ser hat­te den jun­gen Ita­lie­ner ein­ge­la­den, im Jahr dar­auf an sei­nem Haus eine In­sze­nie­rung zu über­neh­men. Nicht bloss, weil er vom Ta­lent des jun­gen Man­nes über­zeugt war, son­dern vor al­lem, weil sei­ne Frau und der Ita­lie­ner sich in­ein­an­der ver­liebt hat­ten und er be­fürch­te­te, die Frau könn­te in Flo­renz blei­ben wol­len.

Gior­gi­os Re­gie­a­r­beit in Cluj, Pi­ran­del­los Rie­sen vom Berge, folg­te eine In­sze­nie­rung in der ru­mä­ni­schen Stadt Craio­va, und auf Grund der bei­den Er­fol­ge er­hielt der aus­län­di­sche Jungstar so­fort ein wei­te­res En­ga­ge­ment am Stadt­the­a­ter von Ploeşti, wo mei­ne Frau zu die­ser Zeit als Büh­nen- und Ko­s­tüm­bild­ne­rin en­ga­giert war.

Den Na­men die­ser Stadt kennt man im Wes­ten viel­leicht we­gen des zwi­schen ihr und dem Aus­sen­rand der Ka­r­pa­ten ge­le­ge­nen, im Zwei­ten Welt­krieg von den Deut­schen fast leer­ge­pump­ten Erd­öl­ge­biets Ru­mä­ni­ens. Vor dem Erd­öl­reich­tum, so mei­ne Frau, sei Ploeşti nichts als zwei Stras­sen mit ei­ner durch den Dich­ter Ca­ra­gi­a­le be­rühmt ge­mach­ten Ban­lieue-Spra­che ge­we­sen, eine Weg­kreu­zung, die nach dem Erd­öl­boom eine ei­ge­ne Re­pu­blik habe grün­den wol­len und zum Ge­spött des gan­zen Lan­des ge­wor­den sei.

Vom Di­rek­tor per Te­le­gramm von ei­ner Gast­a­r­beit am Na­ti­o­nalthe­a­ter Bel­grad zu­rück­ge­ru­fen, stand die jun­ge Frau, von der ich da­mals noch nichts wuss­te, ei­ner Zu­sam­me­n­a­r­beit mit ei­nem Aus­län­der, wie sie mir spä­ter er­zähl­te, zu­nächst skep­tisch ge­gen­über, da Kon­tak­te mit Aus­län­dern im da­ma­li­gen Ru­mä­ni­en meist Schwie­rig­kei­ten her­vor­rie­fen. Und bei der ers­ten Be­geg­nung habe der Ita­lie­ner ihr auch einen sehr im­per­ti­nen­ten und un­sym­pa­thi­schen Ein­druck ge­macht. Aber nach­dem sie das Stück, das sie mit ihm ma­chen soll­te, La bot­te­ga del caffè von Ca­r­lo Gol­do­ni, ge­le­sen habe, hät­ten sie sich bei der ers­ten Ar­beits­be­spre­chung so­fort ver­stan­den. Sie habe dem Ita­lie­ner ge­sagt, sie sehe in die­ser Ko­mö­die, de­ren ei­gent­li­cher Prot­ago­nist ein Kaf­fee­haus an ei­ner be­leb­ten Kreu­zung Ve­ne­digs ist in der Do­gen­stadt sei 1645 das ers­te Kaf­fee­haus Eu­r­o­pas er­öff­net wor­den), büh­nen­bild­mäs­sig nur ein Loch, »un trou plein de mer­de«, Loch im phi­lo­so­phi­schen Sinn na­tür­lich, und zwei Mi­nu­ten spä­ter sei­en sie sich über die Kon­zep­ti­on der In­sze­nie­rung ei­nig ge­we­sen.

Von da an habe Gior­gio beim ver­rück­ten Le­ben, das am Ploeşti-The­a­ter ge­herrscht habe, mit­ge­macht und sei voll­ends vom Bal­kan­vi­rus be­fal­len wor­den, von dem er sich seit­her nie mehr habe be­frei­en kön­nen. Man habe, so mei­ne Frau, prak­tisch Tag und Nacht im The­a­ter ge­lebt, sich selbst und da­bei manch­mal auch fast das The­a­ter ver­brannt, oder sei ins sech­zig Ki­lo­me­ter süd­lich ge­le­ge­ne Bu­ka­rest ge­fah­ren, von wo die meis­ten künst­le­ri­schen Mit­a­r­bei­ter, wie auch mei­ne Frau, stamm­ten und wohn­haft ge­blie­ben wa­ren.

Die gros­sen Fes­te, die re­gel­mäs­sig ge­fei­ert wor­den sei­en, hät­ten alle im Bu­ka­res­ter Haus ei­ner Gra­fi­ke­rin und ei­nes Ma­lers statt­ge­fun­den. Woh­nun­gen, die für Fes­te die­ser Art ge­räu­mig ge­nug ge­we­sen wä­ren, habe nie­mand ge­habt, sol­che zu krie­gen sei un­mög­lich ge­we­sen. Und an ei­nem die­ser Fes­te hät­ten Gior­gio und mei­ne Frau dann auch den aus Tu­rin stam­men­den ita­lie­ni­schen In­dus­tri­el­len Gian-Luca ken­nen­ge­lernt, dem der Va­ter der Gra­fi­ke­rin im Zwei­ten Welt­krieg das Le­ben ge­ret­tet hat­te.

Der Va­ter der Gra­fi­ke­rin sei Arzt in Ca­la­fat ge­we­sen, ei­ner Stadt an der Do­nau, der Gren­ze zu Bul­ga­ri­en, un­weit Ju­go­sla­wi­ens. Und neun­zehn­hun­dert­vier­und­vier­zig habe er im dor­ti­gen Spi­tal den von den Rus­sen ge­fan­gen­ge­nom­me­nen Ita­lie­ner we­gen ei­ner Nie­ren­kri­se be­han­delt. Eine Pfle­ge, die nur mög­lich ge­we­sen sei, weil ei­ni­ge der Mit­ge­fan­ge­nen die rus­si­schen Be­wa­cher mit ge­stoh­le­nen Zu­cker­sä­cken be­sto­chen hät­ten. Aber als die Rus­sen den Mann dann wie­der hät­ten ho­len wol­len, um ihn zur Zwangs­a­r­beit in ihre Hei­mat zu ver­schlep­pen, habe der Arzt aus Mit­leid mit sei­nem Pa­ti­en­ten an des­sen Zim­mer­tür kur­zer­hand ein Schild an­ge­bracht, auf dem vor ei­ner an­ste­cken­den Krank­heit ge­warnt wor­den sei. Dar­auf­hin hät­ten die Rus­sen, die sich vor An­ste­ckun­gen mehr als vor dem Teu­fel fürch­te­ten, Gian-Luca zu­rück­ge­las­sen, wor­auf er, als er wie­der ei­ni­ger­mas­sen ge­sund ge­we­sen sei, über Bul­ga­ri­en nach Ita­li­en habe flie­hen kön­nen.

Dass Gian-Luca mei­ner Frau und Gior­gio schon bald wie­der be­geg­nen soll­te, wuss­ten die bei­den da­mals noch nicht.

Die Pre­mie­re der Bot­te­ga del caffè habe im Som­mer statt­ge­fun­den und sei ein Rie­sen­er­folg ge­we­sen. Das Pu­bli­kum habe zwan­zig Mi­nu­ten lang ap­plau­diert, und kurz dar­auf sei die Pro­duk­ti­on zu ei­nem Gast­spiel nach Bu­ka­rest ein­ge­la­den wor­den, wo es zum Eklat ge­kom­men sei. Das Aus­län­der­pro­blem habe sei­nen Tri­but ver­langt. We­gen zu vie­ler po­li­ti­scher An­spie­lun­gen sei die Auf­füh­rung zwar nicht of­fi­zi­ell ver­bo­ten wor­den – so et­was sei sel­ten of­fen ge­sche­hen, es hät­ten meist und so auch dies­mal ein­fach kei­ne Vor­stel­lun­gen mehr statt­ge­fun­den –, aber Gior­gio habe das Land, in dem er schon ein Jahr lang ge­lebt habe, in­nert vier­und­zwan­zig Stun­den ver­las­sen müs­sen.

Mei­ne Frau ging im Herbst wie­der nach Bel­grad, wo sie den Win­ter hin­durch an ei­ner Dra­ma­ti­sie­rung der Phi­lo­so­phie dans le bou­doir des Ma­r­quis de Sade mit­a­r­bei­te­te – ohne zu ah­nen, dass die­ser Au­tor in ih­rem Le­ben noch ein­mal eine Rol­le spie­len soll­te –, und im fol­gen­den Früh­ling konn­te sie eine von ihr mit­ge­stal­te­te King Lear-Auf­füh­rung des Na­ti­o­nalthe­a­ters Bu­ka­rest ans RAS­SE­G­NA DEI TEA­TRI be­glei­ten.

In der tos­ka­ni­schen Haupt­stadt traf sie na­tür­lich Gior­gio wie­der so­wie Gian-Luca und des­sen Frau Gi­gi­na, eine Jour­na­lis­tin, Buch- und The­a­ter­au­to­rin, die aus Tu­rin an­ge­reist wa­ren und sich, so mei­ne Frau, lie­be­voll um sie küm­mer­ten. Sie hät­ten herr­li­che Tage ver­lebt, es sei die Hip­pie-Zeit ge­we­sen, über­all habe man Mu­sik ge­hört, Gior­gio, Gian-Luca und Gi­gi­na hät­ten sie zum Klei­der­kau­fen und in Re­stau­rants ein­ge­la­den, eine Par­ty sei der an­dern ge­folgt.

Nach zwei wei­te­ren Gast­spiel­sta­ti­o­nen in Rom und Mai­land reis­te mei­ne Frau er­neut nach Bel­grad und über­zeug­te die dor­ti­gen The­a­ter­leu­te, Gior­gio auf der Stu­dio­büh­ne des Na­ti­o­nalthe­a­ters ein neu­es Stück von Gi­gi­na in­sze­nie­ren zu las­sen. Den Som­mer ver­brach­te mei­ne Frau in Bu­ka­rest, und im Sep­tem­ber be­glei­te­te sie die Lear-Auf­füh­rung ans BI­TEF-Fes­ti­val in Bel­grad, wo sie den Dra­ma­tur­gen Zoran ken­nen­lern­te, den sie bat, sich des dem­nächst ein­tref­fen­den ita­lie­ni­schen Re­gis­seurs an­zu­neh­men.

Im No­vem­ber neun­zehn­hun­dertzwei­und­sieb­zig, so mei­ne Frau, sei Gior­gio dann zum ers­ten Mal in sei­nem Le­ben nach Ju­go­sla­wi­en ge­kom­men, habe dort, in Bel­grad, den Bal­kan und das bal­ka­ni­sche Le­bens­ge­fühl wie­der­ge­fun­den und das Land seit­her nie mehr ver­las­sen. Er habe eine Schau­spie­le­rin, die Toch­ter ei­nes Mi­nis­ters, ge­hei­ra­tet und bald über­all ge­ar­bei­tet. Zwi­schen­durch sei er nach Ita­li­en zu­rück­ge­kehrt oder habe in an­de­ren Län­dern in­sze­niert, und auf die­se Wei­se habe er die im Grun­de da­mals re­la­tiv gros­se Frei­heit die­ses Lan­des und gleich­zei­tig die Vor­tei­le des So­zi­a­lis­mus, ins­be­son­de­re im Für­sor­ge- und Kunst­be­reich, ge­nos­sen. Al­les, was man in Ju­go­sla­wi­en da­mals nicht habe tun dür­fen – man den­ke heu­te (sie sag­te das 1996) wohl mit Weh­mut dar­an –, sei ei­gent­lich ge­we­sen, et­was ge­gen Tito zu sa­gen. Sonst habe man prak­tisch jede Frei­heit ge­habt.

Weil die jun­ge Frau, von der ich da­mals noch nichts wis­sen konn­te, sich kurz zu­vor in einen in Bu­ka­rest le­ben­den Mann ver­liebt hat­te, ver­zich­te­te sie auf eine Mit­a­r­beit bei der Ur­auf­füh­rung von Gi­gi­nas Stück und sah Gior­gio in der Fol­ge nicht mehr. Vier Jah­re spä­ter blieb sie auf ei­ner Gast­spiel­rei­se mit Eli­sa­beth Eins, dem Stück ei­nes jun­gen Ame­ri­ka­ners na­mens Paul Fos­ter (ich lern­te Paul zu­sam­men mit sei­nem Freund Ri­chard 1983 in New York ken­nen), für im­mer im Wes­ten.

Gior­gio hat­te sich in­zwi­schen, wie mei­ne Frau von Freun­den hör­te, von der Mi­nis­ter­toch­ter schei­den las­sen müs­sen, weil eine an­de­re Schau­spie­le­rin Zwil­lin­ge von ihm er­war­te­te, und als der Dra­ma­turg Zoran, der mit ei­ner Fran­zö­sin ver­hei­ra­tet war und halb in Pa­ris, halb in Bel­grad leb­te, in Bel­grad ei­nes Ta­ges sel­ber ein Stück in­sze­nier­te, lud er, in der Hoff­nung, da­durch auch einen Re­gie­auf­trag in Pa­ris zu er­hal­ten, den Ver­wal­tungs­di­rek­tor des TEP, des Théâtre de l'Est Pa­ri­si­en, ein, sich sei­ne Vor­stel­lung an­zu­se­hen.

Die­ser Mann, ein Bre­to­ne na­mens Eric de Vil­liers, sah sich bei der Ge­le­gen­heit aber auch eine In­sze­nie­rung von Gior­gio an und lud dann nicht Zoran, son­dern den in Ju­go­sla­wi­en le­ben­den Ita­lie­ner für eine Ar­beit nach Pa­ris ein. Gior­gio te­le­fo­nier­te dar­auf­hin mit mei­ner Frau, die nach ih­rer Emi­gra­ti­on ei­ni­ge Jah­re in Pa­ris ge­lebt hat­te, und bot ihr an, zu­sam­men mit ihm und ei­nem ju­go­sla­wi­schen Büh­nen­bild­ner Man­dra­go­la zu ma­chen.

Der son­ni­ge Ok­to­ber­tag, an dem ich nach Pa­ris fah­ren soll­te, war ein Don­ners­tag, aber ich kam na­tür­lich wie­der nicht recht­zei­tig von zu Hau­se los, so dass es be­reits Nacht war, als ich end­lich ins Auto stieg. Da­für hat­te ich eine an­ge­neh­me Rei­se mit we­nig Ne­bel und we­nig Ver­kehr und er­reich­te das Miet­haus in Vin­cen­nes, wo mei­ne Frau wohn­te, schon nach sechs­ein­halb Stun­den um halb drei Uhr mor­gens.

So­wohl mei­ne Frau wie un­se­re Freun­de, ein ar­beits­lo­ser The­a­terad­mi­nis­tra­tor und eine etwa zehn Jah­re jün­ge­re, sich mal als Schau­spie­le­rin, mal als Au­to­rin, mal als Ma­le­rin durch­schla­gen­de klein­ge­wach­se­ne Pa­ri­se­rin mit ei­nem kaum zur Ruhe kom­men­den Mund­werk, wa­ren noch wach und er­war­te­ten mich in der zi­ga­ret­ten­rauch­ge­schwän­ger­ten en­gen Kü­che mit ei­nem nächt­li­chen Fes­tes­sen aus Foie gras, Aus­tern, Krab­ben und Bi­gor­neaus. Das Ge­burts­tags­ge­schenk, das ich, ohne ihr mei­ner­seits eben­falls eins über­rei­chen zu kön­nen, von mei­ner Frau er­hielt und so­fort an­pro­bie­ren muss­te, war ein lan­ger dun­kel­gel­ber Ba­de­man­tel aus ei­nem ge­ripp­ten, kord­ar­ti­gen Baum­woll­stoff.

Nach ei­nem ge­gen ein Uhr ein­ge­nom­me­nen Früh­stück fuhr ich am Frei­tag­nach­mit­tag mit mei­ner Frau zum The­a­ter­ge­bäu­de an der Rue Mal­te-Brun zwi­schen der Place Gam­bet­ta und Pa­ris gröss­tem Be­gräb­nis­platz, dem Pro­mi­nen­ten­fried­hof Père-Lachai­se, und lern­te dort die bei­den Leu­te ken­nen, die zu­sam­men mit Gior­gio und uns nach Ve­ne­dig rei­sen soll­ten. Den Ver­wal­tungs­di­rek­tor Eric de Vil­liers und sei­ne Le­bens­ge­fähr­tin, eine Tsche­chin na­mens Mi­le­na, die bei der Ma­chi­a­vel­li-Pro­duk­ti­on als Gior­gi­os As­sis­ten­tin fun­gier­te. Bei­de wa­ren etwa gleich alt wie Gior­gio und ich, die Frau viel­leicht et­was jün­ger, und sie ge­fie­len mir in ih­rer un­kom­pli­zier­ten Art so­fort.

Eric stamm­te, wie ich spä­ter er­fuhr, aus ei­ner be­gü­ter­ten ade­li­gen Fa­mi­lie, ein ath­le­ti­scher Typ, ma­ge­rer als ich – ma­ge­rer, als ich da­mals noch war –, aber eben­falls mit ei­ner Ten­denz zum Rund­li­chen. Ein lich­tes schwa­r­zes Haar­ge­kräu­sel, das in der Mit­te ei­ner fort­ge­schrit­te­nen Glat­ze auf der Stirn üb­rig­ge­blie­ben war und in scha­r­fem Kon­trast zum Voll­bart stand, der den Hals be­deck­te, ver­lieh sei­nem Ge­sicht eine be­son­de­re Note.

Die Tsche­chin, de­ren fein­ge­schnit­te­ne, hell­häu­ti­ge Ge­sichts­zü­ge von ei­nem dun­kel­brau­nen Lo­cken­haar­schopf um­rahmt wur­den, war schlank und hat­te ne­ben ih­rer Fe­mi­ni­tät auch et­was Bur­schi­ko­ses, das durch die Klei­dung, die sie trug, eine brau­ne Le­der­ja­cke, weis­se Jeans, kurz­schaf­ti­ge, über die Ho­sen­bei­ne ra­gen­de dun­kel­graue Cow­boy­s­tie­fel, noch ver­stärkt wur­de.

Einst Schau­spie­le­rin, hat­te die Pra­ge­rin, die zu den Un­ter­zeich­nern der Bür­ger­rechts­be­we­gung Char­ta 77 ge­hör­te, sich jetzt, nach­dem sie der scha­r­fen Re­pres­sa­li­en und dro­hen­den Straf­pro­zes­se we­gen die Tsche­cho­slo­wa­kei ver­las­sen hat­te, auf Re­gie­as­sis­tenz ver­legt, da ihr beim Spre­chen des Fran­zö­si­schen der Ak­zent zu schaf­fen mach­te. Ihr Sprach­fluss war schnell, ein har­tes Stak­ka­to, und das auf­fallends­te Merk­mal war die Aus­spra­che des fran­zö­si­schen »u« als »i«, so dass sie zum Bei­spiel nie »tu sais« oder »tu vois« sag­te, son­dern meist »ti sais« oder »ti vois«.

Mei­ne Frau und ich be­ga­ben uns mit den bei­den zu ei­nem Cas­se-croûte in ein klei­nes Bis­trot, das die The­a­ter­leu­te »Chez Gégè­ne« oder »L'an­ne­xe« nann­ten (sein rich­ti­ger Name war »Café des deux Ban­ques«, da es sich zwi­schen ei­ner Fi­li­a­le der CRE­DIT LYON­NAIS und ei­ner der BNP, der BAN­QUE NA­TI­O­NA­LE DE PA­RIS, be­fand).

Im prä­ten­ti­ösen Pub an der Place Gam­bet­ta, so Mi­le­na, esse man nur »des steaks-fri­tes dé­gueu­las­ses« und »les fri­tes-sau­cis­ses, cro­que-mon­sieur et ce­te­ra« im Café, das den Na­men des Plat­zes tra­ge, sei­en auch nicht ap­pe­tit­li­cher – und erst dort er­in­ner­te ich mich, dass ich als Stu­dent im Som­mer neun­zehn­hun­dert­acht­und­sech­zig, in dem Jahr, das in Eu­r­o­pa und in der Welt eine hoff­nungs­we­cken­de Auf­bruchs­s­tim­mung her­vor­ge­bracht hat­te, mit ei­nem Freund und ei­ner Freun­din für eine Wo­che nach Prag ge­fah­ren war und die Stadt ge­nau zwei Tage vor dem völ­lig un­er­war­te­ten Ein­marsch der so­wje­ti­schen Trup­pen und der Nie­der­schla­gung des so­ge­nann­ten Pra­ger Früh­lings wie­der ver­las­sen hat­te.

Ge­gen Abend be­such­ten wir zu viert noch zwei der rund vier­zig­tau­send in Pa­ris le­ben­den Ru­mä­nen, einen The­a­ter- und Opern­re­gis­seur, der da­mals, nach der Schei­dung von ei­ner fran­zö­si­schen Fil­me­ma­che­rin, mit ei­ner Che­mi­ke­rin und ei­nem Pa­pa­gei, den ihm der Schau­spie­ler Jean Roche­fort ge­schenkt hat­te, in ei­nem in den sech­zi­ger oder sieb­zi­ger Jah­ren ge­bau­ten, von aus­sen häss­lich an­zu­se­hen­den Haus aus grau­em Be­ton an der Gren­ze zwi­schen dem 18. und dem 19. Ar­ron­dis­se­ment wohn­te und an die­sem Abend als wei­te­rer Waa­ge­mensch sei­nen Ge­burts­tag fei­er­te.

Gior­gio lern­te ich erst am fol­gen­den Abend, da­für gleich dop­pelt, als Per­son und als in sei­ner In­sze­nie­rung ma­te­ri­a­li­sier­ten Geist ken­nen. Und bei­des, so­wohl der An­blick sei­ner Er­schei­nung wie der des Ge­sche­hens auf der Büh­ne, ver­setz­te mir einen Schock.

Etwa einen hal­b­en Kopf grös­ser als Eric und ich, wies Gior­gi­os Fi­gur zwar kei­ne be­son­de­ren Merk­ma­le auf, da­für er­schreck­te einen sein läng­li­ches Ge­sicht. Zwi­schen kurz­ge­schnit­te­nem schwa­r­zem Kopf­haar und ei­nem kurz ge­stutz­ten schwa­r­zen Voll­bart sas­sen über ei­ner Knol­len­na­se ste­chend bis durch­drin­gend schau­en­de schwa­r­ze Au­gen, von de­nen das lin­ke ex­trem schiel­te.

We­gen der gro­ben For­men hat­te man das Ge­fühl, einen bru­ta­len Men­schen vor sich zu ha­ben, wo­bei das Furcht­er­re­gends­te aber das ex­trem schie­len­de lin­ke Auge war. So­bald das Ge­sicht zu­sam­men mit dem Kör­per in Be­we­gung ge­ri­et, än­der­te sich der Ge­samt­ein­druck je­doch, brach­te das Zu­sam­men­spiel den Char­me und das Tem­pe­ra­ment des Man­nes zum Aus­druck. Wenn der von schwa­r­zem Haar um­ge­be­ne Mund zu spre­chen be­gann und die schwa­r­zen Au­gen ne­ben ei­nem bö­sen, zor­ni­gen und wü­ten­den auch einen la­chen­den, sanf­ten, lis­ti­gen und hu­mor­vol­len Aus­druck an­nah­men und un­zäh­li­ge wei­te­re Ge­müts­zu­stän­de spie­geln konn­ten, war das Furcht­er­re­gen­de ver­schwun­den.

Voll zur Ent­fal­tung kam das im­pul­si­ve, auf­brau­sen­de, lau­te und herz­li­che We­sen des Ita­li­e­ners dann na­tür­lich beim gros­sen Fest, das nach der Vor­stel­lung in den Kel­ler­räu­men des The­a­ters statt­fand und bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den dau­er­te, ei­nem Pre­mie­ren­fest üb­ri­gens im fran­zö­si­schen Sinn. Denn in Frank­reich fin­det das, was man im deut­schen Sprach­raum eine The­a­ter­pre­mie­re nennt, raf­fi­nier­ter­wei­se gleich zwei­mal statt. Ein­mal als ers­te Vor­stel­lung, die zwar la pre­mière ge­nannt wird, dann aber auch noch als zwei­te Vor­stel­lung, die, weil die Kri­tik sich erst die­se an­sieht, la presse ge­nannt wird. Des­halb ist die zwei­te Vor­stel­lung auch wich­ti­ger und wird so ge­fei­ert wie im deutsch­spra­chi­gen Raum die Pre­mie­re.

Der Witz da­bei ist, dass die fran­zö­si­schen Kri­ti­ker auf die­se Wei­se die­je­ni­ge Vor­stel­lung se­hen, die auch im deut­schen The­a­ter meist die bes­se­re ist.

---ENDE DER LESEPROBE---