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Herzlich willkommen zu den schwarzen Wintergeschichten des E. Y. Meyer. Meyer ist kein Epigone, kein Nachahmer von Autoren wie Mary Shelley, Bram Stoker oder Edgar Allan Poe, nein keineswegs: er gehört mit diesen sieben Geschichten ganz einfach in die gleiche Gilde hochklassiger Autoren, die uns Lesern Angst und Schrecken einjagen können und wollen. Der weisse Schnee liefert tiefschwarze Geschichten, die Kälte des Winters gibt es nicht nur in Sibirien, sondern auch als Folge atomarer Katastrophen... Steinmetzen und Anhalter überraschen nicht nur den Ich-Erzähler… Winterferien im sonnigen, warmen Ägypten können unerwartete und schreckliche Folgen nach sich ziehen… Kurz zusammengefasst: Sieben bitterböse »Winter«-Geschichten für Anspruchsvolle.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
E.Y.MEYER
Wintergeschichten
Erzählungen
Erstmals erschienen 1995
© 2021 E.Y.MEYER
eymeyer.ch
Cover:
Bronzekopf des Autors
Geschaffen 1997 von PAN YI QUINAcademy of Arts & Design
Tsing Hua UniversityBei Jing, China
Kapitel
EINE REISE NACH SIBIRIEN
DIE WARNUNG
BERGFAHRT
DIE RÜCKFÜHRUNG
EISMEER
DER ANHALTER
EINE MONDSTADT
EINE REISE NACH SIBIRIEN
Als er am Mittag das Haus verliess, beabsichtigte er, in die Stadt zu gehen, um etwas zu trinken und vielleicht einen Bekannten zu treffen, mit dem er über dies oder jenes hätte sprechen können.
Gegen Ende des Nachmittags, vielleicht so um sechs, gedachte er, wieder zu Hause zu sein, spätestens aber um halb zwölf, wenn die Wirtshäuser schlossen.
Dies sagte er auch seinen Eltern, von denen er sich nur flüchtig verabschiedete.
Im Restaurant, das er als erstes betrat, sah er kein ihm vertrautes Gesicht; und da der Saal fast voll war, liess er sich ohne viel Nachdenken neben einem alten Mann nieder, an dessen Tisch noch ein Platz frei war.
Der Alte, dem er nun schräg gegenübersass, hatte schlohweisses Haar und trank ein Helles; so eins bestellte er sich auch – und während er das erfrischend prickelnde Bier trank, kam ihm sein Nebenmann plötzlich seltsam vertraut vor.
Er schien jemandem zu gleichen, den er sehr mochte, aber er hätte nicht sagen können, wer das sei.
Trotzdem spürte er eine immer stärker werdende Zuneigung zu dem Mann, die er schon bald nicht mehr von derjenigen unterscheiden konnte, die er für die Person zu empfinden glaubte, an die er sich nicht erinnerte.
Und als der Alte, der bemerkt zu haben schien, dass er seit einer Weile beobachtet wurde, plötzlich lächelte, vermischte sich dessen Gestalt so stark mit der anderen Person, dass er die beiden nicht mehr auseinanderhalten konnte und jemanden vor sich zu haben glaubte, den er sehr gern hatte, obwohl er ihn nicht kannte.
Er hatte inzwischen bereits sein zweites Bier getrunken, während der Alte vor einem leeren Glas sass; aber auch nach dem dritten und vierten Bier hatte er nicht das Gefühl, dass die Vermischung der Personen durch den Alkohol verursacht wurde – auch wenn jemand, der ihn nicht kannte, hätte annehmen können, dass er nun schon leicht betrunken war.
Der Alte hatte lächelnd und schweigend zugesehen, wie er ein Bier nach dem andern trank.
Als er das siebte oder achte Glas bestellte, öffnete der Mann aber ganz überraschend seinen Mund, um ihm wie nebenbei mitzuteilen, dass sie beide an diesem Nachmittag nach Sibirien reisen und bis zum Abend wieder zu Hause sein würden.
Dass an der Sache etwas nicht stimmen konnte, fiel ihm erst ein, als der Alte und er sich bereits im Bahnhof befanden – aber das Vertrauen, das er dem Mann entgegenbrachte, war inzwischen schon viel zu gross geworden, als dass ein solcher Gedanke ihn noch hätte beunruhigen können.
Die Person, die er auf einer Reise nach Sibirien begleiten sollte, kannte er schon lange, und er folgte ihr ohne Zögern – auch wenn sie sich, wie ihm jetzt auffiel, nur noch selten nach ihm umsah.
Im Zug befiel ihn, wahrscheinlich weil er doch etwas zuviel getrunken hatte, schon bald eine grosse Müdigkeit, und obwohl er sich einzureden versuchte, er müsse wach bleiben, liess er sich schliesslich vom Schlaf überwältigen.
Für eine Weile würden der Alte und er in diesem Zug bleiben können, auch wenn sie später sicher noch einige Male umsteigen müssten – und zudem würde die Zeit ja gar nicht reichen, um nach Sibirien zu fahren und am Abend wieder zurück zu sein.
Als er wieder erwachte, befanden sie sich aber merkwürdigerweise, obwohl seine Uhr erst fünf zeigte, bereits in einem der hocheleganten, mit Holz und Messing ausgekleideten weiten Abteile der transsibirischen Eisenbahn, und vor den Fenstern glitt die gefrorene und schneeverwehte, himmellose weisse Landschaft Sibiriens mit ihren endlosen Tannen- und Birkenwäldern vorbei.
Dem Gebaren seines Begleiters nach mussten sie zudem schon bald ihr Ziel erreicht haben – und als der Zug Minuten später vor einem einsam dastehenden, hölzernen Stationsgebäude anhielt, verliess er, noch nicht ganz wach, hinter seinem Weggefährten den Wagen, glaubte aber erst, dass sie sich wirklich in Sibirien befanden, als ihn draussen die Kälte packte.
Der Alte führte ihn rasch in den Wartesaal des kleinen Bahnhofs und ging allein noch tiefer in das Haus hinein, während er selber der Anweisung, die er erhalten hatte, folgte und sich an einem laut fauchenden Kanonenofen in einer Ecke des kahlen Raums wärmte; durch die Verzerrung der Fensterscheiben sah er, wie die mit Schnee und Eis bedeckte Wagenkomposition weiterfuhr.
Als der Lärm in der Ferne verklungen war, hörte und spürte er den Wind, den der stillstehende Zug zuvor noch etwas abgehalten hatte, mit ganzer Kraft gegen die Front des Stationsgebäudes blasen.
In Pelzmantel und Fellstiefel gekleidet, eine grosse Pelzmütze auf dem Kopf, kam sein Weggenosse, auch ihm solche Kleidungsstücke bringend, in den Wartesaal zurück – und nachdem er wie der Alte angezogen war, traten sie in die windgepeitschte weisse Landschaft hinaus.
Sich langsam durch den knietiefen Schnee, den heftigen Luftstrom und die ihnen ins Gesicht beissende Kälte vorwärts bewegend, gelangten sie gleich hinter dem Bahnhof in eine endlos scheinende weisse Ebene, und als sie eine Weile über diese hinweggestapft waren, merkte er, dass es sich dabei wohl um die zugefrorene Fläche eines riesigen Sees handeln musste.
Vielleicht war es der Baikalsee, von dem er schon gehört hatte, der grösste und tiefste See der Welt – vielleicht aber auch einer der vielen anderen Seen, die es in Sibirien gab.
Das Gehen durch Schnee, Wind und Kälte ermüdete ihn rasch, so dass er sich schon bald ausruhen wollte, aber sein Begleiter, dem die Anstrengung trotz seines Alters nichts auszumachen schien, spornte ihn immer wieder an, indem er zu ihm sagte, es sei nicht mehr weit.
Trotzdem kam es ihm vor, als ob sie sich stundenlang wie durch weisse Milch vorwärtsbewegen würden – nicht mehr wissend, wo die Erde aufhörte und wo der Himmel begann.
Manchmal glaubte er, es gehe bergab, und er fing an, schneller und schneller zu gehen, bis ihm schwindlig wurde und der Alte ihn eine Zeitlang am Arm festhalten musste.
Dann wiederum sah er Häuser vor sich, die sich, wenn sie sich ihnen näherten, immer weiter zurückzogen und schliesslich in Steine verwandelten, die aus ihm unerklärlichen Gründen auf der gefrorenen Wasserfläche lagen – falls der Alte und er sich überhaupt noch auf einem See befanden oder je auf einem solchen befunden hatten.
Die wie Nebel wirkende Helligkeit ringsum liess ihn jegliches Raumgefühl verlieren – und als in diesem unveränderlichen Weiss immer wieder dunkle Schatten aufzutauchen und zu verschwinden schienen, erwachten in seiner Vorstellung Bilder von Wölfen und Eisbären.
Daraufhin angesprochen, erklärte ihm der Alte jedoch nur, dass er sich mit seinen Pelzhandschuhen an dem Seil festhalten solle, das er im Stationsgebäude mehrmals um seinen Rumpf geschlungen hatte.
Dies tat er denn auch, aber obwohl er so immer dicht bei dem Alten blieb, wuchs die Spannung in ihm stetig an – vor allem, weil das von ihm befürchtete und jeden Augenblick erwartete Hereinbrechen der Nacht immer wieder ausblieb und die weisse Helligkeit gleichgültig und gleichmässig ihr diffuses Licht verbreitete.
Das beissende Kältegefühl im Gesicht, das sich bald auch in seinen Händen und Füssen gemeldet hatte, war nach einiger Zeit zwar wieder verschwunden, aber als er einmal mit der Hand über die Augen fuhr, löste sich die Haut in Fetzen sowohl von den Wangen wie von der Stirn und der Nase ab.
Auf der einzigen Rast, die sie machten, holte der Alte aus einem Sack, den er sich im Stationsgebäude umgehängt hatte, eine Thermosflasche sowie ein Paket mit gefrorenem Fisch und Fleisch, und sie tranken stark gesüssten, heissen Tee und lutschten an den kalten Bissen, die der Alte abschnitt.
Dann löste der Mann das Seil, das er um sich geschlungen hatte, und knotete sie beide, nur ein kurzes Zwischenstück lassend, aneinander.
Auf diese Weise gingen sie neben- und hintereinander weiter – manchmal, wenn er vor Erschöpfung für einige Sekunden oder auch für längere Zeit das Bewusstsein verlor, wurde er vom Alten einfach hinter sich hergezogen.
Da es keinerlei Orientierungspunkte gab, verursachten Luftspiegelungen immer wieder Sinnestäuschungen – mal glaubte er, einen Stein schon mit den Händen berühren zu können, während er in Wirklichkeit noch etwa hundert Meter weit entfernt war, dann wiederum hatte er das schreckliche Gefühl, in der nächsten Sekunde in einen Abgrund zu stürzen.
Vor Angst oftmals fast gelähmt, bewegte er sich in dieser Schneewüste wie ein Astronaut im Weltall – bis er, als er das Gefühl hatte, schon tage- oder wochenlang so gegangen zu sein, und zunächst einfach glaubte, eine weitere Halluzination vor Augen zu haben, das andere Ufer des Sees, wenn es denn ein solcher war, auftauchen sah, wo sich, von hohen Bretterzäunen und Schneeverwehungen umgeben, unter dem anhaltend heftigen Wind einige Holzhäuser zusammenduckten und auch dort blieben, als der Alte und er immer näher an sie herankamen.
Keines der Häuser war gross, alle waren einstöckig – bei allen waren die Fensterläden geschlossen, und nur beim ersten hing Rauch über dem Dach.
Als der Alte und er dieses Haus, das eher eine Hütte war, erreicht hatten, wurde sofort die einzige sichtbare Tür geöffnet, und sie traten ein.
Erschrocken glaubte er zuerst, dass er durch den langen Aufenthalt in der weissen Helligkeit erblindet sei – bis in der Dunkelheit um ihn herum nach und nach überall hellere Flecken aufzutauchen begannen.
Und dann, nachdem seine Augen sich an den schnellen Lichtwechsel gewöhnt hatten, sah er, dass ihm aus dem rauchigen Innern des Hauses, das nur aus einem einzigen grossen Raum bestand, von allen Seiten her Gesichter entgegenblickten – dass überall Männer, Frauen und Kinder sassen, die in Felle und in dicke Stoff- und Wollsachen gehüllt waren, während sich auf dem Fussboden Hunde der verschiedensten Grössen und Rassen tummelten.
Vor den Fenstern des dunklen und warmen Raums hingen grosse Säcke, und von den Deckenbalken baumelten mehrere russende, nur wenig Licht verbreitende Petroleumlampen herab.