Der Ritt - E. Y. Meyer - E-Book

Der Ritt E-Book

E. Y. Meyer

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Beschreibung

Am Neujahrstag 1831 reitet ein noch unbekannter und streitbarer Vikar von Bern nach Lützelflüh. Es ist Albert Bitzius, der aufmüpfige Pfarrerssohn, der in dem kleinen Ort im Emmental seine vierte und letzte Vikariatsstelle antreten soll. Fünf Jahre später wird er durch seinen skandalträchtigen Roman »Der Bauernspiegel« bekannt werden – herausgegeben unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf. E. Y, Meyer schildert diesen Ritt in einer knappen rhythmischen Sprache, die an die Gangarten der Pferde erinnert – Schritt, Trab, Galopp. Er beschreibt, was während des fünfstündigen Ritts im 33jährigen vorgeht, wie er sein Leben sieht, die Erinnerungen, die auftauchen, was er von der Zukunft erwartet. Wir Leser erleben nicht den berühmten Jeremias Gotthelf, sondern den wenig bekannten jungen Mann in seinem Zwiespalt und seiner Zerrissenheit: Wilde Leidenschaft und Bejahung des Lebens, Sympathie für die aufkommende Idee des Liberalismus einerseits und der Wunsch nach Eingliederung in die Gesellschaft andererseits, nach Entsprechung, um seinen Weg zum reformierten Pfarrer nicht zu gefährden. Meyer schafft ein neues Gotthelf-Bild, das eines jungen Rebellen, dessen Ritt nach Lützelflüh eine grosse Wende in seinem Leben einleitete.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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E.Y.MEY­ER

Der Ritt

Ro­man

 

Erst­mals er­schie­nen 2004

© 2021 E.Y.MEY­ER

ey­mey­er.ch

 

 

Co­ver:

Bron­ze­kopf des Au­tors

Ge­schaf­fen 1997 von PAN YI QUINAca­de­my of Arts & De­sign

Tsing Hua Uni­ver­si­tyBei Jing, Chi­na

 

Ka­pi­tel

Der Ritt

Zeit­ta­fel zu Je­re­mi­as Gott­helf

 

FürChri­gedie Ur­ur­en­ke­linvon Lud­wig Fank­hau­ser

Am ers­ten Tag des Jah­res 1831ritt er, von Sinn­lo­sig­keit um­la­gert,in das win­ter­li­che Em­men­tal.

Wal­ter MuschgGott­helf. Die Ge­heim­nis­se des Er­zäh­lers

 

Der Ritt

AM ERS­TEN TAG des Jah­res acht­zehn­hun­dert­ein­und­dreis­sig ritt er, von Sinn­lo­sig­keit um­la­gert, in das win­ter­li­che Em­men­tal.

Wäh­rend das Pferd kraft­voll den Mu­ris­tal­den hin­auf­stapf­te, sah er auf die in der Tie­fe ver­sin­ken­de Stadt zu­rück.

Die lan­gen Häu­ser­rei­hen wirk­ten streng. Do­mi­niert wur­den sie vom Turm des Müns­ters.

Der Ort, der die Fluss­schlau­fe aus­füll­te, sah wie ein Wa­l­fisch aus, in des­sen Rü­cken Ha­r­pu­nen steck­ten, die von ver­geb­li­chen Fang­un­ter­neh­mun­gen und Tö­tungs­ver­su­chen stamm­ten. Jetzt, da Schnee auf den Dä­chern lag, war das Tier ein weis­ser Wal.

Rauch stieg aus Ka­mi­nen auf. Der Wa­l­fisch­rü­cken dampf­te.

Im fah­len Licht des Win­ter­tags hat­te die Kla­r­heit der Häu­ser­an­ord­nung, das Wohl­ge­ord­ne­te, das Si­cher­heit und Ruhe ver­spre­chen soll­te, auch et­was Be­droh­li­ches.

Sie ver­kör­per­te die Macht der Men­schen, die fä­hig war, ih­ren Wil­len der Na­tur auf­zu­zwin­gen. Die einen Wald ver­schwin­den las­sen konn­te und an sei­ner Stel­le eine ge­ball­te An­samm­lung stei­ner­ner Bau­wer­ke hin­zu­stel­len im­stan­de war.

Und der Herr ge­bot dem Fisch, und er spie Jo­nas an Land.

Un­ver­mit­telt schlug er die Ab­sät­ze der Stie­fel in den Un­ter­bauch der Stu­te, zwang sie, den letz­ten Teil des Hangs und die nach­fol­gen­de ebe­ne Stre­cke im Ga­lopp zu­rück­zu­le­gen.

Männer­ge­läch­ter um­dröhn­te sei­nen Kopf. Spot­t­er­füll­te Au­gen blitz­ten auf. Bär­ti­ge Mün­der ent­blöss­ten ver­faul­te Zäh­ne.

Si vis pacem, para bel­lum.

Fort. In frem­de Kriegs­diens­te.

Das Pferd wie­her­te. Er ver­lang­sam­te das Tem­po. Strich dem Tier über den Hals.

So schick­te ihn Gott der Herr fort aus dem Gar­ten Eden, dass er den Erd­bo­den be­baue, von dem er ge­nom­men war.

Und er ver­trieb den Men­schen und liess öst­lich vom Gar­ten Eden die Che­ru­be sich la­gern und die Flam­me des zu­cken­den Schwer­tes, den Weg zum Bau­me des Le­bens zu be­wa­chen.

Er hat­te der Ver­su­chung nicht wi­der­stan­den.

Die Be­ru­fung nach Bern ist eh­ren­voll, aber wird sie es auch blei­ben für mich? Auf dem Land konn­te ich Nut­zen stif­ten, von Be­deu­tung sein. Wer­de ich es auch in der Stadt kön­nen? Dies legt mich schlaf­los.

Man hat­te nicht ver­säumt, ihn auf das gross­teils ge­bil­de­te Pu­bli­kum der Stadt­ge­mein­de hin­zu­wei­sen, ihm sorg­fäl­ti­ge Aus­a­r­bei­tung der Kan­zel­vor­trä­ge an­ge­ra­ten, die Er­war­tung aus­ge­spro­chen, dass er sich be­stre­ben wer­de, dem, wie man schrieb, eh­ren­vol­len Zu­trau­en nach bes­tem Ver­mö­gen zu ent­spre­chen.

Was ich über­nom­men habe, führ­te ich bis da­hin im­mer eh­ren­voll aus. Wie ich aber auf die­sem Pos­ten ge­nü­gen soll­te, woll­te mir nicht auf­ge­hen. Die­ses war die Haup­t­ur­sa­che mei­ner Be­ängs­ti­gung. Eine zwei­te, ge­rin­ge­re, ist fi­nan­zi­ell.

Mit vier­hun­dert Fran­ken Ein­kom­men springt man in Bern nicht nur nicht weit, son­dern gar nicht.

Sei­ne Stim­me hat­te Mühe ge­habt, die im­po­san­te Hal­le zu fül­len.

Sand­ste­in­säu­len. Em­po­ren. Frei­ge­stell­te Kan­zel. Zwei­hun­dert Jah­re nach der Re­for­ma­ti­on hat­te man sämt­li­che Re­gis­ter des herr­schaft­li­chen Bau­ens ge­zo­gen.

Bei der Ein­wei­hung der präch­tigs­ten pro­tes­tan­ti­schen Kir­che im Ge­biet der da­ma­li­gen Eid­ge­nos­sen­schaft war von ei­nem Tem­pel ge­spro­chen wor­den.

Ge­nau hun­dert Jah­re da­nach hat­te er sei­nen Dienst im Re­prä­sen­ta­ti­ons­bau des alt­ber­ni­schen Pro­tes­tan­tis­mus an­ge­tre­ten. Dreis­sig Jah­re nach dem Un­ter­gang des Al­ten Bern. Dem Ende der al­ten Eid­ge­nos­sen­schaft.

Wahr­schein­lich hat­te man sich auch an sei­nem Sprach­feh­ler ge­stos­sen.

Schon in sei­ner Stu­den­ten­zeit, als er acht Jah­re lang in Bern leb­te, ver­un­mög­lich­te ihm die­ser die Schau­spie­le­rei. Sei­net­we­gen ent­zog man ihm die Rol­le des Melch­t­hal im »Wil­helm Tell«, die er ein­stu­diert hat­te.

Sind wir denn wehr­los? Wozu lern­ten wir die Arm­brust span­nen und die schwe­re Wucht der Streit­axt schwin­gen? Je­dem Wesen ward ein Not­ge­wehr in der Ver­zweif­lungs­angst.

Für das Pre­digt­hal­ten wa­ren sei­ne kör­per­li­chen Vor­aus­set­zun­gen nicht op­ti­mal.

Als Schu­l­in­spek­tor, in der Ar­men­pfle­ge und so­gar im Um­gang mit dem Stadt­ge­sin­del hat­te er eben­falls sein Bes­tes zu ge­ben ver­sucht.

Aber auch das schien nicht ge­nug ge­we­sen zu sein. Man woll­te ihn nicht.

Nicht als Nach­fol­ger des ver­stor­be­nen Auf­klä­rers Wyt­ten­bach. Und auch sonst nicht.

Man ver­trieb ihn.

Ein­mal mehr.

Wie in Ut­zen­storf. Wie in Her­zo­gen­buch­see.

Wie im Grun­de schon sein Va­ter ver­trie­ben wor­den war, in Mur­ten, als das mit­tel­al­ter­li­che See­städt­chen in der von Na­po­le­on neu­ge­form­ten Eid­ge­nos­sen­schaft ganz an das ka­tho­li­sche Frei­burg über­ging und der Pfar­rer, als er acht­und­vier­zig und sein äl­tes­ter Sohn acht Jah­re alt war, sich um eine Ver­set­zung be­mü­hen muss­te.

Sie wer­den da­her von nun an Ih­res Vi­ka­ri­ats in Her­zo­gen­buch­see, das Sie, wie die Vi­si­ta­ti­ons­be­rich­te aus­wei­sen, zur Zu­frie­den­heit der Ge­mein­de und ih­res Pfar­rers so­wie auch des Kir­chen­kon­vents ver­se­hen ha­ben, in Eh­ren ent­las­sen. Blei­ben Sie uns­rer Wert­schät­zung und Freund­schaft ver­si­chert. Gott mit Ih­nen. Na­mens des Kir­chen­kon­vents. Der Ak­tu­ar.

Auf der weis­sen Flä­che ne­ben der Stras­se über­schlug sich ein Hase. Mit­ten im Lauf von ei­ner Ku­gel ge­trof­fen.

Auf dem Bo­den lie­gend zuck­te er noch ei­ni­ge Male. Dann fiel er schlaff in sich zu­sam­men.

Blut floss in den Schnee.

Es war kalt. Der Him­mel be­deckt. Der Tag woll­te nicht hell wer­den. Im Ge­gen­teil. Er dun­kel­te schon wie­der ein. Es wür­de zu schnei­en be­gin­nen.

Wie gern war er mit sei­nem Bru­der auf die Jagd ge­gan­gen.

Fritz tö­te­te statt Tie­re nun Men­schen.

Wann wür­de er sel­ber wie­der ja­gen?

Wür­de er über­haupt je wie­der ja­gen?

Was er­war­te­te ihn? Die Ge­mein­de sei eine schwe­re. Eine der här­tes­ten im Kan­ton. Aber eine gute, wie man sag­te. Eine, die in Un­ord­nung sei, aber Ord­nung wün­sche.

So et­was gab es sel­ten.

Die Stras­se war leer. Es herrsch­te im­mer noch die Ruhe des Neu­jahrs­mor­gens. Die Stil­le wur­de nur durch das Auf­schla­gen der Hufe sei­nes Pfer­des un­ter­bro­chen.

Er er­in­ner­te sich an einen an­de­ren Neu­jahrs­ritt. Einen, der noch mit­ten in der Nacht statt­ge­fun­den hat­te. Als er von Bern hat­te weg­rei­ten müs­sen, um zum Früh­stück wie­der in Ut­zen­storf zu sein.

Zehn Jah­re muss­te das her sein. Als er Vi­kar beim ei­ge­nen Va­ter ge­we­sen war. Es war das ein­zi­ge Mal ge­we­sen, dass die­ser ihm die Er­laub­nis ge­ge­ben hat­te, sich in die Haupt­stadt zu be­ge­ben. Zu ei­nem Sil­ves­ter­ball.

Die furcht­ba­re Käl­te, die ge­herrscht hat­te, ver­gass er nie mehr.

Dies­mal hat­te er den Sil­ves­ter­abend, den drei­und­dreis­sigs­ten sei­nes Le­bens, nicht ge­fei­ert.

Er misch­te sich in den Lau­ben un­ter die Ver­mumm­ten.

Hans­wurs­te stürm­ten an ihm vor­bei. Ein Zug mit Mu­sik und ei­ni­gen al­ten Schwei­zern mar­schier­te auf ihn los. Da­zwi­schen spa­zier­te ein­sam ein ho­her Spa­ni­er mit Her­ren­hut und Man­tel.

In der Klei­dung des vo­ri­gen Jahr­hun­derts er­schien eine ehr­sa­me alte Bür­ger­fa­mi­lie. Der Herr das Hüt­chen un­ter dem Arm. Die Frau ein des­to grös­se­res Ge­bil­de auf dem Kopf.

Rings­um im­mer wie­der scheuss­li­che La­r­ven­ge­sich­ter mit un­ge­heu­er lan­gen Na­sen. Die Glo­cken der Stadt läu­te­ten eine Stun­de lang.

Die gan­ze Nacht hin­durch wur­de ge­schwärmt und ge­tobt.

Das alte Jahr aus­ge­wü­tet.

In ei­ner Pin­ten­wirt­schaft in der Mat­te, im al­ten Ha­fen­quar­tier an der Aare, wo man ihn nicht kann­te, trank er einen Schop­pen.

Vom zwei­ten Schop­pen an trank er ge­gen die gol­de­ne Re­pe­tier­uhr. Die Zeit.

Das Ab­schieds­ge­schenk der Ut­zen­stor­fer. Mit ihm hat­te sei­ne Zeit zu lau­fen be­gon­nen.

Er muss­te sei­nem Va­ter nach­fol­gen. Aus der Stadt aufs Land.

Nur war sein Va­ter in eine rei­che Land­schaft ge­kom­men. In die Dör­fer.

Er muss­te in eine arme Land­schaft zie­hen. In die Höfe. Statt in eine frucht­ba­re Ebe­ne, de­ren Be­a­r­bei­tung ein­fach war, in ein schrof­fes Hü­gel­ge­biet.

Aus dem ge­sel­li­gen Le­ben in die Ein­sam­keit.

Aus ei­nem Stadt­haus in ein Land­haus.

Sein Va­ter hat­te aus dem Pfarr­haus in der Ecke der Ring­mau­er in einen Pfarr­hof zie­hen kön­nen.

In ein Her­ren­haus, zu dem ein Bau­ern­be­trieb ge­hör­te. Mit Pferd, Kü­hen, Schwei­nen. Mit Knecht und Mäg­den, Holz- und Fut­ter­vor­rä­ten, Wie­sen, Äckern.

Ne­ben dem Kirchort um­fass­te die Ge­mein­de ei­ni­ge ab­ge­le­ge­ne Häu­ser­grup­pen.

Ein gros­ses Ge­biet. Wei­te Ge­fil­de. Für Schwei­zer Ver­hält­nis­se un­ge­wöhn­lich flach. Ein un­end­li­ches Dorf.

Mit nur tau­send­sie­ben­hun­dert Men­schen. Die Welt sei­ner Kind­heit. Nun ist mei­ne Zeit hier bald zu Ende. Dann kann ich mein Joch ab­schüt­teln. Über­all wa­ren mir die Hän­de ge­bun­den. Ich habe al­ler­dings auch viel ge­lernt da­bei und glau­be, nicht für die Stadt al­lein, son­dern auch für das Land. Ich habe gleich Ge­le­gen­heit, die­ses zu er­pro­ben.

Er hat­te der Ver­su­chung nach­ge­ben müs­sen.

Er hat­te wis­sen müs­sen, ob er ein Stadt­pu­bli­kum ver­füh­ren konn­te oder nicht.

Es war der glei­che Drang ge­we­sen, der ihn ge­zwun­gen hat­te, nach Bad Pyr­mont zu rei­sen. Wäh­rend sei­nes Göt­tin­ger­jahrs. Der Nord­deut­sch­land­zeit.

Er hat­te die ele­gan­te Welt se­hen müs­sen. Die Frau­en die­ser Welt. Die Frau­en von Welt.

Aus der düs­te­ren Schnee­land­schaft her­aus sa­hen ihn dunk­le Au­gen an. Hell­blaue Au­gen. Grü­ne Au­gen.

Die gros­se Zahl der schö­nen Ge­sich­ter auf der Pro­me­na­de der klei­nen Re­si­denz hat­te ihn ver­wirrt. Sie wa­ren von ei­ner An­mut ge­we­sen, die er bis­her nicht ge­kannt hat­te. Weiss ge­klei­det gin­gen die Schön­hei­ten im hel­len Licht des Som­mer­mor­gens zum Brun­nen.

Sie ver­folg­ten ihn. Zu­sam­men mit den Au­gen­paa­ren an­de­rer Frau­en. Sol­chen, die ihn schon zu­vor ver­folgt hat­ten. Und sol­chen, die da­nach da­zu­ge­kom­men wa­ren.

Dass ihm das Zeug zum Ge­lehr­ten fehl­te, merk­te er schon früh. Schon wäh­rend der Aka­de­mie­zeit in Bern. Als er beim On­kel Pro­fes­sor wohn­te. Beim Theo­lo­gie­pro­fes­sor Sa­mu­el Stu­der. Ei­nem Bru­der von Va­ters ers­ter Frau. Der früh ver­stor­be­nen Mut­ter von Ma­rie.

Denn ich füh­le, dass ich nun ein­mal zu ei­nem Ge­lehr­ten durch­aus un­tüch­tig bin. Teils durch mei­ne Er­zie­hung, teils durch mei­ne Ga­ben. Zu­gleich aber be­sit­ze ich zu viel Ehr­geiz, um als ge­mei­ner Mann zu le­ben und zu­letzt in ei­nem Win­kel un­ge­kannt zu ster­ben.

Das Le­ben als Stu­dent in Deut­sch­land ge­noss er. Ob­wohl er zu­gleich litt. An sich sel­ber. Am ei­ge­nen Un­ge­nü­gen.

Er war un­si­cher. Zwei­fel­te an sich. Am Sinn des Le­bens.

Nach aus­sen gab er sich lus­tig. Ver­such­te, wit­zig zu sein. Geist­reich.

Er zeig­te sich als Kraft­kerl. Über­mü­tig. Als fi­de­ler Bit­zi. Liess sich Schnurr­bart und Ba­cken­haa­re wach­sen. Mach­te beim Kar­ten­spie­len mit. Beim Ta­bak­rau­chen.

Rytz, einen Mit­stu­den­ten, Pfar­rers­sohn aus der Schweiz wie er, das »Geist­li«, be­schimpf­te er als Auf­schnei­der und Wind­beu­tel. Die ge­küns­tel­te Forsch­heit und die fa­den Scher­ze des an­dern gin­gen ihm auf die Ner­ven.

Rytz hat es wie alle hoh­len Köp­fe, die gern Ge­nie vor­stel­len. Sie wis­sen sich nicht zu hel­fen als durch Schimp­fen über jede be­ste­hen­de Ord­nung, sei sie nun in der Po­li­tik oder in der Re­li­gi­on.

Die Rei­sen durch Deut­sch­land wa­ren un­ver­gess­lich.

Die lan­ge Hin­rei­se, die vier­zehn Tage dau­er­te. Die auf ei­nem wei­ten Um­weg voll­zo­ge­ne noch län­ge­re Rü­ck­fahrt.

Wei­mar. Leip­zig. Dres­den. Mün­chen. Vier Wo­chen. Vor al­lem aber die fünf­wö­chi­ge Fe­ri­en­rei­se an die Nord­see. Ans Meer, das er un­be­dingt hat­te se­hen wol­len.

Der Va­ter war un­zu­frie­den ge­we­sen, dass er Sti­pen­di­en­geld da­für ver­wen­det hat­te.

Aber der Va­ter war weit.

Der Sohn ging ver­bo­te­ne Wege.

Aber er hat­te ge­wusst, dass dies sei­ne ein­zi­ge Mög­lich­keit war. Dass sich zu sol­chen Rei­sen kaum noch ein­mal Ge­le­gen­heit bie­ten wür­de.

Er konn­te kein streng or­tho­do­xer Geist­li­cher wie sein Va­ter wer­den. Sei­ne Na­tur war an­ders.

Er woll­te und muss­te dem ver­fluch­ten Schlamm der Theo­lo­gen ent­kom­men.

Den Her­ren­gass­her­ren. Den Ver­wal­tungs­be­am­ten des Chris­ten­tums. Den Kir­chen­re­gen­ten, die über die Ver­set­zun­gen und über die Ver­ga­be von Pfrün­den und Pfar­rei­en ent­schie­den.

Es ist recht lä­cher­lich, wie die Her­ren in Trab sich set­zen, wenn ein ar­mer Teu­fel zu hu­deln ist. Wo ich Freu­de hat­te an der Ar­beit, da muss ich weg, und auf eine Art weg, wel­che das Schmerz­li­che des Schei­dens noch ver­mehrt. Wäre es ein Wun­der, wenn ich trä­ge wür­de und mei­ne Hän­de auch ru­hen lies­se, wie noch vie­le an­de­re ohne sol­che Ur­sa­che?

Es war Zeit für eine neue Re­vo­lu­ti­on. In Bern bro­del­te es. Im Kan­ton und in der Stadt.

Die Pa­ri­ser Le­gi­o­näre, die Ro­ten, die im Juli den Thron der Bour­bo­nen ver­tei­digt hat­ten, wa­ren wie Bett­ler in die Hei­mat zu­rück­ge­kehrt.

Das Ber­ner Pa­tri­zi­at hat­te im Herbst Trup­pen in der Stadt kon­zen­triert und aus den Ro­ten eine Gar­de zu bil­den be­gon­nen.

Die li­be­ra­le Par­tei stell­te eine Bür­ger­wa­che auf. Er liess sich, ob­wohl Geist­li­cher, zum Kor­po­ral er­nen­nen.

Sein Zim­mer in der Woh­nung des al­ten Wyt­ten­bach, der Ende Mai ge­stor­ben war, funk­tio­nier­te als Nach­rich­ten­zen­tra­le.

Die Lage an der Spi­tal­gas­se war ide­al.

Ari­s­to­kra­ten tauch­ten eben­falls mit Nach­rich­ten auf. Sie ver­such­ten ver­geb­lich, ihn zu be­keh­ren.

Der Um­sturz war un­ver­meid­lich.

Auf der Land­schaft wur­den wie­der Frei­heits­bäu­me er­rich­tet. Wie nach der Gros­sen Re­vo­lu­ti­on. Wie in der Hel­ve­ti­schen Re­pu­blik

Die Tag­sat­zung trat er­schro­cken aus­ein­an­der. Die Pres­se ver­letz­te die Zen­sur­vor­schrif­ten.

»Na­po­le­on hat einen gros­sen Feh­ler ge­macht«, hät­te sein Bru­der zu die­ser Lage mög­li­cher­wei­se ge­sagt. »Er hat ver­ges­sen, die Guil­lo­ti­ne mit­zu­brin­gen, als er nach Bern kam.«

So weit konn­te er nicht ge­hen. Woll­te er nicht ge­hen. Aber sei­ne Hal­tung war klar.

Die Ber­ner Ari­s­to­kra­ten wa­ren kei­ne ech­ten Ari­s­to­kra­ten. Sie wa­ren Möch­te­ger­na­de­li­ge.

Das Volk woll­te eine neue Ver­fas­sung, eine neue Re­gie­rung. Eine Volks­re­gie­rung.

Es brauch­te eine Volks­re­gie­rung.

Ich ge­ste­he auf­rich­tig, ich has­se das Pa­tri­zi­at, das mit Kro­ko­dils­trä­nen jetzt die ar­men Bür­ger fängt. Mein Va­ter war mir ein trau­ri­ges Bei­spiel, wie man ehr­li­che Bür­ger be­ach­te­te. Sei­ne Be­hand­lung, die ihm um Jah­re das Le­ben ver­kürz­te, ver­ges­se ich nie.

Zen­trum des Li­be­ra­lis­mus war das Schloss­städt­chen Burg­dorf am Rand des Em­men­ta­ler Hü­gel­ge­biets auf der Gren­ze zwi­schen den Dör­fern und den Hö­fen.

Über­all wur­den Ver­samm­lun­gen ge­gen die Jun­ker ab­ge­hal­ten, die jede Ver­hand­lung über eine Re­vi­si­on der Ver­fas­sung ab­lehn­ten.

Die­se Zei­ter­eig­nis­se hat­ten ihn eben­falls von der Theo­lo­gie weg­ge­ris­sen. Hin zur Po­li­tik.

Wir ha­ben ein gros­ses Jahr er­lebt. Die frü­he­re Fran­zö­si­sche Re­vo­lu­ti­on war aus den glei­chen Ide­en ent­stan­den und kämpf­te ge­gen das glei­che pri­vi­le­gier­te Un­recht. Aber sie kämpf­te da­ge­gen mit phy­si­scher Kraft. Dar­um ge­lang es auch phy­si­scher Kraft, sie zu un­ter­drü­cken und den al­ten Des­po­tis­mus wie­der ein­zu­füh­ren.

Die­se Re­vo­lu­ti­on hat hin­ge­gen die Ver­nunft be­gon­nen, durch­ge­führt und be­schlos­sen. Dar­um wird sie be­schlos­sen blei­ben. Sie ist ein neu­er schla­gen­der Be­weis ge­gen die, wel­che be­haup­ten, die Welt wer­de im­mer schlim­mer und die Men­schen im­mer ver­dor­be­ner.

Wenn alle Pfer­de ver­nünf­tig wür­den, so müss­te auch der Mül­ler einen an­de­ren Kar­rer an­stel­len. Das Volk er­wacht all­mäh­lich, ist aber noch schlaf­sturm und weiss nicht recht, auf wel­cher Sei­te es aus sei­nem ver­tro­le­ten Bett kann.

Er konn­te nicht mehr da­bei sein

Er muss­te weg.

Er muss­te auf eine an­de­re Art tä­tig sein.

Er konn­te kei­ne Men­schen tö­ten.

Aber er konn­te auch nicht nur mit dem Kopf tä­tig sein.

Er muss­te eben­so mit den Hän­den tä­tig sein.

Im Kopf hat­te er zu oft an­de­re Din­ge. Din­ge, die sich mit Ge­walt aus­brei­te­ten. Sich mit Ge­walt Raum ver­schaff­ten.

Was er woll­te, war Re­for­ma­ti­on. Nicht Re­vo­lu­ti­on.

Er muss­te ak­ti­ve Ar­beit auf eine an­de­re Art leis­ten.

Ar­beit in der Ge­mein­schaft und für die Ge­mein­schaft. Für das Ge­mein­schafts­le­ben.

Bil­dung der Men­schen in der mir an­ver­trau­ten Ge­mein­de wird mei­ne ers­te und ein­zi­ge Pflicht sein.

---ENDE DER LESEPROBE---