Die Hälfte der Erfahrung - E. Y. Meyer - E-Book

Die Hälfte der Erfahrung E-Book

E. Y. Meyer

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Beschreibung

Die Hälfte der Erfahrung versammelt Essays und Reden, die zwischen 1972 (dem Jahr von E. Y. Meyers erster Buchveröffentlichung) bis 1980 entstanden sind. Es sind Reflexionen über Lebens-, Schreib- und Leseerfahrungen und über deren Wechselwirkung untereinander. Die Texte zeigen, wie jemand, vom Leben bestimmt, zum Schreiben kommt, und wie nun seinerseits das Abenteuer des Schreibens und der zum Beruf gewordenen Schriftstellerei das Leben zu bestimmen beginnt: den Weg einer beginnenden Identitätsfindung und deren Behauptung in einer Welt, in welcher der Druck der Anonymität, der die Identität des Einzelnen zu zerstören droht, immer stärker wird. Die Essays »Ach Egon, Egon, Egon« und vor allem »Das Zerbrechen der Welt« – letzteres befasst sich mit der am Anfang von Meyers Schreiben stehenden »Kantkrise« – sind von der Kritik und in wissenschaftlichen Arbeiten zu Meyers Werk immer wieder als »Schlüsseltexte« bezeichnet worden. Die Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk anderer Schriftsteller – in welcher in einem Prozess von Wiedererkennen und Befremdungsspüren, in einem Entdecken von Ähnlichkeiten und in einer Vornahme von Abgrenzungen die eigene Identität Konturen anzunehmen beginnt – umfasst ein Spektrum, das von Kant und Voltaire bis zum modernen Kriminalroman (oder im Musikbereich bis zum King of Rock’n’Roll Elvis Presley) hin reicht. Weitere Schwerpunkte sind Robert Walser, Hermann Hesse, Robert Louis Stevenson. Neben Texten, die sich mit der Schweiz und Schweizer Verhältnissen befassen, stehen Texte, die sich zur Welt hin öffnen – ja sich ausdrücklich um eine bessere Kenntnis und ein besseres Verständnis unserer selbst und der Welt, in der wir leben, bemühen. Um eine unromantische, unsentimentale, nüchtern realistische Sicht der Welt, deren unsere – ob wir das wollen oder nicht – von den Naturwissenschaften geprägte Zeit so dringend zu bedürfen scheint. Im Eingespanntsein zwischen Zufall und Notwendigkeit, zwischen Freiheit und naturgegebener und deshalb wohl unüberwindbarer Begrenztheit sieht Meyer ein Grundparadoxon der menschlichen Situation. Im Sinne von Goethes Wort, »dass die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist« endet das Buch mit einer Kritik der Auswüchse des gegenwärtigen Kulturbetriebs und mit der Forderung nach einer neuen Aufklärung über die Natur des Menschen und der Welt – der Aufforderung, die falschen Paradiese, die wir uns aufgebaut haben, zu verlassen.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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E.Y.MEY­ER

Die Hälf­teder Er­fah­rung

Es­says und Re­den

 

Erst­mals er­schie­nen 1980

© 2022 E.Y.MEY­ER

ey­mey­er.ch

 

 

Co­ver:

Bron­ze­kopf des Au­tors

Ge­schaf­fen 1997 von PAN YI QUINAca­de­my of Arts & De­sign

Tsing Hua Uni­ver­si­tyBei Jing, Chi­na

 

 

In­halt

Ach Egon, Egon, Egon

Das Zer­bre­chen der Welt

Die Hälf­te der Er­fah­rung

An den Main

Sym­pa­thie für einen Ver­sa­ger

Ein gros­ser Spa­zier­gän­ger

Die gros­sen und die klei­nen Wör­ter

Der gros­se Durst

Fred­dy, El­vis & Co und die Fol­gen

Das Holz, aus dem die Träu­me sind

Spot­ten Sie nicht über Kri­mi­nal­ro­ma­ne

Ein Buch für Win­ter­aben­de

Echo der Zeit

Von den Schwie­rig­kei­ten »klu­ger Kri­tik«

1. Au­gust

Frei, frei­er, am freis­ten

Schwei­zer­schrift­stel­ler

Gra­zer »Hei­mat-Rede«

Wis­sens­wer­tes

Vita

 

Ach Egon, Egon, Egon

Ein Brief­wech­sel mit Mon­sieur de Vol­taire an­läss­lich sei­nes »Can­di­de«

Can­di­de war ein Jüng­ling, der einen sehr sanft­mü­ti­gen Cha­rak­ter, ein arg­lo­ses Ge­müt und einen ge­sun­den Men­schen­ver­stand hat­te und des­halb auch sei­nen fran­zö­si­schen Na­men trug, der auf Deutsch so viel wie rein, lau­ter, un­schul­dig und treu­herzig be­deu­tet. Trotz sei­nes Na­mens leb­te die­ser Jüng­ling je­doch nicht etwa in Frank­reich, son­dern auf dem Schloss des Frei­herrn von Thun­der ten Tronck in West­fa­len und war der un­ehe­li­che Sohn ei­ner Schwes­ter des »Ba­rons«, wie ein Frei­herr in Deut­sch­land an­ge­re­det wird.

Der Can­di­de un­ter­rich­ten­de Haus­leh­rer mit dem grie­chi­schen Na­men Pan­gloss, der auf Deutsch so viel wie Al­les­red­ner be­deu­tet, lehr­te die Me­ta­phy­si­co-theo­lo­gi­co-cos­mo­lo­gie und ver­trat die Leh­re des Phi­lo­so­phen Leib­niz, der mein­te, dass Gott die Welt nicht ge­schaf­fen hät­te, wenn sie nicht un­ter al­len mög­li­chen die bes­te ge­we­sen wäre und im­mer noch sei. Eine Leh­re, die der eng­li­sche Dich­ter Alex­an­der Pope in sei­nem Lehr­ge­dicht »Es­say on man« dann noch auf den Satz: »Al­les, was ist, ist gut« ver­ein­fach­te.

Für al­les, was es auf der Welt gab und was auf ihr ge­sch­ah, und für al­les, was der Mensch ge­schaf­fen hat­te und tat, ver­such­te Pan­gloss des­halb mit sei­ner Ver­nunft auch im­mer einen gu­ten Grund zu fin­den. Denn wenn al­les auf die­ser Welt auf das bes­te ein­ge­rich­tet war, muss­te es auch für al­les einen gu­ten Grund ge­ben.

Dar­an, dass es aber so­wohl im Be­reich der Na­tur wie im Be­reich des mensch­li­chen Zu­sam­men­le­bens auch vie­le Din­ge gab, die die Men­schen mit ih­rer Ver­nunft bes­ser hät­ten ein­rich­ten kön­nen, so dass sie ih­nen nicht mehr scha­den, son­dern viel­mehr ih­rem Wohl­be­fin­den die­nen wür­den, schien Pan­gloss ob sei­ner eif­ri­gen Su­che nach gu­ten Grün­den gar nicht zu den­ken. Und dass das Fin­den von gu­ten Grün­den als ein­zi­ger gu­ter Grund für die mensch­li­che Ver­nunft et­was we­nig war, schien ihn da­bei nicht zu stö­ren.

Un­er­fah­ren und un­schul­dig wie er war, dach­te auch Can­di­de nicht an die­se Din­ge, son­dern hör­te Meis­ter Pan­gloss, den er für den gröss­ten Phi­lo­so­phen der Welt hielt, auf­merk­sam zu und glaub­te ihm al­les.

Ne­ben dem Glück, Meis­ter Pan­gloss zu lau­schen, gab es aber auch für Can­di­de noch ein grös­se­res Glück, und das be­stand dar­in, Fräu­lein Ku­ni­gun­de, die Toch­ter des Ba­rons und der Ba­ro­nin, je­den Tag zu se­hen.

Als die bei­den sich ei­nes Ta­ges zu­fäl­lig hin­ter ei­nem Wand­schirm tra­fen, über­rasch­te sie der Ba­ron je­doch und jag­te Can­di­de mit ei­nem wuch­ti­gen Tritt in den Hin­tern aus dem Schloss, was für Can­di­de der Ver­trei­bung aus ei­nem ir­di­schen Pa­ra­dies gleich­kam.

Da­bei soll­te dies ja nur sei­ne ers­te Er­fah­rung ei­ner Wirk­lich­keit sein, wie sie der Phi­lo­soph Pan­gloss nicht sah oder nicht se­hen woll­te.

Den An­fang ei­ner lan­gen Rei­he von Wirr­nis­sen und Aben­teu­ern voll Miss­ge­schi­cken, Un­g­lü­cken, Schre­cken und Grau­sam­kei­ten, die Can­di­de nun zu be­ste­hen hat­te, bil­de­te die wi­der sei­nen Wil­len er­folg­te An­wer­bung als Sol­dat des Kö­nigs der Bul­ga­ren.

Als Über­le­ben­der ei­ner Schlacht, in der etwa 30 000 Men­schen ihr Le­ben ver­lo­ren hat­ten, flüch­te­te er aus der kriegs­ver­seuch­ten Ge­gend nach Hol­land, da er ge­hört hat­te, dass dort alle Leu­te reich und christ­lich ge­sinnt sei­en. Aber erst ein Un­ge­tauf­ter, ein bra­ver Wie­der­täu­fer na­mens Jac­ques, er­barm­te sich sei­ner.

Ein kran­ker und ge­spens­ter­haft aus­se­hen­der Bett­ler, dem Can­di­de be­geg­ne­te und der trotz sei­ner schreck­li­chen Er­schei­nung mehr Mit­leid als Ab­scheu in ihm er­weck­te, ent­pupp­te sich als sein teu­rer Leh­rer Pan­gloss, der ihm nun er­zähl­te, dass bul­ga­ri­sche Sol­da­ten die gan­ze Fa­mi­lie des Ba­rons von Thun­der ten Tronck ge­tö­tet und das Schloss dem Erd­bo­den gleich­ge­macht hat­ten.

Der bra­ve Wie­der­täu­fer Jac­ques nahm auch Pan­gloss bei sich auf, und als ihn nach ei­ni­ger Zeit Han­dels­ge­schäf­te nach Lis­sa­bon führ­ten, nahm er Can­di­de und Pan­gloss auf sei­nem Schiff mit. Vor dem Ha­fen von Lis­sa­bon ge­ri­e­ten sie je­doch in ein fürch­ter­li­ches Un­wet­ter, in dem das Schiff un­ter­ging und der Wie­der­täu­fer Jac­ques er­trank.

Pan­gloss und Can­di­de er­reich­ten das Ufer und mach­ten sich zu Fuss auf den Weg nach Lis­sa­bon, aber als sie die Stadt er­reicht hat­ten, er­eig­ne­te sich ein Erd­be­ben, das die­se zu drei Vier­teln zer­stör­te.

Um die be­fürch­te­te voll­stän­di­ge Ver­nich­tung der Stadt zu ver­hin­dern, wur­de nun ein so­ge­nann­tes »Glau­bens­ge­richt« ver­an­stal­tet, das heisst ei­ni­ge will­kür­lich aus­ge­le­se­ne Men­schen wur­den ge­tö­tet, weil man glaub­te, da­durch Erd­be­ben ver­hin­dern zu kön­nen. Pan­gloss und Can­di­de be­fan­den sich na­tür­lich – wie man nach dem bis­he­ri­gen Ver­lauf der Ge­schich­te zu sa­gen ver­sucht ist – zu­fäl­lig auch bei die­sen Aus­er­le­se­nen, und wäh­rend Can­di­de aus­ge­peitscht wur­de, wur­de Pan­gloss ge­hängt.

Eine alte Frau, die Can­di­de wie­der ge­sund pfleg­te, führ­te ihn dar­auf­hin in ein Land­haus, wo er zu sei­nem Er­stau­nen sei­ne tot­ge­glaub­te, ge­lieb­te Ku­ni­gun­de wie­der­fand, die dort von ei­nem jü­di­schen Kauf­mann und dem Gros­sin­qui­si­tor ge­fan­gen ge­hal­ten wur­de.

Der Gros­sin­qui­si­tor, der als obers­ter Rich­ter der ka­tho­li­schen Kir­che da­für zu sor­gen hat­te, dass sich nie­mand ge­trau­te, den Glau­ben an die Kir­che zu un­ter­gra­ben, war es, wie sich nun her­ausstell­te, auch ge­we­sen, der nach dem Erd­be­ben auf die merk­wür­di­ge Idee mit dem Glau­bens­ge­richt ge­kom­men war. Er hat­te Ku­ni­gun­de zu die­sem »Schau­spiel« ein­ge­la­den, und die­se hat­te dort Pan­gloss und Can­di­de er­kannt und ih­rer al­ten Die­ne­rin den Auf­trag ge­ge­ben, sich um Can­di­de zu küm­mern und ihn zu ihr zu füh­ren.

Wäh­rend Can­di­de und Ku­ni­gun­de nun so bei­sam­men­sas­sen, be­trat plötz­lich der jü­di­sche Kauf­mann, der sich Ku­ni­gun­de mit dem Gros­sin­qui­si­tor tei­len muss­te, das Zim­mer, zog einen lan­gen Dolch und stürz­te sich auf Can­di­de, so dass die­sem nichts an­de­res üb­rig blieb, als sei­nen De­gen zu zie­hen und den jü­di­schen Kauf­mann zu tö­ten. Und das glei­che tat er dann auch mit dem kurz dar­auf eben­falls ins Zim­mer tre­ten­den Gros­sin­qui­si­tor.

Dann blieb un­se­rem ge­plag­ten Jüng­ling nichts mehr an­de­res üb­rig, als drei Pfer­de zu sat­teln und mit Ku­ni­gun­de und der Al­ten nach Cá­diz, ei­ner spa­ni­schen Ha­fen­stadt, zu flie­hen.

Da sie un­ter­wegs ih­res Gel­des be­raubt wur­den, liess sich Can­di­de in Cá­diz dann bei ei­ner Trup­pe, die auf­ge­stellt wur­de, um Je­su­i­ten­pa­tres in Pa­ra­gu­ay zurVer­nunft zu brin­gen, als Haupt­mann an­wer­ben und schiff­te sich mit Ku­ni­gun­de, der Al­ten und zwei Die­nern nach Süd­ame­ri­ka ein. Die Je­su­i­ten­pa­tres in Pa­ra­gu­ay wur­den be­schul­digt, einen Ein­ge­bo­re­nen-Stamm ge­gen die Kö­ni­ge von Spa­ni­en und Por­tu­gal auf­ge­wie­gelt zu ha­ben.

Als das Schiff in Bu­e­nos Ai­res ge­lan­det war, be­ga­ben sich Ku­ni­gun­de und der Haupt­mann Can­di­de zum Gou­ver­neur, um sich von ihm trau­en zu las­sen, was je­doch mit ei­ni­gen Schwie­rig­kei­ten ver­bun­den war, da der Gou­ver­neur so­fort sel­ber ein Auge auf die schö­ne Ku­ni­gun­de warf und die Ehe­schlies­sung hin­aus­zö­ger­te.

In­zwi­schen traf aber ein Schiff mit spa­ni­schen Ge­richts- und Po­li­zei­die­nern ein, die auf der Su­che nach dem Mör­der des Gros­sin­qui­si­tors wa­ren, so dass sich Can­di­de ge­zwun­gen sah, Ku­ni­gun­de zu ver­las­sen und mit ei­nem sei­ner Die­ner, der Ca­cam­bo hiess, er­neut die Flucht zu er­grei­fen.

Dank der Welt- und Men­schen­kennt­nis des Die­ners Ca­cam­bo fan­den die bei­den nun bei den Je­su­i­ten­pa­tres, die Can­di­de hät­te be­kämp­fen sol­len, Auf­nah­me, und im Kom­man­dan­ten der Pa­tres er­kann­te Can­di­de den eben­falls tot ge­glaub­ten Bru­der von Ku­ni­gun­de, den jun­gen Ba­ron von Thun­der ten Tronck.

Als Can­di­de dem jun­gen Ba­ron je­doch ver­kün­de­te, dass er des­sen Schwes­ter Ku­ni­gun­de hei­ra­ten wol­le, kam es zu ei­nem Hieb­wech­sel mit den De­gen, da der Ba­ron sich ge­gen die Hei­rat sei­ner Schwes­ter mit ei­nem Nicht­a­de­li­gen zur Wehr setz­te. Da­bei bohr­te Can­di­de dem Ba­ron sei­nen De­gen bis ans Heft in den Leib.

Wie­der muss­ten Can­di­de und sein Die­ner Ca­cam­bo die Flucht er­grei­fen, wo­bei sie in die Ge­fan­gen­schaft von Ein­ge­bo­re­nen ge­ri­e­ten, die »Ohr­lap­pen« ge­nannt wur­den und die nur der Um­stand, dass Ca­cam­bo sie da­von über­zeu­gen konn­te, dass Can­di­de und er kei­ne Je­su­i­ten wa­ren, da­von ab­hielt, die bei­den zu bra­ten und auf­zu­es­sen.

Wie­der in Frei­heit, ge­ri­e­ten die bei­den bei ih­rem Ver­such, in die Ha­fen­stadt Ca­yenne zu ge­lan­gen, dann mit ei­nem Boot, das sie mit Ko­kos­nüs­sen ge­füllt hat­ten, auf einen Fluss, der im­mer brei­ter wur­de und sich schliess­lich in ei­nem Fels­ge­wöl­be ver­lor, wo­bei das Was­ser im­mer schnel­ler da­hin­schoss.

Als sie nach vier­und­zwan­zig Stun­den end­lich das Ta­ges­licht wie­der er­blick­ten, zer­schell­te das Boot, und sie be­fan­den sich im sa­gen­haf­ten, von der Um­welt durch un­über­wind­ba­re Ge­birgs­zü­ge ab­ge­schlos­se­nen Gold­land El­do­ra­do, wo Can­di­de zum ers­ten Mal glü­ck­li­che und ver­nünf­tig le­ben­de Men­schen von ei­gen­ar­ti­ger Schön­heit traf, wel­che die bei­den mit ei­ner bis­her nir­gends an­ge­trof­fe­nen Gast­freund­schaft auf­nah­men.

In El­do­ra­do la­gen Gold­ku­geln, Sma­rag­de und Ru­bi­ne von den Men­schen un­be­ach­tet als Kie­sel auf der Stras­se her­um, und alle Wirts­häu­ser wur­den auf Staats­kos­ten un­ter­hal­ten. Al­les war vor­treff­lich ein­ge­rich­tet, und die Men­schen leb­ten fried­lich und glü­ck­lich mit­ein­an­der.

Nach ei­nem Mo­nat woll­te Can­di­de das schö­ne Land dann aber doch wie­der ver­las­sen, da er Sehn­sucht nach Fräu­lein Ku­ni­gun­de hat­te und hoff­te, dass es ihm nun, mit dem Reich­tum, den er aus El­do­ra­do mit­neh­men woll­te, bes­ser als bis­her er­ge­hen wür­de.

Ob­wohl ihn der Kö­nig da­vor warn­te, die­se Dumm­heit zu be­ge­hen, und ihm zu be­den­ken gab, dass man, wenn man ir­gend­wo leid­lich auf­ge­ho­ben sei, dort­blei­ben sol­le, liess er Can­di­de sei­nen Wil­len und be­auf­trag­te sei­ne Ma­schi­nen­bau­meis­ter, eine Ma­schi­ne zu kon­stru­ie­ren, wel­che die bei­den merk­wür­di­gen Män­ner be­quem aus dem Land hin­aus be­för­dern soll­te.

Zu­sam­men mit zwei gros­sen ro­ten Ham­meln, die ih­nen jen­seits der Ber­ge als Reit­tie­re die­nen soll­ten, zwan­zig Last­ham­meln, die mit Le­bens­mit­teln, dreis­sig an­de­ren, die mit kost­ba­ren Ge­schen­ken, und fünf­zig, die mit El­do­ra­do Kie­seln be­packt wa­ren, wur­den die bei­den dann mit der rie­si­gen Ma­schi­ne auf die Höhe des Ge­bir­ges ge­wun­den, und als sie si­cher ge­lan­det wa­ren, ver­ab­schie­de­ten sich die Tech­ni­ker von ih­nen, da sämt­li­che Be­woh­ner des Lan­des ge­lobt hat­ten, die­ses nie­mals zu ver­las­sen, und alle auch viel zu ver­stän­dig wa­ren, um ih­ren Eid zu bre­chen.

Als Can­di­de und Ca­cam­bo nach ei­ner Rei­se von hun­dert Ta­gen durch Sumpf, Wüs­te und Ge­bir­ge je­doch end­lich die Stadt Su­ri­nam er­reich­ten, die den Hol­län­dern ge­hör­te, be­sas­sen sie nur noch zwei von den Ham­meln, die mit Schät­zen be­la­den wa­ren, und Can­di­de be­auf­trag­te Ca­cam­bo mit Di­a­man­ten für etwa 6 Mil­li­o­nen in der Ta­sche nach Bu­e­nos Ai­res zu fah­ren, Ku­ni­gun­de dort, wenn nö­tig, vom Gou­ver­neur los­zu­kau­fen und nach Ve­ne­dig zu brin­gen, wo er, Can­di­de, die bei­den er­war­ten wür­de. Er selbst mach­te einen hol­län­di­schen Schiffs­herrn aus­fin­dig, der ihn nach Eu­r­o­pa zu­rück­brin­gen soll­te, aber als die­ser in See stach, be­fan­den sich wohl die bei­den Ham­mel Can­di­des mit ih­rem kost­ba­ren Ge­päck, nicht aber er selbst an Bord des Schif­fes.

Da Can­di­de nun nur noch ein Beu­tel mit Gold und Di­a­man­ten ge­blie­ben war, nahm er eine bil­li­ge Ka­jü­te auf ei­nem fran­zö­si­schen Schiff und such­te einen ehr­li­chen Men­schen als Rei­se­be­glei­ter, der je­doch die Vor­aus­set­zung er­fül­len soll­te, sei­nes Le­bens ganz und gar über­drüs­sig und der un­g­lü­ck­lichs­te Mensch des Lan­des zu sein. Aus den un­zäh­li­gen Be­wer­bern wähl­te Can­di­de schliess­lich einen be­tag­ten Ge­lehr­ten na­mens Mar­tin aus, da er hoff­te, dass die­ser ihm un­ter­wegs die Lan­ge­wei­le ver­trei­ben wür­de.

Auf dem Meer ge­lang­te Can­di­de dann un­ver­hofft wie­der in den Be­sitz ei­nes sei­ner ro­ten Ham­mel, als ein spa­ni­sches Schiff das­je­ni­ge ei­nes hol­län­di­schen See­räu­bers ver­senk­te und ne­ben dem fran­zö­si­schen Schiff, auf dem Can­di­de sich be­fand, plötz­lich et­was leuch­tend Ro­tes im Was­ser schwamm.

Von der fran­zö­si­schen Ha­fen­stadt Bor­deaux fuh­ren Can­di­de und Mar­tin nach der Haupt­stadt Pa­ris, wo Can­di­de sich von ver­schie­de­nen Gau­nern gros­se Geld­sum­men ab­knöp­fen liess. Zu­erst ge­ri­et der arme Can­di­de nach ei­nem leich­ten Un­wohl­sein in die Hän­de von geld­gie­ri­gen Ärz­ten, Bet­schwes­tern und Pfaf­fen, dann durch die Ver­mitt­lung ei­nes spitz­bü­bi­schen Ab­bés – ei­nes Pries­ters, der kei­ner Klos­ter­ge­mein­schaft an­ge­hör­te – in einen Kreis von Spie­lern und in die Fän­ge ei­ner be­trü­ge­ri­schen Le­be­da­me, und schliess­lich wur­de er das Op­fer von kor­rup­ten Po­li­zei­be­am­ten, die ihn je­doch ge­gen die Be­zah­lung ei­ner ent­spre­chend ho­hen Sum­me wie­der frei lies­sen.

Auf ei­nem klei­nen hol­län­di­schen Schiff, das nach dem eng­li­schen See­ha­fen Ports­mouth aus­lief, ge­lang­ten Can­di­de und Mar­tin dann vor die eng­li­sche Küs­te, wo sie Zeu­gen der Hin­rich­tung ei­nes eng­li­schen Ad­mi­rals wur­den, den vier Sol­da­ten auf dem Ver­deck ei­nes Schif­fes der eng­li­schen Flot­te er­schos­sen, weil er in ei­nem See­ge­fecht mit ei­nem fran­zö­si­schen Ad­mi­ral nicht ge­nug Leu­te hat­ten nie­der­met­zeln las­sen. Can­di­de setz­te dar­auf­hin kei­nen Fuss auf das eng­li­sche Fest­land und ver­ein­bar­te mit dem hol­län­di­schen Schiffs­pa­tron, ihn auf dem kür­zes­ten Weg nach Ve­ne­dig zu brin­gen, wo er Ca­cam­bo und sei­ne ge­lieb­te Ku­ni­gun­de wie­der­zu­se­hen hoff­te.

Da Ca­cam­bo und Ku­ni­gun­de dort aber noch nicht ein­ge­trof­fen wa­ren, ver­fiel Can­di­de in düs­te­re Schwer­mut, und als er ei­nes Ta­ges auf dem Markt­platz ei­nem glü­ck­lich aus­se­hen­den jun­gen Paar be­geg­ne­te, Schloss er mit Mar­tin eine Wet­te, in der er be­haup­te­te, die bei­den sei­en auch glü­ck­lich. Mar­tin ver­trat da­ge­gen die Mei­nung, die bei­den sei­en nicht glü­ck­lich.

Bei ei­nem ge­mein­sa­men Es­sen stell­te sich nun her­aus, dass es sich bei dem jun­gen Mäd­chen um eine ehe­ma­li­ge Kam­mer­zo­fe der Ba­ro­nin von Thun­der ten Tronck han­del­te, wel­che die Ge­lieb­te des Haus­leh­rers Pan­gloss ge­we­sen war und jetzt den Be­ruf ei­nes Freu­den­mäd­chens aus­üben muss­te, und dass der jun­ge Mann ein Mönch war, der das Klos­ter­le­ben zu­tiefst ver­wünsch­te, so dass Can­di­de sei­ne Wet­te also ver­lo­ren hat­te. Als Can­di­de den bei­den dar­auf­hin Geld gab, da­mit sie glü­ck­lich wür­den, mein­te Mar­tin, dass er sie da­mit viel­leicht nur noch un­g­lü­ck­li­cher ma­che.

Can­di­de und Mar­tin be­such­ten dann noch den Se­na­tor Po­co­cu­ran­te, einen ve­ne­zi­a­ni­schen Edel­mann, von dem man be­haup­te­te, er ken­ne kei­ne Sor­gen, und be­wun­der­ten des­sen Pa­last, sei­ne Ge­mäl­des­amm­lung und die Schön­heit und An­mut sei­ner Die­ne­rin­nen. Sie wa­ren ent­zückt von ei­nem Kon­zert, das er ge­ben liess, nah­men ein aus­ge­zeich­ne­tes Mahl zu sich und be­staun­ten sei­ne Bi­blio­thek und die kunst­voll an­ge­leg­ten Gär­ten. Am Schluss ih­res Be­su­ches muss­ten sie je­doch fest­stel­len, dass der Se­na­tor nur ein Ver­gnü­gen zu ha­ben schien, und das war das selt­sa­me Ver­gnü­gen, kein Ver­gnü­gen zu ha­ben.

Bei ei­nem Abend­es­sen, das Can­di­de und Mar­tin zu­sam­men mit sechs Aus­län­dern ein­nah­men, ga­ben sich die­se alle als ent­thron­te Kö­ni­ge zu er­ken­nen, die nun ein eher arm­se­li­ges und trau­ri­ges Da­sein führ­ten, und Can­di­de fand ganz un­ver­hofft sei­nen Die­ner Ca­cam­bo als Skla­ven ei­nes die­ser Her­ren wie­der. Ca­cam­bo er­reich­te nun bei sei­nem neu­en Herrn, dem ehe­ma­li­gen Gross­sul­tan Ach­med III., dass Can­di­de und Mar­tin auf dem tür­ki­schen Schiff, das die­sen nach Kon­stan­ti­no­pel zu­rück­brach­te, mit­fah­ren durf­ten, und er zähl­te Can­di­de, wie es ihm er­gan­gen war.

Der Gou­ver­neur von Bu­e­nos Ai­res hat­te Ku­ni­gun­de für zwei Mil­li­o­nen frei­ge­ge­ben, aber dann wa­ren Ku­ni­gun­de, die Alte und Ca­cam­bo in die Hän­de ei­nes Pi­ra­ten ge­fal­len, der sie in der Tür­kei als Skla­ven ver­kauft hat­te. Ku­ni­gun­de und die Alte wa­ren Dienst­mäg­de bei ei­nem al­ten Fürs­ten ge­wor­den, und Ku­ni­gun­de hat­te ihre gan­ze Schön­heit ver­lo­ren und war nun ent­setz­lich häss­lich.

Trotz die­ser Nach­richt hielt es Can­di­de für sei­ne Pflicht als Eh­ren­mann, Ku­ni­gun­de in alle Ewig­keit zu lie­ben, und kauf­te Ca­cam­bo aus sei­ner Skla­ve­rei los.

Auf ei­ner Ga­lee­re, die Mar­tin, Can­di­de und Ca­cam­bo zu dem al­ten Fürs­ten brin­gen soll­te, bei dem sich Ku­ni­gun­de be­fand, kauf­te Can­di­de noch zwei Sträf­lin­ge un­ter den Ga­lee­ren­skla­ven frei, da ei­ner von ih­nen – wer hät­te das er­war­tet – der tot­ge­glaub­te Pan­gloss und der an­de­re der eben­falls tot­ge­glaub­te Je­su­i­ten­ba­ron und Bru­der von Ku­ni­gun­de war.

Pan­gloss war da­mals in Lis­sa­bon am Le­ben ge­blie­ben, weil sich der Strick, mit dem er ge­hängt wur­de, ver­kno­tet hat­te, und dem jun­gen Ba­ron hat­te ein Apo­the­ker in Pa­ra­gu­ay die Wun­den, die Can­di­des De­gen hin­ter­las­sen hat­te, ge­heilt. Eine Fol­ge von un­g­lü­ck­li­chen Er­eig­nis­sen hat­te dann dazu ge­führt, dass die bei­den in Kon­stan­ti­no­pel zum Ga­lee­ren­dienst ver­ur­teilt und an die­sel­be Ru­der­bank ge­ket­tet wor­den wa­ren.

Zu­sam­men be­ga­ben sich nun alle – Mar­tin, Ca­cam­bo, Pan­gloss, der Ba­ron und Can­di­de –- zu dem al­ten Fürs­ten, wo Can­di­de, trotz sei­nes Er­schre­ckens über das Aus­se­hen Ku­ni­gun­des, die­se und die Alte los­kauf­te.

Die Alte mach­te Can­di­de dar­auf­hin den Vor­schlag, einen klei­nen Bau­ern­hof in der Nach­bar­schaft zu pach­ten, bis sich ihre Lage wie­der güns­ti­ger ge­stal­ten wür­de, und als Ku­ni­gun­de Can­di­de in sehr be­stimm­tem Ton an sein Hei­rats­ver­spre­chen er­in­ner­te, wag­te die­ser nicht zu wi­der­spre­chen. Dass der Ba­ron wie­der dar­auf be­harr­te, dass nur ein deut­scher Reichs­ba­ron sei­ne Schwes­ter hei­ra­ten wer­de, be­wirk­te dies­mal nur, dass Can­di­de, der im Grun­de sei­nes Her­zens nicht die ge­rings­te Lust ver­spür­te, Ku­ni­gun­de zu hei­ra­ten, auf sei­nem Ent­schluss be­stand und den wi­der­spens­ti­gen Ba­ron, auf den Rat Ca­cam­bos hin, wie­der dem Ga­lee­ren­füh­rer überg­ab.

Ob­wohl er nun sein Ziel er­reicht hat­te und end­lich mit sei­ner Ge­lieb­ten ver­eint war, konn­te Can­di­de aber im­mer noch kein an­ge­neh­mes Le­ben füh­ren, da ihm nur der klei­ne Bau­ern­hof ge­blie­ben war, auf dem zu le­ben es we­der Ku­ni­gun­de, noch der Al­ten, noch Ca­cam­bo und Pan­gloss ge­fiel. Ein­zig Mar­tin war über­zeugt da­von, dass es ihm über­all gleich schlecht gin­ge, und liess al­les ge­dul­dig über sich er­ge­hen.

Ei­nes Ta­ges er­schie­nen zu­dem noch die ehe­ma­li­ge Kam­mer­zo­fe der Ba­ro­nin von Thun­der ten Tronck und der Mönch, de­nen Can­di­de in Ve­ne­dig Geld ge­ge­ben hat­te, auf dem Hof, die jetzt, wie Mar­tin vor­aus­ge­sagt hat­te, noch un­g­lü­ck­li­cher als zu­vor wa­ren.

Auch ein be­rühm­ter Der­wisch, der in der Nähe wohn­te und der bes­te Phi­lo­soph der Tür­kei hät­te sein sol­len, konn­te Can­di­de und sei­nen Freun­den kei­nen Rat ge­ben, was sie tun soll­ten, da­mit es ih­nen bes­ser gin­ge.

Erst die Be­geg­nung mit ei­nem al­ten Bau­ern, der sie auf dem Rü­ck­weg von ih­rem Be­such beim Der­wisch in sein Haus ein­lud, be­wirk­te, dass sie sich auf eine Ab­sicht ei­ni­gen konn­ten. Der Bau­er, der zu­sam­men mit sei­nen Kin­dern auch nur einen klei­nen Hof und kein gros­ses und herr­li­ches Gut be­bau­te, dem es aber trotz­dem gut zu ge­hen schien, gab ih­nen näm­lich zu ver­ste­hen, dass es die Ar­beit sei, die drei gros­se Übel von ih­nen fern­hal­ten wer­de: die Lan­ge­wei­le, das Las­ter und die Not.

Und so be­schlos­sen denn auch Can­di­de und sei­ne Freun­de nun, zu ar­bei­ten, ohne viel zu grü­beln – da dies, wie Mar­tin sag­te, das ein­zi­ge Mit­tel sei, um das Le­ben er­träg­li­cher zu ma­chen. Nur dem un­ver­bes­ser­li­chen Pan­gloss lag trotz des recht an­ge­neh­men Le­bens, das sie jetzt führ­ten, und trotz al­lem, was je­der von ih­nen durch­ge­macht hat­te, im­mer noch dar­an, dar­zu­le­gen, wie in die­ser bes­ten al­ler Wel­ten al­les mit­ein­an­der ver­knüpft sei und wie sie jetzt nicht die­ses Le­ben füh­ren wür­den, wenn sie nicht all das durch­ge­macht hät­ten, was sie durch­ge­macht hat­ten.

Aber je­des Mal, wenn Pan­gloss da­von an­fing, sag­te Can­di­de zu ihm: »Sehr rich­tig, aber wir müs­sen un­se­ren Gar­ten be­stel­len.«

Als ich die Ge­schich­te von Can­di­de ge­le­sen hat­te, ver­spür­te ich eine gros­se Lust, ih­rem Ver­fas­ser einen Brief zu schrei­ben, und da ich der An­sicht bin, dass man das, wozu man Lust hat, wenn mög­lich auch tun soll, habe ich mich hin­ge­setzt und fol­gen­den Brief ge­schrie­ben:

AMon­sieur de Vol­taireChâteau Fer­neyA Fer­ney-Vol­taireFran­ce

Hoch­ver­ehr­ter Mon­sieur de Vol­taire, mit gros­sem Ver­gnü­gen habe ich Ih­ren Ro­man »Can­di­de« ge­le­sen und er­lau­be mir, Ih­nen hier­mit mei­nen Dank da­für aus­zu­spre­chen – sind doch, wie mir scheint, ge­ra­de die Din­ge, die ei­nem ein wirk­li­ches Ver­gnü­gen be­rei­ten kön­nen, in Ge­fahr, als un­we­sent­lich an­ge­se­hen zu wer­den und im­mer mehr in eine schein­bar ohne wei­te­res als zu ver­nach­läs­si­gen­de Min­der­heit ge­drängt zu wer­den.

Ich gebe zu, dass dies et­was pes­si­mis­tisch klingt und den Men­schen im Ge­brauch ih­rer Ver­nunft im­mer noch kein be­son­ders gu­tes Zeug­nis ausstellt – aber ich glau­be mich da in ei­ner ähn­li­chen Lage wie Ihr Can­di­de zu be­fin­den, der trotz der ge­gen­tei­li­gen Be­teu­e­run­gen sei­nes ihn an­fäng­lich stark be­ein­dru­cken­den Leh­rers Pan­gloss im­mer wie­der am ei­ge­nen Leib har er­fah­ren müs­sen, dass es bei den Men­schen mit dem Ge­brauch ih­rer Ver­nunft nicht auf das bes­te be­stellt ist und dass auch die Welt für das Le­ben der Men­schen auf ihr nicht auf das bes­te ein­ge­rich­tet ist.

Und wenn ich es rich­tig sehe, ist ja auch die Ein­stel­lung des Ver­fas­sers des »Can­di­de« – trotz des zwei­ten Teils des Ti­tels, wel­cher »oder der Op­ti­mis­mus« lau­tet – nicht eine durch­wegs op­ti­mis­ti­sche, son­dern wohl höchs­tens eine in ih­rem Op­ti­mis­mus im­mer wie­der von den we­nig er­freu­li­chen Er­fah­run­gen mit der Wirk­lich­keit be­trof­fe­ne – wenn es ihm nicht so­gar dar­um ge­gan­gen sein könn­te, sich über die im zwei­ten Teil des Ti­tels ge­nann­te und in der Ge­schich­te sel­ber von Pan­gloss ver­kör­per­te Ein­stel­lung auf eine mehr oder we­ni­ger ver­steck­te Art zu mo­kie­ren und sie so in ein an­ge­mes­se­nes Ver­hält­nis zur Wirk­lich­keit zu brin­gen.

Ich weiss, ver­ehr­ter Mon­sieur de Vol­taire, dass es auch in Ih­rem Le­ben Din­ge und Er­eig­nis­se ge­ge­ben hat, die nicht Ih­ren Vor­stel­lun­gen von dem, was hät­te sein oder wer­den sol­len, ent­spro­chen ha­ben, und ich ver­mu­te, dass ei­ni­ge von die­sen Sie doch auch zu ei­ner eher pes­si­mis­ti­schen Hal­tung ge­zwun­gen ha­ben.

Bit­te kor­ri­gie­ren Sie mich, wenn dies zum Bei­spiel für das Erd­be­ben von Lis­sa­bon im Jah­re 1755 nicht der Fall war, das mich in die­sem Zu­sam­men­hang be­son­ders in­ter­es­siert und das ja auch in Can­di­des Ge­schich­te eine wich­ti­ge Rol­le spielt.

Es scheint mir, dass ge­ra­de die­ses Er­eig­nis die Ge­mü­ter der Men­schen in der da­ma­li­gen Zeit über die Mas­sen er­regt hat, da sich in ihm mit ei­nem Mal et­was an­ge­mel­det hat, das bis­her in der Dis­kus­si­on nicht oder nur un­ge­nü­gend, mit der lin­ken Hand so­zu­sa­gen, be­han­delt wor­den ist.

Wenn ich mir er­lau­ben darf, die mei­ner An­sicht nach da­mals ver­tre­te­nen An­schau­un­gen als zwei Grund­ten­den­zen zu cha­rak­te­ri­sie­ren, so fällt eine von ih­nen, wenn Sie nichts da­ge­gen ha­ben, mit Ih­rer Po­si­ti­on, und die an­de­re, wenn Sie es mir ver­zei­hen wol­len, mit der­je­ni­gen, die der von Ih­nen we­nig ge­schätz­te Jean-Jac­ques Rous­seau ein­ge­nom­men hat, zu­sam­men.

Ihre Po­si­ti­on, ver­ehr­ter Mon­sieur de Vol­taire, wür­de ich da­bei – kurz ge­sagt – da­durch kenn­zeich­nen, dass Sie sich für eine ver­mehr­te Wir­kung der mensch­li­chen Ver­nunft ein­ge­setzt ha­ben, in der Hoff­nung, dass sich durch die Ver­ed­lung und Ver­fei­ne­rung der For­men des mensch­li­chen Zu­sam­men­le­bens auf der Welt, auf der wir nun ein­mal zu le­ben ha­ben, ein Reich der Ver­nunft und der Ge­rech­tig­keit ver­wirk­li­chen las­sen wür­de – wäh­rend ich die An­sicht des »ar­men Jean-Jac­ques« in der For­mel zu­sam­men­zu­fas­senver­su­chen wür­de, dass er als Ver­fech­ter der ur­sprüng­li­chen Güte des Men­schen die An­sicht ver­trat, dass der Mensch erst durch die Bil­dung und Ver­ed­lung und Ver­fei­ne­rung der Le­bens­for­men ver­dor­ben wor­den sei.

Sie, ver­ehr­ter Mon­sieur de Vol­taire, ha­ben also im gros­sen Gan­zen ge­se­hen eine eher op­ti­mis­ti­sche Hal­tung und der »arme Jean-Jac­ques« hat eine eher pes­si­mis­ti­sche Hal­tung ein­ge­nom­men.

Aber wenn ich es rich­tig sehe, so ha­ben Sie, der so­ge­nann­te Athe­ist, an­läss­lich des Erd­be­bens von Lis­sa­bon plötz­lich die An­sicht ver­tre­ten, dass für die ent­setz­li­che Ka­ta­s­tro­phe, die eine für die da­ma­li­gen Ver­hält­nis­se furcht­bar gros­se Zahl von 30 000 To­des­op­fern for­der­te, der Gott ver­ant­wort­lich zu ma­chen sei. Nicht, dass er das Erd­be­ben wil­lent­lich her­bei­ge­führt, aber dass er es nicht ver­hin­dert habe.

Sie, der Sie bis an­hin und auch spä­ter im­mer wie­der eine auf die mensch­li­che Ver­nunft bau­en­de op­ti­mis­ti­sche An­sicht ver­tre­ten und sich in Ih­rer Vor­stel­lung von Gott im­mer et­was zu­rück­ge­hal­ten ha­ben, neh­men an­ge­sichts der Na­tur­ka­ta­s­tro­phe von Lis­sa­bon und in Be­zug auf die Be­schaf­fen­heit des Got­tes plötz­lich eine pes­si­mis­ti­sche Hal­tung ein.

Der »arme Jean-Jac­ques Rous­seau«, der so­ge­nann­te De­ist, des­sen Wer­ke Sie ziem­lich un­gnä­dig auf­ge­nom­men ha­ben, und der dar­un­ter ge­lit­ten hat, nicht eben­so er­folg­reich zu sein wie Sie, hat sich hin­ge­gen merk­wür­di­ger­wei­se be­müht, der Un­ver­nunft der Men­schen die Schuld für die gros­se Zahl der Op­fer in die Schu­he zu schie­ben – weil sie, die Men­schen, ja auf die Idee ge­kom­men sei­en, aus­ge­rech­net an die­ser Stel­le 20 000 sechs bis sie­ben Stock hohe Häu­ser auf­zu­stel­len –, und er hat den Gott – der es schon gut ge­meint habe – ver­tei­digt. So, dass der »arme Jean-Jac­ques« in die­ser Sa­che also plötz­lich eine op­ti­mis­ti­sche Hal­tung ein­ge­nom­men hat – ob­wohl er na­tür­lich nie in dem Sinn, wie Sie es zu­nächst wa­ren, ein auf die mensch­li­che Ver­nunft bau­en der Ra­ti­o­na­list ge­wor­den ist.

Sie ha­ben da­mals das »Poem über die Zer­stö­rung Lis­sa­b­ons« ge­schrie­ben und die­ses zu­sam­men mit ei­nem an­de­ren Ge­dicht auch Rous­seau zu­kom­men las­sen, den die­se Eh­rung je­doch mehr er­bost, als dass sie ihm ge­schmei­chelt hat, und er hat Ih­nen dar­auf­hin je­nen be­rühm­ten Brief ge­schrie­ben, in dem er – auf eine recht un­ge­schick­te Wei­se, wenn ich mir die­se Be­mer­kung er­lau­ben darf – eben den Gott rein­ge­wa­schen und den Men­schen und den zwei­fel­haf­ten Er­run­gen­schaf­ten des zi­vi­li­sa­to­ri­schen Fort­s­chritts die Ver­ant­wor­tung und die Schuld für den Tod so vie­ler Men­schen ge­ge­ben hat.

Dass Rous­seau da­durch zum Op­ti­mis­ten ge­wor­den ist, kann man na­tür­lich nicht sa­gen, aber die op­ti­mis­ti­sche Sei­te in ihm, die si­cher da war, wenn er an­nahm, dass der Mensch von Na­tur aus gut sei, hat sich durch die Aus­ein­an­der­set­zung mit Ih­nen, wie mir scheint, doch noch ver­stärkt.

Dass es bei die­ser Aus­ein­an­der­set­zung an­de­rer­seits aber auch um Per­sön­li­ches ge­gan­gen ist, kann nicht be­zwei­felt wer­den – schrieb Rous­seau Ih­nen in sei­nem Brief doch auch: »Ge­sät­tigt mit Ruhm le­ben Sie frei im Schos­se des Über­flus­ses; Ih­rer Un­s­terb­lich­keit ganz ge­wiss, phi­lo­so­phie­ren Sie ru­hig über die Na­tur der See­le; wenn der Kör­per oder das Herz lei­det, ha­ben Sie Tron­chin zum Arzt und Freund – und trotz­dem fin­den Sie al­les schlecht auf der Erde. Und ich, der un­be­kann­te, arme und von ei­nem un­heil­ba­ren Übel ge­plag­te Mensch den­ke in mei­ner Ein­sam­keit mit Ver­gnü­gen nach und fin­de, dass al­les gut ist. Wo­her kom­men die­se schein­ba­ren Wi­der­sprü­che? Sie ha­ben das selbst er­klärt: Sie ge­ni­es­sen, aber ich hof­fe, und die Hoff­nung ver­schö­nert al­les.«

Nach­dem Ih­nen Rous­seau dann, als Sie auf Ih­rem Land­gut Fer­ney ein Pri­vat­the­a­ter für sich hat­ten er­rich­ten las­sen, in ei­nem wei­te­ren Brief noch schrieb, Sie hät­ten Genf ins Ver­der­ben ge­stürzt und er has­se Sie, ha­ben Sie in ei­nem Brief an d’Alem­bert er­klärt, Rous­seau sei völ­lig wahn­sin­nig ge­wor­den, und sind nicht mehr von der Über­zeu­gung ab­zu­brin­gen ge­we­sen, dass Rous­seau ein be­mit­lei­dens­wer­ter und zu­dem ge­fähr­li­cher Narr sei.

Bit­te ver­zei­hen Sie mir, ver­ehr­ter Mon­sieur de Vol­taire, wenn ich Ih­nen vom heu­ti­gen Stand­punkt, vom Stand­punkt der heu­ti­gen na­tur­wis­sen­schaft­li­chen For­schung und der heu­ti­gen, im­mer mehr ins all­ge­mei­ne Be­wusst­sein drin­gen­den Kennt­nis der Na­tur­ge­set­ze aus – ob­wohl ich vol­les Ver­ständ­nis für Ihre Sicht der Din­ge habe und auch je län­ger je mehr Ver­ständ­nis für ihre Hal­tung dem ar­men Jean-Jac­ques ge­gen­über auf­brin­gen kann –, was Ihre Be­ur­tei­lung des Erd­be­bens von Lis­sa­bon be­trifft, nicht mehr zu­stim­men kann, und zwar so we­nig wie ich es Rous­seaus Be­ur­tei­lung ge­gen­über tun kann – was aber al­les an­de­re als ein Vor­wurf sein soll.

Ich glau­be, dass Sie und Ihre Zeit­ge­nos­sen da­mals ein­fach nicht das Ver­mö­gen be­ses­sen ha­ben, die Na­tur und ihre Rol­le im Le­ben der Men­schen zu se­hen, da man, was das be­traf, zu Ih­rer Zeit ent­we­der ge­sagt hat, »es« ist mit der mensch­li­chen Ver­nunft nicht fass­bar, oder »es« ist Got­tes Gna­de, oder »es« ist des Teu­fels – Sie wis­sen si­cher bes­ser als ich, was da noch al­les ge­sagt wor­den ist.

Ich hof­fe, dass Sie mir we­gen die­ser mei­ner Mei­nung aus ei­ner spä­te­ren Zeit nicht böse sind – was ich an­ge­sichts Ih­res le­bens­lan­gen Kamp­fes für Duld­sam­keit, Nach­sicht und Ver­söhn­lich­keit ei­gent­lich als eine un­be­grün­de­te und ge­gen­stands­lo­se Be­fürch­tung an­se­he – und dass Sie auch nichts da­ge­gen ha­ben, wenn ich mei­ne, dass ei­nem von heu­te aus ge­se­hen nichts an­de­res üb­rig­bleibt als zu sa­gen, dass die Na­tur eine nach ei­ge­nen Ge­set­zen funk­tio­nie­ren­de Le­bens­grund­la­ge für uns Men­schen ist, und dass ein Er­eig­nis wie das Erd­be­ben von Lis­sa­bon im Jah­re 1755 halt in Got­tes Na­men – wenn es ihn gibt, und auch wenn es ihn nicht gibt – nichts an­de­res als ein Zu­fall, wenn viel­leicht auch ein na­tur­not­wen­di­ger, sein kann, den man – ob man will oder nicht und im vol­len Be­wusst­sein der vor­läu­fig im­mer noch be­ste­hen­den mensch­li­chen Ohn­macht sol­chen Na­tur­ka­ta­s­tro­phen ge­gen­über – auch als sol­chen, der mensch­li­chen Ein­wir­kung höchst­wahr­schein­lich noch für län­ge­re Zeit ent­zo­ge­nen Zu­fall eben, hin­zu­neh­men hat.

Ob­wohl der Mensch die Ei­gen­ge­setz­lich­keit der Na­tur er for­schen und zu be­herr­schen ver­su­chen kann und da­bei, wie ich schon an­ge­tönt habe, in­ner­halb kür­zes­ter Zeit auch be­reits enor­me Fort­s­chrit­te ge­macht hat, so dass ihm ei­ni­ge von ih­nen schon sel­ber un­heim­lich sind, glau­be ich nicht, dass er da­bei ein­mal über ge­wis­se Gren­zen hin­aus­kom­men wird, da er ja sel­ber ein Be­stand­teil die­ser Na­tur ist, der nur durch sei­nen Geist die üb­ri­ge Na­tur und auch sich sel­ber er­for­schen und be­ein­flus­sen kann, dem es aber trotz al­ler Be­ein­flus­sung der Na­tur und ih­rer Ge­set­ze nicht ge­lingt, sich von ihr los­zu­lö­sen und sie voll­stän­dig zu be­herr­schen – es sei denn, es wür­de ihm ge­lin­gen, auch sich sel­ber voll­stän­dig zu be­herr­schen und das Band des To­des, das ihn mit der Na­tur ver­bin­det und im­mer wie­der in ihre Ei­gen­ge­setz­lich­keit zu­rück­holt, zu zer­schnei­den.

Das heisst je­doch nicht, dass ich nicht auch Ih­rer An­sicht bin und nicht auch fin­de, dass die For­men des mensch­li­chen Zu­sam­men­le­bens und die dazu not­wen­di­gen Ein­rich­tun­gen der mensch­li­chen Ver­nunft un­ter­wor­fen sein soll­ten, die, wie mir scheint, doch dazu da ist, uns zu er­mög­li­chen, dass wir uns in die­ser Welt, so wie sie ist – und sie ist ja schon an sich nicht be­son­ders le­bens­freund­lich ein­ge­stellt –, ei­ni­ger­mas­sen zu­recht­fin­den und eine ei­ni­ger­mas­sen an­stän­di­ge Le­bens­zeit auf ihr ver­brin­gen kön­nen.

Wenn es denn also heu­te zum Bei­spiel in Chi­na zu ei­ner Hun­ger­ka­ta­s­tro­phe käme, so wür­de ich da na­tür­lich nicht sa­gen, dass das auch ein Zu­fall sei.

Was bei Ih­nen, ver­ehr­ter Mon­sieur de Vol­taire, noch ein Erd­be­ben von Lis­sa­bon be­wir­ken muss­te – dass sich Ihre op­ti­mis­ti­sche Grund­hal­tung näm­lich in eine pes­si­mis­ti­sche ver­wan­del­te –, das kann heu­te schon das Le­sen von Zei­tun­gen und das Hö­ren und Se­hen von Nach­rich­ten be­wir­ken.

Wenn Sie – vor dem Erd­be­ben von Lis­sa­bon – noch ein vol­les Ver­trau­en in die mensch­li­che Ver­nunft ha­ben konn­ten, so ist das nach dem, was seit­her auf der Welt ge­sche­hen ist, und nach den Er­fah­run­gen, wie der Name »mensch­li­che Ver­nunft« als Deck­man­tel für jed­wel­che Un­ta­ten be­nutzt wer­den kann, heu­te kaum mehr mög­lich, ob­wohl in ihr, der wirk­lich mensch­li­chen Ver­nunft, auch heu­te noch un­se­re ein­zi­ge Chan­ce lie­gen mag.

---ENDE DER LESEPROBE---