6,99 €
Der Erzählband ist das Erstlingswerk von E. Y. Meyer. Sieben Geschichten, wie sie die Angst schreibt. Erzählungen, die mit der schlimmstmöglichen Wendung enden. Mit Chaos, Irrealität, Dämonie, Schrecken, Grauen, Tod, Irrsinn. Stoisch, aber präzis, werden unscheinbare Situationen beschrieben, in denen sich Personen durch Krankheit, durch einen verlassenen Ort oder durch einen einsamen Weg etwas ausserhalb der alltäglichen Vertrautheit bewegen. Diese minimale Abweichung genügt, und das Gewohnte wird bedrohlich, gefahrvoll. Selbst realistische Details wirken nun wie Elemente eines surrealen Arrangements. Wir Leser werden mit einer Prosa verwöhnt, wie sie kaum ein Schweizer je so artifiziell und hochliterarisch komponiert hat.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2021
E.Y.MEYER
Ein Reisender inSachen Umsturz
Roman
Erstmals erschienen 1972
Überarbeitet 1983
© 2021 E.Y.MEYER
eymeyer.ch
Cover:
Bronzekopf des Autors
Geschaffen 1997 von PAN YI QUINAcademy of Arts & Design
Tsing Hua UniversityBei Jing, China
Kapitel
Dünnerwerdende Äste
Inselgeschichte
Hauptgebäude des ehemaligen Klosters St. Katharinenthal
GEMD-SCHULH 1834
Der oberste Tag
Neuyork
Ein Reisender in Sachen Umsturz
FürMarcel Reich-Ranicki
Dünnerwerdende Äste
Gegen Viertel vor elf hatte er bemerkt, dass sich nicht mehr nur der Italiener, sondern auch der Wirt selber hinter dem Ausschanktisch befunden und die Getränke bereitzustellen geholfen hatte, jedoch nicht, wie sonst, bereits angeheitert gewesen war, sondern auffallend frisch und gelöst gewirkt hatte.
Kurz darauf hatte der Gast, der zwischen seinem Freund und dem Ausschanktisch gesessen war, versehentlich sein noch fast volles Glas Wein umgeworfen, sich jedoch weder um den Wein auf der Tischplatte noch um jenen auf seinem Anzug besonders gekümmert, sondern sich an den Wirt dieses, wie er gesagt hatte, Teesalons gewandt und ihn gefragt, was es bei ihnen (was entweder als die übliche Höflichkeitsform oder als die Anrede für den Wirt und dessen in der Bedienung aushelfende Frau hätte ausgelegt werden können) gebe, wenn Gäste ihren Wein ausleerten – ob ihnen dieser nicht ersetzt werde –, worauf der Wirt geantwortet hatte, dass dies nicht der Fall sei, dann gebe es im Gegenteil Schläge. Sie (womit er, der Wirt, in der gleich zweideutigen Art wie der Gast entweder seine Frau und sich oder die Wirtsleute überhaupt hätte gemeint haben können) wüssten, was sie ihren Gästen schuldig seien.
Da der Gast diese Antwort unerwidert gelassen und bei der Serviertochter – die inzwischen mit einem Lappen an den Tisch getreten war, um den ausgeleerten Wein aufzuputzen – ein weiteres Glas bestellt hatte, hatte sein in dem Lokal gut bekannt scheinender Freund dem Wirt einen Guten Abend gewünscht und ihn gefragt, wo er denn bis jetzt gewesen sei, dass er sich in einer so guten Laune befinde, worauf dieser erwidert hatte, er sei oben gewesen und habe sich ans Piano gesetzt gehabt, um etwas zu üben. Was das gewesen war, hatte er allerdings nicht verraten wollen – er habe eben nur ein bisschen geübt.
Aber als sein Freund nicht aufgehört hatte, den Wirt immer wieder auf verschiedene Weise danach zu fragen, hatte dieser gesagt, dass er die Zweite Ungarische von Liszt geübt habe, wenn sie (seinen Freund und ihn, der ebenfalls den Wirt angeschaut hatte, damit meinend) es wissen wollten, daneben aber auch noch andere, leichtere Sachen (was seinen Freund anscheinend nicht so sehr, ihn jedoch ziemlich stark überrascht hatte). Damit es nicht so auffalle, wenn er jetzt dann Polizeistunde bieten müsse, habe er aber gedacht, dass es gescheiter sei, wenn er etwas vor diesem Zeitpunkt herunterkomme, hatte der Wirt dann noch gesagt – überhaupt sei die Polizeistunde ja eigentlich nicht, wie sie wahrscheinlich alle meinten, um halb zwölf, sondern bereits um elf Uhr, aber die Polizei gewähre von sich aus grosszügigerweise zusätzlich noch eine halbe Stunde Toleranz, damit man in aller Ruhe noch etwas bestellen, es austrinken und bezahlen könne. Das sei lange nicht überall so, in Basel zum Beispiel betrage die Toleranz nur eine Viertelstunde, und wer sich dann noch in einem Lokal befinde, tue dies auf seine eigene Verantwortung hin – sofern der Wirt des betreffenden Lokals seine Pflicht getan und für jeden Gast hörbar mitgeteilt habe, wann Polizeistunde sei. Aber es sei jedem Wirt trotzdem lieber, wenn er nachher und überhaupt keinen Besuch von Polizeibeamten habe- jedenfalls nicht, wenn sie sich im Dienst befänden.
Fast die Hälfte der Leute, die sich in dem Lokal aufgehalten gehabt hatten, waren jedoch nach halb zwölf noch auf dem Platz davor stehengeblieben – wahrscheinlich in der Erwartung, dass noch irgendetwas geschehen würde, dass jemand vielleicht noch alle zusammen zu einem spontan organisierten Fest bei sich zu Hause einladen würde, wo es dann noch zu den irrsten Sachen würde kommen können.
Später, als das alles aber immer aussichtsloser wurde, zerstreuten sie sich nach und nach, bis nur noch sein Freund und er dastanden und von den Bierflaschen, die sein Freund noch vor der Polizeistunde vom Wirt persönlich zum Mitnehmen gekauft hatte, sogar nur noch eine übriggeblieben war.
Als dann auch sie, sein Freund und er, nachdem sie diese letzte Flasche zusammen leergetrunken und auf den Sims vor eines der Fenster des Lokals gestellt hatten, sich auf den Heimweg machen wollten – indem sie langsam die durch die Stadt führende Durchgangsstrasse, an der das Lokal lag, entlanggingen –, sahen sie, kaum waren sie einige Häuser weit gegangen, vielleicht hundert Meter vor sich mitten auf der Strasse einen aussergewöhnlich grossen Mann (er erinnerte sich nicht, je einen grösseren Mann gesehen zu haben) in einem ebenso auffallenden komischen Gang auf sich zukommen, so dass sie, obwohl er zuerst geglaubt hatte, der Mann trage die Uniform eines Polizisten, beide zu lachen begannen (sein Freund schien sich von dem Lachen gar nicht mehr erholen zu können) – was den grossen Mann, der inzwischen näher gekommen und auf ihrer Höhe stehengeblieben war, jedoch nicht zu stören schien, denn er fing nun, es hätte sein können, weil er sich in Hörweite zu ihnen befand, an, immer wieder ziemlich mühsam, jedoch ohne deswegen nervös zu werden, ein ganz bestimmtes, ihnen aber, obwohl auch sein Freund aufgehört hatte zu lachen, unverständliches Wort zu wiederholen.
Erst nach einer Weile merkte er, dass der Mann wahrscheinlich den Namen eines Ortes aus der nächsten Umgebung der Stadt zu sagen versuchte, und teilte dies seinem Freund mit, der darauf erneut in ein Lachen ausbrach, da der Mann, wenn er wirklich den Namen dieses Ortes aussprach und sich auf diese Weise nach dem Weg dorthin erkundigen wollte, genau in die entgegengesetzte Richtung hätte gehen sollen, was er ihm nun auch durch Handzeichen zu verstehen zu geben versuchte, ohne dass er sicher gewesen wäre, ob der Mann diese verstand – als aus der Richtung, in die der Mann gegangen war, entfernte, aber sich rasch nähernde Motorengeräusche zu hören waren, die, wie sie bald alle drei sehen konnten, von einem der alten rotgefärbten Autobusse der Städtischen Verkehrsbetriebe stammten, dem der grosse Mann dann einige Schritte entgegenging, bevor er wieder, wenn auch stark schwankend, mitten auf der Strasse stehenblieb, jetzt allerdings mit zu einem Haltezeichen erhobenem rechtem und schräg nach unten vom Körper weggestrecktem linkem Arm.
Obwohl sich keine Haltestelle in der Nähe befand, hielt der Bus am Strassenrand vor dem Mann, bevor sich die automatisch gesteuerten Türen öffneten, damit dieser einsteigen konnte. Dann schlossen sich die Türen jedoch wieder, bevor der Mann, der beim Besteigen des Busses einige Schwierigkeiten hatte, ganz drinnen war, so dass er seinen von neuem in einen Lachanfall ausbrechenden Freund stehenliess und auf den bereits wieder anfahrenden Bus zulief, um ihn aufzuhalten, auf den eingeklemmten Mann aufmerksam zu machen und diesem in den Bus hineinzuhelfen.
Als er, in den Bus einsteigend, dem Chauffeur aber noch mitteilen wollte, wohin der eben zugestiegene grosse Mann zu fahren beabsichtigte, schlossen sich die Türen des Busses erneut, diesmal jedoch so vor ihm, dass er nicht mehr aussteigen konnte und der Bus nun trotz seiner Proteste endgültig weiterfuhr.
Ohne sich besonders beunruhigen zu lassen (es belustigte ihn eher, als er daran dachte, dass sich sein Freund jetzt wahrscheinlich vor Lachen nicht mehr halten konnte) drückte er auf einen der Knöpfe, um dem Chauffeur das Zeichen zu geben, an der nächsten Haltestelle anzuhalten, sah dann jedoch mit Erstaunen, dass anstelle des sonst üblicherweise grünaufleuchtenden Wortes HALT, das an diesem Ort unverständliche und zudem noch orthographisch falsch geschriebene Wort LEBERPASTHETE erschien. Den grossen Mann (der in dem überfüllten Bus keinen Platz mehr gefunden hatte und in dem noch freien Gang zwischen den Bänken auf dem Boden sass) nicht mehr beachtend, stellte er sich deshalb, für den Chauffeur im Rückspiegel erkennbar, schon jetzt vor dem Ausgang bereit – als ihn beim flüchtigen Betrachten der Fahrgäste plötzlich das Gefühl überkam, dass die meist älteren Leute, von denen der grösste Teil Frauen mit alten Taschen und Mappen (einige auch mit Milchkesseln und Essgeschirren) waren, zur Arbeit in irgendeine oder mehrere Fabriken fuhren, was jedoch zeitlich nicht gut möglich war.
Dass normalerweise zu dieser Zeit auch gar keine Busse mehr fuhren und dass er (wie ihm nun ebenfalls einfiel) noch nie gehört hatte, dass ein Bus zu dem Ort fuhr, den der grosse Mann genannt hatte, erschreckte ihn jedoch ebenso wenig, denn die nächste Haltestelle war bereits in Sicht, und der Bus begann schon langsamer zu fahren, und er war froh, dass er rechtzeitig daran dachte, noch vor dem Aussteigen zu bezahlen.
Da er im ganzen Wagen keinen Kondukteur finden konnte, ging er deshalb nach vorne zu dem Chauffeur, erkundigte sich nach dem Fahrpreis bis hierher, und erhielt als Antwort fünfzig Rappen, gleichzeitig aber auch eine ganze Kartonschachtel voll gebrauchter, noch auf Papierfetzen klebender Briefmarken in die Hände gedrückt, aus denen er nun, während der Bus anhielt und viele neue Fahrgäste zustiegen (das Ganze als eine Aufforderung dazu verstehend), eine Fünfzigermarke herauszusuchen versuchte, jedoch weder eine solche noch eine Fünfzig-Pfennig-, Heller-, Groschen-, Öre-, Kopeken-, Dinar-, Cent-, Centavos-, Céntimos-, Centesimi-, noch eine Fünfzigermarke einer anderen Währung fand, obwohl sogar Marken von Ländern dabei waren, von denen er noch nie gehört hatte oder deren Schrift er nicht einmal lesen konnte.
Da der Chauffeur sich inzwischen jedoch den einsteigenden Leuten zugewendet hatte, die ihm alle irgendeinen Gegenstand aushändigten – meist alte Post- oder Landkarten, Bücher, Comic strips, Wildwest-, Kriminal-, Heimat-, Frauen-, Familien-, Liebes- und Science-fiction-Romanhefte –, bevor sie sich nach einem Platz umsahen, konnte er sich nicht erneut wegen seines Fahrpreises an diesen wenden – und nachdem es zu einem Zwischenfall mit einem Mann gekommen war, der ein Landser-Romanheft abgegeben hatte, auf dessen Titelseite ein vorwärtsstürmender Soldat, der den Mund zu einem Schrei geöffnet hatte und ein feuerspeiendes Gewehr mit beiden Händen vor sich hinhielt, farbig und so realistisch wie möglich gezeichnet gewesen war (welches der Chauffeur zuerst empört als obszön hatte ablehnen wollen, dann jedoch trotzdem gezwungen gewesen war, anzunehmen, da der andere sehr abgebrüht zu sein geschienen und nichts dergleichen getan hatte, als dieser ihn sogar vor allen anderen Leuten laut zu beschimpfen begonnen hatte), war der Chauffeur so wütend, dass er den restlichen wartenden Leuten erklärte, er hätte keinen Platz mehr, was ohnehin so ziemlich den Tatsachen entsprach, einen Hebel neben dem Steuerrad herumlegte, worauf sich die Türen schlossen, und weiterfuhr, ohne ihn aussteigen gelassen zu haben.
Die ganze Abfahrt war überhaupt so schnell vor sich gegangen, dass ihm die Briefmarkenschachtel zu Boden gefallen und ausgeleert war, bevor er sie wieder hatte festhalten können, was ihn jedoch nicht daran hinderte, zuerst noch einmal auf einen der Halteknöpfe zu drücken und sich erst dann, wie ihm schien, unter den Blicken sämtlicher übrigen Fahrgäste, dem Aufheben und Ordnen der Marken zuzuwenden (wobei er sich überlegte, warum bloss schon wieder ein wohl mit dem vorhergehenden irgendwie noch sinnvoll zusammen hängendes, mit dem Autobus jedoch nicht das geringste gemeinsam habendes Wort wie ESSWAREN anstelle des Wortes HALT aufleuchtete und warum sich ausser ihm niemand daran zu stossen schien) – und aus dieser ihn stärker, als er geglaubt hatte, in Anspruch nehmenden Beschäftigung schreckte ihn erst ein plötzlich im Innern des Busses ertönender Pistolenschuss auf, umso mehr, als er den Eindruck hatte, die Explosion sei in seiner unmittelbaren Nähe erfolgt.
Niemand anders als er schien sich jedoch um den Schuss zu kümmern, die Leute, die er von seinem Platz auf dem Boden hinter dem Chauffeur, wo die Abgaben der Fahrgäste aufgestapelt waren, sehen konnte, schauten immer noch auf ihn und die Marken hinunter – bis von hinten im Bus eine junge blondhaarige, sich nach der Pistole und dem Schuss erkundigende Frau nach vorne drängte und einige der Leute so lange, bis die Frau vor ihm stand, nach hinten, dann aber wieder abwechselnd auf ihn und die Frau schauten, die ihre Frage nun auch an ihn richtete (wie es ihm schien, in der Annahme, er sei ein für die Abgaben der Fahrgäste verantwortlicher Angestellter der Verkehrsbetriebe) und erklärend beifügte, sie kenne den Klang dieser Pistole ganz genau und könne ihn von demjenigen aller anderen Pistolenschüsse, die sie höre, mit hundertprozentiger Sicherheit unterscheiden, da diese Pistole einmal ihrem Vater gehört, sie mit ihr das Schiessen mit Handfeuerwaffen gelernt und eine ihren Vater und sie selbst immer wieder erstaunende unglaubliche Treffsicherheit erreicht habe, so dass sie alles daransetzen würde, diese Pistole wieder für sich zu erwerben.
Seine Antwort jedoch gar nicht abwartend, machte sie sich dann sogleich daran, den Stapel mit den Abgaben der Fahrgäste, wahrscheinlich nach der gesuchten Pistole, zu durchwühlen, nicht darauf achtend, dass dieser dadurch zusammenbrach und die Karten, Bücher und Hefte, aber auch die sich ebenfalls dabei befindenden Kleidungsstücke und alten Einkaufstaschen auf den ganzen Boden verteilt wurden – hielt dann aber in ihrer von keinerlei Einwand von irgendjemandem unterbrochenen Arbeit inne, als sie einen alten Militärbrotsack in der Hand hielt und daraus eine verrostete Kaninchentöterpistole mit einem ungewöhnlich langen Lauf herauszog, mit der sie sogleich durch die Windschutzscheiben des immer noch fahrenden Busses nach draussen zielte und, sich während der Fahrt drehend, mit dem Lauf einen ausserhalb des Busses liegenden Baum fixiert hielt (bei welcher Gelegenheit er nun erst wahrnahm, dass bereits der Morgen angebrochen war und der Bus durch eine felsige, zerklüftete, von Menschen verlassen scheinende, öde Gebirgs- und Wüstenlandschaft fuhr, die er noch nie gesehen hatte und die aus einem der nun am Boden verstreut herumliegenden Wildwest-Romanhefte hätte stammen können). Dies begann ihn nun doch ernsthaft zu erschrecken, da beides, der Militärbrotsack und die Kaninchentöterpistole, ihm selbst gehörten, er sich jedoch nicht daran erinnerte, die beiden Dinge bei sich gehabt zu haben, als er den Bus bestiegen hatte, um dem grossen Mann hineinzuhelfen.
Von der Frau dazu aufgefordert, verliess er deswegen dann auch zusammen mit ihr – ihrem Mann und der beiden kleinem Kind, die sich bis zum Aussteigen ganz hinten im Bus aufgehalten haben mussten und auch dort ausstiegen – den Bus, nachdem die Frau dem Chauffeur nur kurz zugerufen hatte, dass er anhalten solle (da ihn die unbekannte Gegend zudem befürchten liess, dass er sich bereits zu weit von der Stadt entfernt habe, und er den Brotsack und die Pistole der ihm bisher noch nie begegneten Frau doch wirklich nicht so einfach überlassen wollte).