Die Rückfahrt - E. Y. Meyer - E-Book

Die Rückfahrt E-Book

E. Y. Meyer

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Beschreibung

»Die Rückfahrt« erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, von seinen Schwierigkeiten mit dem Leben im reichsten Land der Welt und dem Versuch, sich mit der Hilfe eines Psychiaters auf eine neue Existenz in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Schweiz vorzubereiten. Sie erzählt von den Gesprächen mit einem Denkmalpfleger und von der Entscheidung des jungen Mannes, den Lehrerberuf aufzugeben. Mit der eigenen Vergangenheit steigt die historische auf. Kunstwerke, Denkmäler, Erziehung und politische Geschichte verbinden sich mit den persönlichen Erfahrungen, lassen sie wachsen und heben sie im Gang der Geschichte auf. »Die Rückfahrt« meint nicht nur die letzte Fahrt mit dem Denkmalpfleger, sie meint ebenso die Umkehr im Sinne einer geschichtlichen Wende, die Abkehr von einem sich über grosse Zeiträume erstreckenden Vernichtungsprozess des Lebens.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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E.Y.MEY­ER

Die Rü­ck­fahrt

Ro­man

 

Erst­mals er­schie­nen 1977

© 2021 E.Y.MEY­ER

ey­mey­er.ch

 

 

Co­ver:

Bron­ze­kopf des Au­tors

Ge­schaf­fen 1997 von PAN YI QUINAca­de­my of Arts & De­sign

Tsing Hua Uni­ver­si­tyBei Jing, Chi­na

 

Für Ju­dith und Ge­org

 

Ka­pi­tel

Ers­ter Teil Sonn­matt

Zwei­ter Teil Das Pa­pa­gei­en­haus

Drit­ter Teil Die Rü­ck­fahrt

 

Ers­ter TeilSonn­matt

»Es gibt Er­in­ne­run­gen, die wie schil­lern­de Bla­sen sind. Nach vie­len Jah­ren stei­gen sie plötz­lich auf in ei­ner Nacht­stun­de, wach­sen und wach­sen, wol­len nicht zer­plat­zen, son­dern blen­den die Au­gen un­ter den ge­schlos­se­nen Li­dern.«

Fried­rich Glau­ser: »Mensch im Zwie­licht«

 

1

Sie stan­den auf dem Müns­ter­turm und schau­ten über die Stadt und das Land, über das sich die Däm­me­rung brei­te­te. Das Amt für Denk­mal­pfle­ge lag weit un­ten. Aus der Turm­hal­le dran­gen über den Trep­pen­auf­gang die Töne der ein­set­zen­den Or­gel bis zu ih­nen hin­auf, und über ihre Köp­fe zo­gen un­ge­zähl­te Schwär­me von Fle­der­mäu­sen hin­weg, die die alte Turm­kap­pe ver­lies­sen und über die gan­ze Stadt hin­flat­ter­ten. Als die letz­ten Fle­der­mäu­se den Turm ver­las­sen hat­ten und das Ge­räusch der Flü­gel­schlä­ge ver­stummt war, das wie das Knat­tern von Se­geln im Wind ge­tönt hat­te, glaub­ten sie aus­ser dem ent­fern­ten Or­gel­spiel noch ein im­mer lau­ter wer­den­des Krat­zen zu hö­ren, das sich der brei­ten Ba­lus­tra­de der obers­ten Müns­ter­ga­le­rie nä­her­te, auf der sie sich be­fan­den; und als sie an die Ba­lus­tra­de tra­ten und über sie hin­weg der Fas­sa­de ent­lang hin­un­ter­blick­ten, sa­hen sie, wie dicht zu­sam­men­ge­drängt und von al­len Sei­ten her un­zäh­li­ge klei­ne af­fen­ar­ti­ge We­sen, die sich in ih­rer Fa­r­be nicht im ge­rings­ten von der des Sand­steins des Müns­ters un­ter­schie­den, mit ei­ner gros­sen Ge­schick­lich­keit und Ge­schwin­dig­keit von den Fia­len der Stre­be­pfei­ler her, über die Stre­be­bo­gen und die Turm­fas­sa­de auf die Ga­le­rie zu klet­ter­ten. Al­les an ih­nen, auch die Klei­der, die sie zum Teil tru­gen, war sand­stein­fa­r­ben, so dass es aus­sah, als ob Tei­le der Müns­ter­fas­sa­de in Be­we­gung ge­ra­ten sei­en, und als die ers­ten von ih­nen die Ba­lus­tra­de er­reich­ten, sa­hen sie, dass es Kon­so­len-, Tür­pfos­ten-, Tür­sturz-, Kon­so­len­trä­ger-, Bo­gen­feld- und Ar­chi­vol­ten­fi­gu­ren so­wie zu gro­tes­ken, wi­der­na­tür­li­chen Ge­stal­ten ge­form­te Was­ser­spei­er wa­ren, die ohne auf­ein­an­der Rück­sicht zu neh­men pa­nik­ar­tig den Turm er­klom­men und in de­ren Sand­stein­au­gen Angst stand. Als er zum Denk­mal­pfle­ger hin­über­blick­te, sah er, dass sich die­ser schon wie­der auf­ge­rich­tet hat­te und ihn mit hoch­ge­zo­ge­nen Au­gen­brau­en und weit­ge­öff­ne­ten, wahn­sinns­ge­füll­ten Au­gen an­sah – so dass er er­schro­cken vor ihm zu­rück­wich – und dass sich des­sen Ge­sicht zu ei­nem brei­ten Grin­sen ver­zog, das un­ver­mit­telt in ein un­mensch­li­ches, höh­ni­sches Ge­läch­ter von ei­ner un­vor­stell­ba­ren Laut­stär­ke über­ging. Dann be­gann die di­cke Stein­plat­te des Ga­le­rie­bo­dens und mit ihr schliess­lich der gan­ze Turm lang­sam zwi­schen ih­nen aus­ein­an­der zu bre­chen, so dass sich der Denk­mal­pfle­ger, ohne in sei­nem Ge­läch­ter in­ne­zu­hal­ten, mit sei­ner Turm­hälf­te und den ver­zwei­felt Halt su­chen­den Sand­stein­fi­gu­ren, die rei­hen­wei­se in die Tie­fe fie­len, lang­sam von ihm ent­fern­te und ihm, ge­ra­de noch be­vor die bei­den Turm­hälf­ten in sich zu­sam­men­stürz­ten, mit ei­ner Don­ner stim­me durch das oh­ren­be­täu­ben­de Kra­chen und die im­mer lau­ter wer­den­de Or­gel­mu­sik hin­durch die Wor­te: Machs na! zu­rief...

Ber­ger lag auf dem Rü­cken und sah zur De­cke hin­auf. Er hat­te wie­der ge­schla­fen, aber er mach­te sich nichts dar­aus; das war es ja, was man von ihm ver­lang­te.

Draus­sen war es im­mer noch gleich be­ängs­ti­gend dun­kel wie schon seit dem spä­te­ren Vor­mit­tag, als sich nach an­fäng­li­chen Auf­hel­lun­gen der Him­mel plötz­lich wie­der mit grau­schwa­r­zen Wol­ken­fet­zen zu über­zie­hen be­gon­nen hat­te, die dann schnell zu ei­nem den gan­zen Him­mel be­de­cken­den dunk­len Ge­wöl­be zu­sam­men­ge­flos­sen wa­ren, das Ber­ger an die De­cke ei­nes un­ter­ir­di­schen Ver­lie­ses hat­te den­ken las­sen. Durch die ge­öff­ne­te zwei­f­lü­ge­li­ge Bal­kon­dop­pel­tür und die eben­falls of­fen­ste­hen­den Fens­ter­tei­le in ihr drang ver­ein­zel­tes Vo­gel­ge­zwit­scher ins Zim­mer so­wie das Glo­cken­ge­läut und lang­ge­zo­ge­nes Blö­ken der am Tal­hang wei­den­den Scha­fe. Ab und zu wa­ren auch Ge­räu­sche, die von ei­ner Bau­stel­le im Tal un­ten stamm­ten, das Sur­ren ei­nes elek­trisch be­trie­be­nen Krans oder ein rhyth­misch er­tö­nen­des Häm­mern zu hö­ren.

Ber­ger be­trach­te­te den Was­ser­fleck an der Stel­le, wo sich die De­cke in ei­ner Run­dung et­was nach un­ten senk­te, und sah dar­in wie­der einen Kä­fer oder einen Tin­ten­fisch mit Men­schen­kopf. Über ei­nem run­den Kinn mit Bart­stop­peln öff­ne­te sich ein klei­ner, lip­pen- und zahn­lo­ser run­der Mund, über dem eine über­di­men­sio­niert gros­se Nase nach vorn rag­te, auf der an ih­rem obe­ren Ende ein eben­falls über­di­men­sio­niert gros­ses Glotz­au­ge sass. Über dem Auge streck­te sich ein füh­ler­ähn­li­ches Ge­bil­de nach vorn, in dem man auch eine Müt­ze, ein Ge­weih oder die Ten­ta­kel ei­nes Tin­ten­fi­sches hät­te se­hen kön­nen, wo­ge­gen sich der Kopf hin­ter dem Auge so­fort flach senk­te. Wenn man im Vor­der­teil einen Men­schen­kopf sah, äh­nel­te der Leib, der sich di­rekt an den Kopf an­schloss und die Form und Grös­se ei­nes Brot­lai­bes be­sass, aber doch am meis­ten ei­nem Kä­fer­leib oder Kä­fer mit ei­nem Men­schen­kopf, den man Gre­gor Sam­sa hät­te nen­nen kön­nen...

Als es draus­sen zu reg­nen be­gann, er­hob sich Ber­ger und trat zur Bal­kon­tür. Durch den Re­gen hin­durch, des­sen Rau­schen die üb­ri­gen Ge­räu­sche dämpf­te, sah er auf die Gar­te­n­an­la­ge hin­un­ter, in der sich zum Grün der bei­den ke­gel­för­mig ge­schnit­te­nen Buchs­bäu­me am An­fang der Trep­pe zur of­fe­nen Ter­ras­se hin­auf schon wie­der das Grün der üb­ri­gen Pflan­zen hin­zu­zu­fü­gen be­gann.

Auf der ge­gen­über­lie­gen­den Tal­sei­te reich­te die Wol­ken­schicht bis zum Misch­wald hin­un­ter, der dort den Hang be­wuchs und auch be­reits wie­der dich­ter und un­durch­sich­ti­ger zu wer­den schien.

Um sei­ne Schlaf­trun­ken­heit los­zu­wer­den, trat Ber­ger auf den ge­gen den Re­gen ge­schütz­ten Bal­kon hin­aus und konn­te nun auch auf die Tei­le des Gar­tens hin­un­ter­se­hen, die un­mit­tel­bar vor und ne­ben dem Bal­kon la­gen. Nicht wie aus Pflan­zen, son­dern eher wie aus mensch­li­chen We­sen schien ihm die ex­akt aus­ge­rich­te­te Dop­pel­rei­he jun­ger Lin­den oder Ul­men zu be­ste­hen, die ihre un­ver­zweig­ten, nass-schwa­r­zen Aste wie hand­lo­se Arme ge­gen ihn ausstreck­ten. Durch einen rück­sichts­lo­sen Schnitt wa­ren nur die kräf­tigs­ten der Äste üb­rig­ge­blie­ben, die von ih­rem An­fang bis zu ih­rem Ende, und auch un­ter sich, alle gleich dick aus­sa­hen, so dass sich spä­ter über dem Kies­weg, der sich zwi­schen ih­nen durch­zog, ein dich­tes, fla­ches Laub­dach bil­den wür­de.

»Dem klas­si­schen Stil die­ses Pa­tri­zi­er­hau­ses aus dem acht­zehn­ten Jahr­hun­dert ent­spricht ein Gar­ten nach fran­zö­si­scher Art, mit schnur­ge­ra­den Al­leen, ent­lang de­ren sich Buchs­baum und be­schnit­te­ne Ei­ben hin­zie­hen – wo­bei der Reiz des Pflan­zen­de­kors hier noch durch zwei Ma­gno­li­en und eine Dop­pel­rei­he von Kas­ta­ni­en ver­voll­stän­digt wird.« Wo und wann hat­te er die­sen Satz ge­hört oder ge­le­sen? Und wenn er ihn ge­hört hat­te, wer hat­te ihn ge­sagt und war er so ge­sagt wor­den?

Hat­te der Denk­mal­pfle­ger ihn ge­sagt, und hat­te es da­mals auch ge­reg­net? Oder war nur die Stras­se nass ge­we­sen und das Laub, das sie hin und wie­der be­deckt hat­te? Oder hat­te es ge­schneit, und war die Stras­se von Schnee und Eis be­deckt ge­we­sen? Oder von Schnee­matsch? Oder war es schö­nes son­ni­ges Wet­ter ge­we­sen und die Stras­se völ­lig tro­cken, und hat­ten also ide­a­le Fahr­be­din­gun­gen und Ver­hält­nis­se ge­herrscht?

Ber­ger ver­spür­te trotz oder ge­ra­de we­gen der Feuch­tig­keit, die ihn um­gab und sei­ne Haut be­rühr­te, plötz­lich wie­der einen Drang, et­was zu trin­ken, und er trat ins Zim­mer zu­rück. Er er­in­ner­te sich, wie er als Kind, in der zwei­ten oder drit­ten Klas­se, wenn er von der Schu­le nach Hau­se ge­kom­men war und es draus­sen reg­ne­te, oft einen gros­sen Durst ver­spürt hat­te und in die Kü­che ge­gan­gen war, um dort das vom Mit­tag­es­sen ste­hen­ge­blie­be­ne, nun süss­lich schme­cken­de Zi­tro­nen­was­ser di­rekt aus dem oft noch halb­vol­len Milch­ha­fen zu trin­ken. Sei­ne Mut­ter hat­te ihn des­we­gen ge­ta­delt, wenn sie ihn da­bei ge­se­hen hat­te.

Spä­ter hat­te Ber­ger dann das Zi­tro­nen­was­ser mit ei­nem an­ge­mes­se­nen An­teil Gin zu schät­zen ge­lernt und es, so­viel er sich er­in­nern konnte, ei­gent­lich nur noch so ge­trun­ken.

Trotz der ge­schlos­se­nen Bal­kon­dop­pel­tür und der nun eben­falls ge­schlos­se­nen Fens­ter­chen in ihr, konn­te Ber­ger im­mer noch den Re­gen und die Vo­gel­stim­men hö­ren, nahm nun aber auch wie­der Ge­räu­sche aus dem In­nern des Hau­ses wahr, so eine dump­fe, un­ver­ständ­li­che Frau­en­stim­me im an­gren­zen­den Zim­mer, das durch eine ver­schlos­sen ge­hal­te­ne Dop­pel­tür mit dem sei­nen ver­bun­den war.

Ber­ger hat­te sich wie­der auf das Bett ge­legt und den Rest ei­ner Fla­sche Mi­ne­ral­was­ser ge­trun­ken, ohne dass sein Durst da­durch ver­schwun­den wäre. Ir­gend­wo eine voll­stän­di­ge Stil­le su­chen zu wol­len, war ein Vor­ha­ben, das nicht aus­führ­bar schien, denn über­all wür­de es wie­der Ge­räu­sche ge­ben. Die Fra­ge war nur, was für eine Art von Ge­räu­schen und wie man sie zum Zeit­punkt, in dem sie er­zeugt wur­den und man sie wahr­nahm, er­tra­gen wür­de. Es gab Zeit­punk­te, in de­nen ihm so­gar Vo­gel­ge­zwit­scher un­er­träg­lich laut und ner­ven­tö­tend vor­kam und er stän­dig dar­auf war­te­te, dass das un­ab­läs­si­ge Pfei­fen, Tril­lern, Schla­gen, Ti­ri­lie­ren, Qui­ri­lie­ren, Quin­ke­lie­ren und so wei­ter, end­lich ab­bre­chen und der Ruhe an­de­rer, we­ni­ger auf­dring­li­cher Ge­räu­sche Platz ma­chen wür­de. Und es gab Zeit­punk­te, in de­nen er er­schro­cken zu­sam­men­fuhr, wenn in eine ver­meint­lich voll­stän­di­ge Stil­le hin­ein in ei­ner un­mit­tel­ba­ren Nähe plötz­lich ein von ei­nem In­sekt oder ei­nem an­de­ren, nicht sicht­ba­ren Klein­tier ver­ur­sach­tes Ra­scheln, Schwir­ren oder Sum­men er­tön­te.

In der ver­gan­ge­nen Nacht hat­te ihn wäh­rend ei­ner schein­ba­ren voll­stän­di­gen Stil­le mit ei­nem Mal ein ho­hes Sum­men und Rau­schen wie von ei­ner elek­tri­schen Hoch­span­nungs­lei­tung zu stö­ren be­gon­nen, ob­wohl er si­cher war, dass es schon die gan­ze Zeit über, in der er wach in der Dun­kel­heit ge­le­gen hat­te, ohne ein be­wuss­tes Hö­ren in ihm aus­zu­lö­sen, da­ge­we­sen war. Und ob­wohl er schliess­lich zu mer­ken ge­glaubt hat­te, dass er sel­ber, durch das Flies­sen des Blu­tes in sei­nem Kör­per, die Ur­sa­che für das Ge­räusch war, hat­te er im­mer wie­der ver­sucht, sich in je­nen Zu­stand zu­rück­zu­ver­set­zen, in dem er es nicht be­wusst ge­hört hat­te. Aber je­des Mal, wenn er sich hat­te ver­ge­wis­sern wol­len, ob es nicht mehr zu hö­ren sei, war es wie­der oder im­mer noch da ge­we­sen, was ihn im­mer un­ru­hi­ger hat­te wer­den und ihn im­mer we­ni­ger wie­der hat­te ein­schla­fen las­sen, so dass er schliess­lich mit dem Kis­sen an­de­re, lau­te­re Ge­räu­sche an sei­nen Oh­ren er­zeugt und so das Sum­men und Rau­schen zu über­tö­nen und wie­der zum Ver­schwin­den zu brin­gen ver­sucht hat­te.

Wäh­rend es im Zim­mer im­mer dunk­ler wur­de, über­leg­te Ber­ger, was er für den Rest des Ta­ges tun woll­te. Für einen Spa­zier­gang reg­ne­te es ihm zu stark, ob­wohl er hin und wie­der, wenn es rich­tig schüt­te­te, gern im Re­gen spa­zie­ren ge­gan­gen war und sich des­halb auch einen eng­li­schen Bur­ber­ry-Re­gen­man­tel ge­kauft hat­te, den man bis zum Hals hin­auf zu­knöp­fen konn­te und des­sen Durch­greift­a­schen es zu­lies­sen, dass man zu den Ho­sen- und Rock­ta­schen ge­lan­gen konn­te, ohne dass man den Man­tel auf­zu­knöp­fen brauch­te. Er hat­te sich dann im­mer an die schwa­r­ze Woll­stoff­pe­le­ri­ne er­in­nert, die er als Kind be­ses­sen und die ihn, wenn er gan­ze Vor­mit­tage oder Nach­mit­tage in ihr auf der Stras­se her­um­ge­gan­gen war, schön warm und tro­cken ge­hal­ten hat­te. Wo­bei das, wie er wuss­te, nicht der ein­zi­ge Grund für den Kauf des Bur­ber­rys ge­we­sen war. Da es nun aber schon die gan­ze Zeit über reg­ne­ri­sches Wet­ter ge­we­sen war und er hier auch kein ge­eig­ne­tes Schuh­zeug da­für be­sass, hat­te er vor­läu­fig schon vom Über­rascht­wer­den vom Re­gen beim Spa­zie­ren­ge­hen ge­nug, vom Spa­zie­ren­ge­hen im Re­gen ganz zu schwei­gen.

Da er kein Licht ma­chen woll­te und gleich­zei­tig be­fürch­te­te, dass es zum Le­sen nicht mehr hell ge­nug war, moch­te er auch nicht le­sen, ob­wohl er bis jetzt den gan­zen Tag noch nichts ge­le­sen hat­te. Am liebs­ten wäre er so lie­gen ge­blie­ben und hät­te be­ob­ach­tet, wie die Dun­kel­heit das Zim­mer zu fül­len be­gann, und dann an den ob­wohl weiss ge­stri­che­nen, be­reits schwa­rz er­schei­nen­den Fens­ter­spros­sen der Bal­kon­tü­ren vor­bei hin­aus­ge­schaut, wie sich die Dun­kel­heit dort aus­brei­te­te, und da­bei ab und zu einen Schluck Zi­tro­nen­was­ser mit Gin zu sich ge­nom­men.

Ei­gent­lich hät­te er ver­su­chen müs­sen, sich an sei­nen Traum zu er­in­nern und sich die­sen, so gut das ging, in sei­nem gan­zen Um­fang zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, um ihn dann – auch wenn ihm sei­ne Be­deu­tung und sei­ne Be­zie­hung zu Er­eig­nis­sen aus sei­ner Ver­gan­gen­heit völ­lig un­klar ge­we­sen wäre – in ein da­für vor­ge­se­he­nes Heft zu schrei­ben, das er auf Dok­tor Sant­schis Rat hin an­ge­legt hat­te. Auch wenn man nie al­les in sei­nen Be­zü­gen zu der ei­ge­nen Ver­gan­gen­heit ver­ste­hen kön­ne und ein sol­ches Vor­ge­hen auch nie­mals im­stan­de sei, die Er­geb­nis­se ei­ner psy­cho­ana­ly­ti­schen Ar­beits­wei­se her­vor­zu­brin­gen, so sei es doch mög­lich, da­durch, dass man wäh­rend ei­ni­ger Zeit sei­ne Träu­me re­gel­mäs­sig auf­schrei­be, ei­ni­ger­mas­sen ein Bild von sich – sei­nem We­sen, sei­ner Art – zu be­kom­men, hat­te Sant­schi ge­sagt. Die Mensch­heit be­schäf­ti­ge sich nicht mehr ge­nug mit ih­ren Träu­men, wo­durch der Ab­stand zwi­schen die­sen und der Wirk­lich­keit im­mer grös­ser wer­de.

Da Ber­ger, wie für das Le­sen, auch für das Schrei­ben je­doch auf je­den Fall nicht mehr lan­ge ohne Licht aus­ge­kom­men wäre, un­ter­liess er auch das, ver­schob es – in der viel­leicht un­be­rech­tig­ten Hoff­nung, dass er sich auch dann noch an den Traum wür­de er­in­nern kön­nen – auf die Zeit nach dem Abend­es­sen, wenn er sich oh­ne­hin mit dem elek­tri­schen Licht wür­de be­hel­fen müs­sen.

Nach ei­ner Wei­le er­hob sich Ber­ger wie­der und strich sich mit den Fin­gern die Haa­re zu­recht. Er nahm die lee­re Mi­ne­ral­was­ser­fla­sche, öff­ne­te die Tür an der Wan­din­nen- und die an der Wand­aus­sen­sei­te und trat in die noch wei­ter fort­ge­schrit­te­ne Dun­kel­heit des Gan­ges hin­aus, der sich ge­gen sein Ende auf der rech­ten Sei­te zu, wo sich eine Ne­ben­trep­pe be­fand, nur un­merk­lich, ge­gen sei­ne Mit­te auf der lin­ken Sei­te zu, wo sich die Haupt­trep­pe be­fand, hin­ge­gen et­was mehr auf­hell­te. In der an­de­ren Gang­hälf­te oder im an­de­ren Gang auf der lin­ken Sei­te brann­te be­reits Licht.

Als er den mitt­le­ren Teil des Gan­ges er­reicht hat­te, den Trep­pen­haus­teil also, wo sich die Haupt­trep­pe und der Lift be­fan­den, ver­spür­te er einen Drang, Was­ser aus sei­nem Kör­per zu lö­sen, und ging des­halb durch die zwei­te of­fen­ge­hal­te­ne Glas­pen­del­tür, die zur Ab­tren­nung des Trep­pen­hau­ses von den bei­den Gän­gen dien­te, zum Toi­let­ten­raum wei­ter, der sich am An­fang des nächs­ten Gan­ges be­fand. Wäh­rend er die Mi­ne­ral­was­ser­fla­sche un­ter den lin­ken Arm ge­klemmt hielt und den Urin in die weis­se Schüs­sel hin­ein­lau­fen liess, sah er durch das ge­öff­ne­te Toi­let­ten­fens­ter auf den Vor­fahr­platz und die Stal­lun­gen des Bau­ern­gu­tes auf der an­de­ren Weg­sei­te hin­un­ter und die Fort­s­et­zung des Han­ges hin­auf, über des­sen Wie­sen nun Ne­bel hin­ab­zu­stei­gen be­gann.

Nach al­lem, was mit den un­zu­rei­chen­den mensch­li­chen Sin­nen fest­stell­bar war, schie­nen die Wis­sen­schaft­ler, al­len vor­an die ame­ri­ka­ni­schen, mit ih­ren Aus­sa­gen, dass nach ei­ner Zeit ei­nes welt­wei­ten Tem­pe­ra­tur­an­stie­ges nun seit zehn oder fünf­zehn Jah­ren eine zu­neh­men­de Ab­küh­lung im Gan­ge sei, recht zu be­hal­ten. Wo­bei, wie Ber­ger ir­gend­wo ge­le­sen hat­te, bei­de Phä­no­me­ne pa­ra­do­xer­wei­se na­he­zu die glei­chen Ur­sa­chen hät­ten: näm­lich die durch In­dus­trie- und Zi­vi­li­sa­ti­ons­ab­gase be­wirk­te Luft­ver­schmut­zung, in de­ren Fol­ge sich in den obe­ren Luft­schich­ten der Erde zu­nächst eine Koh­len­di­oxyd­hül­le ge­bil­det habe, die durch das Zu­rück­hal­ten der ir­di­schen Wär­me­strah­lung wäh­rend etwa vier­zig Jah­ren für die Auf­recht­er­hal­tung ei­ner treib­haus­ar­ti­gen Kon­stel­la­ti­on ver­ant­wort­lich ge­we­sen sei. Dann sei die­ser Ef­fekt je­doch durch mi­kro­sko­pisch klei­ne Schmutz­teil­chen, die in zu­neh­men­dem Mas­se von In­dus­trie- und Kraft­werk­an­la­gen aus­ge­stos­sen wor­den sei­en, wir­kungs­los ge­wor­den, da die­se ih­rer­seits nun wie ein Vor­hang wir­ken wür­den, der die Son­nen­ein­strah­lung auf die Erd­ober­flä­che ab­hal­te. Wohl brach­ten hef­ti­ge Re­gen­güs­se rei­ni­gen­de Ab­hil­fe, doch wer­de die Rei­ni­gungs­kraft des Re­gens schnell zu Nich­te ge­macht.

Beim Hän­de­wa­schen be­sah sich Ber­ger im Spie­gel sei­ne Zun­ge, die im­mer noch einen weis­sen Be­lag auf­wies, der aus ab­ge­stos­se­nen Haut­zel­len, Spei­se­res­ten und Bak­te­ri­en be­ste­hen soll­te, was von blos­sem Auge je­doch nicht wahr­zu­neh­men war. Das Zu­rück­bie­gen der Zun­ge brach­te die grau­sil­bern glän­zen­den Amal­gam­plom­ben in den Ma­l­zäh­nen zum Vor­schein, die in die durch Zahn­fäu­le und an­sch­lies­sen­des Weg­boh­ren des kran­ken Ge­we­bes ent­stan­de­nen Höh­lun­gen ge­füllt wor­den wa­ren. Wie er in dem Le­xi­kon, das er be­sass, ein­mal nach­ge­le­sen hat­te, wer­de Amal­gam durch Ver­rei­ben von Queck­sil­ber mit fein ver­teil­tem Me­tall­pul­ver her­ge­stellt und – we­gen sei­ner Weich­heit und Knet­bar­keit bei ge­rin­ger Er­wär­mung – zu Me­tall­kit­ten und Zahn­fül­lun­gen ver­wen­det.

Wenn es zu­traf, dass die Zahn­fäu­le ge­gen­über frü­he­ren Zei­ten zu­nahm, dann wür­de man si­cher mit ei­nem ge­wis­sen Recht sa­gen kön­nen, dass die Mensch­heit einen Weg ein­ge­schla­gen hat, für den sie von der Na­tur, je­den­falls in die­ser Hin­sicht, nur man­gel­haft aus­ge­stat­tet wor­den ist. So dass sich der Mensch, so gut es geht, mit al­ler­lei Hilfs­mit­teln und Hilfs­tech­ni­ken, wie bei­spiels­wei­se dem mo­nat­li­chen ge­mein­sa­men Flu­or-Zäh­ne­bürs­ten in den Schu­len, sel­ber zu hel­fen ver­su­chen muss­te. Bis er ein­mal nur noch mit der Hil­fe un­zäh­li­ger sol­cher Mit­tel und Tech­ni­ken le­bens­fä­hig wäre und exis­tie­ren könn­te – oder bis er da­durch, dass er sich sei­ne Le­bens­be­din­gun­gen selbst ver­än­dert und die Be­herr­schung der Na­tur er­reicht hät­te, die­se zwin­gen wür­de, ihn doch noch den ver­än­der­ten Le­bens­be­din­gun­gen an­zu­pas­sen und mit den für das Le­ben un­ter die­sen Be­din­gun­gen nö­ti­gen Or­ga­nen aus­zu­stat­ten. Wo­bei es auf die­se Wei­se, wenn man un­ter Na­tur al­les ver­stand, was so war, wie es sich gab, und sich nach ei­ge­nen in­ne­woh­nen­den Kräf­ten, Trie­ben und Ge­set­zen ge­stal­te­te und ent­wi­ckel­te, im­mer schwie­ri­ger zu sa­gen wür­de, was noch Na­tur sei und was schon zur Kul­tur ge­hö­re – vor al­lem, wenn man dies auch in Be­zug auf den Men­schen sel­ber zu be­den­ken ver­such­te.

Ob­wohl ihm der Zahn­a­rzt nicht hat­te sa­gen kön­nen, ob die Rei­he von er­geb­nis­lo­sen Un­ter­su­chun­gen, die bei ihm, Ber­ger, die Fol­ge ge­we­sen war, auf das re­gel­mäs­si­ge Ein­neh­men von Flu­or­ta­blet­ten zu­rück­zu­füh­ren sei – zwar sei de­ren gröss­te Wir­kung ein­deu­tig beim Kind und Klein­kind fest­zu­stel­len, aber man habe auch in ame­ri­ka­ni­schen Mi­li­tä­r­camps, in de­nen Flu­or­ta­blet­ten aus­ge­ge­ben wür­den, einen ge­wis­sen Rü­ck­gang der Ka­ri­es be­ob­ach­ten kön­nen –, schien es Ber­ger, da er die Mög­lich­keit ei­nes Zu­sam­men­han­ges nie ganz hat­te ver­drän­gen kön­nen, dass er nun ei­gent­lich mit dem Ein­neh­men die­ser Ta­blet­ten auch wie­der hät­te an­fan­gen sol­len. Wie im­mer in sol­chen Fäl­len wür­de da­bei an­de­rer­seits aber auch die Ge­fahr, oder doch we­nigs­tens die Mög­lich­keit, noch nicht be­kann­ter, so­ge­nann­ter un­er­wünsch­ter Ne­ben­wir­kun­gen be­ste­hen, die sich erst viel spä­ter be­merk­bar ma­chen wür­den, wenn es schon zu spät wäre näm­lich, mit der Ein­nah­me der be­tref­fen­den Mit­tel wie­der auf­zu­hö­ren. Aber das schien man in Kauf neh­men zu müs­sen – und er, Ber­ger, hat­te sich das al­les ja schon über­legt ge­habt, als er sich ent­schlos­sen und da­mit be­gon­nen hat­te, die Flu­or­ta­blet­ten eben­falls ein­zu­neh­men.

Wenn eine ge­wis­se Vor­sicht auch an­ge­bracht sein wür­de, so konn­te man doch nicht auf al­les ver­zich­ten, was die me­di­zi­ni­sche For­schung her­vor­ge­bracht, in der Pra­xis aber noch zu we­nig er­probt hat­te – oder ein­fach nicht hat­te er­pro­ben kön­nen. Schliess­lich hat­te er, Ber­ger, ja in der Hoff­nung, dass sie ihm hel­fen wür­den, auch be­den­ken­los die ihm ver­ord­ne­ten Va­li­um ein­ge­nom­men und nahm sie im­mer noch nach Vor­schrift ein, ob­wohl er, wie von den meis­ten Pro­duk­ten der phar­ma­zeu­ti­schen In­dus­trie, nichts von ih­rer Zu­sam­men­set­zung, Er­probt­heit und von ih­ren even­tu­el­len Ne­ben­wir­kun­gen wuss­te. So we­nig wie er bei­spiels­wei­se wuss­te, ob ein weis­ser Zun­gen­be­lag im­mer noch – wie es sei­ne Mut­ter je­weils ge­sagt hat­te – als Zei­chen ei­ner Er­kran­kung galt oder ob ein sol­cher nicht etwa auch durch das Ein­neh­men von Va­li­um ent­ste­hen konn­te. In Si­tua­ti­o­nen, die aus­weg­los schie­nen, war ei­nem je­des Mit­tel recht, das Ab­hil­fe oder auch nur Auf­schub ver­sprach.

Ber­ger ver­liess den WC-Raum, ging zur Trep­pen­haus­hal­le zu­rück und stieg über die mit ei­nem ro­ten Läu­fer be­deck­te Trep­pe hin­un­ter, wo­bei er aus den Trep­pen­h­aus­fens­tern wie­der auf die dunk­le Land­schaft und das nass­schwa­rz glän­zen­de Blech­dach der ge­deck­ten Ein­fahrt hin­aus­se­hen konn­te.

Auf der Trep­pe vom ers­ten Ober­ge­schoss ins Erd­ge­schoss blieb er auf den Stu­fen über dem letz­ten Trep­pe­n­ab­satz ste­hen und be­trach­te­te ein gros­ses, mit E. Ho­del si­gnier­tes Öl­bild, das an der ge­gen­über­lie­gen­den Wand hing und die vom Ma­ler ganz in ei­nem leicht gelb­li­chen Weiss ge­hal­te­ne, ge­gen Sü­den, also ge­gen den See ge­rich­te­te Haupt­fas­sa­de des Hau­ses in ei­ner grü­nen Um­ge­bung zeig­te.

Ob­wohl eher in im­pres­sio­nis­ti­scher Ma­nier ge­malt, war die Glie­de­rung des Hau­ses deut­lich zu er­ken­nen. Ein hoch­gie­be­li­ger vier­stö­cki­ger Haupt­trakt, des­sen Gie­bel in der Blick­rich­tung des Be­trach­ters ver­lief. Eine klei­ne­re, drei­stö­cki­ge Wie­der­ho­lung des­sel­ben am lin­ken, also west­li­chen Sei­te­n­en­de des Hau­ses. Ein eben­falls drei­stö­cki­ger Ver­bin­dungs­bau zwi­schen den bei­den, des­sen Gie­bel für den Be­trach­ter quer zur Blick­rich­tung ver­lief, so­wie ein zwei­stö­cki­ger An­bau auf der rech­ten Sei­te, also öst­lich des Haupt­trak­tes, der sich in ei­ner leicht ge­gen Nor­den zu ge­bo­ge­nen Li­nie an die­sen an­schloss. Und eben­so deut­lich trat auch die Glie­de­rung der Fas­sa­de durch die vie­len Bal­ko­ne, die of­fe­nen und ge­deck­ten Ter­ras­sen, die Er­ker und die run­den Vor­bau­ten her­vor, ob­wohl letz­te­re durch die en face-Dar­stel­lung auf dem Bild nicht als rund wahr­ge­nom­men wer­den konn­ten. So­gar die ge­spross­ten Stüt­zen zwi­schen dem lan­gen Bal­kon und dem Da­ch­vor­sprung im Ver­bin­dungs­bau und die eben­falls ge­spross­ten Bal­kon­ver­klei­dun­gen der bei­den dar­über­lie­gen­den Da­ch­zim­mer wa­ren fest­ge­hal­ten und recht gut zu er­ken­nen.

Trotz der auf dem Bild auch wie­der­um nicht als vor­sprin­gend zu er­ken­nen­den Haupt­ter­ras­se – wenn man vom An­bau ab­sah, zog sie sich in Stock­werk­hö­he über dem Bo­den auf ei­ner Säu­len­rei­he der gan­zen Fas­sa­de ent­lang – und trotz der lan­gen, durch­ge­hen­den Bal­kon­rei­hen, die nur durch dün­ne Holzwän­de un­ter­teilt wa­ren, wirk­te nicht nur die Ho­ri­zon­ta­le des Ver­bin­dungs­baus, der in Wirk­lich­keit zwi­schen den Ver­ti­ka­len der bei­den Flü­gel zu­rück­trat, son­dern die gan­ze breit ge­la­ger­te, um­fang­rei­che Bau­mas­se auch auf dem Bild als eine ge­schlos­se­ne Ein­heit, die den Ein­druck des Or­ga­ni­schen, Un­zer­ris­se­nen und Rhyth­misch-Ru­hi­gen er­weck­te.

Als wohl­tu­end emp­fand Ber­ger bei der gros­sen Zahl von recht­e­cki­gen Fens­tern zum Bei­spiel das Rund­bo­gen­mo­tiv bei den Fens­tern un­ter dem Gie­bel des lin­ken Flü­gels, und die an­spruchs­lo­se Zeich­nung der vie­len Fens­ter­spros­sen nahm sich wie ein Flä­che­n­or­na­ment aus. Beim Haupt­trakt wur­de die Wand un­ter dem Gie­bel von zwei Er­kern flan­kiert, die in ih­rer brei­ten Ge­stal­tung je­doch wie­der wie ein Stück Haus­flä­che wirk­ten – was nicht nur an dem Bild lie­gen konn­te, ob­wohl die­ser Um­stand dar­auf be­son­ders au­gen­fäl­lig wur­de. Aus den grau­en, in vie­len Par­ti­en ge­schweif­ten Schie­fer­dä­chern, die fa­rb­lich gut zur dunk­len Um­ge­bung des wald­rei­chen Hin­ter­grun­des ver­mit­tel­ten, er­ho­ben sich ein­zel­ne oder in ei­ner Rei­he zu­sam­men­ge­fass­te klei­ne Dach­fens­ter so­wie ei­ni­ge Ka­mi­ne von ver­schie­de­ner Grös­se, und un­ter der gros­sen Ter­ras­se, die, wie er vom Denk­mal­pfle­ger wuss­te, ei­gent­lich als Al­ta­ne hät­te be­zeich­net wer­den müs­sen – sie ge­stat­te­te als Platt­form auf ei­nem Un­ter­bau den Aus­tritt ins Freie auch aus dem, we­gen der Hang­la­ge, auf die­ser Sei­te in Stock­werk­hö­he über dem fran­zö­si­schen Gar­ten lie­gen­den Erd­ge­schoss –, un­ter der gros­sen Ter­ras­se oder Al­ta­ne wuchs über die säu­len­ar­tig dar­ge­stell­ten Be­ton­stüt­zen das Grün der das Haus um­ge­ben­den Na­tur.

Das Bild muss­te in der Zeit kurz nach dem Bau des Hau­ses ge­malt wor­den sein, also wahr­schein­lich kurz nach der Jahr­hun­dert­wen­de, denn der zwei­stö­cki­ge An­bau an den Haupt­trakt, der wohl ir­gend­ein­mal in der Zwi­schen­zeit auch mit Schie­fer über­dacht wor­den war, wies auf dem Bild noch ein mit Holz­werk ein­ge­rahm­tes und un­ter­teil­tes Flach­dach auf, das ver­mut­lich als Ter­ras­se für Son­nen- und Luft­bä­der ge­dient hat­te.

We­nig un­ter­halb des Bil­des, das fast die gan­ze Mau­e­r­flä­che be­deck­te, wur­de die Wand dort, wo sie mit der De­cke des un­ter ihr fol­gen­den Rau­mes zu­sam­men­traf, durch gedrech­sel­te, senk­rech­te Holz­spros­sen er­setzt, die sich nach dem Trep­pe­n­ab­satz zu­sam­men mit den hin­ab­stei­gen­den Stu­fen ver­län­ger­ten, bis sie am Ende der Trep­pe in ei­nem brei­ten, mit dem glei­chen Holz ver­klei­de­ten Pfei­ler ih­ren Ab­schluss fan­den. Durch die­se, wie er ver­mu­te­te, aus ge­beiz­tem Tan­nen­holz be­ste­hen­de Spros­sen­wand konn­te Ber­ger von dort, wo er stand, be­reits ins Erd­ge­schoss se­hen, und durch die Wand rechts von ihm, an die er sich an­ge­lehnt hat­te, um das Bild zu be­trach­ten, dran­gen lei­se, me­tal­lisch klin­gen­de Ge­räu­sche aus dem Lift­schacht, um den her­um die ge­ra­de, drei­läu­fi­ge Trep­pe mit gleich­sin­ni­gem Rich­tungs­wech­sel, wie man das nann­te – eine Trep­pe mit zwei Ab­sät­zen oder Po­des­ten also – je­weils ins nächst­hö­he­re Stock­werk hin­auf­führ­te.

Wäh­rend Ber­ger die we­ni­gen Stu­fen vor und nach dem letz­ten Trep­pe­n­ab­satz hin­un­ter­stieg, frag­te er sich, ob das Haus wohl noch der Zeit zu­ge­rech­net wer­den konn­te, die in der Kunst und in der Ar­chi­tek­tur als Ju­gend­stil be­zeich­net wur­de, und ob das Haus wohl un­ter Denk­mal­schutz stand, oder ob es die­ses Schut­zes doch wür­dig wäre und be­dürf­te – was Fra­gen wa­ren, auf die ihm der Denk­mal­pfle­ger si­cher ohne wei­te­res be­frie­di­gen­de Ant­wor­ten hät­te ge­ben kön­nen.

 

2

Als Ber­ger die Vor­hal­le be­trat, brann­te nur in der Emp­fangs­lo­ge, über ei­nem alt­mo­di­schen Ver­mitt­lungs­schrank, an dem sich ein ita­lie­ni­scher Haus­die­ner um eine Ver­bin­dung be­müh­te, und in den da­hin­ter­lie­gen­den Bü­ro­räu­men Licht, das je­doch kei­ne gros­se Reich­wei­te hat­te und durch die Däm­me­rung der Hal­le und des schma­len Gan­ges, der hin­ter der Loge zu den Bü­ro­räu­men führ­te, ge­dämpft wur­de.

Da er den Haus­die­ner in sei­ner Tä­tig­keit nicht ab­len­ken oder zu ei­ner un­an­ge­neh­men Eile drän­gen woll­te, trat er zu der Schwing­tür, die einen klei­nen Ein­gangs­raum von der Vor­hal­le ab­trenn­te, und sah durch ihre gros­sen Glas­flä­chen und die Glas­flä­chen der bei­den Flü­gel der Ein­gangs­tür auf die ge­deck­te Ein­fahrt hin­aus, wo vom Rand des auf vier Säu­len ru­hen­den Da­ches an ver­schie­de­nen Stel­len das Re­gen­was­ser hin­un­ter­tropf­te oder in dün­nen Was­ser­strah­len hin­un­ter­rann. An der fens­ter­lo­sen lin­ken Wand des klei­nen Rau­mes wa­ren ver­schie­de­ne An­schlä­ge an­ge­bracht, un­ter an­de­rem auch eine Lis­te mit den Fahr­ten und Prei­sen des haus­ei­ge­nen Au­to­diens­tes. Auf der rech­ten Sei­te be­fand sich ein hoch­ge­le­ge­nes, klei­nes Fens­ter in der Wand, durch das Ber­ger, von dort aus, wo er stand, je­doch nichts se­hen konn­te.

Als der Haus­die­ner mit dem Her­stel­len der Ver­bin­dung fer­tig zu sein schien, trat Ber­ger an das Emp­fangs­büf­fet und sag­te, dass er gern eine neue Fla­sche Mi­ne­ral­was­ser und ein Glas hät­te und ein paar Aus­künf­te wün­sche. Der Haus­die­ner bat ihn um einen Mo­ment Ge­duld und be­gab sich für kur­ze Zeit in einen der Bü­ro­räu­me hin­ter der Loge.

Kurz dar­auf er­schien im Gang, der zu den Bü­ro­räu­men führ­te, die schrift- oder hoch­deutsch spre­chen­de Frau, die hier als Se­kre­tä­rin ar­bei­te­te und etwa fünf oder zehn Jah­re äl­ter als Ber­ger, also dreis­sig oder fünf­und­dreis­sig Jah­re alt war. Ber­ger hat­te sie schon öf­ters mit an­de­ren Haus­be­woh­nern spre­chen se­hen, und wenn das in sei­ner Nähe ge­sche­hen war, hat­te er sie auch spre­chen hö­ren und ihre Stim­me und Spra­che als an­ge­nehm emp­fun­den. Als sie das An­mel­de­büf­fet er­reicht hat­te, er­kun­dig­te sie sich nach sei­nen Fra­gen und sag­te dann, nein, über den Ma­ler des Öl­bil­des wis­se sie nichts. Das Haus müs­se um neun­zehn­hun­dert her­um, et­was nach neun­zehn­hun­dert ge­baut wor­den sein, der ers­te Bau, aber ob es un­ter Denk­mal­schutz ste­he, kön­ne sie lei­der auch nicht sa­gen.

Ber­ger frag­te noch, ob sie viel­leicht et­was über einen Auf­ent­halt Hal­lers in die­sem Haus wis­se, des Dich­ters Her­mann Hal­ler, aber sie sag­te wie­der­um, nein, auch dar­über wis­se sie lei­der nichts. Aber wenn er sich da­für in­ter­es­sie­re, kön­ne sie ein­mal mit dem Herrn Di­rek­tor dar­über spre­chen.

Mit ei­nem »Bit­te schön« und ei­nem Lä­cheln, das Ber­ger nicht zu deu­ten im­stan­de war, quit­tier­te sie sei­nen Dank – wo­bei das Lä­cheln wahr­schein­lich gar kein Lä­cheln war, das er in ir­gend­ei­ner Wei­se hät­te deu­ten müs­sen. Dann stand der ita­lie­ni­sche Haus­die­ner in sei­ner blau­en Be­rufs­schür­ze mit dem Mi­ne­ral­was­ser und dem Glas in den Hän­den wie­der ne­ben ihm, und die Se­kre­tä­rin ging zu den Bü­ro­räu­men zu­rück.

Ber­ger be­dank­te sich auch beim Haus­die­ner, durch­quer­te die Vor­hal­le und be­trat die gros­se, lang­ge­zo­ge­ne Auf­ent­halts­hal­le, de­ren Längs­sei­ten in die Fens­ter­front ei­nes run­den Vor­baus mün­de­ten, durch die man über die of­fe­ne Ter­ras­se hin­weg auf die Gar­te­n­an­la­ge hin­aus­se­hen konn­te. Vor den Fens­tern hin­gen dün­ne, weis­se Gar­di­nen, und auf den Schei­ben der Vor­fens­ter wa­ren Re­gen­trop­fen zu se­hen.

Ber­ger hat­te sich in der Run­dung in einen der Fau­teuils ge­setzt, die um einen klei­nen Tisch, ein Rau­cher­tisch­chen, wie man das wohl nann­te, her­um­stan­den, auf dem in ei­ner Vase ei­ni­ge langs­teng­li­ge, rote und gel­be Ger­be­ra ein­ge­stellt wa­ren. Aus­ser Ber­ger be­fand sich nie­mand in der Hal­le, und wäh­rend er die leicht stau­big wir­ken­den Blu­men be­trach­te­te, er­in­ner­te er sich dar­an, wie ihm sei­ne Mut­ter er­zählt hat­te, dass er bei ih­rem ers­ten Be­such im Spi­tal, als sie ihm Blu­men mit­ge­bracht und ihn dar­auf hin­ge­wie­sen habe, dass sie aus dem ei­ge­nen Gar­ten sei­en: »Ja, ich wer­de sie dann gleich es­sen«, ge­sagt ha­ben soll. Ob­wohl er sich al­les, was ihm die Mut­ter da­von er­zählt hat­te, im­mer wie­der in Er­in­ne­rung ge­ru­fen hat­te, konn­te er sich auch dies­mal nur an ihre Er­zäh­lung, nicht aber an den Be­such sel­ber er­in­nern. Da­für er­in­ner­te er sich jetzt, dass die Ger­be­ra nach ei­nem deut­schen Arzt und Na­tur­for­scher ge­nannt wur­den, der Ger­ber ge­heis­sen hat­te, und dass man, wenn man bei dem Na­men Ger­ber die Buch­sta­ben G und B aus­tausch­te, den Na­men Ber­ger er­hielt.

So­weit er sich zu­rück­er­in­nern und so­weit er die Ge­schich­te sei­ner Fa­mi­lie zu­rück­ver­fol­gen konn­te, wa­ren fast alle ihre Mit­glie­der eher mit ei­nem Hang ins Grüb­le­ri­sche hin­ein aus­ge­stat­tet ge­we­sen, den sie je­doch durch eine gros­se, ja wahr­schein­lich über­mäs­sig zu nen­nen­de Ar­beit­s­am­keit aus­zu­glei­chen ge­sucht hat­ten und zum Teil im­mer noch such­ten. Wo­bei er, Ber­ger, na­tür­lich bei­spiels­wei­se im Ver­gleich zum Denk­mal­pfle­ger nur über we­ni­ge Fa­mi­li­en­mit­glie­der et­was wuss­te und nur einen lä­cher­lich klei­nen Teil der Fa­mi­li­en­ge­schich­te kann­te und dazu in sei­ner Se­hens­wei­se viel­leicht noch durch den Ei­ge­nen, wie es ihm schien, doch ver­erb­ten oder sonst halt durch Er­zie­hung wei­ter­ge­ge­be­nen Hang zum Grüb­le­ri­schen be­ein­flusst wur­de. Ob man das Phä­no­men nun Ver­er­bung oder Er­zie­hung nann­te, oder ein­fach nur Be­ein­flus­sung oder Prä­gung durch Um­welt und Men­schen, die einen von An­fang an um­ge­ben hat­ten, oder ob man bei­des als dar­an be­tei­ligt an­nahm – das al­les konn­te ei­nem höchs­tens eine Er­klä­rung da­für ge­ben, dass man so war, wie man war, an der Tat­sa­che sel­ber und an dem Um­stand, dass man sich, wie Dok­tor Sant­schi mein­te, nicht än­dern kön­ne, das sei also un­mög­lich, än­der­te das nichts. Über sich selbst, sei­ne Zu­sam­men­set­zung und Funk­ti­on voll­stän­di­ges Wis­sen und voll­stän­di­ge Kla­r­heit zu er­lan­gen, wür­de wahr­schein­lich ein noch grös­se­res Ding der Un­mög­lich­keit sein als bei­spiels­wei­se die Qua­dra­tur des Krei­ses, die Ver­dop­pe­lung des Wür­fels oder das Per­pe­tu­um mo­bi­le und an­de­re eben­so be­rühm­te Un­mög­lich­kei­ten der Men­schen­ge­schich­te und der im Sicht­be­reich des mensch­li­chen Geis­tes lie­gen­den Wirk­lich­keit.

Wenn Ber­ger es sich recht über­leg­te, ge­hör­te er zu je­nen Leu­ten, von de­nen es im Grü­nen Hein­rich von Gott­fried Kel­ler hiess, dass sie alle mög­li­chen Sa­gen und wun­der­li­chen Ge­schich­ten ih­rer Ge­gend mit der gröss­ten Ge­nau­ig­keit er­zäh­len konn­ten, ohne zu wis­sen, wie es zu­ge­gan­gen war, dass der Gross­va­ter die Gross­mut­ter nahm.

Sein Va­ter hat­te ihm im­mer nur knapp und un­gern Aus­kunft ge­ge­ben, wenn er ihn nach sei­nen Vor­fah­ren ge­fragt hat­te, und we­nig Ver­ständ­nis für sein In­ter­es­se auf­ge­bracht. Fast je­des Mal hat­te er ihn schon bald zu­rück­ge­fragt, war­um und wozu er denn die­se Sa­chen wis­sen wol­le, die er sel­ber auch nicht wis­se – so wie der Va­ter über­haupt, auch mit der Mut­ter, we­nig sprach und ein eher ver­schlos­se­nes, auf sich selbst ge­rich­te­tes Le­ben führ­te, ohne da­bei je­doch in den meis­ten und wich­tigs­ten Fäl­len das zu er­rei­chen, was er woll­te oder hoff­te. Die Ge­sprä­che in­ner­halb der Fa­mi­lie wa­ren meis­tens auf Aus­ein­an­der­set­zun­gen be­schränkt ge­blie­ben oder hat­ten in Aus­ein­an­der­set­zun­gen ge­mün­det, die fast im­mer am Kü­chen­tisch, beim Mit­tag- oder Abend­es­sen statt­ge­fun­den hat­ten. Ge­wiss konn­te der Va­ter auch an­ders sein, was zu se­hen war, wenn er sich, an­läss­lich ei­ner Be­er­di­gung ei­nes ih­rer To­ten bei­spiels­wei­se, im Krei­se der noch le­ben­den Fa­mi­lien­an­ge­hö­ri­gen und al­ten Be­kann­ten im Hei­mat­ort be­fand, dem Ort, in dem er auf­ge­wach­sen war und in dem oder in des­sen Nähe fast alle Fa­mi­lien­an­ge­hö­ri­gen, auch die müt­te­r­li­cher­seits, wohn­ten. Oder wenn sie ge­mein­sam einen die­ser Ver­wand­ten oder Be­kann­ten be­sucht hat­ten, was al­ler­dings nur sel­ten der Fall ge­we­sen war, so wie sie die­se Be­su­che schon nach dem Tod der El­tern des Va­ters, sei­ner, Ber­gers, Gros­s­el­tern vä­ter­li­cher­seits also, im­mer mehr ein­ge­schränkt oder ein­fach ge­las­sen hat­ten.

Die ent­schei­den­de Wen­dung im We­sen sei­nes Va­ters zu sei­ner jet­zi­gen Art hat­te wahr­schein­lich, ohne dass die­ser sich des­sen be­wusst ge­we­sen war, zu­sam­men mit sei­nem Ent­schluss statt­ge­fun­den, den Hei­mat­ort und den Kreis der An­ge­hö­ri­gen ei­ner schein­bar bes­se­ren Stel­lung im re­la­tiv weit ent­fernt lie­gen­den Lan­des­teil See­land we­gen zu ver­las­sen, und als er sich des­sen im Ver­lauf der Zeit dann ir­gend­ein­mal mehr oder we­ni­ger be­wusst ge­wor­den war, hat­te er sich schon da­mit ab­ge­fun­den ge­habt. Und erst bei den Be­su­chen im Spi­tal hat­te sich der Va­ter zu Ber­gers Er­stau­nen nach lan­ger Zeit auch ihm ge­gen­über wie­der ein­mal so, von je­ner an­de­ren, of­fe­ne­ren, ja be­sorg­ten Sei­te ge­zeigt, wie Ber­ger sie in sei­ner Kind­heit im Hei­mat­ort oft an ihm er­lebt hat­te und wie er sie aus die­ser Zeit noch in Er­in­ne­rung zu ha­ben glaub­te, wie sie spä­ter je­doch nur noch sel­ten zum Vor­schein ge­kom­men war.

Ber­ger schenk­te sich ein Glas Mi­ne­ral­was­ser ein und lehn­te sich, nach­dem er einen Schluck ge­trun­ken hat­te, ohne das Glas ab­zu­stel­len, wie­der im Fau­teuil zu­rück.

Wäh­rend er dem lei­ser wer­den­den Rau­schen der auf­stei­gen­den Koh­le­säu­rebla­sen lausch­te, das für kur­ze Zeit das un­ver­min­dert an­hal­ten­de Rau­schen des Re­gens zu über­tö­nen ver­moch­te, frag­te er sich, war­um er sich ei­gent­lich im­mer mehr für sei­ne Vor­fah­ren vä­ter­li­cher­seits in­ter­es­siert hat­te. Ein Grund da­für moch­te sein, dass er sei­ne Gros­s­el­tern müt­te­r­li­cher­seits gar nicht ge­kannt hat­te: die Mut­ter sei­ner Mut­ter war schon bald nach de­ren Ge­burt, und der Va­ter im Al­ter von et­was über fünf­zig Jah­ren noch vor der Ver­hei­ra­tung der Toch­ter mit sei­nem, Ber­gers, Va­ter an ei­nem Ma­gen­krebs ge­stor­ben, und auch die Stief­mut­ter sei­ner Mut­ter, die so sei­ne, Ber­gers, Gross­mut­ter oder bes­ser Stief­gross­mut­ter müt­te­r­li­cher­seits ge­wor­den war, hat­te kein ho­hes Al­ter er­reicht, son­dern war, wenn Ber­ger sich recht er­in­ner­te, kurz nach­dem er in die Schu­le ge­kom­men, eben­falls früh ge­stor­ben. Wahr­schein­lich war das der wich­tigs­te Grund- ob­wohl da na­tür­lich noch die Sa­che mit der Wei­ter­ga­be des Fa­mi­li­enna­mens von der Va­ter­sei­te her war, die mög­li­cher­wei­se auch einen Ein­fluss hat­te. Als ein­zi­ger Sohn und all­fäl­li­ger zu­künf­ti­ger Va­ter wür­de er, Ber­ger, den Na­men wie­der wei­ter­ge­ben müs­sen und so für den Fort­be­stand der Fa­mi­lie sor­gen, was in ih­rem Fall, da der Name Ber­ger al­les an­de­re als ein sel­te­ner Name war, je­doch nicht von gros­ser und in der heu­ti­gen Zeit über­haupt nicht mehr von Be­deu­tung sein konn­te. Mög­li­cher­wei­se war aber auch ganz ein­fach die do­mi­nie­ren­de Stel­lung sei­nes Va­ters ge­gen­über sei­ner Mut­ter und so in ih­rer Fa­mi­lie über­haupt ent­schei­dend für sein ein­sei­ti­ges In­ter­es­se ge­we­sen. Die Mut­ter­sei­te, die durch den frü­hen Tod der Mut­ter­el­tern und der Stief­gross­mut­ter zu­fäl­lig oh­ne­hin schon ge­schwächt ge­we­sen war, hat­te die­ser nichts ent­ge­gen­zu­set­zen ge­habt, und hat­te es, was sei­ne Mut­ter be­traf, im­mer noch nicht, und auch er, Ber­ger, muss­te des­halb vom Va­ter und der Va­ter­sei­te mass­ge­bend ge­formt wor­den sein.

Da in ih­rer Fa­mi­lie das sonst in vie­len Fa­mi­li­en – so, wie ihm die­ser er­zählt hat­te, auch in der des Denk­mal­pfle­gers – üb­li­che Mit­glied, das de­ren Ge­schich­te ein­mal nach­ge­gan­gen war und ihre Her­kunft er­forscht hat­te, fehl­te oder zu­sam­men mit sei­nen Er­geb­nis­sen und Er­kennt­nis­sen, ohne auch nur die ge­rings­te Spur hin­ter­las­sen zu ha­ben, in der Rei­he der To­ten, de­nen er nach­ge­spürt hat­te, sel­ber wie­der ver­schwun­den war, hät­te ei­gent­lich er, Ber­ger, die­se Stel­lung ein­neh­men oder wie­der­ein­neh­men kön­nen, und er hat­te sich dies auch schon vor­ge­nom­men ge­habt, sich je­doch zu den dazu not­wen­di­gen Schrit­ten in die Ge­mein­de­a­r­chi­ve, zu den Stan­des­re­gis­tern und den Kir­chen­bü­chern bis jetzt noch nie ent­schei­den kön­nen. Al­les, was er über die Vor­fah­ren, die sei­nem Ur­gross­va­ter vor­an­ge­gan­gen wa­ren, wuss­te, be­schränk­te sich auf die all­ge­mei­ne Be­deu­tung des Na­mens Ber­ger als Her­kunfts­na­me, der be­sag­te, dass der ers­te Trä­ger des Na­mens sei­ne Woh­nung auf dem Rü­cken, am Hang oder am Fus­se ei­nes Ber­ges ge­habt ha­ben muss­te und also der »vom Berg« ge­we­sen war; eine Ei­gen­schaft, die für vie­le Men­schen in den ver­schie­dens­ten Ge­gen­den der Welt zu­traf, so dass es auch völ­lig un­ge­wiss war, ob Ber­gers Hei­mat­ort schon im­mer der Hei­mat­ort der Fa­mi­lie ge­we­sen war oder ob ei­ner der Vor­fah­ren das Hei­mat­recht an die­sem Ort erst er­wor­ben hat­te. Ob­wohl er sich mit dem Ver­las­sen des El­tern­hau­ses und dem vor­läu­fi­gen Nie­der­las­sen im Em­men­tal so noch wei­ter als sei­ne El­tern von die­sem Hei­mat­ort ent­fernt hat­te, war Ber­ger da­durch auch wie­der in eine Ge­gend ge­langt, wo vie­le Leu­te den glei­chen Na­men wie er tru­gen, was aber, wenn man die dor­ti­ge Land­schafts­ge­stalt kann­te, wohl wei­ter nicht ver­wun­der­lich war.

Wie man ihm ge­sagt hat­te, soll­te es im Obe­rem­men­tal, in den Äm­tern Ko­nol­fin­gen und Thun, in der Ge­gend von Ko­nol­fin­gen, Ober­diess­bach, Lin­den, Heim­berg und Stef­fis­burg al­ler­dings noch mehr Ber­ger ha­ben – al­lein in Stef­fis­burg gab es, wie Ber­ger ein­mal im Te­le­fon­buch nach­ge­se­hen hat­te, ge­gen fünf­zig Abon­nen­ten die­ses Na­mens. Ob sich da­bei noch weit­aus mit ihm Ver­wand­te hät­ten be­fin­den kön­nen, wuss­te er aber nicht. Da­für hat­te er noch ge­hört, dass sich in die­ser Ge­gend der Ver­samm­lungs­ort ei­ner re­li­gi­ösen Ge­mein­schaft oder Sek­te be­fin­de, die im gan­zen Em­men­tal, das über­haupt ein gu­ter Bo­den für das Sek­ten­we­sen sei, An­hän­ger habe, die nach dem Grün­der und ehe­ma­li­gen Ober­haupt der Sek­te »Ber­ge­ri­a­ner« ge­nannt wür­den. Der Sek­ten­grün­der, der also auch ein Ber­ger ge­we­sen war, habe »ein gu­tes Wort ge­habt«, sei also ein gu­ter Pre­di­ger ge­we­sen, der den Bau­ern­hö­fen nach­ge­gan­gen sei, dort, wie man sich sag­te, vor al­lem gern zu den Ta­ges­zei­ten, in de­nen sich nur die Frau­en auf den Hö­fen be­fan­den, »missio­niert« habe, und sich von den Bäu­e­rin­nen, die ihn an­schei­nend auch ganz gern zu je­nen Ta­ges­zei­ten bei sich ge­se­hen hät­ten, noch mit Kaf­fee und Ome­let­ten habe »trak­tie­ren« las­sen. Die An­hän­ger der Sek­te, die sich nichts dar­aus ma­chen wür­den, als »Stün­de­ler« be­zeich­net zu wer­den, sei­en je­doch, wie sie selbst er­klär­ten, al­lem Welt­li­chen ab­hold und wür­den ein from­mes, streng nach den Grund­sät­zen der Bi­bel aus­ge­rich­te­tes Le­ben füh­ren – un­ter ih­nen auch vie­le rei­che Bau­ern, die gros­se Tei­le ih­res Reich­tums an die Sek­te ab­ge­tre­ten hät­ten, die nicht zu­letzt auch des­halb, weil da Geld vor­han­den sein müs­se, so mäch­tig ge­wor­den sei.

In der zwan­zig­bän­di­gen Ta­schen­buch­aus­ga­be sei­nes Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kons hat­te Ber­ger aber ver­ständ­li­cher­wei­se über die »Ber­ge­ri­a­ner« und de­ren Grün­der und Na­men­ge­ber nichts ge­fun­den, ob­wohl sich, was na­tür­lich nichts heis­sen woll­te, auch un­ter den dort auf­ge­führ­ten Trä­gern des Na­mens nie­mand be­fun­den hat­te, von dem er schon ge­hört hät­te: ein ös­ter­rei­chi­scher The­a­terdi­rek­tor, Schrift­stel­ler und Frei­herr von, ein im­pres­sio­nis­tisch-re­a­lis­ti­scher schwe­di­scher Er­zäh­ler, ein deut­scher Li­te­ra­tur­his­to­ri­ker und Ver­fas­ser ei­ner volks­tüm­li­chen Schil­ler­bio­gra­phie, ein im Stil von Brahms kom­po­nie­ren­der ame­ri­ka­ni­scher Mu­si­ker und eine Opern- und Kon­zert­sän­ge­rin, von der nur das Ge­burts­da­tum an­ge­ge­ben war und von der es hiess, dass sie Ko­lo­ra­tur­so­pran war.

Ber­ger nahm sich vor, bei Ge­le­gen­heit auch ein­mal im Te­le­fon­buch nach­zu­schau­en, wie vie­le Ber­ger in Lu­zern an­ge­ge­ben wa­ren. In Thun wa­ren es et­was über hun­dert ge­we­sen und in Bern ge­gen zwei­hun­dert­fünf­zig, in Biel da­ge­gen nur um die fünf­zig her­um.

Als er eine der Tü­ren auf­ge­hen hör­te, wel­che die Auf­ent­halts­hal­le mit den üb­ri­gen Tei­len des Hau­ses ver­ban­den, dreh­te er den Kopf in die Rich­tung, aus der die Ge­räu­sche er­tön­ten, und sah am Ende der Hal­le, wo es dunk­ler war als bei der Fens­ter­front, die Se­kre­tä­rin ein­tre­ten. Sie hielt ein Heft in der Hand, das wie eine Par­ti­tur aus­sah, ob­wohl er sie sich nicht als Sän­ge­rin vor­stel­len konn­te, und kam da­mit auf ihn zu, so dass er sich nach vorn beug­te, das Glas ne­ben die Fla­sche auf das Rau­cher­tisch­chen stell­te und sich er­hob. Be­vor die Se­kre­tä­rin, die wirk­lich auf ihn zu­kam, vor ihm ste­hen blieb und zu spre­chen be­gann, schien sie ihn wie­der freund­lich an­zu­lä­cheln.

»Ich habe mit dem Herrn Di­rek­tor ge­spro­chen«, sag­te sie, »Hal­ler war wirk­lich hier. Aber der Di­rek­tor ist erst seit neun­zehn­hun­dert­fünf­zig hier, und er weiss auch nicht, ob aus der Zeit von Hal­lers Auf­ent­halt noch et­was vor­han­den ist. In der Kar­tei ha­ben wir je­den­falls nichts mehr. Aber in sei­ner Zeit, wenn Sie das viel­leicht in­ter­es­siert, war der Pro­fes­sor Bu­ber da, der lang­jäh­ri­ger Gast bei uns war.«

»Also gleich­zei­tig mit Hal­ler?«

»Nein, in der Zeit vom jet­zi­gen Di­rek­tor. Ich habe Pro­fes­sor Bu­ber üb­ri­gens noch selbst ge­kannt. Ich bin schon vor zehn Jah­ren ein­mal hier ge­we­sen, und da war Pro­fes­sor Bu­ber auch da. Und hier, wenn Sie’s in­ter­es­siert, habe ich noch ein al­tes Heft ei­ner Zeit­schrift ge­fun­den, in dem al­ler­dings nichts über die Ge­schich­te des Hau­ses steht, aber es han­delt von al­ten, das heisst da­mals also mo­der­nen Bau­for­men, und da ist un­ter an­de­rem auch die Sonn­matt auf­ge­führt.«

Auf dem grau­en Um­schlag, der mit ei­ner dun­kel­blau­en Fa­r­be in der Art des Ju­gend­stils be­druckt und ge­stal­tet war, las Ber­ger oben rechts das Da­tum März 1921. Das Heft selbst hiess Mo­der­ne Bau­for­men, und un­ter ei­nem dun­kel­blau­en Recht­eck, das mit ei­nem spitz­wink­li­gen, gleich­schenk­li­gen Drei­eck und Pflan­zen­mo­ti­ven in der grau­en Fa­r­be des Um­schlags ge­füllt war, stand in ei­nem dar­un­ter an­sch­lies­sen­den, we­ni­ger ho­hen recht­e­cki­gen Rah­men zur Er­gän­zung noch der Auf­druck Mo­nats­hef­te für Ar­chi­tek­tur und Raum­kunst. Wäh­rend Ber­ger es durch­blät­ter­te, schau­te auch die Se­kre­tä­rin hin­ein und sag­te, er kön­ne es be­hal­ten, sie habe, glau­be sie, noch einen gan­zen Sto­ss da­von, aber sie müs­se zu­erst noch ein­mal nach­se­hen.

Ber­ger setz­te sich wie­der und sah sich in dem Heft den Bei­trag über die Ar­chi­tek­ten Tei­ler & Hel­ber in Lu­zern an, in dem ne­ben der Sonn­matt noch das Schul­haus und das Pfarr­haus in Gö­sche­nen, das Schul­haus in At­ting­hau­sen und das Schul­haus in Bür­glen, alle im Kan­ton Uri, ge­wür­digt und im Bild vor­ge­führt wa­ren. Von Sonn­matt hat­te es ne­ben der Fo­to­gra­fie der Ein­tritts­hal­le noch zwei Ge­samt­an­sich­ten der Süd­sei­te, also der Sei­te ge­gen den Gar­ten hin­aus, die auch auf dem Öl­bild im Trep­pen­haus zu se­hen war, und eine von der Nord­west­sei­te. Dann noch: Eine Teil­an­sicht der Nord­fas­sa­de mit der An­fahrt, eine Auf­nah­me des Ein­gangs zum Ba­de­haus, eine des Mu­si­krau­mes, je ein Aus­schnitt aus dem Mu­si­kraum und dem klei­nen Spei­se­saal und eine Ab­bil­dung der Grund­ris­se von Erd­ge­schoss, zwei­tem Ober­ge­schoss und Ober­ge­schoss des Ba­de­hau­ses im Mass­stab eins zu fünf­hun­dert. Fer­tig­ge­stellt wor­den sein muss­te das Haus, so­viel er dem Text ent­neh­men konn­te, im Som­mer neun­zehn­hun­der­telf.

Auf der Um­schlagrück­sei­te wa­ren in ei­nem Oval, in ei­ner Tech­nik, die an eine Ra­die­rung er­in­ner­te, der Kopf und die Vor­der­bei­ne ei­nes Ele­fan­ten ge­zeich­net, der sei­nen Rüs­sel zwi­schen den Sto­ss­zäh­nen hin­un­ter­hän­gen liess und das ge­krümm­te Ende bei ei­nem klei­nen Haus, das zwi­schen zwei eben­so klei­nen Bäu­men zu sei­nen Füs­sen stand, zur Tür­öff­nung hin­ein­hielt. Wie es in ei­nem recht­e­cki­gen Rah­men über dem Oval hiess, warb das Bild für Ro­mul-Va­cu­um-Ent­stau­bungs­an­la­gen Sys­tem Schau­er, die die bes­ten sei­en. Die Fir­ma Röp­ner u. Mül­ler in Feu­er­bach-Stutt­gart fand, wie es in ei­nem recht­e­cki­gen Rah­men un­ter dem Oval hiess, die Rei­ni­gung mit Saug­luft sei die gründ­lichs­te, ge­sun­des­te, ein­fachs­te und bil­ligs­te, die Ent­stau­bungs­an­la­ge sei für das mo­der­ne Haus eben­so un­ent­behr­lich wie das Bad und be­sass, wie es in den recht­e­cki­gen Rah­men auf bei­den Sei­ten des Ovals hiess, da­für die D R und die aus­län­di­schen Pa­ten­te.

Von Mar­tin Bu­bers Auf­ent­halt in Sonn­matt hat­te Ber­ger schon von Dok­tor Sant­schi ge­hört. Und spä­ter, in sei­nem Zim­mer, hat­te er sich plötz­lich an eine schon meh­re­re Jah­re zu­rück­lie­gen­de Lek­tü­re von Hugo Balls Hal­ler­bio­gra­phie er­in­nert, die zu Hal­lers fünf­zigs­tem Ge­burts­tag er­schie­nen war, und dar­an, dass es dar­in ge­heis­sen hat­te, Hal­ler habe sich zur Zeit des Ers­ten Welt­krie­ges zu ei­ner Kur in Sonn­matt auf­ge­hal­ten. Ber­ger hat­te Sant­schi ge­fragt, ob er et­was da­von wis­se, aber die­ser hat­te nur von Bu­bers Sonn­matt­be­su­chen ge­hört. Als pi­kan­tes De­tail, an des­sen Wahr­heits­ge­halt je­doch kaum ge­zwei­felt wer­den kön­ne, hat­te ihm Sant­schi noch er­zählt, dass Bu­ber bei die­sen Auf­ent­hal­ten im­mer wie­der von an­de­ren Freun­din­nen be­glei­tet wor­den sei.

Als Ber­ger, nach­dem er wie­der einen Schluck Mi­ne­ral­was­ser ge­trun­ken hat­te, das er­neu­te Öff­nen der Tür hör­te und – wie es ihm schien, in ei­ner per­fek­ten Wie­der­ho­lung – die Se­kre­tä­rin ein­tre­ten sah, die wie­der ein Heft, das an eine Par­ti­tur er­in­ner­te, in der Hand hielt, er­schrak er für einen Mo­ment ob der Vor­stel­lung, das ers­te Ein­tre­ten der Se­kre­tä­rin könn­te gar nicht wirk­lich statt­ge­fun­den ha­ben. Durch den hand­fes­ten Be­weis des Hef­tes, das er sel­ber in der Hand hielt, be­ru­hig­te er sich dann aber so­fort wie­der. Um den ers­ten Ein­druck noch wei­ter zu ver­wi­schen, sah Ber­ger der Se­kre­tä­rin, als sie auf ihn zu­trat, nicht ins Ge­sicht, son­dern an ihr vor­bei in den gold­ge­rahm­ten Spie­gel, der im Hin­ter­grund des Rau­mes hing und dort die Dun­kel­heit durch das Spie­geln der Fens­ter­front un­ter­brach. Vor­über­ge­hend sah er die sil­hou­et­ten­haf­te Rü­cke­n­an­sicht der Se­kre­tä­rin dar­in auf­tau­chen, dann hat­te er ge­ra­de noch Zeit, sich zu er­he­ben, be­vor sie wie­der vor ihm stand.

»Sie kön­nen das Heft be­hal­ten«, sag­te sie. »Aber ich habe hier noch ei­nes, das ein biss­chen bes­ser er­hal­ten ist.«

»Und sonst, über die Ge­schich­te des Hau­ses, gibt es nichts mehr?« frag­te Ber­ger.

»Aus­ser dem, nein. Bis neun­zehn­hun­dert­fünf­und­vier­zig-fünf­zig war es ja als Kli­nik ge­führt, nur als Kli­nik, und dann wur­de es als Ho­tel wei­ter­ge­führt, mit ärzt­li­cher Be­treu­ung. Es nennt sich zwar auch jetzt noch me­di­zi­ni­sche Pri­vat­kli­nik, es ist aber doch mehr Ho­tel als Kli­nik. Die Kli­nik war un­ter ärzt­li­cher Di­rek­ti­on, un­ter Pro­fes­sor Holz, Herz­spe­zi­a­list in Lu­zern, und jetzt ist das Haus un­ter Ho­tel­di­rek­ti­on. Mehr kann ich Ih­nen auch nicht sa­gen.«

In die­sem Au­gen­blick öff­ne­te sich die Tür wie­der, durch die die Se­kre­tä­rin ein­ge­tre­ten war, und eine schwa­rz­haa­ri­ge Frau in den Vier­zi­gern be­trat die Auf­ent­halts­hal­le. Die Se­kre­tä­rin, nun mit dem Heft, das sie Ber­ger zu­erst ge­ge­ben hat­te, in der Hand, be­gann die Hal­le zu ver­las­sen, ob­wohl Ber­ger das Ge­spräch gern noch et­was ver­län­gert hät­te, da­für je­doch nicht gleich eine pas­sen­de Be­mer­kung ge­fun­den hat­te. Un­sch­lüs­sig, das bes­ser er­hal­te­ne Heft in den Hän­den hal­tend, blieb er des­halb an sei­nem Platz ste­hen und sah von der einen Frau zur an­de­ren, bis sich die Tür hin­ter der Se­kre­tä­rin ge­schlos­sen hat­te.

Die Frau mit dem schwa­r­zen Haar, das, wenn man es aus der Nähe sah, schon von vie­len weis­sen Haa­ren durch­zo­gen war, ge­hör­te wie er, Ber­ger, zu den Gäs­ten des Hau­ses und war ihm schon ver­schie­dent­lich auf­ge­fal­len, weil er, wenn sie sich hier, in der Auf­ent­halts­hal­le, auf Spa­zier­gän­gen oder in den Gän­gen des Hau­ses be­geg­net wa­ren, das Ge­fühl ge­habt hat­te, sie mus­te­re ihn ein­ge­hen­der, als es üb­lich war. Auch jetzt wa­ren ihre dunk­len Au­gen auf ihn ge­rich­tet, als sie in ei­nem Schrift­deutsch, das we­der hoch­deutsch noch ös­ter­rei­chisch ge­färbt und doch nicht ak­zent­frei zu sein schien, grüss­te und frag­te, ob er er­lau­be, und sich dann ihm ge­gen­über in einen mit Kis­sen aus­ge­leg­ten Korb­ses­sel setz­te. Ber­ger ent­schloss sich, eben­falls noch ein­mal Platz zu neh­men und wie­der in dem Heft zu blät­tern, und be­nutz­te die Ge­le­gen­heit dazu, zwi­schen­durch die Frau auch ein­mal et­was ge­nau­er an­zu­se­hen. Wenn sich ihre Bli­cke tra­fen, sah er je­doch so­fort wie­der in das Heft oder dreh­te sei­nen Kopf lang­sam weg und sah zum Fens­ter in den Re­gen hin­aus. Ob­wohl er nicht hät­te sa­gen kön­nen, wor­an es lag – es muss­te et­was mit ih­rer Fri­sur, den auf­ge­steck­ten, in ei­nem lo­cke­ren Chi­gnon zu­sam­men­ge­bun­de­nen schwa­r­zen Haa­ren, mit den schwa­r­zen Au­gen und der Phy­sio­gno­mie ih­res Ge­sich­tes zu tun ha­ben –, glaub­te er plötz­lich si­cher zu sein, dass die Frau eine Jü­din war, was ihn äus­serst über­rasch­te, weil er bis­her nicht ge­glaubt hat­te, dass man je­man­dem an­se­hen kön­ne, ob er Jude sei oder nicht.

Als er auf die Uhr blick­te, sah er, dass es bald Zeit für das Abend­es­sen war, wahr­schein­lich war das auch der Grund da­für, dass die Frau in die Auf­ent­halts­hal­le ge­kom­men war. Nach und nach ka­men nun stän­dig wei­te­re Gäs­te des Hau­ses her­ein, al­les Leu­te, die zwi­schen sech­zig und sieb­zig Jah­re alt wa­ren, und Ber­ger er­griff die Mi­ne­ral­was­ser­fla­sche und das Glas, ver­ab­schie­de­te sich von der Frau, ver­liess die Hal­le und ging durch den brei­ten Gang zu den Spei­se­sä­len im West­flü­gel des Hau­ses, um zum ers­ten Mal, seit er hier war, dort zu es­sen. Als er in dem gros­sen Raum je­doch die vie­len Ti­sche mit den bren­nen­den Lam­pen und die paar al­ten Leu­te sah, die wie in Zug­ab­tei­len Rü­cken ge­gen Rü­cken be­reits da­sas­sen und war­te­ten, er­schrak er und kehr­te wie­der um. Vor der Auf­ent­halts­hal­le traf er auf die schwa­rz­haa­ri­ge Frau, die ihn an­lä­chel­te und an ihm vor­bei zu den Spei­se­sä­len ging. Ber­ger trat an den Emp­fangs­tisch, war­te­te, bis je­mand er­schien, und sag­te dann der Frau Di­rek­tor, die kam, dass er doch lie­ber wei­ter­hin in sei­nem Zim­mer es­sen wol­le.

Wie­der ver­zich­te­te er auf die Be­nut­zung des Lif­tes, als er nach oben ging, dies­mal um dem au­to­ma­tisch ein­schal­ten­den Licht der Lift­ka­bi­ne zu ent­ge­hen, das er für noch über­f­lüs­sig hielt und vor des­sen über­g­angs­lo­ser Hel­lig­keit er sich mit ei­nem Mal fast wie vor ei­nem kör­per­li­chen Schlag zu schüt­zen ver­such­te. Hat­te ihm nicht ein­mal je­mand, den er ge­liebt hat­te, ge­sagt, er emp­fin­de künst­li­ches Licht, so­lan­ge noch eine Spur von Ta­ges­licht vor­han­den sei, als et­was Töd­li­ches, weil die bei­den Licht­ar­ten sich ge­gen­sei­tig tö­ten wür­den?

Auch in sei­nem Zim­mer mach­te er kein Licht und schloss nach ei­ni­gem Zö­gern die Zim­mer­tür mit dem im Schloss ste­cken­den Schlüs­sel ab. Dann setz­te er sich auf einen un­schön ge­form­ten, aber ei­ni­ger­mas­sen be­que­men Holz­ses­sel, des­sen Sitz­flä­che und Rü­cken­leh­ne ge­pols­tert und mit ei­nem ab­ge­nutz­ten Stoff über­zo­gen war – ein bil­lig ge­ar­bei­te­tes Pro­dukt aus dem ge­schmack­lo­sen Mas­sen­an­ge­bot ei­ner markt­be­herr­schen­den Mö­bel­fa­brik, das die­se wahr­schein­lich einst als mo­dern aus­ge­ge­ben und weit über dem ei­gent­li­chen Wert ver­kauft hat­te. Die Rü­cken­leh­ne dem Bett zu­ge­wen­det, schau­te Ber­ger an den schwa­rz er­schei­nen­den Fens­ter­spros­sen vor­bei in das gleich­mäs­si­ge, noch ei­ni­ger­mas­sen hel­le Ne­bel­ge­misch hin­aus, das das Haus nun voll­stän­dig um­gab.

Über das künst­lich vom Men­schen er­zeug­te elek­tri­sche Licht und die ihn, den Men­schen, wäh­rend des Ta­ges um­ge­ben­de na­tür­li­che Hel­lig­keit des Rau­mes, wel­che die ei­gent­li­che Ur­sa­che sei­ner Seh­wahr­neh­mung bil­de­ten, hat­te Ber­ger mit dem Denk­mal­pfle­ger nicht ge­spro­chen, ob­wohl das ein The­ma ge­we­sen wäre, das zu die­sem ge­passt hät­te: zu sei­ner Art, sei­nem Be­ruf und sei­ner Vor­lie­be für die Ge­scheh­nis­se und die Kul­tur des Mit­tel­al­ters, mit de­nen er sich auch sei­ner Ar­beit we­gen zu be­fas­sen hat­te, die ihn je­doch, wie er ge­sagt hat­te, nie die Zu­sam­men­hän­ge mit der üb­ri­gen be­kann­ten und er­ahn­ten Men­schen­ge­schich­te, mit den Denk­wei­sen der Ge­gen­wart und den Vi­si­o­nen der Zu­kunft hät­ten ver­ges­sen las­sen, son­dern ihm im Ge­gen­teil oft die Sicht dar­auf ge­klärt und ihn auch auf eine Art ent­krampft hät­ten. So hat­te Ber­ger je­den­falls die Äus­se­rung ver­stan­den, die die­ser ein­mal – war es auf ih­rer Sim­men­ta­ler Rei­se, in ei­ner der go­ti­schen Kir­chen des Ta­les ge­we­sen? – ge­macht hat­te. Ne­ben an­de­ren Wer­ken sei ihm, dem Denk­mal­pfle­ger, für sich und sei­ne Ar­beit ge­ra­de auch die Dich­tung des Sankt Gal­ler Mön­ches Not­ker Bal­bu­lus, des Stamm­lers, wich­tig und teu­er, hat­te er da­mals noch ge­sagt, wo­bei er des­sen Sprach­feh­ler aus­drü­ck­lich in die­ses Ur­teil hat­te mit­ein­be­zo­gen wis­sen wol­len. Me­dia vita in mor­te su­mus – oder wie es in der von ihm eben­so ge­schätz­ten Über­set­zung von Lu­ther heis­se: Mit­ten wir im Le­ben sind mit dem Tod um­fan­gen... Dies schei­ne ihm ein Le­bens­ver­ständ­nis und To­des­ver­ständ­nis zu sein, das zum Bei­spiel in der Form des Mönch­tums, trotz der Frag­wür­dig­kei­ten, die die­se si­cher auch habe, vie­len Men­schen eine mehr oder we­ni­ger an­stän­di­ge Le­bens­wei­se er­mög­licht habe und heu­te in an­de­ren For­men im­mer noch er­mög­li­chen könn­te, wenn man an­stän­dig etwa im Sin­ne der heu­ti­gen Re­dens­art an­stän­dig über die Run­den kom­men ver­ste­hen wür­de. Für ihn sei die­se Re­dens­art eine Art zu spre­chen, die ihm mehr als nur eine Re­dens­art be­deu­te.

Ber­ger er­in­ner­te sich je­doch, dass der Denk­mal­pfle­ger auch ein­mal et­was ge­sagt hat­te, das mit dem Phä­no­men des Lich­tes zu tun hat­te. Oft füh­re ihn sei­ne Ar­beit schon wäh­rend des Ta­ges in die Däm­me­run­gen der Kir­chen, ehe­ma­li­gen Klös­ter, Schlös­ser, Bur­gen, Land­sit­ze, Tür­me, Pfarr­häu­ser, Amts­häu­ser, Spi­tä­ler, Al­ters­hei­me, Ge­fäng­nis­se, Er­zie­hungs­hei­me, An­stal­ten, Gast­hö­fe, Zunft­häu­ser, Bür­ger­häu­ser, Mu­se­en und Schul­häu­ser, hat­te er ge­sagt, wel­ches Däm­me­run­gen sei­en, die nicht un­ab­än­der­lich hin­zu­neh­men ge­braucht wür­den wie das In­ein­an­der­über­glei­ten von Tag und Nacht in­fol­ge des Streu­lich­tes in der Erd­at­mo­sphä­re. Sich ge­gen die­se auf­zu­leh­nen, wür­de er je­doch als eben­so un­sin­nig emp­fin­den, wie es ge­gen jene zu tun. Ein däm­me­rungs­lo­ses An­sch­lies­sen völ­li­ger Nacht an den Son­nen­un­ter­gang wür­de es nur auf at­mo­sphä­re­lo­sen Him­mels­kör­pern wie dem Mond ge­ben, der zwar be­reits in die Reich­wei­te des Men­schen ge­ra­ten sei, das An­ge­wie­sen­sein des­sel­ben auf die Erde aber bis­her noch nicht habe auf­he­ben kön­nen.

Dok­tor Sant­schi hat­te Ber­ger vor dunk­len Zim­mern und vor dem ein­sa­men Sit­zen in der Dun­kel­heit ge­warnt, sei­nen Ein­wand, dass er in die­sem Zu­stand Ein­fäl­len und Ein­ge­bun­gen ge­gen­über aber mög­li­cher­wei­se of­fe­ner und auf­nah­me­fä­hi­ger sein könn­te, je­doch eben­falls gel­ten las­sen. Trotz­dem hat­te Sant­schi ihm ge­ra­ten, wenn sich die de­pres­si­ve Ge­fühl­sla­ge aus­zu­wei­ten be­gin­ne, ein oder zwei Va­li­um zu neh­men und sich ins Bett zu le­gen. Wenn es ihm mög­lich sei, sol­le er dort dann im Schei­ne ei­ner Nacht­tisch­lam­pe noch et­was le­sen.

Ber­ger hör­te, wie zu­erst die äus­se­re Zim­mer­tür ge­öff­net wur­de, und er­schrak des­halb nicht be­son­ders, als die Fal­le der in­ne­ren Zim­mer­tür zwei­mal nach­ein­an­der hin­un­ter­ge­drückt wur­de und dann, bis er die Tür er­reicht und den Schlüs­sel im Schloss her­um­ge­dreht hat­te, hin­un­ter­ge­drückt blieb. Wie er er­war­tet hat­te, stand ei­nes der Mäd­chen vor der Tür, die das Es­sen zu brin­gen pfleg­ten, und schau­te ihn et­was er­staunt an, als er ihr er­klär­te, dass er, we­gen der Au­gen, noch kein Licht zu ma­chen wün­sche. Er sag­te, er hof­fe, es ma­che ihr nichts aus und sie sehe trotz­dem noch ge­nug; wenn er fer­tig ge­ges­sen habe, wer­de er das Ge­schirr zu­sam­men­stel­len und es ihr, wenn sie an die Tür klop­fe, an die­se her­an­brin­gen. Das Mäd­chen, das ihm, wenn er auf dem Zim­mer ass, meis­tens das Es­sen brach­te und ihm auf sei­ne Fra­ge hin, wie sie heis­se, Beet­je Lie­wens ge­sagt hat­te, hat­te zwar nichts da­ge­gen, aber wäh­rend er ass, frag­te sich Ber­ger plötz­lich, ob sein Ver­hal­ten wirk­lich »in Ord­nung« war, wie das Mäd­chen ge­sagt hat­te, oder ob es ihm die­se Ant­wort nur aus Höf­lich­keit, Be­quem­lich­keit oder Mit­leid ge­ge­ben hat­te.

Um beim Es­sen et­was mehr zu se­hen, hat­te Ber­ger die in­ne­ren und äus­se­ren Flü­gel der Bal­kon­tür ge­öff­net, so dass kal­te, re­gen­feuch­te Luft in das Zim­mer ström­te und die­ses lang­sam zu fül­len be­gann, was sei­nen Ap­pe­tit auf die Gers­ten­sup­pe, die Ome­let­te mit Spar­geln und die Zi­tro­nen­crè­me er­höh­te. Als er fer­tig ge­ges­sen hat­te, schluck­te er mit et­was Mi­ne­ral­was­ser zwei Va­li­um­ta­blet­ten hin­un­ter.

Bald dar­auf klopf­te das aus Hol­land stam­men­de, etwa zwan­zig Jah­re alte Mäd­chen na­mens Beet­je Lie­wens an die Tür, er brach­te ihr wie ver­spro­chen das Ta­blett mit dem zu­sam­men­ge­stell­ten Ge­schirr, be­dank­te sich bei ihr und wünsch­te ihr eine gute Nacht. Dann zog er sei­nen Schlaf­an­zug an und leg­te sich ins Bett.

 

3

Ob­wohl er – was al­ler­dings nicht ganz klar war – den Schul­dienst auf­ge­ge­ben hat­te oder von die­sem dis­pen­siert wor­den war, muss­te er im­mer noch zeit­wei­se Schu­le hal­ten und litt dar­un­ter. Er be­schwer­te sich des­halb, als die­ser in der gros­sen Pau­se um zehn Uhr das Leh­rer­zim­mer be­trat, beim Ober­leh­rer, der auf sei­ne Vor­wür­fe und Kla­gen aber gar nicht ein­ging, son­dern ihn auf eine Kam­mer an­sprach, die er, der Ober­leh­rer, dazu be­nüt­ze, um in ihr die Ess­wa­ren, die bei den Quar­tals­schluss-Es­sen je­weils üb­rig blie­ben, auf­zu­be­wah­ren; die Ess­wa­ren wür­den dort für das nächs­te Es­sen auf­be­wahrt, das letz­te Mal sei zum Bei­spiel noch eine Pou­lar­de üb­rig ge­blie­ben, sie, die Kol­le­gen des Ober­leh­rers, wür­den die­se Kam­mer ja auch ken­nen. Ne­ben den ver­schie­de­nen Bra­ten und Ge­flü­geln, den Span­fer­keln, Zick­lein, Lämm­chen und so wei­ter be­wah­re er, der Ober­leh­rer, in die­ser Kam­mer aber auch noch die Fäs­ser mit dem aus­ge­las­se­nen Fett all die­ser Tie­re auf, und nun habe er ent­deckt – und das Nach­fra­gen beim Händ­ler, bei dem er sich im­mer für die Tom­bo­las ein­de­cke, denn als Ober­leh­rer sei er ja auch für die Tom­bo­la­prei­se ver­ant­wort­lich, habe es ihm be­stä­tigt –, nun habe er ent­deckt, dass Schü­ler aus sei­ner Klas­se, aus der Klas­se, die er, der Ober­leh­rer, im nächs­ten Jahr von ihm zu über­neh­men ge­den­ke, und zwar, wie er ver­mu­te, sämt­li­che Kna­ben, im­mer wie­der ein Fass von dem Fett an den Händ­ler ver­kauft hät­ten, so wie er, der Ober­leh­rer, das vor den Quar­tal­s­es­sen auch im­mer tue, denn er habe ge­merkt, dass dies das bes­te Ge­schäft sei, das man mit dem Fett ma­chen kön­ne. Mit dem Geld hät­ten die Schü­ler sich dann bei dem Händ­ler mit den ver­schie­dens­ten Le­bens­mit­teln ein­ge­deckt – wenn er, als ver­ant­wort­li­cher Klas­sen­leh­rer, mit ihm, dem Ober­leh­rer, in sein Büro kom­men wol­le, kön­ne er es gleich sel­ber se­hen. Im Büro des Ober­leh­rers fan­den sie sich dann von Kna­ben um­ringt, die un­auf­ge­for­dert Un­men­gen von Würs­ten, Süs­sig­kei­ten, Back­wa­ren und Ge­trän­ken aus ih­ren Ta­schen zo­gen und auf den Schreib­tisch und die üb­ri­gen Ti­sche leg­ten, bis der gan­ze Raum von Ess­wa­ren über­stellt war. Als die Pau­se vor­bei war und er das Büro des Ober­leh­rers wie­der ver­las­sen hat­te, wuss­te er nach die­ser merk­wür­di­gen und pein­li­chen Sze­ne nicht mehr, wo er wei­ter­un­ter­rich­ten muss­te, und eil­te durch die gan­ze Schulan­la­ge. In der Turn­hal­le woll­te ihn der Turn­leh­rer – ein be­kann­ter Schwei­zer Fuss­ball­schieds­rich­ter, dem auch im in­ter­na­ti­o­na­len Fuss­ball­ge­sche­hen schon oft Spiel­lei­tun­gen an­ver­traut wor­den wa­ren – an sei­ner Stel­le ein Spiel pfei­fen las­sen, was er je­doch ab­lehn­te. Un­ter den Spie­lern, die ihn la­chend eben­falls zum Pfei­fen des Spiels auf­for­der­ten, ent­deck­te er ehe­ma­li­ge Mit­schü­ler von sich, mit de­nen er ins Gym­na­si­um ge­gan­gen war, aber als er sie grüss­te, schie­nen sie ihn nicht zu er­ken­nen. Da die Stun­de, die er hät­te ge­ben sol­len, schliess­lich schon bald zu Ende war und er den Un­ter­richts­ort im­mer noch nicht ge­fun­den hat­te und auch wuss­te, dass er ei­gent­lich gar kei­ne Schu­le mehr zu ge­ben brauch­te, fuhr er zu­letzt lang­sam auf ei­nem Fahr­rad nach Hau­se...

Ber­ger ver­such­te sich ver­geb­lich nach ei­nem An­halts­punkt zu er­in­nern, der es ihm er­mög­licht hät­te, die Schu­le, in der sich das ab­ge­spielt hat­te, und da­mit auch die Zeit nä­her zu be­stim­men. War es eine Land- oder eine Stadt­schu­le ge­we­sen, eine Schu­le, an der er sel­ber un­ter­rich­tet hat­te, oder eine, an der er zum Un­ter­rich­ten aus­ge­bil­det wor­den war, oder war es so­gar eine der Schu­len ge­we­sen, an der er als Kind sei­ne ei­ge­ne ob­li­ga­to­ri­sche Schul­zeit ab­sol­viert hat­te?

Auf der Uhr an sei­nem Hand­ge­lenk sah er, dass es schon fast halb acht war und dass er nicht län­ger im Bett lie­gen blei­ben konn­te.

Er schlug das war­me Deck­bett, die zer­knüll­te Woll­de­cke und das ver­wi­ckel­te und ver­schwitz­te Lein­tuch zu­rück, zog sei­nen Mor­gen­man­tel an, strich sich durch die Haa­re und trat zu der Bal­kon­dop­pel­tür, de­ren in­ne­re und äus­se­re Flü­gel er über die Nacht leicht ge­öff­net ge­las­sen hat­te. Es reg­ne­te im­mer noch oder schon wie­der, nicht hef­tig, aber re­gel­mäs­sig, wie es dies schon seit drei oder vier Ta­gen fast un­un­ter­bro­chen tat.

Es frös­tel­te ihn. Er schloss die Bal­kon­tür und be­gab sich zum Wasch­be­cken, das sich zu­sam­men mit dem Ra­di­a­tor, der das Zim­mer er­wärm­te, in ei­ner Ni­sche auf der an­de­ren Sei­te be­fand, wozu er um das Bett und einen Tisch, der ans Fus­sen­de des Bet­tes ge­stellt war, her­um­ge­hen muss­te.

Als er sich das kal­te Was­ser, das er mit dem Wasch­lap­pen in der hoh­len lin­ken Hand auf­fan­gen konn­te, zum Ge­sicht führ­te, über­leg­te er, wie lan­ge er sich nun schon je­den Mor­gen und Abend mit kal­tem Was­ser wusch, aber er hät­te nicht sa­gen kön­nen, ob die­se Ge­wohn­heit in sei­ne Ju­gend­zeit oder so­gar in sei­ne Kind­heit zu­rück­ging. Es war auch nicht wich­tig, aber er frag­te sich doch, war­um es ihn in­ter­es­sier­te.

Er hät­te sich doch jetzt für an­de­re Din­ge in­ter­es­sie­ren müs­sen- oder soll­te die­se sei­ne Ge­wohn­heit, sich nur mit kal­tem Was­ser zu wa­schen, viel­leicht et­was mit die­sen an­de­ren Din­gen zu tun ha­ben?

Als er sich ge­wa­schen und ge­kämmt hat­te, ging er zur Bal­kon­tür zu­rück und schau­te wie­der in den Re­gen hin­aus, wo sich der Ne­bel der ver­gan­ge­nen Nacht auf­ge­löst hat­te und den Blick über das Tal hin­weg frei­gab: auf die neu­e­ren Wohn­häu­ser im Tal un­ten und die wahr­schein­lich erst vor kur­z­em ge­bau­ten recht­e­cki­gen weis­sen Wohn­blö­cke in der Lich­tung des Wal­des auf der Höhe der ge­gen­über­lie­gen­den Tal­sei­te. Wenn sich der Hoch­ne­bel dar­über nicht auch noch auf­lö­sen wür­de, dann wür­de es wahr­schein­lich auch die­sen gan­zen Tag hin­durch reg­nen und nur un­merk­lich hel­ler wer­den. Wie man ein sol­ches Kli­ma aus­hal­ten konn­te oder kön­nen soll­te, ohne ab und zu durch­zu­dre­hen, wur­de ihm im­mer rät­sel­haf­ter.

Das Öff­nen der äus­se­ren Zim­mer­tür und ein Klop­fen kün­dig­te das Mäd­chen mit dem Früh­stück an, es war wie­der Beet­je Lie­wens, das Mäd­chen, das er für sich Beth­li nann­te, die schwei­ze­ri­sche Di­mi­nu­tiv­form des Na­mens Eli­sa­beth. Als es ihm das Früh­stück auf dem Tisch am Fus­sen­de des Bet­tes be­reit­stell­te, frag­te er es, wie es bloss die­ses Kli­ma hier in der Schweiz aus­hal­ten kön­ne.

»Das ist bei uns in Hol­land nicht viel an­ders. Nur dass die Ber­ge feh­len. Die stö­ren mich hier manch­mal schon, vor al­lem bei Föhn, wenn sie so nahe schei­nen, dass man meint, sie könn­ten einen im nächs­ten Au­gen­blick er­drü­cken.«

»Ja«, sag­te Ber­ger, »aber Sie ha­ben doch das Meer.«

Das Mäd­chen hat­te wahr­schein­lich nicht ver­stan­den, was er mit dem Wort »Meer« hat­te sa­gen wol­len: dass er glaub­te, das Kli­ma bes­ser aus­hal­ten zu kön­nen, wenn es in der Schweiz ein Meer ge­ben wür­de. Ob das dann auch wirk­lich so wäre, wuss­te er aber nicht. Viel­leicht war das Meer nur ein Bild für et­was, was es in die­sem Land nicht gab, für das es in an­de­ren Län­dern an­de­re Bil­der gab, und das es selbst nir­gends gab. Viel­leicht war es auch nur die Hoff­nung, dass das Meer die Be­woh­ner die­ses Lan­des, also auch ihn, Ber­ger, güns­tig be­ein­flus­sen und ih­nen et­was von ih­rem Klein­mut neh­men wür­de.

Auch Ber­ger hat­te oft Angst­ge­füh­le ge­habt, wenn der Föhn, der vor al­lem in den nörd­li­chen Al­pen­tä­lern mit gros­ser Stär­ke tal­wärts weh­te und den Leu­ten Be­schwer­den wie Kopf­weh, Mat­tig­keit, Ge­reizt­heit und see­li­sche Ver­stim­mung brach­te und so die An­zahl der Selbst­mor­de, der Ge­walt­ak­te und auch der Ver­kehrs­un­fäl­le stark er­höh­te, wenn die­ser war­me, tro­ckene Fall­wind die Ber­ge wie eine Ku­lis­se hin­ter die nächs­ten Hü­gel oder Städ­te des Mit­tel­lan­des ge­rückt hat­te, so dass die Aus­sen­welt plötz­lich et­was Un­wirk­li­ches, The­a­ter­haf­tes be­kom­men hat­te – Züge ei­ner Traum­wirk­lich­keit, die im Wach­sein nichts zu su­chen hat­ten oder nichts zu su­chen ha­ben durf­ten und einen zu­tiefst ver­wir­ren konn­ten.

Be­son­ders in sei­ner Bern-Zeit, und auch da­nach, wenn er sich wie­der in Bern auf­ge­hal­ten hat­te, wenn zu der un­wirk­li­chen Nähe und Deut­lich­keit der Schnee­ber­ge vor ei­nem eben­so un­wirk­lich schei­nen­den blau­en Him­mel noch die wirk­lich aus ei­ner an­de­ren Zeit und Wirk­lich­keit stam­men­de Sil­hou­et­te der mit­tel­al­ter­li­chen Ber­ner Alt­stadt, mit dem Müns­ter­turm als ih­rem her­vor­ra­gends­ten Kenn­zei­chen, hin­zu­ge­kom­men war, hat­te ihn das oft ver­un­si­chert. Viel­leicht hat­te er sich an ei­nem sol­chen Tag – nach dem Be­such ei­ner Vor­le­sung, vor der Uni­ver­si­tät, auf der Ter­ras­se der Gros­sen Schan­ze, von der aus man an kla­ren Ta­gen über die Dä­cher der Stadt hin­weg bis zu den Al­pen sah – zum ers­ten Mal ge­fragt, ob die »ge­wöhn­li­che« Wirk­lich­keit, wie man sie an den Ta­gen er­leb­te, die kei­ne Föhn­ta­ge wa­ren, ei­gent­lich die ei­gent­li­che Wirk­lich­keit war, oder ob es hin­ter der »ge­wöhn­li­chen« Wirk­lich­keit nicht noch eine an­de­re Wirk­lich­keit gab, so wie es hin­ter der »Föhn­wirk­lich­keit« die »ge­wöhn­li­che« Wirk­lich­keit gab. Je­den­falls hat­te er sich fast im­mer, wenn ihn an ei­nem Föhn­tag Angst­ge­füh­le be­fal­len hat­ten, an die­se Fra­ge er­in­nert. Und von die­ser Fra­ge aus war er dann schliess­lich zu der Ein­sicht ge­kom­men, dass »un­se­re« Wirk­lich­keit, die »ge­wöhn­li­che« Wirk­lich­keit also, von der Be­schaf­fen­heit un­se­rer Wahr­neh­mungs- und Er­kennt­nis­or­ga­ne, von der Be­schaf­fen­heit un­se­rer Sin­ne und un­se­res Ver­stan­des, ab­hän­gig war, und hat­te beim Phi­lo­so­phen Kant für die an­der