Das System des Doktor Maillard oder Die Welt der Maschinen - E. Y. Meyer - E-Book

Das System des Doktor Maillard oder Die Welt der Maschinen E-Book

E. Y. Meyer

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn in einem Roman ein Autofahrer ein einsames Gebäude betritt, dann erwartet ihn irgendeine Überraschung. Dieser Roman beginnt so, dass ein Doktorand der Psychologie namens Edgar Ribeau am Tor eines Schlosses steht, das jetzt „Clinique Château Europe“ heisst. Er will den berühmten Psychiater Doktor Maillard treffen und sich mit dessen neuer Heilmethode vertraut machen - dem »System der Beschwichtigung«. Nach einigen Drinks eröffnet ihm Maillard jedoch, dass er inzwischen die Methode gewechselt hat und nun einem amerikanischen Forscherpaar namens Tarr und Fether folgt. Wenn Ribeau die Geschichte von Edgar Allan Poe aus dem Jahr 1845 gelesen hätte, dann würde er nun ganz sicher wissen, dass in dieser Klinik die Irren regieren. Er müsste sich schnell aus dem Staube machen. Aber der getarnte Poe-Hinweis war ja wohl eher für den kundigen Leser da, der natürlich schon vorher gemerkt hat, dass Maillard und seine »Gäste« nicht ganz bei Trost sind. Und der Name »Klinik Schloss Europa« zeigte ja von vornherein, dass hier nicht nur private Verrücktheiten zu erwarten sind, sondern solche von kontinentaler Bedeutung. E. Y Meyer hat Philosophie, Geschichte und Literatur studiert. An seinem Wissen lässt er uns intensiv teilhaben. Äussere Spannungsmomente und Gruseleffekte sind nur hinzugegeben, der Roman lebt vom intellektuellen Disput. Den führt Maillard mit dem Doktoranden und dem Doktor Anseaume. Mit der sokratisch angehauchten Logik und dem Fanatismus eines Wahnsinnigen entwickelt Maillard seinen Plan einer neuen Weltordnung. Dafür brauchte der Autor ja nur weiterzudenken, was in der Realität Europas für jeden sichtbar ist. Vieles deutet darauf hin: Wir leben in einem grossen Irrenhaus, die Vernunft ist unter Verschluss gehalten. Das »System« des Doktor Maillard ist ausgeklügelt, und es ist für den Leser eine vergnügliche Herausforderung, die Konstruktion zu durchschauen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



E.Y.MEY­ER

Das Sys­tem desDok­tor Mail­lard oderDie Welt derMa­schi­nen

Ro­man

 

 

Erst­mals er­schie­nen 1994

© 2021 E.Y.MEY­ER

ey­mey­er.ch

 

 

Co­ver:

Bron­ze­kopf des Au­tors

Ge­schaf­fen 1997 von PAN YI QUINAca­de­my of Arts & De­sign

Tsing Hua Uni­ver­si­tyBei Jing, Chi­na

 

Wir wis­sen, dass das Sys­tem nicht di­rekt aus der Na­tur ab­ge­lei­tet ist, wie wir sie auf der Erde oder im Him­mel vor­fin­den, son­dern Züge auf­weist, die an je­dem Punkt den Stem­pel des mensch­li­chen Geis­tes tra­gen, teils ra­ti­o­nal, teils schwach­sin­nig, teils dä­mo­nisch.

Le­wis Mum­ford, My­thos der Ma­schi­ne

 

 

 

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Drit­ter Teil

Vier­tel Teil

Fünf­ter Teil

 

 

 

Ers­ter Teil

Der Him­mel über der Pro­vence er­strahl­te in ei­nem in­ten­si­ven, tie­fen Blau, und sein be­rühm­tes Licht hob die sat­ten Fa­r­ben der Herbstve­ge­ta­ti­on so stark her­vor, dass es aus­sah, als ob die viel­fäl­ti­gen, sich ein­mal mehr in der letz­ten Pha­se ih­res Wachs­tums be­fin­den­den Pflan­zen auch von in­nen her leuch­ten wür­den.

Bei Oran­ge, ei­ner Stadt, die einst eine prunk­vol­le Rö­mer­ko­lo­nie ge­we­sen war und heu­te noch einen gut er­hal­te­nen Tri­umph­bo­gen aus je­ner Zeit, aber auch ei­nes der schöns­ten The­a­ter der an­ti­ken Welt be­sitzt, ver­liess der Dok­to­rand der Psy­cho­lo­gie Ed­gar Ri­beau die Au­to­rou­te du So­leil und durch­quer­te die frucht­ba­re Ebe­ne rund um Ca­r­pen­tras – die auf Früh­ge­mü­se spe­zi­a­li­sier­ten, rie­si­gen Gär­ten des Com­tat Ve­nais­sin, auf de­ren Nord­ost­sei­te sich die im­po­san­te Py­ra­mi­de des Mont Ven­toux er­hebt, des­sen Gip­fel von ei­ner Stein­wüs­te be­deckt wird, die von ei­nem so er­staun­li­chen Weiss ist, dass es auch im Som­mer so aus­sieht, als ob dort oben noch Schnee lie­gen wür­de.

Ein hef­ti­ger Mis­tral drück­te mit sei­nen Böen­fol­gen im­mer wie­der ge­gen den klei­nen, sil­ber­grau me­tal­li­sier­ten Ci­troën BX 16 TRS, den der bald dreis­sig Jah­re alte, aber eher jün­ger wir­ken­de Mann fuhr, und zwang ihn, die Ge­schwin­dig­keit, die er schon nach dem Ver­las­sen der Au­to­bahn hat­te dros­seln müs­sen, auch wei­ter­hin mäs­sig zu hal­ten.

Der be­rüch­tig­te, aus den Hö­hen des Mas­sif Cen­tral ins Rho­ne­tal hin­un­ter­fal­len­de, ma­gis­tra­le kal­te Wind fegt im süd­li­chen Frank­reich, wie Ri­beau wuss­te, nicht nur den Him­mel leer, son­dern rei­nigt auch die Luft und trock­net das Land aus – man­ge fange, Schlamm­fres­ser, wird er von den Bau­ern ge­nannt –, und er hält, wie es heisst, ent­we­der drei oder sechs oder neun Tage an und macht da­bei nicht sel­ten einen der sen­si­ble­ren Be­woh­ner der Ge­gend ver­rückt oder fada, wie man hier sagt.

Auf der an­de­ren Sei­te der Ebe­ne, die das ur­sprüng­li­che Herr­schafts­ge­biet der Päps­te in der Pro­vence ge­we­sen war, stieg die Dépar­te­men­ta­le 942, der Ri­beau folg­te, auf das süd­lich ans Mont-Ven­toux-Mas­siv an­sch­lies­sen­de, im Ge­gen­satz zum vor­an­ge­gan­ge­nen frucht­ba­ren Gar­ten­land ver­kars­te­te, aber in sei­nem west­li­chen Teil noch von dich­tem Wald be­wach­se­ne Pla­teau de Vauclu­se hin­auf – und dort führ­te sie als kur­ven­rei­che Hö­hen­stras­se den in den Rei­se­füh­rern in die Ka­te­go­rie ›Ver­dient einen Um­weg‹ ein­ge­stuf­ten Gor­ges de la Nes­que ent­lang, ei­nem steil ab­fal­len­den und sich in un­zäh­li­gen Grot­ten fort­s­et­zen­den ca­n­yon­ar­ti­gen Ein­schnitt, den der Fluss hier im Ver­lauf von Zehn­tau­sen­den von Jah­ren tief in die Kalk­schich­ten hin­ein­ge­fres­sen hat.

Ob­wohl es schwer vor­stell­bar ist, war auch die­ses Ge­biet, wie der Rest der heu­ti­gen Pro­vence, vor etwa sechs­hun­dert Mil­li­o­nen Jah­ren von ei­nem Bin­nen­meer be­deckt ge­we­sen, und erst durch die Druck­wir­kung bei der Ent­ste­hung der Py­re­nä­en im Wes­ten vor sech­zig Mil­li­o­nen Jah­ren und der Al­pen im Os­ten vor dreis­sig Mil­li­o­nen Jah­ren so­wie durch das vor zwei Mil­li­o­nen Jah­ren er­folg­te Ab­sin­ken von Tyr­rhe­nis, ei­nem vom Men­schen spä­ter so be­nann­ten Kon­ti­nent aus kris­tal­li­nem Ge­stein, der den Raum des west­li­chen Mit­tel­meers ein­ge­nom­men hat­te, war nach und nach die Land­schaft in der­je­ni­gen Form ent­stan­den, wie sie sich in etwa auch heu­te noch ih­ren Be­su­chern dar­bie­tet.

Von kei­nem der vie­len am Stras­sen­rand auf­ge­stell­ten Hin­weis­schil­der liess sich der Dok­to­rand der Psy­cho­lo­gie je­doch dazu ver­lei­ten, auf ei­nem der mar­kan­ten Aus­sichts­punk­te in der bi­zar­ren Fel­sen­land­schaft an­zu­hal­ten – er be­müh­te sich viel­mehr, mit nicht nach­las­sen­der Ge­schwin­dig­keit wei­ter ins Hin­ter­land des Mont Ven­toux vor­zu drin­gen, ins so­ge­nann­te ›La­ven­del­land‹, das sich nach ei­nem Wei­ler na­mens Mo­nieux, ei­ner An­samm­lung von ver­fal­le­nen grau­en Häu­sern am Aus­gang der Schlucht, denn auch plötz­lich im gleis­send hel­len Son­nen­licht vor ihm aus­zu­brei­ten be­gann.

Zwi­schen weit ver­streu­ten, kah­len oder mit dunk­len Wald­strei­fen be­deck­ten Hö­hen­zü­gen dehn­ten sich hier über­all rie­si­ge recht­e­cki­ge Fel­der mit end­lo­sen Rei­hen von stach­li­gen, in ih­rer ab­ge­ern­te­ten Form grau­schwa­rz er schei­nen­den Ku­geln aus, und an den Rän­dern die­ser geo­me­tri­schen Flä­chen­mus­ter, die Ri­beau wie un­zäh­li­ge Igel­plan­ta­gen vor­ka­men, wei­de­ten auf den an­gren­zen­den, un­be­bau­ten, stei­ni­gen Land­s­tü­cken, auf de­nen nur kur­z­es, tro­ckenes Gras wuchs, hin und wie­der auch klei­ne­re Her­den von dun­kel­brau­nen Zie­gen – sie gli­chen aus der Fer­ne win­zi­gen Spiel­zeug­tie­ren, die je­mand auf eine be­hut­sa­me Wei­se in ein na­tur­ge­treu­es Mo­dell die­ses spe­zi­el­len Teils der Welt hin­ein­ge­setzt hat­te.

Die wei­te Land­schaft, die da zwi­schen der weiss­köp­fi­gen Ven­toux-Py­ra­mi­de und der lang­ge­streck­ten, schon zu den Vor­al­pen ge­hö­ren­den, von Wald be­wach­se­nen Mon­ta­gne de Lure un­ter dem strah­len­den Herbst­him­mel vor ihm lag, war trotz oder ge­ra­de we­gen ih­rer Herb­heit wirk­lich so ei­gen­ar­tig schön und fa­rb­lich reiz­voll, wie man sie Ed­gar Ri­beau – der die Pro­vence zwar recht gut kann­te, aber merk­wür­di­ger­wei­se bis­her noch nie in die­se Ge­gend hin­ter dem Mont Ven­toux ge­kom­men war – be­schrie­ben hat­te, und viel­leicht moch­te sie in der Blü­te­zeit des La­ven­dels, wenn des­sen ge­heim­nis­vol­les, tief­dunk­les Lila hier über­all wel­len­för­mig hin und her wog­te, auch tat­säch­lich, wie man sag­te, et­was von ei­nem Gar­ten Eden an sich ha­ben.

Ohne dass er die Au­to­rou­te du So­leil ver­las­sen hät­te, war Ri­beau auf dem Weg an die Côte d’Azur, wo die El­tern sei­ner Freun­din in der Nähe von Saint-Tro­pez eine di­rekt am Meer ge­le­ge­ne Fe­ri­en­vil­la und ein Se­gel­schiff be­ses­sen hat­ten, jah­re­lang im­mer wie­der an der ein­drucks­vol­len Stein­py­ra­mi­de des Mont Ven­toux vor­bei­ge­fah­ren – bis die Freund­schaft mit die­ser Frau, zu Ri­beaus Be­dau­ern, vor an­dert­halb Jah­ren auf eine un­g­lü­ck­li­che Wei­se ab­rupt und de­fi­ni­tiv aus­ein­an­der­ge­gan­gen war.

Da­nach hat­te eine schlim­me Zeit für ihn be­gon­nen, die nun aber, nicht zu­letzt dank der Dok­tor­a­r­beit, die er in An­griff ge­nom­men hat­te und de­ren Fer­tig­stel­lung ihn in eben die­se Ge­gend führ­te, fast über­wun­den war – eine Zeit, der, falls ihm die Rei­se wirk­lich das, was er sich er­hoff­te, brach­te, mög­li­cher­wei­se so­gar eine zu­neh­mend glanz­vol­le­re Zu­kunft fol­gen wür­de.

Denn wenn er dem bis­he­ri­gen Stu­dien­ma­te­ri­al, das er zu­sam­men­ge­tra­gen hat­te, noch sei­ne hier ge­mach­ten Er­fah­run­gen hin­zu­fü­gen konn­te, war es durch­aus mög­lich, dass die­se Ar­beit schon bei ih­rer öf­fent­li­chen Dis­pu­ta­ti­on be­zie­hungs­wei­se ih­rer sou­te­nance, vor al­lem aber nach ih­rer Pu­bli­ka­ti­on in Buch­form, eine klei­ne­re oder so­gar grös­se­re Sen­sa­ti­on her­vor­ru­fen wür­de, und zwar so­wohl von ih­rem The­ma her wie na­tür­lich auch we­gen des Na­mens sei­nes Leh­rers und geis­ti­gen Va­ters, des be­rühm­ten, als füh­ren­de in­ter­na­ti­o­na­le Ko­ry­phäe auf sei­nem Ge­biet gel­ten­den Pro­fes­sors Louis Sa­got-Du­vau­roux vom Collè­ge de Fran­ce in Pa­ris.

Umso mehr als die­ser ihm eine bril­lan­te Be­spre­chung an pro­mi­nen­ter Stel­le in Aus­sicht ge­stellt hat­te – ein wei­te­res Me­di­e­ner­eig­nis, das ihm wie­der­um hel­fen könn­te, eine je­ner best­be­zahl­ten Spit­zen­po­si­ti­o­nen in der Ge­sell­schaft zu er­hal­ten, die ihm eine Wei­ter­füh­rung des Le­bens­stils er­mög­li­chen wür­de, an den er sich wäh­rend der Jah­re des Zu­sam­men­le­bens mit sei­ner Freun­din ge­wöhnt hat­te und den wie­der auf­zu­ge­ben ihm nach der schmerz­vol­len Tren­nung doch aus­ser­or­dent­lich schwer­ge­fal­len war.

Wenn der Pro­fes­sor recht hat­te, war hier, in der Pro­vence, in der man, wie er sag­te, auch in den Dör­fern eine gros­se Ach­tung vor geis­ti­ger und künst­le­ri­scher Ar­beit habe – war in die­ser seit Jahr­hun­der­ten be­vor­zug­ten Zu­fluchts­s­tät­te Eu­r­o­pas mög­li­cher­wei­se, wenn viel­leicht auch erst im Keim, tat­säch­lich eine Kraft und eine Be­we­gung im Ent­ste­hen, die der Mensch­heit wür­de hel­fen kön­nen, das hy­per­troph ge­wor­de­ne na­tur­wis­sen­schaft­lich-tech­ni­sche Den­ken, das heu­te prak­tisch die gan­ze Welt be­herrscht und die Le­ben­s­pro­zes­se auf die­sem Pla­ne­ten in ei­ner im­mer ge­fähr­li­che­ren Wei­se in eine glo­ba­le In­sta­bi­li­tät bringt, wie­der auf ein le­bens­freund­li­ches Mass zu­rück­zu­bin­den, zu zü­geln und zu zäh­men.

Und im Grun­de wäre ein sol­ches Ent­ste­hen von Ge­gen­kräf­ten hier in Eu­r­o­pa, wie Ri­beau sich sag­te, ja auch nichts als lo­gisch, da die na­tur­wis­sen­schaft­lich-tech­ni­sche Denk­wei­se, die sich jetzt als le­bens­feind­lich und le­bens­be­dro­hend ent­puppt, ja auch hier, auf eben­die­sem Kon­ti­nent, in der jahr­tau­sende­al­ten, von den Grie­chen, den Rö­mern, den Ger­ma­nen, den Fran­zo­sen und den Eng­län­dern ge­präg­ten Kul­tur ent­stan­den ist.

Das zi­vi­li­sa­to­ri­sche Zen­trum des ein­drucks­vol­len, land­schaft­lich trotz der geo­me­tri­schen Fel­der­mus­ter noch ur­tüm­lich und wild wir­ken­den La­ven­de­lan­bau­ge­biets, das Ed­gar Ri­beau bald dar­auf durch­quer­te, war das auf ei­nem nörd­li­chen Aus­läu­fer des Pla­teau de Vauclu­se ge­le­ge­ne schmu­cke, aber sonst, wie ihm schien, wei­ter nicht be­mer­kens­wer­te Pro­vinz­städt­chen Sault, da­hin­ter zo­gen sich die in­ten­siv in gel­ben, brau­nen und schwa­r­zen Fa­rb­tö­nen leuch­ten­den Land­s­tü­cke in ei­nem brei­ten Strei­fen am Fuss der mäch­ti­gen, in ih­rem un­te­ren Teil von dun­kel­grü­nen Pi­ni­en­bäu­men über­wach­se­nen Süd­ost­flan­ke des Mont Ven­toux ent­lang – und die­sem Strei­fen folg­te Ri­beau nun.

Er über­quer­te eine nied­ri­ge Pass­hö­he, steu­er­te den Wa­gen, als der Fel­der­gür­tel zu Ende war, auf ei­ner schma­len, kur­ven­rei­chen Stras­se durch eine äus­serst enge und schat­ti­ge, auf ihn be­klem­mend wir­ken­de, aber nur kur­ze Schlucht, und nach der an­sch­lies­sen­den Durch­que­rung ei­nes wie­der­um fla­chen, aber ve­ge­ta­ti­ons­rei­che­ren, in al­len Herbst­fa­r­ben leuch­ten­den Tal­be­ckens, das nicht so aus­ge­dehnt wie die vor­an­ge­gan­ge­ne Hoch­ebe­ne war, aber doch im­mer noch so weit, dass man sei­ne Grös­se als an­ge­nehm emp­fin­den konn­te, hat­te er dann, so­zu­sa­gen der öst­lichs­ten Ecke des Mont Ven­toux ge­gen­über, kurz nach halb vier Uhr nach­mit­tags das Ziel sei­ner Rei­se er­reicht – einen klei­nen, am Zu­sam­men­fluss zwei­er Bä­che ge­le­ge­nen, den Hang zwi­schen den bei­den Sei­ten­tä­lern hin­auf­stei­gen­den, aus ei­nem al­ten und ei­nem neu­en Teil be­ste­hen­den, sich höchst ein­la­dend prä­sen­tie­ren­den Markt­fle­cken na­mens Mont­bourg-les-Bains näm­lich.

Der Dok­to­rand der Psy­cho­lo­gie hat­te kei­ne Mühe, sich hier zu­recht­zu­fin­den – denn al­les war so, wie sein be­rühm­ter Leh­rer und, wie er sa­gen durf­te, auch Freund es ihm ge­schil­dert hat­te.

Im Tal­bo­den brei­te­te sich der neue, von der so­ge­nann­ten ›funk­ti­o­na­lis­ti­schen‹, in­zwi­schen über den gan­zen Erd­ball ver­brei­te­ten mo­der­nen Ar­chi­tek­tur ge­präg­te, so­zu­sa­gen ›pro­sa­i­sche­re‹ Teil des idyl­lisch ge­le­ge­nen Or­tes aus, der sei­nen Bei­n­amen, wie der Pro­fes­sor er­zählt hat­te, im­mer noch trug, weil er dank kal­ter Schwe­fel­quel­len im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert und noch bis weit ins zwan­zigs­te hin­ein ein char­man­ter klei­ner Kur­ort ge­we­sen war – wäh­rend die Häu­ser des al­ten, zum Glück noch ur­sprüng­li­chen und nicht zu Tode re­no­vier­ten Dorf­kerns in tra­di­ti­o­nel­ler, seit Jahr­tau­sen­den be­währ­ter Ma­nier auf dem eng ter­ras­sier­ten, von klei­nen, dicht über­wach­se­nen Gär­ten durch­setz­tem Hang stan­den und bis zu vier mäch­ti­gen Rundtür­men hin­auf­reich­ten, die als ein­zi­ge Ru­i­nen­res­te von ei­ner im­po­san­ten Schloss­an­la­ge aus dem drei­zehn­ten Jahr­hun­dert üb­rig­ge­blie­ben wa­ren.

Die teil­wei­se ge­pflas­ter­te und mit vie­len Bu­ckeln über säte, leicht ge­wölb­te Haupt­stras­se, von der im­mer wie­der schma­le und ver­win­kel­te, steil an­stei­gen­de oder ab­fal­len­de Sei­ten- und Ne­ben­gas­sen ab­zweig­ten, führ­te in meh­re­ren Ser­pen­ti­nen zu­nächst an der Place du Beffroi, ei­ner klei­nen Aus­sichts­ter­ras­se mit ei­nem Uhr­turm aus dem vier­zehn­ten Jahr­hun­dert, und da­nach an der aus dem sieb­zehn­ten Jahr­hun­dert stam­men­den Kir­che vor­bei, die, laut dem Pro­fes­sor, einen se­hens­wer­ten ge­schnitz­ten Al­tar mit dem Ge­mäl­de ei­nes von der Kunst­ge­schich­te zu Un­recht über­g­an­ge­nen al­ten Meis­ters vor­zu­wei­sen hat – und am obe­ren Ende der Häu­ser­rei­hen mün­de­te die Stras­se in ein mit rot und gelb leuch­ten­den Weinre­ben so­wie mit sil­ber­blätt­ri­gen Oli­ven­bäu­men be­pflanz­tes Land­s­tück, be­vor sie in den fa­r­ben­präch­ti­gen Misch­wald ein­drang, der ober­halb der Schloss­ru­i­ne den Rest des ho­hen Berg­han­ges be­wuchs.

Und di­rekt vor die­sem Wald bog nun auch das sei­nem lin­ken Rand ent­lang­füh­ren­de Sträss­chen ab, an des­sen An­fang die vom Pro­fes­sor er­wähn­te Ta­fel mit der Auf­schrift CHE­MIN PRI­VÉ stand.

In fast al­len an­de­ren Ort­s­chaf­ten, die der Dok­to­rand seit dem Ver­las­sen der Au­to­bahn durch­fah­ren hat­te, wa­ren ihm im­mer wie­der die bei­den be­kann­ten, mit weis­ser Fa­r­be gross auf ein­zel­ne Häu­ser und Gar­ten­mau­ern ge­mal­ten Buch­sta­ben OC auf­ge­fal­len – und auch hier, in die­sem ehe­ma­li­gen Kur­ort, hat­te er sie, wie ihm schien, so­gar noch zahl­rei­cher als bis­her, im­mer wie­der zwi­schen den Be­ton­flä­chen des neu­en Orts­teils und zwi­schen den ver­win­kel­ten Ge­bäu­den und Mau­e­r­zü­gen des al­ten Dorf­kerns auf­leuch­ten se­hen –, und als er ans Ende des Pri­vat­wegs kam, der am Wald­rand ent­lang zu­nächst in eine grös­se­re Mul­de und dann aus die­ser hin­aus zu ei­nem Hü­gel­vor­sprung führ­te, wo sich eine hohe, mas­si­ve Na­tur­stein­mau­er vor die Bäu­me zu schie­ben be­gann und ein mäch­ti­ges, schmie­de­ei­ser­nes Git­ter­tor schliess­lich jede Wei­ter­fahrt ver­hin­der­te, war links und rechts die­ses To­res, wie um das Ende ei­ner Spur zu mar­kie­ren, die zu­vor im­mer nur mit ih­rer Ab­kür­zung an­ge­deu­te­te Pa­ro­le nun in un­ge­len­ken gros­sen weis­sen Buch­sta­ben in ih­rem vol­len Wort­laut auf die grob­be­haue­nen Stei­ne der Mau­er ge­malt: OC­CI­TA­NIE LI­B­RE! und LE PAYS VEUT VI­VRE!

Auf ei­ner sich im Ge­gen­satz zu die­sen rie­si­gen Zei­chen be­schei­den aus­neh­men­den, dun­kel an­ge­lau­fe­nen Mes­sing­ta­fel, die in hal­ber Höhe auf dem rech­ten Tor­pfos­ten an­ge­bracht war, stan­den da­ne­ben je­doch auch die mit har­ten und kla­ren Let­tern in sorg­fäl­tigs­ter Wei­se ein­gra­vier­ten Vo­ka­beln, die je­den Zwei­fel über ein all­fäl­li­ges Ver­feh­len des end­gül­ti­gen Rei­se­ziels des jun­gen Man­nes aus­räum­ten: CLI­NI­QUE CHÂTEAU EU­RO­PE.

Als Ed­gar Ri­beau, der ohne Zwi­schen­halt aus dem reg­ne­risch kal­ten Pa­ris bis hier­her ge­fah­ren war, aus dem Wa­gen stieg, um sich nach ei­ner Klin­gel um­zu­se­hen oder ei­ner an­dern Mög­lich­keit, sich be­merk­bar zu ma­chen, wur­de er so­fort von den kal­ten Luft­mas­sen des Mis­trals um­fasst, der mit un­ver­min­der­ter Hef­tig­keit weh­te – und als er durch das schwa­r­ze Git­ter­tor über den da­hin­ter, zwi­schen hoch­auf­ra­gen­den Pla­ta­nen wie durch einen Tun­nel ge­ra­deaus füh­ren­den Weg blick­te, glaub­te er, etwa fünf­zig Me­ter wei­ter hin­ten, dort, wo der Weg wie­der ins Freie mün­de­te, rechts, hin­ter dem bunt leuch­ten­den Laub der üb­ri­gen Bäu­me und Bü­sche, Tei­le ei­nes grös­se­ren, mit meh­re­ren Tür­men ver­se­he­nen Ge­bäu­de­kom­ple­xes aus­zu­ma­chen.

Auf der dem Git­ter­tor zu­ge­wand­ten Sei­te des rech­ten Tor­pfos­tens ent­deck­te er schliess­lich einen un­schein­ba­ren, klei­nen schwa­r­zen Knopf, und als er die­sen ein­mal mit Nach­druck bis zum An­schlag hin­ein­ge­presst hat­te, war­te­te er, ob je­mand re­a­gie­ren wür­de.

Wäh­rend er in der Son­ne auf und ab ging, sich da­bei die von der lan­gen Fahrt er­mü­de­ten Ober­ar­me rieb und zwi­schen­durch im­mer wie­der auf die von sei­ner ehe­ma­li­gen Freun­din als ers­tes Ge­schenk er­hal­te­ne, in Edel­stahl ge­fas­te Ro­lex-Arm­band­uhr sah, be­merk­te der gut­aus­se­hen­de, sport­li­che jun­ge Mann plötz­lich, wie sich ihm auf dem Sträss­chen, auf dem er her­ge­fah­ren war, ein Mann mit ei­nem Hund ziel­stre­big der Mau­er ent­lang nä­her­te – und er hat­te da­bei mit ei­nem Mal, ohne dass er da­für ir­gend­ei­nen Grund hät­te aus­ma­chen kön­nen, das Ge­fühl ei­ner Be­dro­hung.

Der gros­se Mann, der den hef­tig zie­hen­den Hund an kur­z­er Lei­ne führ­te, trug brau­ne Gum­mi­s­tie­fel, eine tarn­fa­r­be­ne Mi­li­tär­ja­cke mit ei­nem dazu pas­sen­den Képi und hat­te auf der lin­ken Sei­te ein Ge­wehr ge­schul­tert – schien also ein Jä­ger zu sein, ob­wohl Ri­beau nicht si­cher war, ob sich der Hund, der, wie er leicht er­staunt er­kann­te, ein Do­ber­mann war, auch wirk­lich für die Jagd eig­ne­te.

Als der etwa sech­zig Jah­re alte, kräf­ti­ge Mann nahe ge­nug her­an­ge­kom­men war und in ei­ni­gen Me­tern Ab­stand freund­lich lä­chelnd vor ihm ste­hen­blieb, sah Ri­beau, dass er über der ver­meint­lich frei­en rech­ten Schul­ter zwei tote, an den Hin­ter­läu­fen zu­sam­men­ge­bun­de­ne Ha­sen her­un­ter­hän­gen hat­te, so dass sei­ne ers­te Ein­schät­zung also wohl rich­tig war.

»Eine Fünf­und­sieb­zi­ger-Num­mer«, sag­te der Jä­ger dann un­ver­mit­telt, auf die bei­den letz­ten Zah­len des Po­li­zei­kenn­zei­chens von Ri­beaus Wa­gen an­spie­lend, mit ei­nem star­ken, wie der Dok­to­rand der Psy­cho­lo­gie so­fort und ein­deu­tig er­kann­te, bel­gi­schen Ak­zent. »Sie kom­men aus Pa­ris!«

»Rich­tig« ant­wor­te­te der jun­ge Mann. »Und Sie wol­len in die Kli­nik?« »Ich habe ge­klin­gelt«, mein­te Ri­beau nur. »Und? Hat sich noch nie­mand ge­mel­det? « »Bis jetzt nicht.«

Die Oh­ren spitz auf­ge­rich­tet, ver­folg­te der schnell at­men­de, fein­glied­ri­ge, ele­gan­te, aber den­noch mus­ku­lö­se, kurz­haa­ri­ge Hund, der aus­ser dem He­cheln kei­nen Laut von sich gab, mit den schwa­rz­glän­zen­den Au­gen auf­merk­sam jede Be­we­gung des ihm ge­gen­über­ste­hen­den jun­gen Man­nes.

»Es wird schon je­mand kom­men«, mein­te der Jä­ger nun wie­der, wo­bei er er­neut freund­lich lä­chel­te. »Das dau­ert hier im­mer eine Wei­le, denn man hat da so sei­ne Vor­schrif­ten. Klin­geln Sie doch ein­fach noch ein­mal!«

Ri­beau, der dies ei­gent­lich ge­ra­de, als der Mann mit dem Hund auf­ge­taucht war, hat­te tun wol­len, dreh­te sich um – und er­schrak, als er hin­ter den schwa­r­zen Git­ter­stä­ben einen klei­nen, di­cken Mann mit hoch­ro­tem Ge­sicht und ei­ner bis über die Oh­ren her­ab­ge­zo­ge­nen Bas­ken­müt­ze ste­hen sah, der ihm eben­falls freund­lich, ja so­gar et­was ver­schmitzt zu­lä­chel­te.

»Wir freu­en uns, dass Sie da sind, Mon­sieur Ri­beau«, sag­te der viel­leicht vier­zig Jah­re alte Mann, des­sen kor­pu­len­ter Ober­kör­per in ei­ner ele­gan­ten, aber et­was eng wir­ken­den dun­kel­brau­nen Cord­ja­cke steck­te. »Stei­gen Sie wie­der in Ih­ren Wa­gen und fah­ren Sie her­ein.«

Über das Aus­se­hen die­ser ihm so­fort sym­pa­thi­schen Er­schei­nung amü­siert, gleich­zei­tig aber über den form­lo­sen Emp­fang, den man ihm in der be­rühm­ten, bis jetzt kaum von aus­sen­ste­hen­den Ärz­ten und nur von ei­ni­gen hand­ver­le­se­nen Jour­na­lis­ten be­such­ten Kli­nik be­rei­te­te, auch et­was ver­wun­dert, ver­ab­schie­de­te sich der Dok­to­rand von dem neu­gie­ri­gen Jä­ger – wor­auf ihm die­ser, ohne sich von der Stel­le zu rüh­ren, mit ei­nem, wie es Ri­beau schien, et­was merk­wür­di­gen und nicht ver­ständ­li­chen Un­ter­ton in der Stim­me ein fröh­li­ches »Auf bald!« zu­rief.

Wäh­rend Ri­beau den Mo­tor star­te­te, stand der Mann mit dem Hund im­mer noch an der glei­chen Stel­le – und auch nach­dem er durch das von dem klei­nen di­cken Mann ge­öff­ne­te Tor ge­fah­ren war und die­ser es wie­der ge­schlos­sen hat­te, sah er im Rück­spie­gel, wie der Jä­ger noch be­we­gungs­los draus­sen stand und zu ihm hin­ein­schau­te.

Als Ri­beau auf An­wei­sung des mun­te­ren, flink zu ihm ins Auto ge­klet­ter­ten klei­nen Man­nes, der, ob­wohl nur etwa zehn Jah­re äl­ter, be­reits eine von ei­ner Un­zahl ge­platz­ter blau­ro­ter Äder­chen über­zo­ge­ne Nase hat­te, durch den lan­gen, schat­ti­gen Baum­tun­nel fuhr, den die links und rechts des Wegs auf­ra­gen­den Pla­ta­nen mit ih­ren in­ein­an­der über­ge­hen­den, mäch­ti­gen Kro­nen bil­de­ten, ver­lor er den Jä­ger je­doch aus den Au­gen – und als er aus dem Tun­nel schliess­lich auf einen wie­der im hel­len Son­nen­licht da­lie­gen­den, von Kies be­deck­ten gros­sen frei­en Platz fuhr, über­traf, was er sah, al­les, was der Pro­fes­sor be­schrie­ben hat­te.

Wäh­rend sich auf der rech­ten Sei­te das so­ge­nann­te Neue Schloss von Mont­bourg-les-Bains er­hob, bot sich ihm auf der lin­ken Sei­te, über ei­ner wei­ten, von ei­ner stei­ner­nen Ba­lus­tra­de um­rahm­ten Ter­ras­se, ein ge­ra­de­zu atem­be­rau­ben­der Aus­blick auf den Gip­fel des Mont Ven­toux mit dem sich ge­gen den tief­blau­en Him­mel ab­zeich­nen­den Ob­ser­va­to­ri­um und der dar­an an­sch­lies­sen­den Ra­dar­sta­ti­on der fran­zö­si­schen Luft­waf­fe und der seit­lich von die­sen Bau­ten schräg ab­fal­len­den, stark zer­k­lüf­te­ten, nack­ten Nord­ost­sei­te des Ber­ges.

In der Mit­te des lan­gen Ter­ras­sen­ge­län­ders führ­te, wie Ri­beau im Vor­bei­fah­ren sah, eine zwei­läu­fi­ge Frei­trep­pe in höchst raf­fi­niert und kunst­voll an­ge­leg­te, vom herbst­lich bun­ten Wald ge­säum­te hän­gen­de Gär­ten hin­un­ter, aus de­nen im­mer­grü­ne Buchs­baum­he­cken, busch­ho­he Ker­mes­ei­chen und zum Teil aus­ser­or­dent­lich hoch­ge­wach­se­ne Zy­pres­sen, Alep­po­kie­fern und Ze­dern em­por­rag­ten – und als er den Wa­gen vor dem Neu­en Schloss, das von den der­zei­ti­gen Be­woh­nern schon seit Jah­ren auch stolz ›Château Eu­ro­pe‹ ge­nannt wur­de, ab­ge­stellt hat­te, er­schien dem in der nörd­lich ge­le­ge­nen, oft kal­ten und nas­sen In­dus­tri­e­stadt Lil­le ge­bo­re­nen und auf­ge­wach­se­nen Dok­to­ran­den, der bis jetzt nur an In­sti­tu­ten und Kli­ni­ken in über­be­völ­ker­ten und mit dem Lärm des täg­li­chen Mo­to­ren­ver­kehrs ge­füll­ten Gross­städ­ten ge­ar­bei­tet hat­te, die sich hier rings­um aus­brei­ten­de Na­tur doch als der ei­gent­lich ge­eig­nets­te Rah­men, um sich mit all den ver­schie­de­nen und un­ter­schied­li­chen, ins­be­son­de­re na­tür­lich auch den aus­ge­fal­le­nen und als krank be­zeich­ne­ten Ma­ni­fes­ta­ti­o­nen des mensch­li­chen Geis­tes zu be­schäf­ti­gen.

Noch vor zehn Jah­ren, in der Zeit also, be­vor er sein Psy­cho­lo­gie­stu­di­um be­gon­nen hat­te, hät­te sich der Ar­bei­ter­sohn vor dem ver­schach­telt ge­bau­ten, weit­läu­fi­gen Wohn­sitz aus dem sech­zehn­ten Jahr­hun­dert, des­sen drei stö­cki­ges Haupt­ge­bäu­de eine klas­sisch pro­por­tio­nier­te Re­nais­sance­fas­sa­de auf­wies, die links und rechts von zwei mas­si­ven Rundtür­men mit stei­ner­nen Fens­ter­kreu­zen flan­kiert wur­de, zwar wohl noch et­was un­an­ge­nehm und de­plat­ziert ge­fühlt – aber jetzt er­tapp­te sich der jun­ge Mann in den ver­wa­sche­nen Blue­jeans und der al­ten, am Kra­gen und an den Ell­bo­gen schon spe­ckig ge­wor­de­nen Wild­le­der­ja­cke so­gar bei dem Ge­dan­ken, ob er, nach dem der­zei­ti­gen, nur der Vor­be­rei­tung die­nen­den ers­ten Kurz­be­such und dem spä­ter fol­gen­den län­ge­ren Stu­di­en­auf­ent­halt, wenn sei­ne Dok­tor­a­r­beit ab­ge­schlos­sen sein wür­de, nicht ge­ra­de hier eine Stel­le zu krie­gen ver­su­chen soll­te.

Er emp­fand die Ruhe, die auf die­sem ganz von Wald um­ge­be­nen An­we­sen herrsch­te, als aus­ge­spro­chen wohl­tu­end und war, als er aus dem Wa­gen stieg und sich um­sah, ei­gent­lich über­zeugt, dass ein Ver­ste­hen und eine hu­ma­ne, mensch­li­che Pfle­ge und Be­treu­ung oder gar Hei­lung von im Geist er­krank­ten Men­schen in ei­ner sol­chen klei­nen und über­sicht­li­chen, jahr­hun­der­te­al­ten Kul­tu­roa­se in­mit­ten ei­ner noch ur­tüm­li­chen Land­schaft doch eher mög­lich und er­reich­bar sein muss­te als in den gross­städ­ti­schen Hoch­zi­vi­li­sa­ti­ons­zen­tren.

Der klei­ne rot­ge­sich­ti­ge Mann, der trotz sei­nes Über­ge­wichts mit ei­ner un­glaub­li­chen Schnel­lig­keit ums Auto ge­eilt und von ei­ner wirk­lich aus­ser­ge­wöhn­li­chen Lie­bens­wür­dig­keit war – er hat­te, wie der Dok­to­rand kon­sta­tier­te, in sei­nen Be­we­gun­gen und sei­ner Sprech­wei­se so­gar et­was leicht Fe­mi­ni­nes –, be­harr­te mit Nach­druck und ohne Wi­der­re­de zu dul­den dar­auf, die gros­se Rei­se­ta­sche, die Ri­beau als ein­zi­ges Ge­päck­stück bei sich hat­te, zu tra­gen und führ­te ihn so, sich mit dem schwe­ren, sack­för­mi­gen Un­ge­tüm ab­mü­hend, über die brei­ten, stei­ner­nen Trep­pen­stu­fen, die sich un­ter dem mas­si­ven, dun­kel­glän­zen­den Ei­chen­holz­por­tal des Neu­en Schlos­ses aus­brei­te­ten, in eine hohe und wei­te Ein­gangs­hal­le, in der fa­r­ben­präch­tig leuch­ten­de, wie Ri­beau an­nahm, aus Flan­dern und Brüs­sel stam­men­de Wand­tep­pi­che hin­gen und wo in ei­ner ei­gen­wil­li­gen, doch in­ter­es­san­ten An­ord­nung auf­fal­lend vie­le gros­se, grün be­mal­te Holz­kü­bel mit üp­pi­gen, hoch auf­spries­sen den Zier­pflan­zen al­ler Art her­um­stan­den.

In­mit­ten die­ser ver­wir­ren­den Pflan­zen­viel­falt stell­te der hef­tig at­men­de und nun auch stark schwit­zen­de Mann die gros­se Rei­se­ta­sche dann ein­fach auf den mit geo­me­tri­schen Mo­sa­ik­mus­tern ver­zier­ten Fuss­bo­den und bat Ri­beau höf­lich, ihm in einen lan­gen, dunk­len Kor­ri­dor zu fol­gen, der auf der lin­ken Sei­te der Hal­le be­gann und in dem der Dok­to­rand schon bald ge­dämpf­tes Kla­vier­spiel ver­nahm, das im­mer deut­li­cher wur­de, je wei­ter sie vor­dran­gen.

Bei ei­ner mit Schnit­ze­rei­en ver­zier­ten, von ei­ner dunk­len So­pra­por­ta ge­krön­ten zwei­f­lü­ge­li­gen weis­sen Holz­tür am Ende des fens­ter­lo­sen Kor­ri­dors ver­nahm man die Mu­sik am deut­lichs­ten – und hier lä­chel­te der klei­ne Mann un­ter sei­ner dun­kel­blau­en, bis über die Oh­ren her­ab­ge­zo­ge­nen Bas­ken­müt­ze her­vor Ri­beau noch ein­mal ver­schmitzt nach oben hin an und sag­te: »Sie möch­ten da drin war­ten! Der Di­rek­tor kommt gleich!«.

Der Raum, in den der Dok­to­rand trat, war eine Art gross­zü­gi­ger, wei­ter und hel­ler Sa­lon, in dem auf ei­nem hell­braun glän­zen­den Par­kett­bo­den ei­ni­ge präch­ti­ge Per­ser­tep­pi­che la­gen und in dem er­neut er­staun­lich vie­le Töp­fe und Kü­bel mit üp­pig wach­sen­den, zum Teil nur grü­nen, zum Teil aber auch fa­r­ben­reich blü­hen­den Pflan­zen in ei­ner nicht durch­schau­ba­ren An­ord­nung so­wohl an­ti­ke wie mo­der­ne Mö­bel um­rahm­ten.

Ne­ben ei­nem schwa­r­zen Kla­vier, das im Hin­ter­grund von ei­ni­gen der Pflan­zen gröss­ten­teils ver­deckt schräg im Raum stand, so dass Ri­beau zu­nächst nicht er­ken­nen konn­te, wer dar­an sass, wa­ren im gan­zen Raum noch die ver­schie­dens­ten an­de­ren Mu­sik­in­stru­men­te ver­teilt – er sah Gei­gen, Flö­ten, Po­sau­nen und Trom­meln-, und ne­ben die­sen Ge­rä­ten türm­ten sich über­all Sta­pel von Par­ti­tu­ren und No­ten blät­tern auf.

In die rech­te Sei­ten­wand des Sa­lons war ein manns­ho­her, von Feu­er­rauch ge­schwärz­ter al­ter pro­ven­za­li­scher Ka­min ein­ge­baut, wäh­rend beid­seits der Tür eine Un­zahl von Bü­chern die Wän­de vom Fuss­bo­den bis zum weis­sen Stuck­pla­fond be­deck­ten, und aus drei ho­hen, aus­sen ver­git­ter­ten Fens­tern auf der ge­gen­über­lie­gen­den Raum­sei­te konn­te man auch von die­sem Teil des Schlos­ses über den gros­sen Kies­platz zum weis­sen Gip­fel des Mont Ven­toux hin­auf­se­hen – aber be­herrscht wur­de der Raum von ei­ner rie­si­gen, nicht be­son­ders ge­lun­ge­nen Ko­pie des Ri­beau wohl­be­kann­ten Bil­des ›Re­gen­tes­sen van het Oude-Man­nen­huis te Haa­r­lem‹ des hol­län­di­schen Ma­lers Frans Hals, die über ei­ner Sitz­grup­pe aus brau­nen Le­der­mö­beln an der lin­ken Sei­ten­wand hing.

Die fünf schwa­rz­ge­klei­de­ten al­ten Da­men wa­ren dar­auf im Un­ter­schied zum Ori­gi­nal – Hals hat­te das scho­nungs­lo­se Grup­pen­bild der ›Vor­ste­he­rin­nen des Alt­män­ner­hau­ses von Haa­r­lem‹ ver­mut­lich als In­sas­se die­ses Heims noch im Al­ter von acht­zig Jah­ren ge­malt – nicht nur als iso­lier­te Ein­zel­per­so­nen dar­ge­stellt, son­dern durch ein über­har­tes Licht so­gar so weit re­du­ziert, dass von ih­nen nur noch die weis­sen Kleid­kra­gen, die har­ten, zu kei­ner ge­fühl­vol­len Ges­te mehr fä­hi­gen Hän­de und die ka­ri­ka­tu­ris­tisch ge­mal­ten Grei­sin­nen­ge­sich­ter deut­lich zu er­ken­nen wa­ren.

Die Frau, die links aus­sen sass, hielt als Fi­nanz­ver­wal­te­rin, ob­wohl alle Rech­nun­gen si­cher be­gli­chen und die Bü­cher ge­schlos­sen wa­ren, im­mer noch die rech­te Hand ge­öff­net – aber die an­sons­ten durch­wegs no­blen Hal­tun­gen, die die­se gros­sen Da­men ein­nah­men, wi­der­spie­gel­ten, ne­ben ih­rer Au­to­ri­tät, trotz­dem auch eine Här­te, Ein­sam­keit und Trost­lo­sig­keit, die jene der ar­men Schlu­cker, de­nen sie in ih­rem Heim Hil­fe leis­ten woll­ten oder soll­ten, zwei­fel­los noch über­traf.

Ver­wun­dert stell­te der jun­ge Mann aus Pa­ris auch fest, dass auf der dem Bild ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te des Sa­lons bei ei­nem top­mo­der­nen, ge­schickt zwi­schen Bü­cher­wand und Ka­min plat­zier­ten Turm, der aus ei­nem gros­sen Fern­se­her, ei­nem Vi­deo­re­cor­der, ei­ner mehr­tei­li­gen Hi-Fi-An­la­ge so­wie ei­nem mo­disch ge­styl­ten Te­le­fon be­stand, die Bild­röh­re des Fern­seh­ap­pa­rats nur noch in Scher­ben vor­han­den war.

Als er, nach ei­ni­gen Mo­men­ten des Ab­war­tens und Her­um­schau­ens, schliess­lich ein paar Schrit­te nach vor­ne mach­te, um zu se­hen, wer am Kla­vier sass, be­fand Ri­beau sich zu sei­ner Über­ra­schung ei­ner voll­stän­dig in schwa­rz ge­klei­de­ten, im Ge­gen­satz zu den ›Vor­ste­he­rin­nen‹ je­doch jun­gen Frau mit streng nach hin­ten ge­kämm­ten schwa­r­zen Haa­ren und wun­der­vol­len, aber sehr blei­chen Ge­sichts­zü­gen ge­gen­über, die sich, wie ihm durch den Kopf fuhr, also in tie­fer Trau­er hät­te be­fin­den kön­nen und die ihr Spiel, nach­dem sie den frem­den Ein­dring­ling be­merkt hat­te, so­fort un­ter­brach, um ihn mit gros­sen, über­ra­schend in­ten­siv leuch­ten­den, hell­blau­en Au­gen fra­gend an­zu­se­hen.

»Spie­len Sie doch wei­ter, Ma­de­moi­sel­le«, be­eil­te Ri­beau sich nun so­fort als Ent­schul­di­gung für sei­ne Stö­rung zu sa­gen. »Schu­bert, nicht wahr!«

»Das Im­promp­tu As-Dur Opus neun­zig Num­mer vier«, sag­te die am Kla­vier sit­zen­de jun­ge Frau dar­auf­hin mit ei­nem Leuch­ten in den Au­gen und ei­nem leich­ten eng­li­schen Ak­zent in der Stim­me. »Mö­gen Sie – Schu­bert?«

»Sehr«, ant­wor­te­te Ri­beau, der sich über die Rich­tig­keit sei­nes Ur­teils freu­te. »Ich lie­be die ›Win­ter­rei­se‹.«.

»Die mag ich auch«, mein­te die viel­leicht drei oder vier Jah­re jün­ge­re Frau, die ihr eng­an­lie­gen­des Haar hin­ter dem Kopf in ei­nem straf­fen Kno­ten zu­sam­men­ge­bun­den trug, und spiel­te gleich ei­ni­ge Tak­te aus die­sem Lie­der­zy­klus, um dazu in ei­nem, wie Ri­beau glaub­te, nicht ganz kor­rek­ten Wort­laut zu sin­gen:

Fremd bin ich ein­ge­zo­gen,Fremd zieh’ ich wie­der aus.Es zieht ein Mon­den­schat­tenAls mein Ge­fährt vor­aus –

Dann brach die Frau ih­ren Ge­sang und ihr Spiel eben­so ab­rupt wie­der ab: »Mei­nen Win­ter ver­brin­ge ich aber doch lie­ber hier, im Sü­den!«

»Ver­ständ­lich«, mein­te der Dok­to­rand, der im­mer noch nicht wuss­te, wen er da vor sich hat­te.

»Ich zie­he mich oft hier­her zu­rück«, sag­te die Frau nun wie­der. »Kla­vier­spie­len ent­spannt mich.«

»Ich ver­ste­he«, mein­te Ri­beau.

In der Pau­se, die da­nach ent­stand, glaub­te der jun­ge Mann für einen Mo­ment, den jetzt wie­der deut­lich hör­ba­ren hef­ti­gen Mis­tral, der draus­sen blies, in stark ab­ge­schwäch­ter Form auch hier drin­nen, in die­ser merk­wür­di­gen Mi­schung von Mu­sik­zim­mer, Treib­haus und Bi­blio­thek, di­rekt auf sei­ner Haut zu spü­ren.

Die Frau hät­te, wie er über­leg­te, ein höchst in­ter­es­san­ter Fall sein kön­nen – ein ers­tes Bei­spiel da­für, wie die völ­lig neu­ar­ti­ge Be­hand­lungs­me­tho­de, die man hier ent­wi­ckelt hat­te, funk­tio­nier­te, eine Pa­ti­en­tin also, mit der er spä­ter mög­li­cher­wei­se auch ein­mal zu tun be­kom­men wür­de.

Aber be­vor er mit dem Di­rek­tor die­ser Kli­nik, dem Schöp­fer des noch kaum je ir­gend­wo, we­der von sei­nem Er­fin­der sel­ber noch von ei­nem sei­ner Mit­a­r­bei­ter oder ei­nem aus­sen­ste­hen­den Fach­mann um­fas­send und ad­äquat dar­ge­stell­ten, be­rühm­ten wie be­rüch­tig­ten Be­schwich­ti­gungssys­tems, ge­spro­chen hat­te, woll­te er sich na­tür­lich noch nicht zu sehr vor­wa­gen – zu­mal er auch die wohl­pro­por­tio­nier­ten Kör­per­for­men der Frau be­merkt hat­te, die sich un­ter der dün­nen schwa­r­zen Woll­ja­cke, der schwa­r­zen Sei­den­blu­se, dem eng­an­lie­gen­den schwa­r­zen Rock und den schwa­r­zen Ny­lon­st­rümp­fen ab­zeich­ne­ten, und er, was Frau­en be­traf, wie er sich ein­ge­ste­hen muss­te, schon ein­mal ent­schie­den da­ne­ben­ge­grif­fen hat­te.

»Sind Sie hier?« frag­te die Frau den stumm da­ste­hen­den Dok­to­ran­den un­ver­mit­telt – und die­ser kam sich durch die Fra­ge, die er nicht recht ver­stand, wie er amü­siert fest­stell­te, so­gar et­was über­rum­pelt vor.

»Bit­te?« frag­te er des­halb ein­fach. »Sind Sie ein Neu­er?« »Was mei­nen Sie?« »Blei­ben Sie län­ger hier?« »Das kommt dar­auf an.«

»Wor­auf?« woll­te die Frau nun mit deut­li­chem Nach­druck wis­sen.

»Ich muss mit dem Di­rek­tor spre­chen!«

Die auf ihn ge­rich­te­ten, gros­sen und so in­ten­siv hell­blau leuch­ten­den Au­gen lies­sen den jun­gen Mann nicht wie­der los, und nach­dem die Frau noch ge­fragt hat­te, wo­her er kom­me, rief sie so­fort: »La bel­la Pa­ri­gi! Cit­tà dei miei so­gni! La ville lu­miè­re! Wie sie mir fehlt!«

»Sie ha­ben in Pa­ris ge­lebt?« frag­te Ri­beau, den ihre Sprach­kennt­nis­se ir­ri­tier­ten.

»Sie müs­sen mir er­zäh­len, was in Pa­ris los ist«, dräng­te die Frau, ohne auf sei­ne Fra­ge ein­zu­ge­hen. »Wir ha­ben im Fern­se­hen kürz­lich Yves Mon­tands Auf­tritt im Olym­pia wie­der­ge­se­hen« – und schon spiel­te sie auf dem Kla­vier und sang dazu:

De­puis qu’à Pa­ris,On a pris la Ba­stil­le,Dans tous les fau­bourgs,Et à chaque carr’four,Il y a des gars,Et il y a des fill’sQui, sur les pa­vés,Sans arrêt, nuit et jour,Font des tours,Et des tours,À Pa­ris ..

Ri­beau, den die Wand­lungs­fä­hig­keit der Frau be­ein­druck­te, klatsch­te kurz und mein­te: »Sie ha­ben eine wun­der­ba­re Stim­me!«.

»Dan­ke«, sag­te die Frau, ohne dem Kom­pli­ment ir­gend­wel­che Be­ach­tung zu schen­ken. »Sie müs­sen mir er­zäh­len, wel­che Mode man in Pa­ris trägt, wel­che Re­stau­rants man be­sucht!«

»Ich war in der letz­ten Zeit sel­ten in Pa­ris«, ant­wor­te­te Ri­beau aus­wei­chend. »Ich war viel auf Rei­sen.«

»Aber Sie müs­sen doch wis­sen, was in ist. Wel­che mai­sons – ich mei­ne, wes­sen Stü­cke man spielt, an der Comé­die Françai­se zum Bei­spiel!«

»Mei­ne Ar­beit er­laubt mir lei­der nicht, viel aus­zu­ge­hen.«

»Aber Sie wer­den doch wis­sen, wel­che Dich­ter man liest, wel­che Phi­lo­so­phen man dis­ku­tiert. Sie ha­ben doch Fern­se­hen!«

»O nein«, lach­te Ri­beau.

»Un­ser Ap­pa­rat ist jetzt lei­der auch ka­putt«, sag­te die Frau dar­auf­hin be­dau­ernd. »Ha­ben Sie viel­leicht et­was zu rau­chen?«

»Ich bin Nicht­rau­cher.« »Und wie steht’s mit Schnee?«

»Schnee? « frag­te Ri­beau.

»Ja.«

»Ich ver­ste­he –«

»Was ma­chen Sie denn?« frag­te die Frau nun höchst un­ge­dul­dig.

»Ich –«

Er zö­ger­te – aber im glei­chen Au­gen­blick öff­ne­te sich, ihm eine Ent­schei­dung er­spa­rend, die Tür, durch die er in den Sa­lon ge­tre­ten war, und ein gros­ser, wohl­be­leib­ter, aber kei­nes­wegs dick wir­ken­der Mann, der einen of­fe­nen weis­sen Ärz­te­kit­tel trug und, wie Ri­beau wuss­te, vor we­ni­gen Wo­chen neun­und­fünf­zig Jah­re alt ge­wor­den war, kam schwung­voll her­ein­spa­ziert.

Wie die Um­ge­bung und das Schloss ent­sprach Dok­tor Mail­lard, der Chef der Cli­ni­que Château Eu­ro­pe, zwar recht ge­nau der Be­schrei­bung, die man Ri­beau ge­ge­ben hat­te – so­gar die Klei­dung, die er un­ter dem of­fe­nen weis­sen Man­tel trug, glich der auf den Fo­tos, die er von ihm ge­se­hen hat­te –, aber als der Dok­to­rand den Mann, der jede Art von Pu­bli­zi­tät ver­ab­scheu­te und von dem nur we­ni­ge äl­te­re Bil­der exis­tier­ten, nun di­rekt in Fleisch und Blut vor sich sah, bein­druck­te ihn die im­po­san­te Er­schei­nung doch mehr, als er er­war­tet hat­te.

Vor al­lem die, wie er über­rascht er­kann­te, mit je­nen der jun­gen Frau am Kla­vier prak­tisch iden­ti­schen, in­ten­siv hell­blau leuch­ten­den Au­gen, die ihn un­ter ei­nem Paar bu­schi­ger, tief­schwa­r­zer Brau­en her­vor äus­serst leb­haft an­sa­hen, wa­ren es, die Ri­beau so be­mer­kens­wert schie­nen – und an­ge­nehm über­rasch­te ihn auch das über­haupt nicht an­mas­sen­de oder ar­ro­gan­te Be­neh­men, das der trotz­dem Au­to­ri­tät und Wür­de ausstrah­len­de, wie man sag­te, ganz und gar der al­ten Schu­le an­ge­hö­ren­de und gros­sen Wert auf ge­pfleg­te Um­gangs­for­men hal­ten­de Mann ihm ge­gen­über an den Tag leg­te.

»Da ist er ja, un­ser jun­ger Freund«, sag­te der Kli­nik­chef, der un­ter dem weis­sen Man­tel einen dun­kel­blau­en An­zug mit Gi­let trug, über des­sen Aus­schnitt sich eine grell­ro­te Kra­wat­te und die haut­fa­r­be­nen Schläu­che ei­nes alt­mo­di­schen Ste­tho­skops von ei­ner weis­sen Hemd­brust ab­ho­ben, wäh­rend er mit aus­ge­streck­ten Ar­men er­freut la­chend auf den Dok­to­ran­den zu­ging. »Gut ge­reist? Kei­ne Schwie­rig­kei­ten ge­habt, uns hier zu fin­den?«

»Über­haupt nicht, Mon­sieur le di­rec­teur«, ant­wor­te­te Ri­beau und er­wi­der­te den fast schmerz­haft kräf­ti­gen Hän­de­druck des gros­sen Man­nes. »Der Pro­fes­sor hat mir al­les ge­nau be­schrie­ben!“.

»Der gute alte Sa­got-Du!« rief der Kli­nik­di­rek­tor und strich sich mit bei­den Hän­den über die stark ge­lich­te­ten grau­en Haa­re, die glatt zu­rück­ge­kämmt auf sei­nem kan­ti­gen Schä­del la­gen. »Wir ha­ben uns schon so lan­ge nicht mehr ge­se­hen. Wie geht es ihm denn? Pro­du­ziert er im­mer noch eine wis­sen­schaft­li­che Ar­beit nach der an­dern und sen­sa­tio­niert da­mit das li­te­ra­ri­sche Pa­ris?«

»Sie über­trei­ben, Mon­sieur«, mein­te Ri­beau, der sich ein leich­tes Schmun­zeln al­ler­dings nicht ver­knei­fen konn­te.

»Aber nein«, lach­te Mail­lard. »Wir sind hier im Sü­den zwar et­was ab­seits vom Zen­trum, aber heut­zu­ta­ge ist man ja auch an der Pe­ri­phe­rie ganz gut in­for­miert. Und Sa­got-Du’s vor­neh­mer Dop­pel­na­me und sein dop­pel­deu­ti­ges Ei­er­kop­fi­ma­ge drin­gen durch die Me­di­en ja bis in den letz­ten Win­kel.«

»Der Pro­fes­sor sag­te mir, dass Sie einen aus­ge­präg­ten Sinn für Hu­mor hät­ten.«

»Hu­mor?! Hast du ge­hört, Lin­da?« Wie­der lach­te der gros­se Mann schal­lend. »Hu­mor hat er ge­sagt! Ich wet­te, der gute Sa­got-Du hat Sie vor mir ge­warnt und Ih­nen ge­sagt, ich sei ein al­ter Witz­bold, der dau­ernd ir­gend­wel­che Scher­ze aus­he­cke und so­gar zu ei­ner ge­wis­sen Bos­haf­tig­keit nei­ge!«

»Durch­aus nicht«, ver­si­cher­te der Dok­to­rand – wor­auf der an­de­re jo­vi­al mein­te: »Ach, kom­men Sie, mir ge­gen über kön­nen Sie völ­lig of­fen sein. Sa­got-Du und ich sind schon viel zu lan­ge mit­ein­an­der be­freun­det, als dass wir uns noch ir­gen­d­et­was vorzu­ma­chen brauch­ten. Er hat mir ja auch al­les über Sie ge­schrie­ben und Sie mir eben noch ein­mal te­le­fo­nisch ans Herz ge­legt. Der be­gab­tes­te Schü­ler und Mit­a­r­bei­ter, den er bis jetzt ge­habt habe! Mein Kom­pli­ment! Sehr schmei­chel­haft!«

»Ich –« Ri­beau blick­te kurz zu der Frau, die am Kla­vier sass.

»Ach so, Lin­da«, mein­te der Kli­nik­chef. »Habt ihr euch über­haupt schon be­kannt ge­macht?«

»Wir ha­ben uns ein we­nig un­ter­hal­ten«, sag­te Ri­beau.

»Sehr schön, wun­der­bar«, kon­sta­tier­te Mail­lard zu­frie­den. »Dann sei doch so gut und bring uns ei­ni­ge Er­fri­schun­gen, liebs­te Lin­da!«

»Mit Ver­gnü­gen«, sag­te die jun­ge Frau lä­chelnd und ging auf ih­ren ele­gan­ten, hoch­ha­cki­gen schwa­r­zen Schu­hen so nahe an Ri­beau vor­bei zur Tür, dass die­ser den Duft ih­res dis­kre­ten, aber trotz­dem un­ge­wöhn­lich auf­rei­zend wir­ken­den Pa­rf­ums rie­chen konn­te.

»Eine in­ter­es­san­te und, wie es scheint, auch recht ta­len­tier­te Per­son«, sag­te der Dok­to­rand dann, höchst ge­spannt auf das Ge­spräch, das zwi­schen ihm und dem in Fach­krei­sen nicht nur ge­rühm­ten, son­dern auch um­strit­te­nen und stark an­ge­fein­de­ten Di­rek­tor fol­gen wür­de. »Ist sie –«

»Lin­da?!« lach­te die­ser nun wie­der laut. »Nein, nein, mein Lie­ber! Lin­da ist kei­ne Pa­ti­en­tin. Sie ist die Toch­ter ei­nes ame­ri­ka­ni­schen Mul­ti­mil­li­o­närs und Me­di­enz­ars. Das Kind hat zwar, wie vie­le jun­ge Leu­te in un­se­rer Zeit, un­längst auch ein­mal ei­ni­ge Wohl­stands­pro­ble­me ge­habt – ge­wis­se Sucht- und Ab­hän­gig­keits­er­schei­nun­gen, Sie ver­ste­hen, was ich mei­ne –, er­le­digt nun aber, nun ja, sa­gen wir, spe­zi­el­le Se­kre­ta­ri­ats­a­r­bei­ten für mich, als mei­ne ganz per­sön­li­che Mit­a­r­bei­te­rin so­zu­sa­gen. Ein höchst rei­zen­des und lie­bens­wür­di­ges We­sen, wie Sie si­cher be­merkt ha­ben!«

»Oh, durch­aus«, sag­te Ri­beau, nicht ohne gleich­zei­tig eine ge­wis­se Ge­nug­tu­ung dar­über zu emp­fin­den, dass er sich im Ge­spräch mit die­ser Frau, be­vor der Di­rek­tor er­schie­nen war, noch nicht zu weit vor­ge­wagt hat­te.

»Manch­mal et­was über­schwäng­lich, ja ex­zen­trisch«, mein­te Mail­lard mit ei­nem, wie Ri­beau schien, leicht iro­ni­schen Un­ter­ton. »Aber das er­höht den Reiz ja nur, oder nicht?«

»Sie müs­sen ent­schul­di­gen, dass ich un­si­cher war. Aber Sie wer­den ver­ste­hen –«

»Na­tür­lich, mein Lie­ber, na­tür­lich«, be­schwich­tig­te ihn der Kli­nik­di­rek­tor. »Wie ich dem Brief von Sa­got-Du ent­nom­men habe, wa­ren Sie ja auch schon bei Ba­sag­lias Nach­fol­ger Dok­tor Ro­tel­li in Tri­est und ha­ben Laing auf sei­nem Al­ters­sitz in Saint-Tro­pez be­sucht.«

»Rich­tig. Mein Auge ist, sa­gen wir, viel­leicht nicht mehr ganz un­ge­schult.«

»Aber man kann nie vor­sich­tig ge­nug sein, nicht wahr?!« »Sie sa­gen es!«

»Und nun schickt der alte Fuchs Sie also auch noch zu mir!«

»Aber nein, Mon­sieur«, pro­tes­tier­te Ri­beau. »Ich bin auf mei­nen ganz per­sön­li­chen Wunsch hier – zur Ver­voll­stän­di­gung mei­ner thè­se d’État, wie Sie wis­sen. Ihre Ar­beit und Ihre Me­tho­de sind in der Öf­fent­lich­keit ja lei­der nicht so be­kannt, wie sie es ver­die­nen wür­den, aber in wis­sen­schaft­li­chen Krei­sen spricht man mit gros­sem Re­spekt von Ih­nen und Ih­rem Sys­tem.«

»Bit­te set­zen Sie sich doch. Sie wer­den nach der lan­gen Fahrt si­cher müde sein!« Mail­lard deu­te­te auf das be­quem aus­se­hen­de brau­ne Le­der­so­fa, das di­rekt un­ter der rie­si­gen, wirk­lich nicht be­son­ders gut ge­lun­ge­nen Ko­pie des ›Vor­ste­he­rin­nen‹-Bil­des stand, und füg­te in der ihm ei­ge­nen, an­ge­neh­men und freund­li­chen Art hin­zu: »Ich hof­fe, die vie­len Pflan­zen stö­ren Sie nicht zu sehr. Wir ha­ben ein­fach noch kei­ne Zeit ge­habt, uns die­ses Pro­blems an­zu­neh­men. So­bald wir für ei­ni­ge an­de­re, wich­ti­ge­re Din­ge eine Lö­sung ge­fun­den ha­ben, wer­den wir uns aber auch um die­se Sa­che küm­mern und sie wie­der in Ord­nung brin­gen!«

Ri­beau, der für die Auf­for­de­rung, sich zu set­zen, dank­bar war, ver­stand nicht recht – ihm kam es vor, als ob die üp­pi­ge Ve­ge­ta­ti­on, die das Schloss um­gab, durch die über­all auf­ge­stell­ten Kü­bel­pflan­zen auf eine wun­der­vol­le Wei­se in die­ses Ge­bäu­de hin­ein­wach­sen konn­te, so dass man sich qua­si auch in sei­nem In­nern noch in der Na­tur be­fand –, und er sag­te des­halb zu Mail­lard, der bald ei­ni­ge Schrit­te in die­ser, bald in je­ner Rich­tung mach­te, dass ihn die Pflan­zen über­haupt nicht stör­ten, dass er sie, im Ge­gen­teil, als aus­ge­spro­chen an­ge­nehm, ja wohl­tu­end emp­fin­de, und ver­such­te dann, das Ge­spräch wie­der auf den Zweck sei­nes Be­suchs zu­rück­zu­füh­ren, in­dem er mein­te: »Sie soll­ten un­be­dingt mehr über Ihre Ar­beit pu­bli­zie­ren.«

»Ach was«, wehr­te der Di­rek­tor ein­mal mehr nur bei­läu­fig ab. »Es wird doch schon viel zu­viel pu­bli­ziert! Was ich zu sa­gen habe, habe ich ge­sagt, es ist ge­druckt und greif­bar, und ich sehe nicht ein, war­um ich das al­les noch in tau­send­fa­chen Va­ria­ti­o­nen und Ver­klei­dun­gen wie­der­ho­len soll, nur um mir da­mit einen so­ge­nannt ›wis­sen­schaft­li­chen‹ Na­men zu ma­chen.«

Da er nun den Au­gen­blick für ge­kom­men hielt, mit dem Mann, der ihm in sei­ner of­fe­nen und un­kon­ven­ti­o­nel­len Art im­mer sym­pa­thi­scher wur­de, ge­nau­er über die Be­din­gun­gen sei­nes Stu­di­en­auf­ent­halts in die­sem Haus zu spre­chen – ein Prak­ti­kum, das er, nach dem Ein­druck, den er bis­her ge­won­nen hat­te, mög­lichst rasch an­zu­tre­ten wünsch­te –, ge­stand Ri­beau ganz di­rekt: »Ihr An­ge­bot und Ihr Be­ste­hen auf ei­nem Kurz­be­such von mir zur Vor­be­rei­tung mei­nes Auf­ent­halts ha­ben den Pro­fes­sor und mich et­was über­rascht.«

»Oh«, mein­te Mail­lard, wäh­rend er schmun­zelnd vor dem Dok­to­ran­den ste­hen­blieb. »Wir dach­ten, dass wir auf die­se Wei­se so­wohl Sie wie uns vor Ent­täu­schun­gen be­wah­ren kön­nen. Denn der letz­te Be­su­cher, den wir hier in un­se­rem gu­ten Château Eu­ro­pe hat­ten, war näm­lich, wenn es Sie in­ter­es­siert, ein ku­h­äu­gi­ger deut­scher Jour­na­list, ein ge­wis­ser Frit­zi – ich weiss nur noch Frit­zi – aus Ham­burg, der recht forsch auf­trat und dann einen uns sehr ent­täu­schen­den, höchst über­heb­li­chen, durch und durch deut­schen Ar­ti­kel schrieb, in dem er al­les und je­des, was er hier ge­se­hen und ge­hört hat­te, kri­tisch hin­ter­frag­te und ra­ti­o­nal bril­lant, aber trotz­dem völ­lig ober­fläch­lich ver­ba­li­sier­te und in­tel­lek­tu­a­li­sier­te. Im Stil: Der ro­ma­ni­sche Chau­vi­nis­mus der La­ti­ni­tät be­droht die gröss­te Dich­ter- und Den­ker­na­ti­on der Welt!«

Wäh­rend der Kli­nik­di­rek­tor ge­nuss­voll das Zi­tat des Jour­na­lis­ten zum Bes­ten gab, war die schwa­rz­ge­klei­de­te Ame­ri­ka­ne­rin wie­der in den Sa­lon ge­tre­ten und trug eine gros­se, mit Früch­ten über­la­de­ne Scha­le her­ein – Ri­beau er­kann­te ne­ben hoch auf­ge­türm­ten, hell­gelb und dun­kel­blau leuch­ten­den Trau­ben auch präch­ti­ge Äp­fel, Bir­nen und Pfir­si­che.

»Der Wein kommt gleich«, sag­te sie, wäh­rend sie die Scha­le gra­zi­ös vor dem Be­su­cher aus Pa­ris auf den Glas­tisch stell­te – und als Mail­lard sie frag­te, ob sie noch den Na­men des deut­schen Jour­na­lis­ten wis­se, von dem ihm nur noch Frit­zi, Frit­zi aus Ham­burg, in Er­in­ne­rung ge­blie­ben sei, mein­te sie: »Nein. Eine Frucht?«

»Dan­ke nein«, ant­wor­te­te Ri­beau.

»Ist aber sehr ge­sund!« Der an den Glas­tisch her­an­ge­tre­te­ne gros­se Mann nahm sich eine von den dun­kel­blau­en Trau­ben und setz­te sich dann dem Dok­to­ran­den schräg ge­gen­über in den­je­ni­gen der bei­den zur Sitz­grup­pe ge­hö­ren­den schwe­ren brau­nen Le­der­ses­sel, der der Fens­ter­front des Sa­lons zu­ge­wandt war.

»Die Ser­vi­et­ten, so­fort«, sag­te die ih­ren Chef auf­merk­sam be­ob­ach­ten­de Mit­a­r­bei­te­rin dienst­be­flis­sen und eil­te has­tig wie­der hin­aus.

Der statt­li­che Kli­nik­di­rek­tor hat­te sich ei­ni­ge gros­se blaue Trau­ben­bee­ren in den Mund ge­scho­ben und zer­kau­te sie kraft­voll.

»Neh­men Sie doch auch eine«, er­mun­ter­te er den Dok­to­ran­den noch­mals, wäh­rend er ihm die Scha­le zu­schob. »Aus dem ei­ge­nen Wein­berg!«

»Oh, schön! Dann na­tür­lich!« Ri­beau ent­schied sich eben­falls für eine dun­kel­blaue Trau­be, und die­se schmeck­te, wie er zu­ge­ben muss­te, wirk­lich aus­ge­zeich­net – und nach­dem er ei­ni­ge Bee­ren ge­ges­sen hat­te, er­laub­te er sich, dem Kli­nik­di­rek­tor eine et­was in­dis­kre­te Fra­ge zu stel­len.

»Sa­gen Sie – wie heisst sie ei­gent­lich mit Nach­na­men?«.

»Lin­da? Sie heisst Love­ly, Lin­da Love­ly. Ein schö­ner Name, fin­den Sie nicht auch?«

»Oh, doch«, mein­te Ri­beau. »Und Ihr As­sis­tent ist Dok­tor An­seau­me?«

»Sie ken­nen Dok­tor An­seau­me?« frag­te Mail­lard den ihm schräg ge­gen­über­sit­zen­den jun­gen Mann.

»Der Pro­fes­sor er­wähn­te ihn.«

»So so –«

»Er mein­te, Sie wür­den mich wohl si­cher in sei­ne Ob­hut ge­ben.«

»Mein­te er –«

Die plötz­li­che Kurz­sil­big­keit und das mit ei­ner spe­zi­el­len Be­to­nung und ei­nem iro­ni­schen Schim­mern in den hell­blau leuch­ten­den Au­gen ver­bun­de­ne kom­men­ta­r­lo­se, fast echo­haf­te, schrof­fe Wie­der­ho­len der Wor­te ver­un­si­cher­ten Ri­beau ein we­nig.

»Ja –«, sag­te er.

»Nun«, mein­te der Kli­nik­di­rek­tor mit ei­nem fei­nen Lä­cheln. »Ich bin nicht si­cher, ob Dok­tor An­seau­me da der ge­eig­ne­te Mann wäre.«

»Ich wer­de ihn ja ken­nen­ler­nen«, sag­te Ri­beau.

»Das ist, fürch­te ich, mo­men­tan lei­der nicht mög­lich«, ant­wor­te­te Mail­lard be­tont lang­sam.

»War­um?« frag­te Ri­beau.

Der Kli­nik­di­rek­tor sah den jun­gen Mann, wäh­rend er sich eine wei­te­re Trau­ben­bee­re in den Mund schob, amü­siert an und er­klär­te dann wie­der so lang­sam wie zu­vor: »Dok­tor An­seau­me be­fin­det sich im Ur­laub.«

»Wie bit­te?«

»Neu-Ka­le­do­ni­en!«

Ri­beau war et­was ver­wirrt. »Aber der Pro­fes­sor«, be­gann er- und Mail­lard frag­te so­fort mit ei­nem ei­gen­ar­ti­gen Un­ter­ton: »Ja?«

»Nichts«, sag­te Ri­beau aus­wei­chend, und im glei­chen Au­gen­blick trat wie­der die Ame­ri­ka­ne­rin in den Sa­lon und ver­schaff­te ihm da­mit eine nicht un­will­kom­me­ne Atem- und Denk­pau­se.

»Die Ser­vi­et­ten«, sag­te die schö­ne jun­ge Frau und be­gann zu sei­ner Über­ra­schung, ei­nes der gros­sen weis­sen Tü­cher zu­erst sorg­fäl­tig auf dem Schoss Mail­lards und das an­de­re gleich dar­auf, ohne ir­gend­wel­che Hem­mun­gen zu zei­gen oder eine Ent­schul­di­gung vor­zu­brin­gen, auf dem sei­nen aus­zu­brei­ten.

»Un­ser jun­ger Freund hier hat sich nach Dok­tor An­seau­me er­kun­digt«, sag­te der Kli­nik­di­rek­tor zu Lin­da – aber die­se re­a­gier­te über­haupt nicht dar­auf, son­dern frag­te Ri­beau, wäh­rend sie ihm in die Au­gen sah, ob er lie­ber weis­sen oder ro­ten Wein trin­ke, und ver­liess, nach­dem er sich für weis­sen ent­schie­den hat­te, ein wei­te­res Mal den Sa­lon.

»Ist sie nicht zau­ber­haft, mei­ne Lin­da«, sag­te der gros­se Mann, wäh­rend er sich eine zwei­te, dies­mal eine hell­gel­be Trau­be nahm. »Sie wol­len also, wenn ich den gu­ten Sa­got-Du rich­tig ver­stan­den habe, über die so­ge­nann­te Anti-Psych­ia­trie schrei­ben?«

»Eine un­g­lü­ck­li­che Be­zeich­nung, die sich lei­der durch­ge­setzt hat«, wehr­te Ri­beau, der spür­te, dass nun der Mo­ment sei­ner Prü­fung ge­kom­men war, so­fort ab.

»Be­vor­zu­gen Sie viel­leicht die Be­zeich­nun­gen an­ti­in­sti­tu­ti­o­nell, an­ti­tech­no­kra­tisch, an­ti­au­to­ri­tär, ra­di­kal­de­mo­kra­tisch oder de­mo­kra­tisch-so­zi­a­lis­tisch?

---ENDE DER LESEPROBE---