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Ende der 1970er Jahre schreibt E. Y. Meyer ein Essay, ein zweiteiliges Plädoyer. Der erste Teil beschreibt in einem grossartigen Bogen, angefangen mit dem Bilderverbot im Zweiten Buch Moses, einem Reigen zur Bild-Philosophie über eine Reise nach Norddeutschland mit Theaterarbeit in Bremen bis hin zum Besuch einer von ihm nicht nur architektonisch als »Montsterschule« erlebten Gesamtschule und einer Besichtigung einer schockierenden Überbauung des Unternehmens »NEUE HEIMAT". Dieses Unternehmen im Besitz des Deutschen Gewerkschafts-Bundes prägte das Gesicht Deutschlands städtebaulich und architektonisch von 1926 bis 1990 nachhaltig. Die Theaterarbeit gilt dem Stück »Gimme Shelter« des Briten Barrie Keeffe, der zu diesem Zeitpunkt »resident playwright« bei der Royal Shakespeare Company war. Im zweiten Teil wird E. Y. Meyer zum DEMOSTHENES. Die gewaltige und furiose »Rede an Architekten« bringt eine Gesamtsicht der Geschichte der Architektur und zeigt die umfassende Verantwortung der Architektur für das Wohlergehen von Mensch und Natur. E. Y. Meyer verlangt GROSSES von seinem Publikum und stellt auch eine neue Integration von säkulären und religiösen Grundlagen zur Diskussion. Das Plädoyer ist nicht an Architekten allein gerichtet – es geht uns alle an und ist ein superbes Lesevergnügen für Anspruchsvolle.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
E.Y.MEYER
PlädoyerFür die Erhaltung derVielfalt der Natur
beziehungsweise
für deren Verteidigung gegen dieihr drohende Vernichtung durchdie Einfalt des Menschen
Essay
Erstmals erschienen 1982
© 2021 E.Y.MEYER
eymeyer.ch
Cover:
Bronzekopf des Autors
Geschaffen 1997 von PAN YI QUINAcademy of Arts & Design
Tsing Hua UniversityBei Jing, China
Oh, a storm is threat’ningmy very life todayIf I don’t get some shelterOh, yeah, I’m gonna fade away
»Gimme Shelter«Mick Jagger, Keith RichardsThe Rolling Stones
Inhalt
I Gimme Shelter oder eine Monsterschule
II Rede an Architekten
Reisen nach Deutschlandund Überlegungen zur Art und Weise,wie Welt-Bilder entstehen
Reisen nach Deutschland mag man aus den verschiedensten Gründen unternehmen.
Für den Schriftsteller eines Landes, das so klein ist, dass es nicht einmal über eine eigene, mit seiner gesprochenen Sprache mehr oder weniger identischen Schriftsprache verfügt, besteht jedoch, glaube ich, sowohl eine Verpflichtung wie eine Notwendigkeit, sich über das Land, dessen Sprache sein Land und er als Schriftsprache mitbenutzen, nicht nur aus indirekter, über ein Medium empfangener Anschauung und Erfahrung, sondern auch aus direktem, eigenem Er-leben, wie man sagt: ein Bild zu machen.
Dem zu widersprechen – und für den Schriftsteller oder Künstler ganz allgemein eine Schwierigkeit, wenn nicht ein Hindernis darzustellen – scheint allerdings der Umstand, dass in unserem abendländischen Bewusstseinsraum das Bilder-Machen schon seit etlicher Zeit suspekt, ja verpönt ist.
Das berühmteste Verbot einer solchen »Tat« findet sich im sogenannten Dekalog des Zweiten Buches Moses, dem Exodus, und lautet: Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen, was unten auf Erden, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist; du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen; denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Geschlecht an den Kindern derer, die mich hassen, der aber Gnade übt bis ins tausendste Geschlecht an den Kindern derer, die mich lieben und meine Gebote halten.
»... Du sollst... kein Gottesbild... keinerlei Abbild... im Himmel... auf Erden... unter der Erde... nicht anbeten... nicht dienen... ein eifersüchtiger Gott... die Schuld der Väter... bis ins dritte und vierte Geschlecht... mich hassen... Gnade... bis ins tausendste Geschlecht... mich lieben... meine Gebote halten...«
Andererseits ist das Bilder-Machen, wie wir heute auf eine überraschende Weise neu entdecken, eine Tätigkeit, die für unser Leben, so wie es geworden ist, unentbehrlich und für unser Überleben also notwendig ist, und die wir deshalb schon, seit es uns gibt, ausgeübt haben und immer noch ausüben.
Heute, zwanzig oder dreissig Jahrhunderte nach der Formulierung der mosaischen Zehn Gebote, da wir die Dinge etwas differenzierter und weniger kategorisch betrachten können und nicht mehr so sehr von einem – oder keinem – Gottes-Bild bedrängt werden sollten, müssen wir feststellen, dass das Bilder-Machen – ob wir das wollen oder nicht und ob wir es deshalb verbieten oder nicht – etwas ist, zu dem uns das Leben und das Überlebenwollen ganz einfach immer wieder zwingen.
Wir wissen heute – wenn auch erst seit kürzester Zeit und ohne dass dieses Wissen schon ins allgemeine Bewusstsein der Menschheit gedrungen wäre-, dass wir von Anfang, also von unserer »Geburt« an einen »Apparat« in uns eingebaut haben, der uns ununterbrochen Bilder von der Umwelt, in die wir hineingeboren werden, liefert, und dass wir uns in dieser Umwelt überhaupt erst dank dieser Bilder und nur wegen ihnen zurechtfinden und so unser Leben während der Zeit, die ihm gegeben ist, behaupten können.
Wir beginnen heute zu wissen, dass die Bilder unserer Umwelt – die Überwasserbilder wie die Unterwasserbilder der Erde und die Himmelsbilder – der Stoff sind, aus dem wir sowohl unsere Welt- wie auch unsere Gottesbilder formen und schon immer geformt haben, und dass sowohl die Welt- wie die Gottesbilder letztlich wie alle Bilder Überlebensbilder sind.
Diese Welt der Bilder – die Welt dieser Überlebensbilder – ist das, was wir auf die selbstverständlichste Weise der Welt von unserer Geburt bis zu unserem Tod für »unsere Welt« halten.
Den »Apparat«, auf den wir gestossen sind, als wir diese Selbstverständlichkeit zu befragen, zu untersuchen und zu erforschen begonnen haben, nennen wir deshalb auch Weltbild-Apparat.
Wir nehmen an, dass der Weltbildapparat – den jeder von uns, ohne sich dieses Umstands und des Apparats selber bewusst zu sein, in sich trägt – in einer äonenlangen stammesgeschichtlichen Anpassung an die Gegebenheiten der Umwelt entstanden ist, sich in einem Daseinskampf von gigantischem Ausmass entwickelt hat – in einer einzigen gewaltigen Auseinandersetzung des organischen Werdens mit den mitleidlosen Gegebenheiten der ebenfalls gewordenen und sich weiter entwickelnden anorganischen »Welt«. Einer Auseinandersetzung, die sich über einen so riesig-grossen Zeit-Raum erstreckt, dass dieser uns schlicht und einfach unvorstellbar ist.
Je mehr wir mit Hilfe der Naturwissenschaften nun auf eine indirekte, theoretische Weise über ihn zu wissen beginnen, desto deutlicher müssen wir aber nicht nur erkennen, dass der Weltbildapparat, den wir »besitzen« beziehungsweise der in uns sitzt, nicht dazu ausreicht, um auch seine eigene Entstehung erfassen zu können – dass er und seine Tätigkeit uns trotz unseres rationalen Wissens von ihnen nicht »bewusst« werden und von uns nicht unter unsere bewusste Kontrolle gebracht werden können. Wir müssen auch erkennen, dass das uns selbstverständliche Bild der Welt, das er uns liefert, nur ein recht grobes und unvollkommenes Bild ist.
Wir müssen erkennen und uns mit dieser Erkenntnis abzufinden versuchen, dass »unsere« Welt nur ein Ausschnitt aus der wirklichen Aussenwelt, aus einer aussersubjektiven Realität ist – jener Ausschnitt nämlich, der aus denjenigen Meldungen und Informationen über diese Realität besteht, die wir brauchen, um in ihr sowohl als Einzelwesen wie als Menschheit zu überleben.
Unser Erkenntnisprozess, müssen wir also annehmen, entspricht unserem Anpassungsprozess an die Umwelt.
Der Weg, auf dem wir uns diese Erkenntnisse – die Erkenntnisse über die Beschaffenheit unserer Erkenntnis und unseres Weltbildapparates – aneignen, kommt jedoch einer völlig neuen Art von Exodus gleich, für den der Auszug der Israeliten aus Ägypten nur noch als eine im Verblassen begriffene Metapher dastehen kann.
Es ist der Auszug der Menschheit aus dem Reichweitenbereich ihres Weltbildapparates und somit aus der bisherigen Selbstverständlichkeit »ihrer« Welt – in eine nicht nur bild-lose, dem Optischen ent-zogene, sondern auch dem Haptischen und somit der »direkten« sinnlichen Erfahrung des Weltbildapparates überhaupt unzugängliche, für die Menschen im eigentlichen Sinn des Wortes letztlich also un-begreifliche und sinn-lose Welt.
Wenn wir die beiden Richtungen, in die sich dieser Auszug vollzieht, mit den Namen angeben, mit denen wir die Bereiche belegt haben, die ausserhalb der Reichweite unseres Weltbildapparates liegen, dem Makro- und dem Mikrokosmos also, dann könnten wir sagen, dass die Menschheit im Begriff ist, den Exodus aus einem ihr ursprünglich zugeordneten Mediokosmos anzutreten.
Diesen Exodus können wir antreten, weil wir den von uns erkannten Weltbildapparat – der uns »eingebaut«, uns also sozusagen auf seinem jeweils »neusten Stand« angeboren ist – zu imitieren und auf diese Weise selber, aus eigener Kraft zu erweitern beginnen können.
Nach dem ihm eigenen, von uns in seinen Grundzügen erkannten Entstehungsprinzip des Weltbildapparats haben wir uns eine Reihe von »Hilfsapparaten« erbaut, deren Leistungen uns zwar bereits in einem ganz erheblichen Mass »in Staunen« versetzen – die aber »natürlich« noch lange keine mit dem Weltbildapparat vergleichbare Effektivität und Selbstverständlichkeit erreichen können und von dessen Natürlichkeit deshalb auch noch weit entfernt sind.
Die Selbstverständlichkeit, mit der unser ein gebauter, unserer Selbstbeobachtung unzugänglicher Weltbildapparat quasi »automatisch« funktioniert, ist, wie wir ent-deckt haben, »in Wirklichkeit« nämlich ein uns unvorstellbar komplexer Vorgang.
So sind es zum Beispiel automatisch ablaufende, höchst komplizierte Konstanzmechanismen, die in einem objektivierenden Sinn überhaupt erst Ordnung in eine in unermesslicher Vielfalt auf uns einstürmende Flut von Sinnesdaten bringen.
Nur so, dank dieser für ständige »Korrektur« beziehungsweise eben »Konstanz« sorgenden Mechanismen, ist es uns überhaupt möglich, in Farbe, Richtung und Form unveränderlich bleibende Bilder von »Dingen« zu »sehen«. Nur so können wir also beispielsweise die einem Gegenstand konstant anhaftende Eigenschaft, Licht von einer bestimmten Wellenlänge besser als solches von einer anderen zurückzuwerfen, die wir »Farbe« nennen, auch unter wechselnden Lichtbedingungen immer noch als, wie wir sagen, »von der gleichen Farbe« erkennen – oder trotz der Verschiebungen, die das Netzhautbild durch die Eigenbewegungen unserer Augen erfährt, einen Gegenstand in unserer Umgebung als immer noch in Ruhe befindlich wahrnehmen.
Das zusätzliche Wissen über die Welt, das wir mit unseren selbst konstruierten, sich ausserhalb von uns befindlichen Hilfsapparaten erlangen können, erreicht denn auch nie die Qualität der sinnlichen Erfahrung, die uns unser Weltbildapparat »direkt« vermittelt. Es bleibt in abstrakten Daten stecken und kann uns nur auf dem Umweg über mehr oder weniger hilflose und behelfsmässige Metaphern, die das uns unvorstellbare Abstrakte sozusagen ins Bildliche hineinzuholen versuchen, einigermassen »verständlich« werden.
Die »ver-rückteste« Metapher, zu der wir es auf diese Weise inzwischen gebracht haben, ist dabei vielleicht der Gedanke, dass wir uns zusammen mit unserer Erde irgendwo in einer sich im Gang befindlichen, für uns unvorstellbar grossen und sich deshalb mit einer uns unvorstellbaren Langsamkeit ausbreitenden Explosion befinden. In einem uns unvorstellbar grossen Zeit-Raum, den es vor dieser Explosion nicht gegeben hat, sondern der erst durch diese Explosion geschaffen worden und mit ihrem Ausdehnungsraum identisch ist. Ein Zeit-Raum von so gewaltigem Ausmass, dass sich das Erscheinen der gesamten bisherigen Menschheit vor seinem Hintergrund so ausnehmen mag, wie für einen Menschen vor dem Hintergrund seines ganzen Lebens vielleicht das Phänomen eines Blitzes, der den Nachthimmel durchzuckt.
Diese von uns eben erst entdeckte »Explosion«, mit der alles begann, nennen wir auch »Big Bang« oder »Ur-Knall« – und für den »Zeit-Raum«, den diese Explosion mit ihrer Ausbreitung bis jetzt geschaffen hat, und in welchem, wie wir vermuten, die Bedingungen für unsere Existenz schon von Anfang an festgelegt waren, haben wir die Wörter »Universum«, »Kosmos« oder »Welt-All« erfunden.
Dass wir von all dem – von diesem sich explosionsartig ausbreitenden »Welt-All« – weder etwas spüren noch fühlen und überhaupt keine direkte sinnliche Erfahrung, also kein sich sozusagen automatisch einstellendes Bewusstsein haben, hängt damit zusammen, dass unser ganzer Sinnesapparat – dessen Bezeichnung als »Weltbildapparat« in eben diesem Zusammenhang zugegebenermassen als etwas euphemistisch erscheinen muss – nur an eine winzig kleine Materienkugel in diesem Explosions-Zeit-Raum angepasst ist, die uns, die wir noch viel winzigere Erscheinungen in ihm sind, aber bereits so riesig erscheint, dass wir sie »Welt« genannt haben – die wir uns in diesen neuentdeckten grösseren Zusammenhängen nun aber eigentlich nur noch »Erde« zu nennen gewöhnen müssten.
In »unserer« Welt haben wir das Gefühl, uns in einem völlig gegenteiligen Zustand, in einem der absoluten Ruhe nämlich, zu befinden – ein Zustand, für den das bereits metaphernhafte »Auge des Hurrikans«, mit dem das relativ grosse, windstille Zentrum der tropischen Wirbelwinde gemeint ist, aus unserem »menschlichen« Erfahrungsbereich vielleicht wiederum die zutreffendste Meta-Metapher abgibt.
Vor unserem »kleinen« menschheitsgeschichtlichen Hintergrund gesehen, haben wir »Menschen« den folgenden »langen« Weg zurückgelegt: Des Primats des Haptischen, das auf unsere allernächste Umgebung beschränkt ist, eingedenk, haben wir uns immer mehr am Sichtbaren orientiert. Den Auftakt zu einer neuen Betrachtungsweise der Welt, zum grossen Exodus aus dem Bereich des sichtbaren kosmologischen Bildes und zum Eindringen in den Bereich, der ausserhalb des von uns sinnlich Erfahrbaren liegt, machte dann Kopernikus, als er eine der emotionalen Durchschlagskraft zwar ermangelnde, intellektuell aber überzeugende Theorie aufstellte, welche die Erde aus dem Zentrum herausrückte und zu einem von vielen Planeten in den Himmeln werden liess.
Galilei demonstrierte, dass die mechanischen Gesetze des Himmels mit denen der Erde identisch sind, und Kant zeigte uns, dass Raum und Zeit in den menschlichen Wahrnehmungs- beziehungsweise eben Weltbildapparat eingebaut sind.
Und heute ist es uns dank einer gewaltigen technischen Anstrengung bereits gelungen, einen kleinen Teil aus dem für uns unvorstellbar grossen und nur auf dem »theoretischen« Weg zugänglichen Weltall-Ganzen in unseren sinnlichen menschlichen Erfahrungsbereich hineinzubringen: Mit der Mondlandung hat die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA Menschen erstmals ermöglicht, auf dem Mond zu stehen und mit ihren eigenen Augen die Erde über dem lunaren Horizont aufgehen zu sehen – zum ersten Mal also zu sehen und sinnlich zu erfahren, dass sich die Erde am oder im Himmel befindet.
Damit ist aber auch die von der Antike bis heute behauptete Dichotomie der Welt, der Dualismus zwischen Erde und Himmel, Materie und Geist, die Zweigeteiltheit der Welt in den Bereich der Menschen und in die Sphäre der Götter, unhaltbar geworden. Symbolisch ausgedrückt ist die Erde in den Himmel »erhoben« und die Materie »vergeistigt« – ist die »Mutter« Erde in die Würde von »Vater, Sohn und Heiligem Geist« erhoben worden.
Der Fort-Schritt, den das menschliche Selbstbewusstsein gemacht hat, lässt sich sehr deutlich auch im Wandel der sichtbaren Muster seiner symbolischen Weltschau, den sogenannten Mandalas, ablesen: Im Zeitaltar der Jäger hielt der Mensch die Tiere für göttlich, in den bäuerlichen Gesellschaften rückte der Zyklus der Jahreszeiten, der Prozess von Tod und Wiedergeburt ins Zentrum der Erfahrung, dann wurde die mathematische Bahn der Planeten Mittelpunkt des Staunens, und der Mensch entwarf Götter in Gestalt von Sonnen, und schliesslich nahm das christliche Kreuz die Mitte des Mandala ein.
Heute steht die Gestalt des Menschen selber im Brennpunkt – wir haben erkannt, dass alle Götter in uns sind, unserer eigenen Phantasie entstammen, und dass die Menschheit, dass jeder einzelne von uns die Welt selber erschaffen muss. Als Kinder von Mutter Erde und Vater Kosmos sind wir volljährig geworden und beginnen nun die schöpferische Kraft, die früher den Göttern zukam, für uns zu beanspruchen.
In dieser Situation hat die Menschheit den grossen Exodus aus dem Bereich der uns sinnlich erfahrbaren Welt, »unserer Welt«, angetreten, um auch etwas über die diesen Bereich umgebende, umfassendere aussersubjektive Realität, die wirkliche Aussenwelt in ihre Erfahrung zu bringen.
Es ist dies vielleicht der gefährlichste Schritt, der nicht nur innerhalb der bisherigen Menschheitsgeschichte, sondern im ganzen organischen Werden auf diesem Planeten überhaupt unternommen worden ist. Denn obwohl wir blind, taub und auch sonst völlig gefühllos in den Bereich der aussersubjektiven Realität eindringen und keinerlei direkte Erfahrung mit ihm und uns also auch keinerlei direkte Bilder von ihm machen können – so dass wir bei allem, was wir in diesem Bereich tun, schlicht und einfach nicht mehr »im Bild« sind-, haben wir mit diesem Schritt in einer bestimmten Hinsicht bereits binnen kürzester Zeit einen enormen »Erfolg« erzielt: wir haben auf diesem Weg bereits die unvorstellbare Macht erlangt, jenen Teil unserer Umwelt in einem einzigen Riesenknall in seine atomaren oder noch kleineren Bestandteile auseinanderfliegen zu lassen, der unsere eigentliche und einzige Lebensgrundlage bildet und den wir »Erde« nennen.
Ohne ein »menschliches« Verständnis von den komplexen Prozessen zu haben, die über uns unvorstellbar grosse Zeit-Räume hinweg entstanden sind, können wir die einfachsten von ihnen bereits binnen kürzester Zeit bewusst und willentlich nachvollziehen beziehungsweise kopieren – inklusive eben der Mini-Kopie des Big Bang, mit dem alles entstanden ist und mit dem alles auch wieder enden kann.
Wo aber, müssen wir uns fragen, sind denn nun bei diesem neuen Exodus die Gebote, die uns ihn zu überstehen helfen können?
Sind es immer noch die alten, die Zehn Gebote aus der Zeit des Auszugs der Israeliten aus Ägypten, die ihre Gültigkeit auch für diesen neuen Auszug behalten werden, oder bräuchten wir nicht vielleicht völlig neue?
Wenn eine der grössten Gefahren bei dem Unternehmen, das wir angetreten haben, die völlige Bildlosigkeit ist, in der es sich abspielt, dann sollte, würde man logischerweise meinen, jedenfalls dasjenige der Zehn Gebote, das am weitesten geht und am umfassendsten ist, das Bildverbot nämlich, keine Gültigkeit mehr dafür haben.
Wir sollten uns dann im Gegenteil darum bemühen, möglichst schnell zu Bildern zu kommen, die uns auch über den neuen Bereich, in den wir eindringen, wieder »ins Bild« setzen.
Andererseits könnte sich jedoch eine vielleicht ebenso grosse Gefahr wie die der Bildlosigkeit auch durch ihr Gegenteil ergeben – dann nämlich, wenn wir uns über den Zustand, in dem wir uns befinden, und den wir, milde gesagt, doch als immer beklemmender und bedrückender zu empfinden beginnen, mit falschen Bildern hinwegzutäuschen versuchen würden.
Denn die am Anfang unseres neuen Exodus stehende, für ihn fundamentale Erkenntnis, dass die uns bisher selbstverständliche Welt, in der wir leben, nur ein Bruchteil einer viel gewaltigeren aussersubjektiven Welt ist, den uns ein eingebauter Weltbildapparat vermittelt – diese gleiche Erkenntnis, die einerseits für unsere Beklemmung und Bedrückung verantwortlich ist, hat uns andererseits gleichzeitig auch in die Lage versetzt, auf eine erstaunliche Weise auch einige der einfachsten Bildproduktionsmechanismen unseres Weltbildapparates zu kopieren.
Mit Hilfe einer Reihe von vergleichsweise primitiven Weltbildapparat-Teilnachbauten können wir der unglaublich grossen Zahl von »echten« Bildern, die uns unser eingebauter Weltbildapparat in jedem Augenblick liefert, täglich noch eine schon recht grosse Flut von Kopien, im strengen Sinn also »falscher« Weltbildapparat-Bilder, hinzufügen – und die Tatsache, dass deren Qualität uns immer besser erscheint, erhöht auch die Gefahr immer mehr, dass diese mit den »echten« Weltbildapparat-Bildern verwechselt werden.
Um uns darüber hinwegzutäuschen, dass uns unser Weltbildapparat nicht die ganze Wirklichkeit vermittelt, verwechseln wir das, was wir in der Zeitung lesen, mit dem, was wir im Fernsehen sehen, und das, was wir im Fernsehen sehen, mit der Wirklichkeit – von Computer-Bildern ganz zu schweigen.
Und hier zeigt sich nun, dass das zwei- oder dreitausend Jahre alte Bildverbot-Gebot in einer differenzierteren Weise auch für den neuen Exodus, den wir zu unternehmen im Begriff sind, seine Gültigkeit beibehält – und beibehalten muss. In einer merkwürdigen, bis jetzt verborgen gebliebenen, potenziellen Weise scheint das alte Gebot auch diese »neue« Dimension bereits von Anfang an beinhaltet zu haben.
Für die von uns selbst auf eine neue Weise verstandenen und »entdeckten« Bilder, die unser hochkomplexer und uns erst zu einem Bruchteil verständlicher Weltbildapparat »macht«, kann das Gebot zwar keine Gültigkeit haben – beziehungsweise braucht es ein solches Gebot nicht. Denn obwohl es auch bei diesen Bildern, wenn man so will, keine hundertprozentige Sicherheit für ihre »Echtheit« gibt, so gibt es für sie doch immerhin schon so etwas wie eine jahrtausende- und jahrmillionenlange Bewährung.
Für die vergleichsweise doch immer noch primitiven Kopien, die wir heute auf »bewusste« Weise von den Bildern unserer Weltbildapparate innerhalb kürzester Zeit zu »machen« versuchen, muss dieses Gebot jedoch verhindern, dass wir diese idealisieren und verabsolutieren.
Wir müssen, um zu überleben, zwar zweifellos solche »Kopien« machen – je länger, je mehr vermutlich-, aber wir dürfen diese unter keinen Umständen mit den »echten« Weltbildapparat-Bildern verwechseln oder möglicherweise gar noch über sie stellen und in den Rang einer »Gottheit« erheben.
Wir müssen uns nicht nur bewusst bleiben, dass Bilder immer nur Bilder sein können – sondern uns auch die neue Erkenntnis im Bewusstsein zu halten versuchen, dass auch »unsere Wirklichkeit«, sobald sie über unsere nächste, greifbare Umgebung hinausgeht, nur aus »Bildern« besteht. Und wir müssen uns bewusst sein, dass wir uns vom allumfassenden »Ganzen« der aussersubjektiven Wirklichkeit, da wir nur ein verschwindend winziger Teil von ihm sind, nie so etwas wie ein »Bild« werden machen können.
Diesen uns eben erst bewusst gewordenen und werdenden Tatbestand wird es, auch wenn er uns bedrückt und beklemmt, ohne Selbsttäuschung auszuhalten gelten – und möglicherweise wird gerade dies dereinst als unsere grösste Leistung, als grössere Leistung als all unsere technischen Errungenschaften angesehen werden.
Wenn man eine Art »Stufen-Folge« der für den Menschen unmöglichen und der für ihn möglichen Bild-Bereiche aufstellen wollte, wäre da also zunächst einmal das weite, für uns zu weite Feld der aussersubjektivenWirklichkeit, dann käme das ihm gegenüber bedeutend engere Feld der Weltbildapparat-Bilder – unserer unwillkürlich erlebten »Welt« also-, und innerhalb von diesem käme dann das wiederum noch viel engere Feld der unserer Willkür entstammenden und unterworfenen Bilder der Weltbildapparat-Bilder.