Das andere Ende der Brücke - Elisa Schwarz - E-Book

Das andere Ende der Brücke E-Book

Elisa Schwarz

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Unfalltod seines Mannes Manuel lässt Patrick ungebremst in die Abwärtsspirale des Lebens schlittern. Monatelang bewegt er sich in einer ihm fremd gewordenen Welt, in der graue Emotionslosigkeit seine tägliche Begleiterin und sein Beruf als Fotograf mit zunehmender Hoffnungslosigkeit mehr als gefährdet ist. Mit allen Mitteln versucht er dagegen anzukämpfen, doch erst die Begegnung mit einem alten Bekannten rüttelt an ihm und als er kurz darauf Zeuge eines Überfalls wird, katapultiert ihn das Ereignis geradewegs in das reale Leben zurück. Plötzlich reichen Freunde ihre Hände und er lernt Menschen kennen, die mehr als freundschaftliche Gefühle in ihm wecken – Gefühle, die schlichtweg ausgeblendet waren. Doch wie soll er sich auf einen anderen Mann einlassen, wenn ihn die Angst schier erdrückt, dass er dadurch seine verstorbene große Liebe nicht nur verrät, sondern vor allem verliert? *** Dieses Buch hat homoerotischen Inhalt und gehört zu der Reihe "München", angesiedelt im Jahr 2015 Bei diesem Buch handelt es sich um eine überarbeitete Neuauflage.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



IMPRESSUM
Patrick Lehmann
PROLOG
1. ENDSTATION
2. ALTE FREUNDSCHAFTEN
3. STURMGRAU
4. TRÄNEN REINIGEN DIE SEELE
5. NICHTBEZIEHUNG
6. SCHWARZER MARMOR
7. MITTENDRIN EIN BISSCHEN HELL
8. SONNENSEITE
9. SIEGESZUG
10. SEIFENBLASE
11. FALSCHER ZEITPUNKT
12. DAS ANDERE ENDE DER BRÜCKE
13. HUNDEHERZ
14. GEFLÜGELTE EMPATHIE
15. STURMWOLKEN
16. ANZIEHUNGSKRAFT
17. GEWONNENE FREIHEIT
18. VERBORGENE SEHNSUCHT
19. DARÜBER-HINAUS-FREUND
20. MEILENSTEIN
21. NACHBARSCHAFT
22. SECHSER IM LOTTO
23. FLASHBACK
24. ALTE FISCHERBOOTE
25. EINGELÖSTE VERSPRECHEN
26. WÜNSCHE
EPILOG
DANKE
MEHR VON DER AUTORIN
IN PLANUNG
LESEPROBE

 

DAS ANDERE ENDE

 

DER BRÜCKE

 

 

MÜNCHEN 2015

 

 

 

 

Elisa Schwarz

 

IMPRESSUM

 

 

 

2. Auflage - November 2019

Copyright © Elisa Schwarz

(1. Auflage – Oktober 2016 Dead Soft Verlag)

 

Kontakt:

[email protected]

Elisa Schwarz

Krauseneckstr. 24 d

55252 Mainz-Kastel

 

 

© Cover: Elisa Schwarz

© Foto: Jaromír Chalabala – 123rf

Korrektorat: Bernd Frielingsdorf

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Übersetzung, Nachdruck und Veröffentlichung

jeglicher Art, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Autorin.

 

Patrick Lehmann

 

 

 

 

Meine Wurzeln sind an der Nordsee, mein Leben spielt woanders.

In München, gemeinsam mit dem Mann, der sich gerade von mir entfernt.

Zu wissen, er kommt wieder, ist das schönste Geschenk.

PROLOG

 

Meine Muskeln sind angespannt, fast schon überspannt. Ich erwarte den kommenden Schlag. Das Blutrauschen in mir übertönt beinahe das feine Surren der Peitsche. Gerade rechtzeitig höre ich es. Flammender Schmerz folgt! Mein Körper bäumt sich auf, ich schreie, winde mich und sacke kraftlos in den Fesseln zusammen.

Warten auf den nächsten Hieb.

Lauschen in die Stille.

Doch nichts passiert.

Das wilde Flackern des rot-gelben Lichts der Stumpenkerzen, die er hier im Keller aufgestellt hat, kündigt sein Näherkommen an. Das Leder fällt neben meine Füße und kommt auf dem rauen Beton auf. Er brummt etwas Unbestimmtes, streicht dabei sachte über meine Schulterblätter. Wie paralysiert drehe ich den Kopf in seine Richtung, er sieht genauso erschöpft aus, wie ich mich fühle.

„Es ist genug“, flüstert er und drückt seine Lippen auf meine Stirn. Ich will widersprechen, schaffe nur ein Röcheln. „Genug“, wiederholt er und ich schließe deprimiert die Augen. Sein Wort ist hier unten Gesetz. Heute geht es nicht weiter! „Ich werde dich jetzt losmachen. Bist du bereit?“

Ein Beben erfasst mich. Ich schluchze und möchte mich wehren, es reicht noch nicht.

„Ich weiß.“ So einfühlsam. „Du würdest noch Stunden hier ausharren, wenn ich deine Grenzen nicht abstecken würde.“ Wehmut schwingt in seiner Stimme mit, bevor er sich bückt, die Fußmanschetten öffnet und mir zu einem geraden Stand verhilft. Meine Muskeln protestieren, die Beine zittern. Er umfasst mich mühelos, bevor er die Handmanschetten löst und ich in seine Arme sinke. Kräftige Arme. Arme, die mich halten können. Arme, die es mir gestatten, schwach zu sein.

Ich bin zu schwach.

Willenlos und vollkommen am Ende.

Mein Rücken trifft auf seinen Oberkörper. Noch sind die Male taub, aber das wird nicht mehr lange anhalten und der Schweiß des Masters wird brennen. Vorsichtig stützt er mich, bringt mich die steinerne Treppe hinauf in das Erdgeschoss und dort zu einem Ruheraum. Bäuchlings legt er mich auf einem Bett ab und das Senken der Matratze neben mir deutet darauf hin, dass er sich zu mir gesetzt hat. Liebevoll streicht er mir durchs Haar und über die Schultern, lässt seine Hand nach einer Streichelrunde auf dem Nacken liegen. Ich bin müde, muss mich förmlich dazu zwingen, wach zu bleiben. Ich will nach Hause.

„Ich werde jetzt deinen Rücken versorgen. Bleib so liegen, bis ich wieder bei dir bin.“

Kurz darauf habe ich vergessen, was er gesagt hat.

1. ENDSTATION

 

Ich höre ihn wiederkommen und bin sicher, er wird eine Salbe dabeihaben. Wie mein Rücken aussieht, kann ich nur erahnen. Der nunmehr dumpfe Schmerz der Auspeitschung zieht durch meinen gesamten Körper wie eine Droge. Ich möchte so gern weinen. Doch keine einzige Träne schafft es nach draußen. Seit Monaten nicht.

Meine Lebensspirale zieht mich konstant nach unten, egal, wie sehr ich mich abmühe. Immer häufiger stehe ich vor der Tür meiner Freunde, um mir von Bill – dem dominanten der beiden – zu holen, was mich ein paar weitere Wochen atmen lässt, obwohl ich weder masochistisch noch unterwürfig veranlagt bin. Bill hatte Zweifel, mich als Kunden anzunehmen, am Ende aber auf mein Flehen hin zugestimmt. Wir haben eine klare schriftliche Vereinbarung für die Sessions, was mein Wille war, nicht der seine. Abgemacht waren zehn, wir sind jetzt bei vierzehn Treffen. Ich befürchte, in spätestens zwei Wochen stehe ich wieder auf seiner Türschwelle. Ich komme nicht mehr weg von diesem – meinem – Ritual, welches das Grau in mir in rotes Rauschen verwandelt.

Ich zittere, als das kühle Gel auf meinem Rücken verteilt wird, und habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Aber ich fühle etwas: herbeigesehnten Schmerz.

„Es wird keine bleibenden Schäden geben“, beruhigt Bill mich und verteilt die Creme weiter auf meiner Haut.

Ein leichtes Schamgefühl gesellt sich zu dem Schmerz. Die Sanftheit in der dunklen Stimme, die Sanftheit in seinen Fingerkuppen wecken Gefühle in mir. Ich mag seine Stimme und ich mag seinen Umgang mit mir. Die leichte Schwellung meines Gliedes, die sich bei seiner Zärtlichkeit aufbaut, ist mir allerdings verhasst. Vermutlich könnte Bill mir helfen, den Druck abzubauen, aber das kann ich nicht mit mir vereinbaren.

Ich antworte nicht. Meine Zunge ist schwer wie Blei und meine Kehle vom Aufschreien wund. Bill ist das Schweigen von mir gewohnt und lässt mir Zeit. Dankbar nehme ich den Strohhalm zwischen die Lippen, den er mir hinhält, und leere gierig das Wasserglas.

„Pat“, beginnt er, „mir ist heute etwas klar geworden, über das ich mir schon lange Gedanken mache, und ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Ich möchte nicht, dass du zu einer weiteren Schlagsession kommst, denn ich kann dir auf diese Weise nicht bei deinem Problem helfen.“

Ich vergesse zu atmen.

„Anfangs hatte ich Hoffnung. Es sah gut aus und du hast dich mir in den ersten Sitzungen geöffnet. Aber mittlerweile verschließt du dich komplett. Egal, wie oft wir uns noch treffen werden, daran wird sich nichts mehr ändern.“

Mit jeder Faser meines Körpers wehre ich mich gegen seine Worte. Ich will nicht, dass es hier endet. Das kann er doch nicht machen!

„Es wird alles gut.“ Beruhigend streicht er über meine Arme, meine Seiten und meinen Hintern nach unten. Schafft es tatsächlich, meine innere Kampfansage einzudämmen. „Du musst mir weiter zuhören. Gleich lasse ich dir Zeit, aber ich bin noch nicht fertig. Es war töricht von mir, mich auf deine Bedingungen einzulassen, und ich komme mir vor wie ein dummer, unreifer Junge. Ich habe in meiner Position nicht zu Ende gedacht und sah unsere Freundschaft im Vordergrund. Genau das hätte allerdings ein Grund sein sollen, nicht auf deine Forderungen einzugehen. Verzeih mir, aber diese Entscheidung muss ich jetzt für uns beide treffen. Wenn wir den Vertrag ändern oder ihn einfach über Bord werfen würden, wäre es einfacher für uns.“

Ich wimmere, werde weiter von ihm festgehalten, während er mit einem feuchtwarmen Tuch über meine Haut reibt. Seine Worte hallen in mir nach, treffen mich wie kleine Eisspitzen. So gern möchte ich mir die Ohren zuhalten und verhindern, dass er weiterspricht, aber ich bin viel zu erschöpft, fühle mich fallen gelassen. Was er mir sagen will, ist klar, doch ich möchte es nicht hören.

„Rede mit mir. Wie fühlst du dich?“, fragt er und streichelt mich immer weiter. Das bald darauf entstehende Wohlgefühl kribbelt auf meiner Haut und ich bebe erneut unter seinen Berührungen. Meine innere Blockade wackelt, aber sie stürzt nicht ein. Nichts dringt in mich. Nicht tief genug, um neben Schmerz oder Angst etwas anderes anrühren zu können.

„Sag mir, was du gerade fühlst.“

„Ich mag deine Hände auf mir“, flüstere ich zurück, krümme mich leicht. Der Schmerz in mir gewinnt wieder die Oberhand. „Es hört nicht auf, wehzutun. Ich habe das Gefühl, es reißt mich immer weiter nach unten, obwohl ich dagegen ankämpfe.“

„Das darf es auch. Es darf wehtun. Schmerz nach außen zu kanalisieren ist kein Verbrechen und ich würde dir das gern weiterhin geben. Aber in dir schlummern noch so viele andere Empfindungen, an die ich nicht herankomme.“ Bill bleibt ruhig, fährt mit sanfter Stimme fort. Für diesen Moment kann ich es annehmen. „Du musst Gefühle zulassen, um der Abwärtsspirale entgegenzuwirken. Daran können wir gemeinsam arbeiten. Was hältst du davon?“

„Ich kann nicht. Es geht einfach nicht. Du hast keine Ahnung, was passiert, wenn ich dich weitermachen lasse. Da ist nichts in mir. Gar nichts. Alles ist grau.“

„Nein! Das stimmt. Ich habe keine Ahnung, weil du mich nicht daran teilhaben lässt. Das bedaure ich sehr. Du machst so schnell zu, so schnell kann ich gar nicht zu dir vordringen. Ich bin kein Therapeut. Das ist ein gewaltiger Grund für mich, unseren Vertrag, so wie er jetzt ist, zu beenden.“

„Du lässt mich fallen!“

„Ich lasse dich nicht fallen, um dir zu schaden. Ganz im Gegenteil sogar. Wenn du weiterhin zu mir kommen möchtest, können wir darauf aufbauen.“ Bill atmet durch. Ich will gar nicht wissen, was jetzt noch kommt, und schließe die Augen, wünschte, ich könnte gleichzeitig nichts hören. „Wir können darauf aufbauen“, wiederholt er sich, „aber eben auf meine Art. Wir haben es so versucht, wie du es wolltest, das hat nichts gebracht. Überlasse es mir, wie wir an dein Problem herangehen, dann sehe ich eine reale Chance auf Ergebnisse unseres Tuns. Und Pat, ich möchte, nein, ich bestehe darauf, dass du dich in die professionellen Hände eines Therapeuten begibst.“

Der Rausch des Schmerzes ebbt ab, der Sturm in mir tobt weiter.

„Ruh dich jetzt aus. Wir reden später darüber.“ Seine Hände verschwinden von meiner Haut und mir wird eiskalt, obwohl es hier im Ruheraum warm ist. „Hast du gehört?“ Lieber möchte ich den Kopf schütteln, nicke aber knapp. Das Ergebnis bleibt dasselbe. „Ich werde ab und zu nach dir sehen und du kannst jederzeit nach mir rufen, wenn etwas ist. Steffen wird auch gleich nach Hause kommen.“

Ein dünnes Laken wird über mich gezogen und der Lichtschalter umgelegt. Sekunden später dämmere ich weg.

 

Das Gefühl, zu verdursten, ist übermächtig. Schweißgebadet wache ich auf und fasse an meine Kehle. Mein Schlaf war traumlos, wenn auch viel zu kurz. Eine Ruhestunde hier und eine ganze Nacht Schlaf zu Hause sind zwar nicht der Grund, weshalb ich Bill aufsuche, aber ein willkommener Nebeneffekt. Die Angst kriecht erneut in mir hoch. Was ist, wenn er seine Worte ernst gemeint hat? Ich bin nicht bereit, ihm freie Hand zu lassen. Nicht wie all die anderen, die bei Bill ihre vollkommene Erfüllung finden.

„Hey.“ Ich vernehme eine mir bekannte Stimme von der Zimmertür aus und drehe langsam den Kopf. Das Licht im Flur ist grell und sticht in den Augen. „War ich zu laut? Bist du meinetwegen aufgewacht?“

„Nein“, murmle ich in Steffens Richtung und versuche das Laken von mir zu strampeln.

„Warte, ich helfe dir hoch.“ Sofort kommt Steffen herbeigeeilt und stellt ein Glas Wasser auf die Kommode. Er zieht das Laken weg und hilft mir beim Aufsetzen. Mein Kreislauf braucht einen Moment, um nicht wegzusacken, der Schwindel in meinem Kopf ist enorm. Dankbar nehme ich das Glas entgegen, das er mit mir gemeinsam zu meinem Mund führt, damit es mir nicht aus den klammen Fingern rutschen kann.

„Danke. Wo ist er?“

„Bill ist duschen. Wir wollen noch ausgehen.“

„Ich war mal wieder ohne Termin hier.“

„Du brauchst keinen Termin, das weißt du doch. Bill nimmt sich immer Zeit für dich, sofern er keinen Kunden zu bedienen hat.“ Steffen sieht mich mitfühlend an. „Bill hat mir gesagt, dass er das mit dir beenden wird. Er sieht keine Ergebnisse, daher verstehe ich ihn. Hast du nochmal darüber nachgedacht, dir professionelle Hilfe zu holen? Das solltest du machen. Wenn du Bill zusätzlich eine freiere Hand gewährst, würde dir das sicher guttun.“

„Ein Seelenklempner kann mir nicht helfen.“

„Das kannst du erst wissen, wenn du es ausprobierst. Du möchtest nur einfach nicht darüber reden.“ Steffen stupst mich freundschaftlich an, er meint es nur gut. Dennoch sacke ich trostlos zusammen. „Bill hat ein paar Adressen für dich rausgesucht. Es sind Psychotherapeuten, die er persönlich kennt. Nimm die Liste mit und ruf wenigstens einen davon an, um einen Termin zu vereinbaren. Du würdest Bill und auch mir einen großen Gefallen tun.“

Ich mustere Steffen, der nur mit einer engen, schwarzen Lederhose bekleidet unglaublich gut aussieht. Durchtrainierte Muskeln spielen bei jeder Bewegung unter der golden schimmernden Haut, die auf dem Rücken und wie ich weiß, auch auf den Schenkeln, einige tiefe Narben trägt. Sie alle sind Zeugnis dafür, dass in seiner früheren Beziehung einiges schiefgelaufen ist. Vorsichtig fahre ich mit einem Finger eine Narbe nach und bemerke die Gänsehaut, die sich bei meiner Berührung auf seinem Rücken und seinen Armen ausbreitet.

„Tun sie noch weh?“

„Sie werden immer wehtun. Hier drin.“ Automatisch fasst er sich an die Brust und ich wünschte, ich hätte nicht gefragt. Ich kenne doch seine Geschichte, kenne sie in- und auswendig. „Die Erinnerung ist immer präsent, wenn ich sie betrachte. Daher vermeide ich das und Bill umschifft die Wunden gekonnt.“

„Ist Bill gut in dem, was er tut?“

Steffen lächelt verschmitzt. „Du hättest es damals schon herausfinden können. Ich hatte dir angeboten, eine Session mit deiner Kamera zu verfolgen. Erinnerst du dich?“ Ich seufze ergeben und ernte ein Schulterzucken dafür. „Was nicht ist, kann ja noch werden. Aber um deine Frage zu beantworten: Für mich ist Bill ein ausgezeichneter Master. Er kennt mich besser als ich mich selbst und wir harmonieren. Ich möchte ihn nicht mehr hergeben. Ob es mich heute ohne ihn überhaupt noch gäbe, bezweifle ich stark.“

Das ist bitter. Wortlos angle ich nach meiner Kleidung, betrachte dabei Steffens wohlgeformte Statur und blicke an mir herunter. Mir fehlt es eindeutig an Masse. Eigentlich kein Grund zur Panik, aber Bill hat meine mangelhafte Ernährung schon mehrmals kritisiert. Ich esse, nur der Appetit ist nicht vorhanden. Alles schmeckt nach Pappe mit Kleister.

„Wenn Bill mir nicht mehr geben möchte, was ich brauche, muss ich mir jemand anderen suchen. Er hat ja keine Monopolstellung auf diesem Gebiet.“ Ich klinge verbittert. Möglicherweise sogar trotzig, aber ich kann es nicht verhindern. Steffen zieht mich in eine Umarmung, darauf bedacht, meinen Rücken nicht zu berühren, und presst seine Lippen an meine Schläfe. Er ist so alt wie ich. Einunddreißig jetzt. Vermutlich kann er mich deshalb ein bisschen verstehen.

„Das musst und sollst du auch nicht. Bill wird gleich nochmal mit dir reden. Sieh nicht alles so schwarz.“ Er nimmt mein Shirt von der Stuhllehne und hält es mir hin. „Komm, ich helfe dir beim Anziehen. Lass mich deinen Rücken vorher anschauen und ein weiteres Mal eincremen. Mach dir nicht so viele Gedanken, ja? Bill ist kein Unmensch. Er wird dich nicht fallen lassen. Du bist und bleibst unser Freund und du kannst immer zu uns kommen, ganz egal wann.“

Weil Steffen und mich mehr als eine Freundschaft verbindet. Von der ersten Sekunde an, als wir uns kennengelernt haben, verstanden wir uns wortlos. Aber wir haben beide ein Leben zu leben, es bleibt kaum Zeit für Treffen. Bill und Steffen sind schon froh, wenn sie die freien Zeitfenster für sich nutzen können. Ich möchte nicht stören und in ihre Beziehung dringen. Überhaupt: Ich möchte lieber allein sein.

Tiefer, seelischer Schmerz reißt an mir und ich verziehe das Gesicht. Steffen drückt mir einen Kuss in den Nacken, als hätte er es bemerkt. „Du brauchst Zeit und einen Spezialisten, der sich mit dir gemeinsam um dein Seelenheil kümmern kann. Keine Schmerztherapie.“

Der Weg bis ins Wohnzimmer der beiden ist beschwerlich, trotz Steffen als Stütze. Wunschgemäß hat Bill diesmal mehr gegeben. Seine Schläge hatten spürbar mehr Biss. Dennoch glaube ich, dass das nicht alles gewesen sein kann. Wenn ich Bill betrachte, der hinter uns zur Tür hereinkommt, bin ich mir sogar ziemlich sicher. Seine in Leder gehüllten Beine, sein freier Oberkörper, die Oberarme und Schultern, seine gesamte Statur zeugt von Unmengen an Kraft. Bunter Kraft – denn ein dschungelartiges Tattoo zieht sich vom Bund der Lederhose bis hoch zu seinem kahl rasierten Schädel. Auf dem Rücken ebenso wie auf dem Bauch. Ein die Muskeln umspielendes Kunstwerk.

Wenn das, was ich heute erfahren durfte, nur ein Bruchteil dessen ist, was er mir geben kann, dann muss ich ihn dazu bringen, alles aus sich herauszulassen. Irgendwie schaffe ich das. Ich muss es schaffen. Aber die Angst, dass Bill unsere Stunden tatsächlich beendet, wenn ich mich nicht auf seine Bedingungen einlasse, ist übermächtig. Sein ruhiger Blick liegt gezielt auf mir. „Wie geht es dir? Hat Steffen sich um deinen Rücken gekümmert?“ Er gibt seinem Freund einen Kuss, setzt sich mir gegenüber auf die Tischkante und fasst an meine Oberschenkel, drückt leicht zu. „Also?“

„Mir geht es gut.“

„Wirklich?“

Nein! Natürlich nicht. Beschissen geht es mir! „Du kannst das nicht ernst gemeint haben. Das akzeptiere ich nicht!“, schnauze ich los und merke, wie ein Funken Wut meinen Schmerz übernimmt.

Bill legt augenblicklich den Finger über meine Lippen und bremst mich aus. „Leise! In diesem Haus wird nicht gebrüllt, das weißt du.“ Ich weiche seinem Blick aus, der gerade genauso bedrohlich ist wie seine dunkle, mahnende Stimme. Aus den Augenwinkeln heraus nehme ich wahr, wie er zu Steffen sieht. Gleich darauf gibt er ihm ein Zeichen, uns allein zu lassen. „Hast du deinen Ton wieder im Griff?“

„Es tut mir leid.“

Bill hebt mein Kinn an. „Alles ist gut, solange sich jeder an die Regeln des Hauses hält: Es wird nicht gebrüllt. Steffen hat mit Lautstärke Probleme, es bleibt also ein eiserner Grundsatz. Zumal ich lauten Menschen nie etwas abgewinnen konnte. Des Weiteren begegnen wir uns hier mit Ehrlichkeit und Respekt. Das gilt für jeden Gast, der in unserem Haus ein- und ausgeht. Das ist gar nicht schwer.“

Beschämt senke ich den Kopf und nicke.

„Sieh mich an, Pat!“

Ich schlucke hart.

„Du kannst jederzeit wiederkommen. Wir können reden, wir können dir einfach nur Gesellschaft leisten. Aber ich werde dich nicht mehr mit in den Keller nehmen, solange du dich ausschweigst und dir nicht im Klaren darüber bist, wie es fortan dort unten laufen wird.“

„War das alles, was du an Kraft aus dir herausholen kannst?“ Mit vorgerecktem Kinn schaue ich ihm entgegen.

„Ja.“

„Du lügst!“

Bills Finger bohren sich in meine Oberschenkel hinein. „Pat!“ Ein warnender Unterton klingt mit und ich presse die Kiefer aufeinander. „Gut so. Vielleicht lüge ich, vielleicht auch nicht. Du wirst es niemals herausfinden, denn mehr Härte bekommst du nicht von mir.“

„Das kannst du nicht machen. Wir haben eine schriftliche Vereinbarung.“

„Ich kann und ich werde. Die Vereinbarung wird hinfällig, wenn einer der Vertragspartner aussteigen möchte. Ich habe genügend Gründe. Zudem hältst du dich schon lange nicht mehr an die Vereinbarung, die lautet, dass du nur alle fünf bis sechs Wochen hierfür herkommen wirst. Stattdessen stehst du mittlerweile im zweiwöchigen Rhythmus vor unserer Haustür.“

„Das stimmt nicht.“

Bills durchdringender Blick straft mich ab. Er hat recht. Natürlich hat er recht.

„Also, in der Küche liegt ein Zettel mit Adressen von Psychotherapeuten, die ich dir empfehlen kann. Steck ihn ein, bevor du nach Hause fährst. Kannst du noch fahren?“

„Als würde dich das interessieren!“

„Schluss jetzt, bevor du etwas sagst, was du eventuell gar nicht so meinst. Ich verstehe, wenn du sauer auf mich bist, und ich kann vermutlich sagen, was ich will, ich erreiche dich nicht mehr. Daher wirst du jetzt heimfahren und in Ruhe darüber nachdenken. Ich bin mir sicher, du kommst zum gleichen Ergebnis.“

„Aber …“

„Denk darüber nach. Mein Angebot steht. Du bist hier jederzeit als Freund und auch darüber hinaus willkommen. Die Entscheidung liegt bei dir.“

„Das ist dein Ernst, was?“

„Mein voller“, bestätigt er und ich merke, dass ich erneut die Hausregel gebrochen habe. Ich sehe es Bill an. Dafür bedarf es nicht einmal mehr des Drucks seiner Hände. „Meine Grenze ist nicht erreicht, aber deine bei Weitem überschritten. Du kannst mir nichts vormachen. Ich erkenne, wann es genug ist. Sehr gut sogar. Ich habe einmal bei dir versagt, das passiert mir nicht mehr. In dem Maß, wie es gut für dich wäre, kann ich dir nicht helfen.“ Bill stockt, lässt mir Zeit, etwas zu sagen, aber ich habe nichts zu erwidern. „Okay. Hör mir zu. Du bist nicht mein Partner, du bist kein Spielzeug, du bist nicht devot und du verweigerst dir selbst, sämtliche anderen Empfindungen aus unseren Sitzungen zu ziehen und dich mir zu öffnen. Wenn wir darüber verhandeln würden, hätte ich mehr Möglichkeiten, zu dir vorzudringen. Ganz ohne Schmerz. Es gefällt mir nicht, dass du keinerlei Grenzen wahrnimmst. Deswegen werde ich sie für dich abstecken.“

„Ich … das stimmt nicht. Ich ertrage das sehr wohl und möchte einfach keine Lust daraus ziehen. Das wäre nicht richtig.“

„Du bist ein ausgesprochener Dummkopf mit einem tief sitzenden seelischen Problem. Hoffentlich erkennst du das bald selbst für dich und bist dazu bereit, es aufzuarbeiten. So, und jetzt steh auf. Ich möchte sehen, ob dein Kreislauf wieder stabil ist und ob ich dich überhaupt allein nach Hause schicken kann.“

Das war das letzte Wort. Er wird kein Kontra mehr akzeptieren. Ich hätte ihm gern noch weitere Dinge gesagt, aber ich schlucke sie tapfer herunter. Er hat keine Ahnung von meinem täglichen Leben und ich kann und will ihn auch nicht aufklären. Als ich aufstehe, schwanke ich, strauchle bei meinem vierten Schritt und Bill fängt mich auf.

Bill fängt mich immer auf.

Steffen kommt erneut in den Raum, sieht uns fragend an.

„Wir machen uns fertig und fahren Pat nach Hause“, bestimmt Bill in seine Richtung. „Am besten fährst du ihn in seinem Wagen hin und ich sammle dich mit unserem ein. Er wird wohl kaum mein Beifahrer sein wollen.“ Kurzerhand setzt er mich auf dem Sofa ab. „Hol für Pat bitte etwas zu essen. Eine ordentliche Portion.“ Wieder wendet er sich mir zu. „Du hast Zeit. Nimm sie dir. Wenn wir uns fertig gemacht haben, darf der Teller leer gegessen sein.“ Ein letztes Mal legt er mir die Hand auf die Schulter und sucht meinen ausweichenden Blick. „Zerstör dich nicht. Es wäre schade um dich. Ruh dich zu Hause aus und ruf mich sofort an, wenn etwas ist. Ich bin immer erreichbar.“

 

„Wo geht ihr hin?“ Ich horche Steffen aus, als wir mit meinem Auto vom Hof des Grundstückes rollen.

„Auf eine Party.“

„Eine SM-Party?“

„Nein. Ein Freund von uns feiert seinen Geburtstag. Wir gehen nicht oft gemeinsam auf Szenepartys. Zweimal im Monat sind wir im Club und darüber hinausgehende Ereignisse kannst du an einer Hand abzählen. Und du? Du gehst gar nicht mehr aus, oder? Fühlst du dich nicht langsam einsam?“

„Ich bin gern allein.“

„Du verkriechst dich. Das hat nichts mit mögen zu tun. Es wäre so schön, wenn du langsam wieder am Leben teilnimmst.“

„Sagt Bill“, kontere ich und lehne meine Stirn an das kühle Glas des Beifahrerfensters, um die unsagbare Hitze in mir etwas einzudämmen.

„Nein“, bekennt Steffen, „das sage ich, weil du mein Freund bist und ich mir nichts mehr wünsche, als dir helfen zu können. Natürlich denkt Bill ähnlich, aber gerade geht es tatsächlich nicht um seine Meinung. Du warst ein geselliger Typ und ich wünsche mir meinen Freund zurück, auch wenn das egoistisch klingt.“

„Klingt gar nicht egoistisch“, widerspreche ich leise. „Aber es wird nie wieder so sein können, wie es damals war. Werdet ihr heute noch eine Session haben?“ Es ist weder Höflichkeit noch Neugierde, weshalb ich nachfrage. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich seine Antwort überhaupt wissen will. Die Stille, die sich kurzzeitig zwischen uns zieht, wirkt unheimlich.

„Heute nicht, nein.“ Erleichtert atme ich auf, nicht unbemerkt von Steffen. Sein irritierter Seitenblick trifft mich unvorbereitet. „Seit wann hast du Probleme mit der Art unserer Beziehung?“

„Habe ich nicht. Tut mir leid, es … Gerade ist mir all das einfach zu viel.“

„Okay. Dann sollten wir wohl das Thema wechseln. Deine Frage beantworte ich dir dennoch: Wir machen grundsätzlich gar nichts mehr, wenn du vorher bei Bill warst. Das schafft er nicht.“

„Ist das ein Scherz? Bill hat sich bei mir sicher nicht verausgabt.“

„Daran liegt es nicht“, flüstert Steffen und greift nach meiner Hand. „Du gehst Bill nahe, gerade weil du mehr Freund als alles andere bist. Er leidet mit dir und du verwehrst dich gegen seine Hilfe. Ist dir das tatsächlich noch nie aufgefallen? Nach der Party, die ziemlich früh für uns enden wird, wird Bill mich nur noch im Arm halten wollen und sehr unruhig schlafen. Vermutlich halten wir auf der Feier keine zwei Stunden aus.“

Jetzt bin ich verwirrt. Ich mustere Steffen und hoffe auf einen zuckenden Mundwinkel, eine Lachfalte oder dergleichen. Er scherzt bestimmt.

„Du glaubst mir nicht, richtig?“ Ein letztes Mal drückt er meine Finger, bevor er wieder die Gangschaltung umfasst. Gerade biegen wir in meine Straße ein.

„Zugegeben, es fällt mir schwer. Ich selbst werde heute Nacht schlafen wie ein Kleinkind. Traumlos und lang. Wie nach jeder Begegnung mit Bills Peitsche.“

„Tatsächlich? Hast du ihm das schon mal gesagt?“

„Nein. Das ist nicht wichtig. Bill hat mir seinen Standpunkt recht deutlich klargemacht.“

„Du musst ihm so was sagen.“

„Wozu?“

„Wozu? Ist das dein Ernst?“ Steffen zischt. „Bill züchtigt dich und überschreitet dabei Grenzen, weil du es so willst. Umso wichtiger ist es, dass er ständig weiß, was in dir vorgeht. Wenn du etwas Gutes daraus ziehst, in diesem Fall dein traumloses Durchschlafen, muss er auch das wissen.“

„Ich bin nicht sein Eigentum!“

„Ich auch nicht. Ich dachte, du wüsstest, wie wir unsere Beziehung leben. Dennoch tappt Bill nie im Dunkeln bei mir. Er weiß genau, wie ich mich vor, während und nach einem Spiel fühle.“

„Sag es ihm nicht, ja?“, bitte ich mit Nachdruck, während Steffen meinen Wagen ordnungsgemäß in einer Parkbucht abstellt. Anschließend steigt er mit mir aus. Ich stöhne gepresst. Von meinen Rücken strahlt ein Schmerzstern in sämtliche Richtungen meines Körpers.

Steffen gibt mir die Autoschlüssel zurück, zieht mich anschließend in seine Arme. „Wir sehen uns.“

„Vielleicht, ja.“

Steffens fester werdender Druck sagt alles. Er hat genauso viel Mitleid mit mir wie Bill. Trotz enger Freundschaft. Mitleid brauche ich nicht. Ich möchte meinen Schmerz viel lieber in die Welt hinausschreien, aber schaffe es einfach nicht. Noch bevor Bill auftaucht, gehe ich. Obwohl er momentan mein einziger Anker ist, fehlt mir für eine weitere Konfrontation mit ihm die Kraft.

Die Treppen bis in den dritten Stock bereiten mir Probleme. Seit knapp acht Monaten wohne ich jetzt hier. Der Wohnungs- und Ortswechsel sollte mir guttun, die Wirklichkeit sieht anders aus. Als ich den Schlüssel im Schloss herumdrehe und mich in dem kleinen, quadratischen Flur wiederfinde, setzt das Vermissen Manuels sofort ein.

Ich berühre den schwarzen Rahmen neben dem bodentiefen Spiegel und verharre so, bis meine Finger zittern zittern. Die Eissplitter in mir sacken tiefer und treffen genau auf mein Schmerzzentrum. Wie soll ich jemals loslassen können?

Ich verliere mich in dem himmelblauen Blick, der so voller Träume und Hoffnungen war. Er war mein Dasein. Mein Freund und engster Vertrauter. Mein Mann. Mein Anstoß, das Leben so zu nehmen, wie es für uns vorgesehen war. Mit ihm habe ich in der Welt der Farben gelebt. Gemeinsam haben wir alles geschafft. Es gab auch Tage, wo einer von uns gefallen ist, aber gelandet sind wir immer sanft. Immer in den Armen des anderen.

Heute ist alles anders. In mir ist es grau. Um mich herum ist es grau. Es ist ein düsteres Grau ohne Schattierungen. Ein unheimlicher Ort, von dem ich nicht fliehen kann.

Über ein Jahr ist es jetzt her. Über ein Jahr und es kommt mir vor, als wäre es erst gestern geschehen. Die Wunde klafft. Je weiter sie in mir aufreißt, umso mehr verschließe ich mich nach außen. Ich kann das Kostbarste, was mir je zuteilwurde, einfach nicht gehen lassen.

Ich kann das nicht!

Meine Hoffnung, dass Bill meine Wunde heilen kann, indem er mich mit in den Keller nimmt, wurde heute zerschlagen. Er hat mich aufgegeben. Nur ich, ich kann nicht aufgeben. So gern ich es auch möchte.

Gedanklich hake ich Bill ab. Steffen wird es mir danken. Es ist für die beiden nämlich ganz und gar nicht gewöhnlich, dass sich ein Freund auf solch intime Weise in ihre Beziehung drängt. Ich habe mich hineingedrängt. Etwa ein halbes Jahr nachdem Manuel sterben musste, habe ich Bill mit meiner absurden Idee konfrontiert. Er führt seit Jahren BDSM-Sessions durch. Verdient sein Geld damit, andere Männer zu unterwerfen, ihnen auf verschiedenste Art und Weise – geistig wie körperlich – Lust und Befriedigung zu verschaffen. Das ist seine Berufung und er ist sehr beliebt. Meine ersten schmerzhaften Erfahrungen bei ihm haben meine Seele bloßgelegt. Es ging gut. Fünfmal vielleicht. Sechsmal, wenn’s hochkommt. Bis der Grauton wieder alles überschwemmte, obwohl ich mich dagegen gewehrt habe. Ich weiß, dass dies nicht der richtige Weg für mich sein kann. Akzeptieren kann ich es nicht.

„Hey“, flüstere ich Manu entgegen. „Bin wieder da. Heute war ein beschissener Tag. Man sieht es mir an, was? Es tut mir leid, dass du mich so sehen musst. Ich strenge mich wirklich an.“

Ich drücke die Fingerkuppen an meine Lippen und anschließend auf das Glas des gerahmten Bildes. Die grausame seelische Leere ist ein täglicher Begleiter geworden. „Ich würde so gern nachkommen. Aber die Welt will mich einfach noch nicht gehen lassen. Es ist zu früh für mich. Genauso, wie für dich noch nicht die Zeit gekommen war. Aber irgendwann sind wir wieder zusammen. Versprochen!“ Ich schluchze auf und sehe in seine glasklaren Augen. „Dafür haben wir zum Glück gesorgt. Wir werden Hand in Hand das kalte, dunkle Erdreich rocken und die Welt der Farben dorthin mitnehmen.“ Bei diesem makabren Scherz verziehe ich die Mundwinkel, trete die Sneakers von den Füßen und trotte ins Wohnzimmer. Es ist kühl hier drinnen. Der Sommer lässt auf sich warten. Trotz Juni.

Immer noch habe ich leichten Druck zwischen meinen Beinen. Bill hat ganze Arbeit geleistet. Sosehr ich es hasse, ignorieren kann ich es auch nicht. Vermutlich würde ich irgendwann platzen. Die wohl schönste Nebensache der Welt ist mit meinem Mann gestorben. Einfach so, von heute auf morgen. Sex mit einem anderen ist für mich unvorstellbar.

Heute bleibt es bei ein paar Handvoll kaltem Wasser ins Gesicht und einer Katzenwäsche. Nackt und frierend sinke ich wenig später auf mein Bett. Sitzend. Ich werde es mir im Sitzen machen, gleich jetzt, damit ich es hinter mir habe. Auch hier im Schlafzimmer blickt mir Manuel entgegen. Es ist ein außergewöhnlich ausdrucksstarkes Bild. Gespannt auf eine große Leinwand. Entstanden, als ich Manu irgendwann am Tag unserer Eheschließung auf die Wange geküsst hatte, während er in die Kamera grinste. Sein Lachen war so schön. Die schwarzen Locken, die ihm dabei in die Stirn gefallen waren, unterstreichen seine wunderbare Ausstrahlung.

Langsam umfasse ich mich und bewege mein Handgelenk auf und ab. Eine tödliche Viertelstunde schraube ich an mir herum, bis ich es endlich in mir aufsteigen spüre. Mein Becken kommt meiner Hand entgegen und … ich versage. Mit dem mitgebrachten Toilettenpapier fange ich den Erguss ab, merke, wie der Druck von mir weicht. Ohne das beflügelnde Gefühl, das einen für kurze Zeit schweben, Zeit und Raum vergessen lässt. Es deprimiert mich zutiefst. Rücksichtslos reibe ich die letzten Fäden von meiner empfindlichen Eichel und schmeiße das Tuch auf den Boden. Später, oder morgen, oder wann auch immer, wird es in der Toilette landen. Ich drehe mich auf den Bauch, zerknautsche das Kissen unter meinem Kopf und möchte weinen. Aber es kommen keine Tränen.

 

2. ALTE FREUNDSCHAFTEN

 

„Auf dich, Manu.“ In Gedanken proste ich ihm zu und kippe das Glas Sekt hinunter. Das Zeug schmeckt widerlich, angeekelt verziehe ich das Gesicht und schiebe das Glas weit von mir. „Lach nicht“, murmle ich vor mich hin. „Ich habe heute einen rentablen Vertrag unterschrieben, darauf muss ich doch anstoßen, oder? Der Auftrag wird mich ein paar Monate über Wasser halten.“

Manuel strahlt mir vor meinem inneren Auge entgegen. Ich spüre seine Nähe, wie er mich umfängt und an sich drückt, um meinen kleinen Erfolg zu teilen. Seine Lippen streichen sanft über die meinen und seine Hände graben sich unter meinen Pullover. Um den Moment festzuhalten, schließe ich die Augen. Sehe, wie ich mich seinen Zärtlichkeiten entgegenrecke, den Kopf in den Nacken lege, um seiner Zunge einen Weg über meine Kehle zu bieten. Mit jeder Nervenzelle möchte ich mich ihm hingeben.

„Patrick? Das gibt’s doch gar nicht. Was machst du denn hier?“

Unvermittelt werde ich aus meinen Träumen gerissen und verfluche mich noch im selben Moment dafür, meinen kleinen Erfolg in einem Straßencafé zu feiern. Die Stimme beschert mir einen Schauer unangenehmer Art. Ich kenne ihren Besitzer. Am liebsten möchte ich weglaufen, stattdessen lächle ich dem Mann gezwungen entgegen. „Björn.“

„Wir haben uns ja ewig nicht gesehen“, tönt er überschwänglich. „Wie geht es dir denn? Darf ich mich setzen?“

„Ich wollte gerade gehen.“ Das Nein steckt in mir fest.

„Ach komm. Du siehst nicht so aus, als hättest du es eilig.“ Björn starrt auf die große Tasse Kaffee, das Sektglas und das Stück unberührten Kuchen vor mir auf dem Tisch. Warum der da steht, frage ich mich selbst. Ich habe weder Appetit noch Hunger. Die Augen waren gieriger als der Magen.

Seufzend gebe ich nach und deute auf den Platz gegenüber. „Setz dich. Ein bisschen Zeit habe ich. Wie geht es denn dir?“

„Gegenfrage? So kenne ich dich.“ Björn schmunzelt. Anscheinend hat er verdrängt, dass viele Monate zwischen unserer Freundschaft und dem Heute liegen. Etwas harsch zieht er den Stuhl über den Boden, der auf den Fliesen ein widerliches Geräusch hinterlässt, redet weiter, als hätten wir gestern erst miteinander gesprochen. „Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dich zu sehen. Was treibt dich her?“

„Was soll die Frage? Ich lebe hier.“

Björn stutzt. „Du lebst in München? Ich dachte, du wärst zurück in die Heimat gezogen. Sogar auf deiner Website im Impressum steht die Adresse deiner Eltern. Was hält dich hier?“

„Ich genieße das Nightlife, was denn sonst?“

Seine Euphorie erstickt im Keim. Das Grinsen verschwindet in Zeitlupe und macht einer schuldbewussten Miene Platz. Genug auf Freund getan, nicht wahr? Das finde ich auch.

„Wie du siehst, habe ich mich nicht ganz vertreiben lassen, aber in eurem Kaff wollte ich nicht mehr wohnen.“ Tiefe Abneigung schwingt in meiner Stimme mit. „Die Großstadt ist gut für mich. Die Schnelllebigkeit hier zieht mich mit, ob ich will oder nicht. In der alten Wohnung ist mir die Decke auf den Kopf gefallen.“ Dass mich die Erinnerungen an Manuel vertrieben haben, kann er sich gern dazu reimen, sofern sein Interesse ausreicht. „Und du? Gibt es bei dir was Neues?“

Er schüttelt den Kopf. „Ich habe mich von Thomas getrennt und wir haben die gemeinsame Wohnung aufgelöst. Es war keine Frage für mich, näher an meinen Arbeitsplatz zu ziehen, daher lebe ich jetzt auch in München.“

Dass er traurig ist, kann er nicht vertuschen. Ich sollte darauf eingehen. Ich sollte wirklich, aber ich schaffe es nicht. Da ist nichts, was auch nur annähernd ein Mitgefühl in mir wachruft.

„Wir beide in der Großstadt.“ Versucht er die Situation zu retten? „Das ist ein wirklich toller Zufall.“

„Ich habe eine Aversion gegen alles entwickelt, was zufällig, plötzlich oder schicksalhaft vor der Tür steht. Das sind alles Dinge, die ich nicht beeinflussen kann. Also nein, toll ist etwas anderes.“

„Du siehst schlecht aus“, kontert er, offenbar hat er den verbalen Fausthieb nicht verstanden. Aber warum senkt er die Stimme? Niemand sitzt in unserer unmittelbaren Nähe. Ist es die Tatsache, dass man über negative Dinge nicht gern spricht? „Ist es immer noch so schlimm für dich? Es ist doch schon so lange her und … du siehst schlecht aus“, wiederholt er, zuckt dabei hilflos mit den Schultern. Eine Geste, die ich seit Monaten an mir selbst beobachte und die mir mehr als verhasst ist.

Hilflosigkeit!

„Du hast abgenommen und bist blass geworden. Wenn das immer noch Nachwirkungen von Manuels Verlust sind, geht es dir ganz und gar nicht gut.“

Was soll ich darauf erwidern? Lang sehen wir uns über den Tisch hinweg an.

„Pat?“ Björn reibt sich verstohlen über die Stirn. „Weißt du, ich kannte Manuel so gut wie meine Westentasche. Er war mein bester Freund und das schon Jahre, bevor er mit dir zusammengekommen ist. Ich glaube, ich spreche für ihn, wenn ich sage, er hätte nicht gewollt, dass du so lange um ihn trauerst und dich dabei gehen lässt.“

Worte – stupide, beschissene, dahergesagte Worte. Völlig unüberlegt sprudeln sie aus einer für mich bedeutungslos gewordenen Person heraus und doch haben sie so viel Kraft. Sie sickern in mein Bewusstsein. Es ist die ungeschönte Wahrheit, die Björn mir ins Gesicht schleudert, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung von meiner Verfassung zu haben. Eine schleichende Wut steigt in mir auf. Wut, die ich schon bei Bill und Steffen verspürt habe. Zwei lange Wochen ist meine letzte Schlagsitzung her und ich muss mich zwingen, das Haus der beiden nicht erneut aufzusuchen.

„Ich habe nie gesagt, dass es mir gut geht“, raunze ich ihn an und beuge mich über den Tisch, damit er mich auch ja versteht. „Aber sehe ich aus, als lasse ich mich gehen?“

Ich muss Björn in seine Schranken weisen. Auf Teufel komm raus unterbinden, mich mit der Vergangenheit zu konfrontieren, die ich fein säuberlich in mir weggeschlossen habe. Demonstrativ hebe ich die Gabel und nehme den ersten Bissen Torte. Es kostet mich alle Mühe, ihn auch herunterzuschlucken. Beim zweiten Bissen würge ich. Der Kuchen schmeckt nach Pappe und der Zucker frisst sich spürbar durch meine Zellen. Wut, Energie und Adrenalin, Dinge, die ich kenne und lange nicht mehr in dieser geballten Form gespürt habe, beschleunigen meinen Puls. Klappernd fällt die Gabel auf den Tellerrand zurück.

„Ich esse. Ich trinke. Ich arbeite.“ Mit jedem Wort werde ich lauter und Björn starrt mich mit offenem Mund an. Verbissen umfasse ich die Tasse, um das Gefühl von Ohnmacht einzudämmen, das immer stärker in mir wird. „Ich tue alles, damit mein Leben genauso weiterläuft wie vorher. Jeden verfickten Tag kämpfe ich mich durch. Wie kannst du es wagen, mir Vorwürfe zu machen? Ich lasse mich nicht gehen! Woher nimmst du dir überhaupt das Recht, mir zu erzählen, was Manuel gewollt hätte oder nicht?“

Björn streckt seine Arme aus. Ich möchte zurückzucken, doch ich kann nur zuschauen, wie er seine Hände um meine Finger legt. Sie sind warm im Gegensatz zu meinen, die klirrende Kälte abstrahlen und mittlerweile so zittrig sind, dass die Tasse auf dem Unterteller kippelt. Er wartet, bis ich ihn anschaue, wartet, bis mein Beben weniger wird.

„Wir alle haben Fehler gemacht, die mir im Nachhinein wahnsinnig leidtun. Du weißt aber, dass ich nicht die Triebfeder war. Ich habe nie ein böses Wort über dich verloren und ich weiß, wie sehr ihr euch geliebt habt.“

Nichts versteht er. Gar nichts!

„Mitgefangen, mitgehangen!“, schnauze ich ihn an. „Ihr habt euch alle auf die Seite seiner Eltern gestellt. Es interessiert mich einen Scheiß, wer wann was und wie dachte, verstanden? Ihr habt mich verurteilt. Einfach so! Als wären wir niemals Freunde gewesen.“ Als hätte tatsächlich ich meinem Mann das Leben genommen. „Weißt du was? Fick dich! Ich lege keinen Wert auf heuchlerische Freundschaft.“

Björn zuckt zusammen. Schlechtes Gewissen? Dafür ist es zu spät! Wenn er mich mit der ungeschönten Wahrheit konfrontiert, muss er ebenfalls einstecken können. Auf den Mund gefallen bin ich nicht, auch wenn ich eher der Ruhigere in der Beziehung mit Manuel war. Ich zähle die Sekunden und warte, bis Björn anfängt, sich zu verteidigen.

Drei … zwei … eins …

„Was damals vorgefallen ist, war nicht richtig. Wir waren alle geschockt und wie gelähmt. Es kam so plötzlich und war so endgültig. Es tut mir leid, hörst du? Ich war nie in dem Ausmaß an dem Fiasko beteiligt, wie du es vielleicht glaubst.“

Der Schmerz droht etwas in mir zu zerreißen. Ich merke, wie ich die Fassung verliere. Alles in mir schreit danach, meiner Wut endlich ein Ventil zu geben. „Ihr habt euch gegen mich gestellt. Keiner hat mich gefragt, wie es mir eigentlich geht. Beschissen, wäre die Antwort gewesen. Einfach nur beschissen.“

Ich will die Hände wegziehen, doch Björn hält sie fest, als sie erneut unter seinen zittern.

„Pat, bitte.“

„Du wolltest dein Gesicht nicht verlieren, das hat dich angetrieben. Nur nicht abseitsstehen, in einem Dorf, das gerade mal zweitausend Einwohner zählt und wo man jeden mit Vornamen kennt. Man hat ja schon genug Ausgrenzung und Kampf hinter sich, wenn man schwul ist, nicht wahr?“ Er verliert noch mehr an Farbe. Nerv getroffen. Wunderbar, du Arsch! „Meine Welt stand damals still, als ihr mir alle die Schuld an dem Unfall in die Schuhe geschoben habt. Ich weiß, wie sehr Manuel geliebt wurde. Aber nicht nur von euch. Ist das klar? Er war mein Leben.“ In mir revoltiert und wütet es. Seit Monaten fechte ich diesen Kampf aus und würde so gern weinen, um es herauszulassen. Stattdessen überträgt sich der Druck auf meine Hände. Der Kaffee schwappt über. „Lass mich los! Sofort!“

Björn reagiert zögerlich. Letztendlich gibt er mich jedoch frei. „Es tut mir wirklich leid. Ich mag dich, aber es hat mich damals einfach mitgerissen. Manuels Eltern sind zusammengebrochen und du warst so abweisend und hartnäckig. Auch noch, als es darum ging, ihn im Familiengrab oder in einem eigenen, von dir finanzierten Grab beizusetzen. Das alles war ziemlich fraglich und dieser Kampf, der zwischen euch entstanden ist, hat uns alle getroffen. Ich kenne Manuels Eltern, seit ich in die Windeln gemacht habe. Was hätte ich deiner Meinung nach machen sollen? Ich war so neutral wie möglich.“ Nervös knetet er seine Finger. Trotz all der Wut, die in mir tobt, sehe ich in seinen Augen Aufrichtigkeit und einen ähnlichen Verlustschmerz, wie ich ihn fühle. „Die Anzeige gegen dich hätte nie sein dürfen“, spricht er mit rauer Stimme weiter. „Wir alle wissen, dass Unfälle passieren können. Du hättest seinen Eltern deinen Willen vielleicht nicht aufdrängen dürfen. Sie haben um ihren Sohn getrauert. Vielleicht wäre es nicht so eskaliert, wenn du dich ein wenig zurückgenommen hättest.“

„Er war mein Lebensgefährte, verdammt nochmal! Wir haben in einer eingetragenen Partnerschaft gelebt. Er ist mein Mann. Immer noch. Ich lasse mir nicht vorschreiben, wie und wo er beerdigt wird, weil es Menschen gibt, die diese Eintragung gern übersehen. Was hätte ich machen sollen?“, hake ich genervt nach. „So tun, als ginge mich das alles nichts an, und mich nicht gegen die Frechheiten und Anfeindungen wehren?“

„Klein beizugeben ist manchmal besser, ja. Wenn man dadurch seinen Frieden wiederfindet.“

„Frieden? Ihr habt doch keine Ahnung, Mann! Es hat mich alle Kraft gekostet, zu verstehen, was damals passiert ist. Mitzuerleben, wie sich ein Freund nach dem anderen von mir abwendet, das war hart!“

Der Stuhl hinter mir kippt um, so abrupt stehe ich auf. Die Bedienung eilt sofort herbei. Bevor sie den Mund aufmachen kann, zücke ich mein Portemonnaie und lasse zehn Euro auf den Bistrotisch fallen. Wortlos ziehe ich meine Jacke an und steuere auf den Ausgang zu.

Björn folgt mir, passt sich mühevoll meinem Schritt an. Trostlos hängen seine Schultern herunter und ich kann förmlich hören, wie es in seinen Gedanken rumort. Eine Hand hat er in den Tiefen seiner Jeans vergraben, die andere ballt er mehrmals zur Faust, bevor er mich festhält und zu einem langsameren Schritt nötigt. „Wenn du jemanden zum Reden brauchst?“

„Ein Jahr später? Starkes Stück, Björn. Applaus! Du hast doch damals alles mitbekommen. Es gibt nichts mehr hinzuzufügen.“

„Wenn du dennoch jemanden zum Reden brauchst?“

Ich bleibe stehen und mustere ihn. Zum ersten Mal richtig, wie mir gerade auffällt. Björn sieht mitgenommen aus. „Wie lange seid ihr schon getrennt? Du und Thomas?“

„Drei Monate“, gibt er leise zu.

„Und du glaubst, jetzt, wo du dich allein mit euren Heterofreunden herumschlagen musst, erscheine ich gerade zur richtigen Zeit auf der Bildfläche?“

„Hör auf! Es geht nicht um Thomas und mich. Wenn es dir so vorkommt, hast du etwas falsch verstanden. Wir haben uns in Freundschaft getrennt, aber natürlich nimmt es mich mit.“ In Freundschaft getrennt? Der lügt! Björn rudert zum eigentlichen Thema zurück. „Nach der Beerdigung hat es im Freundeskreis heftige Streitereien gegeben. Es wurde viel spekuliert und gelogen und letztendlich ist er auseinandergebrochen. Es gibt einige, die genau wissen, dass man an einem Unfall nichts ändern kann und dir dafür nicht die Schuld geben. Mich eingeschlossen.“ Sein Blick spricht Bände. „In einer Sache waren sich aber alle einig“, redet er leiser weiter. „Es hieß, du wärst zu deinen Eltern an die Nordsee gezogen und würdest dort neu durchstarten. Ich weiß nicht, wer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat, aber wir haben es alle geglaubt.“ Hilflos hebt er die Hände. Bevor er mich jedoch berührt, lässt er sie wieder sinken. „Ich habe versucht, dich zu erreichen. Erfolglos. Deine Nummer ist inzwischen anderweitig vergeben. Daher bin ich davon ausgegangen, dass du tatsächlich fort bist. Wie gesagt, sogar auf deiner Website steht die Adresse aus Norddeutschland.“

„Jetzt hast du mich gefunden“, entgegne ich und halte seinem Blick stand. „Ich kann nicht wiederholen, was damals los war. Das schaffe ich nicht. Ich habe mich einmal gewehrt und für ein weiteres Kräftemessen fehlt mir alles. Aber wenn es dich so sehr interessiert, erzähle ich dir, was ich seitdem tue.“

„Das musst du nicht. Ich kann eins und eins ganz gut zusammenrechnen. Du siehst fertig aus.“

„Wegschauen ist leichter, nicht wahr?“

„So habe ich das nicht gemeint und so ist das nicht. Wir können uns gern treffen und reden. Egal worüber. Aber jetzt muss ich leider weiter.“ Björn sieht unsicher auf seine Armbanduhr.

„Schon gut. Ich habe nichts anderes erwartet.“

„Ich melde mich bei dir. Gibst du mir deine neue Handynummer?“ Vielleicht zögere ich ein wenig zu lange, denn Björn tritt einen Schritt zurück. „Ich verstehe. Mach’s gut. Du solltest dir Hilfe suchen. Ich habe das Gefühl, dass dich das alles immer noch sehr belastet.“

„Ich wohne in der Nördlinger Straße 15, direkt am Westpark“, informiere ich ihn. „Lehmann der Nachname, falls du dich nicht erinnerst.“ Neben der unsagbaren Wut, die immer noch in mir tobt, erwacht auch Neugier, ob Björn tatsächlich irgendwann vor meiner Tür steht.

Telefonieren ist einfach, wenn einen das Interesse nicht vorher verlässt. Eine Adresse aufzusuchen hingegen schwer.

„Ich verstehe“, murmelt Björn erneut und macht sich nicht einmal die Mühe, meine Adresse zu notieren.

 

Wenig später stehe ich im Flur meiner Wohnung und ringe nach Atem. Ich bin gerannt, eher gestolpert, und die Energie, die in mir rauschte, ist längst aufgebraucht. Das Grau allerdings tobt in mir. Die Konfrontation mit meiner Vergangenheit nimmt sämtlichen Raum in mir ein. Geistesabwesend zeichne ich den Schwung von Manuels Gesicht in dem schwarz gerahmten Bild nach. „Dein bester Freund Björn.“ Ich schnaube, will nicht wahrhaben, was heute geschehen ist. „Musste ausgerechnet er mir begegnen? Hätte es nicht jemand anderes sein können? Irgendein x-beliebiger Bekannter? Verdammt, Manu, was mache ich denn jetzt?“

Ich wünschte, er könnte mir antworten. Es war sein Freund, der mich hängen gelassen hat. Seine Familie, die mich angeklagt und übel beschuldigt hat. Ich stimme Björn zu, ich hätte weggehen sollen. Zurück in meine Heimat, zu meinen Eltern und Freunden die mich allesamt lieben und keine Ahnung davon haben, wie ich meinen Alltag hier bewältige.

„Ich werde sehen, ob er mich besuchen kommt. Ob dein bester Freund die Eier in der Hose hat, hier aufzutauchen. Dann bekommt er eine Chance, okay? Dir zuliebe. Nur dir zuliebe. Die Welt ist verrückt. Ohne dich ist sie einfach verrückt.“

Der unsagbar starke Wunsch, Manuel einfach folgen zu können, blüht seit Monaten wie eine wunderschöne, farbenprächtige Blume in mir. Irgendwo hinter all dem Schmerz lockt er mich. Björn hat viele Wunden aufgerissen. Ausgerechnet jetzt auf Leute zu treffen, die ich mit Manuels Tod weggeschlossen habe, ist erschütternd. Ein letztes Mal streiche ich über das Bild, anschließend gleite ich erschöpft an der Wand gegenüber auf den Boden.

3. STURMGRAU

 

Dank meines Jobs als Fotograf kann ich meine Arbeitszeiten selbst bestimmen. Dank meines Jobs bin ich auch nicht gezwungen, mich in irgendwelchen Bürogebäuden aufzuhalten und wissende, mitleidige, traurige oder gar neugierige Blicke auf mich zu ziehen. Dank meines Jobs gelingt es mir, jeglichen Personen aus dem Weg zu gehen und die Einsamkeit, die damit einhergehende Stille, zieht mich immer weiter in ihren Bann.

So auch heute.

Heute habe ich mir einen freien Tag gegönnt und die typische Nicht-Stille des Waldes aufgesucht. Ich bin seit dem Morgengrauen unterwegs. Entsprechend ausgepowert und schlapp fühle ich mich jetzt auf dem Nachhauseweg. Es dämmert bereits. Die Füße schmerzen, die Muskeln protestieren gegen jede Bewegung. Stundenlang habe ich im Dickicht ausgeharrt und auf den einen Moment gewartet.

Ob es schöne Aufnahmen geworden sind, wird mir irgendwann ein anderer Betrachter mitteilen müssen. Ich weiß, dass das, was ich fotografiere, Anklang findet. Aber was früher mit Leidenschaft verbunden war, ist heute eine leidliche Aufgabe, um mein Leben zu finanzieren. Die Bilder können nichts mehr in mir anrühren, sobald ich sie im Bearbeitungsprogramm hochlade und auf dem Bildschirm anschaue. Was ich sehen werde, sind Stillleben ohne Farben.

So still wie mein Leben.

In den letzten Monaten haben mich Bill und insbesondere Steffen zur Konversation angetrieben, doch gerade gibt es niemanden. Ich kenne hier keinen außer Bill und Steffen und … Björn. Ob er sich meine Adresse gemerkt hat und sich bis in die Nördlinger Straße vorwagen wird? Wenn er wirklich kommt, werde ich mein Versprechen gegenüber Manuel halten und ihm eine Chance geben.

Steffen hat mehrfach versucht, mich zu erreichen. Genau wie Bill. Ihre Kontaktversuche habe ich jedoch ignoriert. Die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, ausfallend zu werden, oder noch schlimmer, bettelnd vor Bills Füßen zu landen, ist enorm groß. Dummerweise habe ich mir damit selbst ins Fleisch geschnitten, denn meine Droge fehlt mir. Die Dosis Schmerz, die mich angetrieben hat. Während ich heute in der Nähe des Baus auf den Fuchs und seinen Nachwuchs gewartet habe, ließ ich alle Stunden Revue passieren, in denen ich damals mit Manuel bei Bill und Steffen im Wohnzimmer gesessen und ihnen zugehört habe. Bill und Manuel haben die Unterhaltungen vorangetrieben, Steffen und ich haben meist nur gelauscht. Und uns wohlgefühlt. Ich vermisse das so sehr …

Meine beiden Freunde fehlen mir.

Manuel fehlt mir.

Die Einsamkeit macht mir zu schaffen.

Ärgerlich kicke ich einen Stein vor mir her und ziehe den Kragen meines Parkas ein wenig nach oben. Mit der einsetzenden Dunkelheit wird es frisch. Kurz schaue ich mich um, orientiere mich, um den Heimweg zu finden. Ich bin viel zu müde, habe die Länge des Weges unterschätzt. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich in München verlaufe. Noch bevor ich es verhindern kann, steigt Frust in mir hoch und überschwemmt den eigentlich schönen Tag.

„Es tut mir leid, Manu. Ich mache offenbar alles falsch“, flüstere ich und sehe mich abermals um. Lausche. Mir ist, als hätte ich ein Geräusch gehört, das nicht zum Straßenlärm passt. Wieder trete ich gegen diesen kreisrunden Stein, der vor mir auftaucht. Er macht in der unbeleuchteten Gasse nervtötende, klackernde Geräusche auf dem Pflaster.

Bis er liegen bleibt.

Endlich still ist.

Noch im selben Moment bedauere ich, dass ich ihn weggekickt habe. In mir hat sich ein Druck angestaut, der mir eine Scheißangst einjagt. Da ist wieder dieses Geräusch. Ein ungleichmäßiges Trampeln. Es müssen viele Füße sein, denn sie hallen jetzt lauter auf dem Straßenpflaster wider. Da rennt jemand genau in meine Richtung. Ein eiskalter Schauer fegt über meinen Rücken. Ein markerschütternder Hilfeschrei beschallt die Gasse und ich zucke zusammen. Nur Sekunden später schlägt etwas Metallenes auf dem Boden auf.

Heilige Scheiße!

Manu?

Bitte nicht!

Das kann nicht sein!

Beinahe lasse ich das Kostbarste, was ich noch besitze, fallen. Meine Kamera! Mit einem Satz rette ich mich hinter einen Mauervorsprung, kauere mich an die Fassade. Mir stockt der Atem. Nackte Angst erfasst mich. Die Schreie des Mannes, der vor meinen Augen von einer Gruppe dunkler Gestalten zusammengeschlagen wird, hallen voller Verzweiflung von den hohen Mauern wider. In der Nähe des Geschehens nehme ich noch etwas anderes auf dem Boden wahr. Ich kneife die Augen zusammen, strenge mich an, um es zu erkennen. Ein Fahrrad. Da liegt ein Mountainbike.

Manu! Nein! Ich halte mir die Ohren zu, kneife die Augen zusammen. Das kann nicht sein. Es steht im Keller. Kaputt und dreckig. Genau hinter meinem Bike. Das ist nicht Manu. Das kann nicht Manu sein.

Ich muss hinsehen. Mich vergewissern.

Manu … halte durch. Du musst durchhalten. Ich bin bei dir …

Auf diesem verdammten Abhang auf diesem scheißblöden Berg.

Sein Hilfeflehen hallt in mir nach, während so viele Laute um mich herum sind.

Gedämpfte Laute.

Ein Stöhnen.

Das ist nicht Manu.

Adrenalin rauscht durch mich durch. Angst windet sich in mir und Wut gesellt sich hinzu.

Du bist zu langsam für erste Hilfe!

Du warst damals schon zu langsam!

Für Manuel war es zu spät.

„Halte durch“, hauche ich in Richtung des Opfers. „Du bist nicht allein.“ Doch ich kann mich nicht bewegen. Wie gelähmt kauere ich in meinem Versteck. Allerdings kann ich mich bemerkbar machen. Ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken und hoffen, beten, dass er davonkommt und ich dafür den Weg zu Manuel finden darf. Mit nervösen Händen hebe ich die Kamera an, wische mir den Angstschweiß aus den Augenwinkeln und stelle die Verschlusszeit ein. Ich drehe das schwere Blitzlicht intuitiv so, wie ich es benötigen werde, drücke den Knopf.

Mehrfachauslösung!

Das einsetzende Klicken, das Blitzlichtgewitter und das Durcheinanderrufen der Schläger gehen zeitgleich über die Bühne. Das Stakkato meines Herzens blendet alle Nebengeräusche aus.

Gleich!

Gleich sind sie bei dir!

Bevor die Gruppe mich in meinem Versteck erreichen kann, zerschneidet ein blaues Sirenenlicht die weißgrellen Blitze. Ein einmaliges Aufheulen folgt. Meine Beine knicken ein, ich sinke zu Boden und starre auf den gekrümmten Körper, der regungslos ein paar Meter von mir entfernt liegt. Ich habe keine Ahnung, in welche Richtung der Schlägertrupp gerannt ist.

Was habe ich getan?

Erneut hebe ich die Kamera an. Ein Bild. Nur eines! Ein weiteres Mal erhellt der grelle Blitz die Finsternis. Als ich den Mann wieder ansehe, sehe ich das Schimmern seiner Augen. Sein Blick ist auf mich ausgerichtet. Er hebt die Hand, ein Hilfeschrei.

Meine Güte! Du lebst!

Die Hand, die knapp über dem Boden schwebt, scheint mein Herz wie eine Eisenklammer zu umfassen. In erster Hilfe bin ich ein völliger Versager. Manu hat das mit dem Leben bezahlt. Für diesen Mann scheint Rettung noch nicht zu spät, solange nicht ich es bin, der ihn zu retten versucht.

„Die Polizei wird einen Notarzt gerufen haben. Ganz sicher sogar“, rede ich vor mich hin und verlasse doch meinen Schutz. Ich lege mir das Band der Kamera um Hals und Arm, drehe sie auf meinen Rücken. Auf allen vieren robbe ich zu ihm und erreiche den blutüberströmten Mann zeitgleich mit einer anderen Person.

„Können Sie mich hören?“, redet eine weibliche Stimme auf ihn ein. „Rettung ist unterwegs. Halten Sie durch.“

Sie fühlt den Puls, versucht den Blick des Mannes auf sich zu ziehen, wiederholt unermüdlich den einen Satz, dass er wach bleiben soll. Sie bewegt ihn nicht. Auch die andere Person, die plötzlich auftaucht und sich neben sie kniet, dreht den Körper nicht um. Fasst den Mann lediglich an der Schulter an, damit er nicht einfach wegsackt.

Die ganze Zeit über starrt er mich an. Sein Blick ist unergründlich. Die Augenfarbe kann ich in der Dunkelheit nicht ausmachen. Eigentlich ist es egal, sollte es egal sein, aber nicht für mich. Als Fotograf sind mir Details schon immer wichtig gewesen. Ohne recht zu wissen, warum, umfasse ich seine Finger. Höre noch, wie man mir verbieten will, ihn zu berühren, wie die Personen neben mir etwas von Tatort reden, doch er beginnt zu klammern. Mobilisiert die letzte Kraft, die in ihm steckt.

„Hey“, flüstere ich. „Hast du gehört, was man dir gesagt hat? Du musst wach bleiben. Das schaffst du.“ Er verstärkt kurz den Druck seiner Finger.

„Gut. Das ist gut. Bleib bei mir. Ich werde dir etwas erzählen, damit du von deinen Schmerzen abgelenkt bist.“

Für einen Sekundenbruchteil schließt er die Augen und reißt sie anschließend wieder auf. Ich kauere mich zusammen, rücke ganz nah an den Fremden heran. Noch immer kann ich die Farbe seiner Iris nicht ausmachen. Sie wirkt schwarz wie die Nacht. Der Geruch seines Blutes hängt in der warmen Luft.

„Wenn du wieder gesund bist, solltest du dir unbedingt den Sonnenaufgang oben auf dem Watzmann ansehen. Es ist ein irres Gefühl, wenn du dort stehst und die Welt unter dir durch den Dunst noch gar nicht zu sehen ist. Ein unglaubliches Naturschauspiel. Du glaubst, all die Wolken, die unter dir schweben, fangen dich auf, sobald du dich auf sie fallen lässt. Oder warst du schon mal an der Nordsee, wenn eine Springflut herannaht?“

Kaum ausgesprochen, werde ich grob zur Seite geschoben. Die Hand des Mannes gleitet schlaff aus meiner. Sein Blick ist leblos. Viele Leute drängen sich um ihn herum. Ich krieche rückwärts. Das Rauschen setzt wieder ein. Dieses ohnmächtige Rauschen, das alles um mich herum verschwimmen lässt.

„Ich hab’s versucht. Ich wünschte, ich bekäme eine weitere Chance. Ich wollte dich nicht im Stich lassen. Es tut mir so leid, Manu. Ich vermisse dich so sehr.“

„Haben Sie was gesagt? Hallo? Können Sie aufstehen? Kommen Sie bitte mit zum Streifenwagen. Wir möchten Ihnen gern ein paar Fragen stellen.“ Ich wende mein Gesicht zur Seite, habe das Gefühl, irgendjemand versucht mich zu erreichen. „Hören Sie mich? Können Sie aufstehen?“

Ein fester Griff um meinen Arm löst etwas in mir aus. In einer Geschwindigkeit, die mich nach Luft schnappen lässt, tun sich vor mir Bilder auf, die ich bis dahin nicht realisiert habe.

Blaulichter! Jede Menge davon. Panisch drehe ich den Kopf und sauge alles auf, was sich um mich herum abspielt. Wo kommen all die Menschen her? Direkt vor mir sind zwei Beamte, die besorgt auf mich einreden und mir auf die Füße helfen. Mich festhalten, damit ich nicht einknicke. Ein anhaltendes Piepen dringt in mein Ohr. Nein, eher ein Pfeifen. Ich versuche die Quelle zu orten. Da, ein Notarzt und zwei weitere Helfer bei dem Mann.

„Wiederbelebung“, werde ich informiert. „Eben war er noch da. Hören Sie, wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Schaffen Sie das?“

Ich kann meinen Blick nicht von dem Szenario am Boden abwenden. „Halte durch“, rufe ich und werde immer weiter weggeführt, zu einem Streifenwagen begleitet. Das Pfeifen wiederholt sich. In einer Lautstärke, dass ich meine, mein Trommelfell hält dem Druck nicht stand.

Ich schwanke.

„Hey, bleiben Sie bei uns“, ruft die Beamtin. „Hier braucht noch jemand Hilfe!“

Gleich darauf werde ich auf die Ladefläche eines Krankenwagens gedrückt. Ein weiterer Notarzt schiebt sich in mein Blickfeld, geht vor mir in die Hocke, während in mir der Sturm tost. Ein gewaltiger Sturm, der zur Höchstform aufläuft.

„Können Sie mich hören?“

Ich nicke. Abwechselnd starre ich auf seinen Mund und seine Augen. Er nimmt mir die Kamera ab und zieht mir die Jacke aus. Meinen leichten Sweater schiebt er am Arm nach oben. Er fühlt meinen Puls, legt mir ein Messgerät an, redet weiter auf mich ein.

„Bitte, nehmen Sie das.“ Er drückt mir etwas in die freie Hand, krampfhaft umfasse ich es. Mit seiner dunklen, sanften Stimme schafft er es, meine Aufmerksamkeit zu halten. Er strahlt eine unglaubliche Ruhe dabei aus. „Jetzt sind Sie wirklich bei mir. Das ist gut.“ Aufmunternd lächelt er mich an. „Mein Name ist Bennet Vogt. Es ist alles etwas viel, nicht wahr?“

Von der Innenraumbeleuchtung des Wagens werden seine Augen angestrahlt. Schön sind die. Dunkelblau!

Viel dunkler als Manuels.

Tiefer und unergründlicher.

„Ich gebe Ihnen jetzt ein leichtes Beruhigungsmittel. Haben Sie irgendwelche Allergien?“

Ich schüttle den Kopf.

„Die Polizei möchte danach ein paar Worte mit Ihnen wechseln. Wir nehmen Sie im Anschluss mit ins Krankenhaus.“ Beruhigend streicht er über meinen freigelegten Arm. Anschließend desinfiziert er meine Armbeuge, setzt eine Spritze an und bricht damit den Blickkontakt ab. „Es wird alles gut. Wie heißen Sie?“

„Patrick … Patrick Lehmann.“

„Und wie alt sind Sie, Herr Lehmann?“ Ich presse die Lippen zusammen. Ich bin ein Jahr zu alt. Ein Jahr und zwei Monate. Trostlose, verschwendete Zeit.