Liebe kennt kein Handicap - Elisa Schwarz - E-Book

Liebe kennt kein Handicap E-Book

Elisa Schwarz

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Beschreibung

Es liegt klar auf der Hand: Jemanden zu heiraten, den man nicht liebt, ist sicher weniger beschissen, als jemanden wie mich in sein Leben zu lassen. You only live once! Nach diesem Motto lebt Nathan seit Jahren mit seiner Krankheit. Entscheidungen trifft er grundsätzlich unter dem Aspekt, voll dahinter zu stehen und niemals etwas zu bereuen. Jede Minute ist kostbar und jeder Tag steht unter dem Stern, das Leben zu genießen. Denn an seinem Handicap kann er nichts ändern und mit der Diagnose Hirntumor hat er sich ausgesöhnt. Doch nachdem ein Clubabend schlecht für Nathan endet und er von Devin, einem verhassten Bekannten seines besten Freundes, unerwartet Hilfe erhält, gerät sein bisheriges Leben ins Wanken. Nicht nur, dass er sich plötzlich wieder um seine Gesundheit sorgen muss, übt Devin eine Faszination auf ihn aus, der er sich nur schwer entziehen kann. Dabei hat Devin seine eigenen Baustellen und in seinem Leben keinen Platz für eine Liebesbeziehung. Hinzu kommt, dass Nathan es kaum mit seinem Gewissen vereinbaren kann, jemanden emotional an sich zu binden. Ist es fair, Devin von sich zu überzeugen, in dem Wissen, ihn irgendwann zurücklassen zu müssen? *** Dieses Buch hat homoerotischen Inhalt und gehört zu der Reihe "Hamburg".

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Impressum
Vorwort
Nathan Klingsklee
1. Prinzen
2. Konzentrationsaus
3. Drachenhöhle
4. Regenwetter
5. Annäherungsversuche
6. Standpauke
7. Schneewittchen
8. Sexschulden
9. Verfallsdatum
10. Affäre
11. Selbstständigkeit
12. Ehrensache
13. Zuhause
14. Neujahrswünsche
15. Verliebtsein
16. Abwärtstrend
17. Schauspielerei
18. Entscheidungen
19. Hauptgewinn
20. Schuldfrage
21. Rihanna
22. Sehnsucht
23. Hausfrieden
24. Abnabelungsprozess
25. Klartext
Epilog
Danksagungen
Mehr von der Autorin
Leseprobe: Frei in seinen Fesseln
Werbung: Frequenzrauschen

 

Liebe

kennt kein

Handicap

 

 

Elisa Schwarz

Impressum

 

1. Auflage - April 2021

© by Elisa Schwarz

 

Kontakt:

[email protected]

Elisa Schwarz

Krauseneckstr. 24 d

55252 Mainz-Kastel

 

 

Coverdesign: Elisa Schwarz

Bildrechte: 123rf, Shutterstock,

P. Himmel-Blume, R. Blume

Korrektorat: Bernd Frielingsdorf

 

Vorwort

 

Tatsächlich ist es das erste Mal, dass ich ein Vorwort zu einem meiner Werke verfasse. In diesem Fall ist es dem Thema geschuldet: Glioblastome, Hirntumore WHO Grad IV. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich die Geschichte rund um Nathan überhaupt schreiben kann, überhaupt schreiben möchte. Letztendlich habe ich mich dafür entschieden, denn obwohl Nathan unheilbar krank ist und es unfassbar viele Tumorpatienten gibt, die nach einer Erstdiagnose nur wenige Monate Lebenserwartung haben, so gibt es auch die andere Seite – die Lichtblicke. Menschen, die mit dieser Krankheit länger leben, als ihnen vorausgesagt wurde. Nathans Geschichte ist eine solche, Nathan darf nach dem Leben greifen. Dennoch werdet ihr nicht erleben, dass in diesem Buch irgendetwas verschönert wird, Nathan unsterblich gemacht wird, Wundermedikamente aus dem Hut gezaubert werden. Nein! Nathans Geschichte ist die Geschichte von wenigen Patienten, die schlicht Glück haben, länger als der Durchschnitt weiterleben zu dürfen. Allerdings gibt es kein Patentrezept. Jeder Krankheitsverlauf wird individuell betrachtet und bewertet. Kein Patient ist mit dem anderen vergleichbar. Bestimmte Medikamentenmixe schlagen bei dem einen an, bei dem anderen nicht. Manche Patienten können gut operiert werden, andere wiederum fast gar nicht, je nach Lage des Tumors und weiterer Faktoren. Nathans Geschichte ist daher eine von vielen. Eine individuelle, die in keiner Weise auf einen anderen Patienten dupliziert werden kann. Was Nathan guttut, wie er lebt, sich verhält, was er zu sich nimmt – all das sind Einzelfaktoren, die auch als solches betrachtet werden müssen. Die Tumorforschung ist weit fortgeschritten, jedes Jahr gibt es neue Ansätze und Erfolge. Trotzdem sterben jährlich zu viele Menschen an der Diagnose Hirntumor. Mein Mitgefühl gilt allen Menschen, die selbst betroffen sind oder einen lieben Menschen in ihrem Umfeld haben, der an einem bösartigen Hirntumor erkrankt ist. Wenn ihr die Forschung in diesem Bereich unterstützen möchtet, liebe Leser*innen, spendet bitte an die Deutsche Hirntumorhilfe e. V. Jeder Beitrag zählt. Die Hoffnung in die Forschung, dass Menschen mit Tumoren WHO Grad III und WHO Grad IV irgendwann geheilt werden können, ist ein hochgestecktes Ziel und es wäre zu wünschen, wenn dieses irgendwann erreichbar ist.

 

Spendenkonto:

Deutsche Hirntumorhilfe e. V.

Sparkasse Muldental

IBAN DE83 8605 0200 1010 0369 00

BIC SOLADES1GRM

Nathan Klingsklee

 

 

Persönlich wünsche ich mir eigentlich nur eins:

bis zum letzten Atemzug das Leben

genießen zu können und frei

in meinen Entscheidungen bleiben zu dürfen.

Klappentext

 

Es liegt klar auf der Hand: Jemanden zu heiraten, den man nicht liebt, ist sicher weniger beschissen, als jemanden wie mich in sein Leben zu lassen.

 

You only live once! Nach diesem Motto lebt Nathan seit Jahren mit seiner Krankheit. Entscheidungen trifft er grundsätzlich unter dem Aspekt, voll dahinter zu stehen und niemals etwas zu bereuen. Jede Minute ist kostbar und jeder Tag steht unter dem Stern, das Leben zu genießen. Denn an seinem Handicap kann er nichts ändern und mit der Diagnose Hirntumor hat er sich ausgesöhnt.

 

Doch nachdem ein Clubabend schlecht für Nathan endet und er von Devin, einem verhassten Bekannten seines besten Freundes, unerwartet Hilfe erhält, gerät sein bisheriges Leben ins Wanken. Nicht nur, dass er sich plötzlich wieder um seine Gesundheit sorgen muss, übt Devin eine Faszination auf ihn aus, der er sich nur schwer entziehen kann. Dabei hat Devin seine eigenen Baustellen und in seinem Leben keinen Platz für eine Liebesbeziehung. Hinzu kommt, dass Nathan es kaum mit seinem Gewissen vereinbaren kann, jemanden emotional an sich zu binden. Ist es fair, Devin von sich zu überzeugen, in dem Wissen, ihn irgendwann zurücklassen zu müssen?

1. Prinzen

 

Mit einem Lächeln auf den Lippen sehe ich Severin und Enno hinterher, wie sie den Club verlassen. Arm in Arm, verliebt wie am ersten Tag. Und genau deswegen lasse ich sie ziehen und nehme den Fahrdienst meines besten Freundes heute nicht in Anspruch. Ihre gemeinsame Zeit ist knapp bemessen. Jede Minute, die sie für sich haben, gönne ich ihnen von Herzen. Severin hat zwar geflucht, weil er mich nicht eigenhändig in meiner Wohnung absetzen kann, aber ich konnte mich behaupten. Auch wenn Enno an seiner Seite nicht mehr wegzudenken ist, hat sein Bedürfnis, immer für mich da sein zu wollen, nicht nachgelassen. Ich könnte mich darüber ärgern, alternativ amüsieren. Aber ich schaffe weder das eine noch das andere. Ich liebe ihn, wie er ist.

Erst als ich Ennos blonden Schopf nicht mehr ausmachen kann, sinke ich in die bequemen Lederpolster der gebuchten Lounge und gönne mir eine dringend notwendige Pause. Im Club ist es wie an jedem Freitagabend gnadenlos voll. Und abartig laut. Normalerweise liebe ich die Stimmung, seit einer Stunde etwa ist es mir von allem ein wenig zu viel. Zum Glück konnte ich das vor Severin geschickt verbergen – an der Hand hätte er mich rausgezogen. Ob mit oder ohne mein Einverständnis.

Die Lounge ist riesengroß. Allein hier zu sitzen, hat schon etwas Groteskes. Sie als Rückzugsort zu nutzen, ist allerdings ein nicht von der Hand zu weisender Vorteil. Heute war Jochen der edle Spender des Abends. Severin und er wechseln sich in der Regel ab, seit Enno Severin davon überzeugen konnte, dass zwischen all den offiziellen Terminen auch ein paar Clubabende mit Freunden nicht schaden könnten. Just in dem Moment starre ich durch die Verglasung auf die Tanzfläche. Irgendwo in der sich bewegenden Menschenmenge mischt Jochen noch mit. Nur gesehen habe ich ihn länger nicht.

Jede Minute, die ich meinen Blick in Richtung der Lichtblitze zwinge, wird mir schummriger. Letztendlich muss ich die Augen schließen, um mich der Intensität zu entziehen, und mir wird eindeutig klar: Pause! Jetzt! Sonst ist früher Schluss als gewollt!

„Hey. Hier steckst du. Schon müde?“ Durch ein halb geöffnetes Augenlid registriere ich, wie drei Bier und ein Soda auf der Tischplatte landen, gleich darauf hängt Jochen halb auf mir. Er glüht und sein Strahlen spricht Bände. Die Augen funkeln um die Wette mit dem fetten Grinsen, das seine Lippen ziert. Er hatte offenbar Spaß – und genau dafür war ich eigentlich auch hier. Nur leider hat sich nichts ergeben und jetzt ist es für mich zu spät.

„Wollte schon eine Vermisstenanzeige aufgeben“, redet Jochen laut, um die Musik zu übertönen, und klingt dabei energiegeladener, als ich es heute jemals gewesen bin. Dankbar greife ich an dem Bier vorbei und nehme das Soda, proste dem Spender zu. „Bin nicht fit“, antworte ich schleppend. „Hab’s erst die letzten Minuten gemerkt.“

Er mustert mich, nickt dann. Versteht. „Das Soda war eigentlich für Severin. Wenn du auf antialkoholisch umsteigst, spricht das Bände. Und dann sitzt du hier allein rum? Wo sind die anderen überhaupt?“

„Mit einer kurzen Auszeit wird es gehen. Außerdem ist die Aussicht von hier oben prima.“ Mit einem Zwinkern deute ich zum Ausgang. „Severin und Enno sind gegangen. Du weißt ja …“

„Ja, ich kann’s mir denken. Für Sevs Verhältnisse hat er schon ziemlich lange durchgehalten, du übrigens auch. Wieso bist du nicht mitgegangen? Wäre besser gewesen, hm?“ Demonstrativ sieht er auf die Uhr und runzelt die Stirn. „Ist ja schon halb zwei. Wie kommst du jetzt heim? Soll ich dich im Taxi mitnehmen?“

„Wie, ihr wollt schon fahren?“, tönt es auf einmal, bevor ich antworten kann, und der Platz an meiner anderen Seite wird ebenfalls in Beschlag genommen. Erstaunt sehe ich meinen neuen Nachbarn an, während sich über Jochens Gesicht ein Strahlen stiehlt. „Hey, mein Freund. Schön, dass du doch noch gekommen bist. Ich habe nicht mehr mit dir gerechnet.“

Devin streckt belustigt die Zunge raus. Unverhohlen mustere ich ihn und nehme das Gesamtpaket wahr. Tattoos zieren seine Arme, wann zum Teufel hat er sich die denn stechen lassen? Jochen scheint diese Neuerungen entweder zu ignorieren oder aber … er kennt sie bereits. Dabei ist er wochenlang mit seiner Jacht auf See gewesen und Devin hatte sich ziemlich rargemacht. Um genau zu sein: Er war wie vom Erdboden verschluckt. Mitsamt Marc und allen Problemen, die die beiden umgeben hatten.

Jochen plaudert indes munter weiter: „Gab es Probleme beim Einlass in den VIP-Bereich?“

„Nope. Sie haben mich brav auf der Gästeliste abgehakt.“ Devin zwinkert. „Also danke für die Einladung. Gibt es was zu feiern?“ Devin und Jochen begrüßen sich mit Handschlag – direkt vor meiner Nase. Es wird kuschelig eng.

„Ich bin wieder da. Ist das nicht Grund genug?“, frotzelt Jochen in Devins Richtung. „Die Hope hat sich auf meinem Trip tapfer geschlagen, jetzt habe ich eine nächste Sondergenehmigung eingeholt.“

„Man beachte das Wort Sondergenehmigung in diesem Zusammenhang“, kontert Devin und lacht erneut auf. „Wie viele Schwänze musstest du dafür lutschen?“

Jochens Mundwinkel zucken. „Über Geschäftliches plaudere ich nicht.“

Erstaunt sehe ich meinen Kumpel an. Hat er wirklich …?

„Musst du auch nicht“, beschwichtigt Devin sogleich. „Verrat mir lieber, wo euer Anhang ist.“

„Anhang?“ Jochen zieht die Braue nach oben, ich werde hellhörig.

„Seine Hoheit“, präzisiert Devin und fixiert das Bier auf dem Tisch. „Darf ich?“ Noch bevor Jochen seine einladende Geste vollendet, greift Devin zu.

„Bedien dich. Und da du wohl Severin und Enno meinst: Sie sind eben gegangen.“

Kurz kneift Devin die Augen zusammen, bevor er einen großen Schluck trinkt. „Hat sich seit damals nichts geändert, was? Er geht, wenn es anfängt Spaß zu machen. Nur seinen Pfiffi hat er nie allein zurückgelassen.“

Mir klingeln die Ohren, ich richte mich aus meiner gemütlichen Position ein wenig auf und sehe Devin kritisch an. „Ich mag es nicht, wenn in meinem Beisein über Severin gesprochen wird. Außerdem geht es dich nichts an, dass die beiden bereits gegangen sind. Oder hast du ein Problem damit?“ Lauernd warte ich auf Antwort, doch es kommt keine. War klar. „Und das Wort Pfiffi verbitte ich mir. Blöd bin ich nicht. Ich weiß, dass du mich damit gemeint hast.“

Devin lacht auf. „Ich habe keine Probleme. Solange der von Hohenkamp nicht in der Nähe ist. Es hat seine Gründe, dass ich erst hier auftauche, wenn dein Busenfreund nicht zugegen ist. Pfiffi.“

Arsch! Ich fasse mir an den Kopf, versuche so sachte wie möglich dem nicht vorhandenen, aber imaginär spürbaren Druck entgegenzuwirken. Noch geht es, noch … Ich sollte meinen Aufenthalt nicht mehr zu lange ausdehnen. Aber die Unterhaltung interessiert mich. Brennend sogar. Devin hat uns also beobachtet. Den ganzen Abend über. Zum Teufel, mir ist nicht mal aufgefallen, dass der Kerl überhaupt da ist.

„Ist gut jetzt.“ Jochen greift abermals über mich hinweg, legt seine Hand auf Devins Bein. „Ihr werdet vermutlich keine Freunde mehr. Müsst ihr auch nicht, klar? Geht euch einfach weiter aus dem Weg, das ist für alle Beteiligten das Beste. Und lass Nathan aus dem Spiel. Er ist nicht Severins Hund!“

Wo er recht hat!

Ein Schulterzucken folgt, ich könnte meinen Arsch darauf verwetten, dass Devin Jochens Ansage piepegal ist. Er stellt das Bier ab und rutscht auf dem Polster weiter nach unten, blickt auf die Tanzfläche. Abwesend streckt er die Beine aus, überkreuzt seine Knöchel und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Dabei kommt er mir immer näher. Ich spüre seine Hitze durch mein Shirt und habe das Gefühl, von beiden Seiten durchgegart zu werden.

So unauffällig wie möglich rücke ich ein wenig nach links, Jochen auf die Pelle. Devin ist Severins größtes privates Ärgernis. Auch ich habe ihn ausschließlich überheblich in Erinnerung. Näher möchte ich mich dann doch nicht mit ihm befassen, auf Tuchfühlung gehen schließe ich ebenfalls aus. Doch Devin – so gechillt er sich geben mag – dreht sofort den Kopf zu mir. „Stinke ich?“

„Etwas.“ Ich nehme demonstrativ einen großen Schluck des eisgekühlten Sodas, dabei entgeht mir nicht, wie Devins Mundwinkel zucken.

„Wer’s glaubt. Erlaubt dir Seine Hoheit den Umgang mit mir nicht?“ Ich verdrehe die Augen, doch er spöttelt direkt weiter: „Weder verbreite ich die Pest, noch stecke ich dich mit Tripper an. Gebissen habe ich auch noch nie. Richte deinem Freund deshalb schöne Grüße von mir aus, ich bevorzuge es so zu handhaben, wie auch er das getan hat: Ich scheiß auf seine Befindlichkeiten. Er hat damals nicht aufgehört, auf Marc einzureden, daher interessiert es mich auch nicht, ob es ihm passt, wenn wir zwei …“ Er verstummt mitten im Satz und nickt bedeutungsvoll.

Ich schlucke. Mit den Streitigkeiten der beiden habe ich nichts zu tun. Zu leugnen, meine Loyalität gälte Severin, wäre dennoch eine Farce. Ich schlucke ein weiteres Mal. Damit den Konter, der mir auf der Zunge liegt, herunter. Devin hat recht. Irgendwie!

Ein dümmliches, zufrieden wirkendes Schmunzeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, schon gilt seine Aufmerksamkeit erneut dem Geschehen im Club. Provokativ lehnt er sich gegen mich und zieht die Beine auf die Sitzfläche, macht es sich bequem.

Jochen schnaubt belustigt. „Er ist nicht verkehrt“, raunt er mir ins Ohr und steht auf. „Ich geh noch mal runter, ein bisschen tanzen.“

Die Hitze links von mir weicht, die Stütze ebenfalls. Ich sacke weg, Devin mit mir. Sein Kopf kommt auf meinem Arm zum Liegen, doch anstatt sich aufzurichten, greift er nach meinem Handgelenk und zieht es beiseite, schafft sich auf meinem Schenkel Platz. Kurz fühle ich mich überrumpelt.

Erstaunlicherweise setze ich mich nicht zur Wehr. Dafür steigt Neugierde in mir auf. Devin handzahm zu erleben, passt zu diesem Abend, an dem irgendwie alles anders läuft als üblich: Normalerweise wäre ich längst zu Hause, mit einer Sahneschnitte im Bett. Normalerweise würde Severin mich nicht zurücklassen, ohne sichergestellt zu haben, wie ich von hier wegkomme. Normalerweise war Devin aber auch nie allein unterwegs. Jahrelang begegnete man ihm stets mit Marc an seiner Seite. Nur jetzt nicht mehr. Seit Monaten habe ich weder ihn noch Marc gesehen.

Ich bin froh, Severin bereits außerhalb des Clubs zu wissen. Er wäre nicht begeistert, Devin und mich auf Schmusekurs zu sehen. Kurz ruckelt sich Devin zurecht, sieht mir ins Gesicht und deutet anschließend zur Tanzfläche. „Siehst du da unten den Typ ohne Shirt mit dem Tattoo auf dem Rücken? Der gerade den Hunk anbaggert?“

„Mmh.“

„Spar dir den, der sieht nur gut aus. Drauf hat er nichts.“

„Ich hatte nicht vor …“

„Schenk’s dir. Obwohl wir uns kaum kennen, weiß ich wenigstens das: Du lässt nichts anbrennen und bist immer auf der Suche nach einem guten Fick.“

„Mag sein, ich steh aber nicht auf Bückfleisch.“ Wobei der echt heiß aussieht und sicher nicht verkehrt wäre. Aber mein Zug ist für heute ohnehin abgefahren.

„Ach …“ Wieder dringt Devins Blick in mich. „Siehst du dem Objekt deiner Begierde immer von vornherein an, was es geil findet?“

„Na ja, ist das bei dem nicht eindeutig?“

Devin lacht und angelt nach seinem Bier. „Objektiv betrachtet, ja. Ich dachte genau dasselbe wie du. Aber Fehlanzeige. Ich habe ihn getestet. Es gibt hier ein paar dunklere Ecken.“ Vorsichtig führt er das Glas zum Mund, um sich nur ja nicht aufsetzen zu müssen. „Und?“, fragt er unschuldig nach, seine in der schummrigen Beleuchtung dunkel wirkenden Augen – braun sind sie, wenn ich mich richtig erinnere – sind konstant auf mich gerichtet. „Auf wen stehst du sonst, wenn süße Bottoms nicht infrage kommen? Hältst du nach einem Prinzen Ausschau, der dich auf Händen trägt und dir im Bett alle Wünsche von den Lippen abliest? Oder brauchst du so einen Hunk wie sein Objekt der Begierde, der es dir so richtig besorgt?“ Er deutet abermals wirsch in die Richtung des Tattoomannes.

Wir haben uns oft genug bei diversen Feiern die Klinke in die Hand gedrückt, wenn er hingesehen hätte, würde er die Antwort kennen. Devin ist und bleibt oberflächlich, rufe ich mir ins Gedächtnis, Severin hat das längst erkannt. Auch wenn er sich in diesem Moment anders verhält und mir einen seiner offensichtlich sehr gut gehüteten Charakterzüge preisgibt.

„Switcher“, erwidere ich einsilbig. So wie du! Den Nachsatz denke ich mir allerdings nur. Denn ich habe keine Ahnung, wie er darauf reagieren würde. Die Tatsache, dass er mir soeben auf die Nase gebunden hat, mit wem er einen Fick hatte oder haben wollte, wer weiß das schon, ist befremdlich genug. Wir kennen uns kaum. Genervt seufze ich auf und lege den Kopf in den Nacken, schließe die brennenden Augen. Ein Schwindelgefühl hat eingesetzt, mein rechter Arm beginnt zu kribbeln – als würde er einschlafen wollen. Die Zeichen stehen mittlerweile allesamt auf Sturm. Doch Kraft, jetzt aufzustehen, habe ich keine. Ruhe – nur einen Moment!

Die herbeigesehnte Auszeit ist kurz. Schlagartig bin ich wieder da und blinzle verwirrt auf Devin hinab, als er eine Hand unter seinen Kopf schiebt und damit direkt auf meinen Schritt drückt. Doch seine Aufmerksamkeit gehört dem Geschehen im Club, nicht meinem Gemächt. In seiner Rechten schmilzt das Bierglas vor sich hin, so eine immense Hitze geht von ihm aus. Kondenstropfen rinnen am Glas hinab und sammeln sich an seinen Fingern. Mein Blick gleitet über den Handrücken und die vielen dunklen Härchen darauf, die mich auf eine subtile Art und Weise fesseln. Sie machen das Bild eines Mannes für mich komplett. Irgendwie. Ich betrachte seinen Unterarm, der ebenfalls dunkel behaart ist und den er offenbar angespannt hat, denn Muskelstränge spielen unter der Haut. Beide Arme sind tätowiert – so dunkel und dicht, dass ich die Konturen in dem fahlen Licht kaum erkennen kann. Es sieht nach irgendwelchen Fabelwesen aus. Mein Blick gleitet weiter, die Schultern wirken kräftig, obwohl Devin weit von breit gebaut entfernt ist. Sein dunkelbraunes Haar wirkt strähnig und verschwitzt. Sein Gesicht sehe ich aus der Perspektive kaum, dafür aber den Dreitagebart sowie das markant wirkende Dreieck der Schlüsselbeine durch das bis zur Brust aufgeknöpfte Hemd.

Devin liegt ruhig auf mir, bemerkt nicht einmal, dass ich ihn mustere. Tatsächlich ist dies eine angenehme Art der Ruhe, die ich annehmen kann und willkommen heiße. Es dauert daher, bis ich meine visuelle Reise fortsetze, mir ausnehmend Zeit dabei nehme. Das Hemd sitzt wie eine zweite Haut, lässt Fremde nicht im Unklaren über den flachen Bauch. Herrlich enge Chinos verhüllen eine detailliertere Sicht auf die Beine. Lederschuhe, die Devin ohne Gewissensbisse auf dem Sofa hochgelegt hat, runden das Bild ab. Verdammt, der Kerl ist attraktiv. Wieso war mir die Schale des Herrn von Weihhäusers bisher nie aufgefallen?

Auch wird mir gerade bewusst, wie ruhig und friedlich er sein kann, wenn er sich nicht mit Severin in einem Wortduell misst und dabei sein Gesicht zu einer Fratze verzieht.

Er sieht mich an, mit einem spöttischen Zug um die Mundwinkel. „Jetzt fühle ich mich nackt. Du hast mich mit deinem Blick ausgezogen“, kommentiert er prompt und stößt mit seinem Glas an meins an. „Lass dir gesagt sein, ich bin nicht dein Typ.“

„Woher willst du das wissen?“

Auf einmal richtet er sich auf, windet einen Arm um meinen Hals und zieht mich dicht an sich heran. „Ganz einfach“, wispert er in mein Ohr, „wie du mir gerade verraten hast, bist du auf der Suche nach einem Prinzen. Ich allerdings suche keine Prinzessin. Daher kann ich dir mit Sicherheit sagen, dass wir nicht kompatibel sind.“

Jetzt hat er es geschafft, meine Wangen brennen vor Verlegenheit. „Auf was steht denn der Herr von Weihhäuser?“

Seine Lippen kitzeln an meinem Ohr, mir kommt es vor, als drücke er einen Kuss darauf. „Auf exquisiten Sex, Herr Klingsklee. Und wenn ich exquisit sage, meine ich das auch. Vorzugsweise bin ich derjenige, der den Hintern hingehalten bekommt. Und dabei spielt es keine Rolle, ob es ein weiblicher Schoß oder ein männlicher Arsch ist.“ Vor Staunen geht mir der Mund auf. Devins Lachen, direkt an meinem Ohr, schickt eine prickelnde Salve meinen Rücken hinab. „Überraschend, nicht wahr? Das ganze Gerede rund um meine Person hat mich prächtig unterhalten. Immer wieder die Frage, ob ich schwul bin oder nicht. Hier hast du die Antwort: Ich bin es nicht. Punkt. Und ob ich was mit Marc hatte oder nicht, sollte überhaupt keine Rolle spielen.“ Seine Mimik drückt Schmerz aus. Devin untermauert es, indem er den Kopf schüttelt, damit irgendwelche Bilder vertreiben möchte. „Marc ist egal, unser ehemaliges Verhältnis geht euch nichts an. Und bevor die nächste Ungereimtheit durchgekaut wird: Mir geht es gut, ich kann von dem, was ich auf der hohen Kante habe, leben. Und ja, da ist auch mal ein Clubbesuch drin.“ Diverse Tattoos wohl auch, ergänze ich im Stillen.

Energisch stellt er das Glas ab, greift in meinen Nacken und presst seine Lippen hart auf meine. Er überrumpelt mich, so schnell kann ich meinen Kopf nicht wegdrehen. Sekunden später löst er sich von mir, sieht mich mit einer Mischung aus Überlegenheit und Begierde an. „Gar nicht schlecht. Vielleicht wären wir ja doch kompatibel. Bedauerlich, dass wir es nie herausfinden werden. Vergiss nicht, mit den Infos hausieren zu gehen. Ich bin sicher, Seine Hoheit wird noch heute Nacht informiert.“ Es folgt ein erstickter Laut, gleich einem Lachen, und seine Mundwinkel biegen sich spöttisch nach unten. „Ich geh jetzt weiterfeiern, richte Jochen Grüße aus.“

Aus welchem Reflex auch immer – ich greife nach ihm. Devin verliert das Gleichgewicht und plumpst erneut auf das Polster. Rasch umfasse ich seine Wangen und drücke meinerseits die Lippen auf seine. Ich dränge mit der Zunge in seinen Mund, werde überrascht, als er mir entgegenkommt, auf meinen Überfall eingeht. Tausend Gedanken wirbeln mir durch den Kopf und doch kann ich mich gerade nur auf eine Sache konzentrieren: Devins große Klappe verschließen, bevor noch mehr Müll aus ihr herauskommt. Mit jeder verstreichenden Sekunde wird der Kuss sanfter. Wir machen beide keine Anstalten, uns zurückzuziehen. Stattdessen streicht Devin fest meinen Bauch hinab und stoppt direkt auf meinem Schwanz. Beginnt ihn durch den Jeansstoff zu kneten. Oh, fuck!

Bereits den ganzen Tag über habe ich mich auf den Clubabend gefreut und darauf, jemanden für heute Nacht zu finden. Keine Chance, dem da unten begreiflich zu machen, dass der Mann, zu dem die Hand gehört, der falsche für unser Vorhaben ist.

Ich will ihn stoppen, ich muss ihn stoppen. Schwerfällig greife ich nach seinen Fingern, will sie wegschieben und schaffe es nicht. Führe sie stattdessen tiefer, um maximalen Druck zu erfahren. Und ich möchte in einem Erdloch versinken, als ich bemerke, dass ich meine Füße für mehr Platz ganz automatisch weiter auseinander stelle.

Mit süffisant verzogenen, spuckeglänzenden Lippen legt Devin den Kopf zurück. „Ich bin zwar kein edler Prinz aber ich kann dir helfen, wenn du einen Schwanz brauchst. Zu dir?“

Zu gütig, sein Angebot!

Bin ich eigentlich noch ganz bei Sinnen? Das ist Devin! Schon obligatorisch fasse ich an meinen Kopf, ziehe die Hand allerdings rasch zurück und drücke dafür die seine vehement von mir. Welchen Grund hatte er mir gerade noch gegeben, ihn mit anderen Augen zu sehen? Ich schnaufe, die Hitze steckt in mir fest. Einen kurzen Blick gönne ich mir in seine Augen und drehe daraufhin resigniert den Kopf weg. Er findet den Weg sicherlich auch ohne Abschiedsgruß zurück zur Tanzfläche. Was habe ich mir dabei gedacht?

Devin gluckst neben mir, das Polster unter mir bewegt sich, als er aufsteht. „Du bist ja eine Diva. Hätte ich gar nicht vermutet. Zu schade, der Kuss war ziemlich heiß. Und mit deinem Ständer hätte ich mich auch gern näher befasst. Aber es ist wohl besser so, dann musst du Seiner Hoheit nichts beichten.“ Von oben sieht er auf mich herab, grinst abfällig. „Ach ja, verschweige ihm nicht, dass du es warst, der mich mit dem Kuss überfallen hat.“

Angewidert wische ich mir über den Mund – und hätte es einfach lassen sollen. Devins Lachen steigert sich und ich höre ihn, bis er den gesamten Loungebereich hinter sich gelassen hat.

„Was war denn das?“ Mein Kopf ruckt zu Jochen herum, der unschlüssig zwischen mir und dem Treppenabgang hin und her sieht. „Raus mit der Sprache, was habe ich verpasst?“

„Fuck!“ Ich reibe mir gequält über die Augen. „Ich weiß auch nicht. Hormonstau vielleicht. Erzähl das bloß nicht Severin.“

„Wieso nicht? Seid ihr euch Rechenschaft schuldig?“

„Mann, du weißt genau, wie wenig sie sich leiden können.“

„Was hat das damit zu tun?“ Doch er hebt abwehrend die Hände. „Ist gut, ich bin ja nicht schwer von Begriff. Von mir erfährt er es nicht.“

Erleichtert atme ich auf.

„Erzählst du mir trotzdem, was euch eben geritten hat?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht wollte ich, dass er einmal im Leben die Schnauze hält.“ Diesmal ist es Jochen, der loslacht, und er hält mir die Hand für einen High five hin. Ich muss schmunzeln, schlage selbstverständlich ab. „Ausgerechnet der. Ich bin wirklich nicht auf der Höhe.“

Wie auf ein Stichwort kehrt mein Unwohlsein zurück, mit ihm das Schwindelgefühl. Ich reibe mir über die Augen, horche in mich und lehne mich instinktiv zurück. Das Ausdehnen des Abends war zu viel.

„Nathan? Hey …“ Eine Hand landet auf meinem Schenkel, Jochen beugt sich zu mir. „Dir geht es gar nicht gut, hm? Ich bringe dich besser nach Hause.“

Aus halb geöffneten Augen blinzle ich ihn an. „Nicht nötig. Ich brauche nur frische Luft.“

„Red keinen Unsinn. Wir machen jetzt Feierabend. Ich geh schnell pinkeln, dann holen wir unsere Jacken. Schaffst du das? Kann ich dich für eine Minute allein lassen? Oder brauchst du etwas?“

„Wirklich, Jochen, es geht gleich wieder.“

„Nicht überzeugt.“ Damit verschwindet er und ich hole zittrig Luft. Meine Konzentration sackt konstant in den Keller. Frischluft! Ich brauche dringend Frischluft!

2. Konzentrationsaus

 

Wenig später flüchte ich aus dem Club und fühle mich wie besoffen, obwohl ich nur zwei Bier über den gesamten Abend getrunken habe. Meine Gedanken rasen. Ich habe mit Devin geknutscht! Wie zwei triebgesteuerte Teenager sind wir übereinander hergefallen und das, obwohl wir uns eigentlich gar nicht leiden können. Also, Severin und er können sich nicht leiden.

Ach Mann! Devins Händedruck auf meinem Schritt spüre ich immer noch. Ganz zu schweigen von seinen Lippen auf meinen und seinem Geschmack auf meiner Zunge, der sich eingeätzt hat. So nötig hatte ich es auch wieder nicht, trotzdem hätte ich am liebsten meine Hose aufgerissen und seine Finger hineingeschoben.

Wieso bin ich nicht mit Severin heimgefahren?

Frustriert stopfe ich meine Hände in die Taschen meiner Jeans und folge der Straße. Etwa zehn Gehminuten von hier müsste eine Haltestelle kommen. Scheinwerfer blenden hinter mir auf, ich gehe ein Stück zur Seite, warte, bis das Auto an mir vorbeigefahren ist und laufe anschließend mittig auf dem asphaltierten Weg weiter. Den unbefestigten Rand meide ich, mein Gleichgewicht ist um diese nachtschlafende Zeit ohnehin nicht mehr das beste und zusätzlich zu meinem Unwohlsein eine prekäre Mischung, die mich zur Vorsicht ermahnt.

Um meine Gedanken zur Ruhe zu zwingen, krame ich mein Handy aus der Jackentasche und entsperre es. Drei Kurznachrichten sind eingegangen, ein Anruf. Nachricht eins kam von Severin, typisch für ihn: Melde dich, wenn du zu Hause bist. Zu seiner Beruhigung sende ich ein Daumenhoch und ein Herz, so funktioniert das zwischen uns. Kaum abgesendet meldet sich allerdings mein schlechtes Gewissen – ich werde Probleme bekommen, wenn ich ihm das nächste Mal in die Augen sehen muss. Morgen, spätestens übermorgen. Und er wird mir ansehen, dass ich etwas mit mir herumtrage, was ich nicht mit ihm teile.

Die nächste Nachricht ist von Claas: Kaffee am Sonntag bei mir? Bin aber erst nachmittags zu Hause. Perfekt. Gerne doch! Die Einladung kommt wie gerufen.

Auch ihm antworte ich sofort: Auf jeden Fall, ich bringe was zum Futtern mit. Freu mich auf dich.

Wobei ich hoffe, dass der Kaffee und das Essen warten müssen, erst im Anschluss an eine Runde Matratzensport infrage kommen. Nichts anderes drückt die Nachricht von Claas aus, den ich im letzten Sommer auf der Hope kennengelernt habe und seither regelmäßig sehe. Bei ihm weiß ich wenigstens, was ich bekomme. Wir mögen uns, wir kennen unsere Vorlieben und mein Wochenende ist ebenfalls gerettet. Der heutige Pleiteabend ist somit nicht mehr ganz so tragisch.

Natürlich hat auch Jochen geschrieben. Wo steckst du? Melde dich!

Eilig tippe ich zurück: Sorry, Mann. Ich musste einfach raus. Mir geht es gut so weit, ich nehme den Bus. Wir hören uns.

Erneut blendet Licht hinter mir auf, rasch gehe ich auf den schützenden Grünstreifen und sehe mich nach dem vorbeifahrenden Auto um. Ein Taxi. Es wird langsamer, rollt direkt vor mir aus, die Scheibe auf der Beifahrerseite wird heruntergelassen. Jochen, wer auch sonst? Er zieht eine Braue nach oben, mustert mich. „Steig ein. Der Taxifahrer fährt dich bis vor die Haustür.“

Ich presse die Lippen zusammen, schüttle den Kopf. „Ich möchte gern noch ein wenig laufen. Die Bushaltestelle ist gleich dort vorn.“

„Fährt der überhaupt noch um die Uhrzeit?“

„Mmh … um drei Uhr der letzte.“

„Du kannst laufen, wann und wohin du willst, dazu sind keine stockdunklen Landstraßen nötig. Außerdem ist es schweinekalt und ich habe gesehen, wie du abgebaut hast. Nate, komm schon … lass mich nicht betteln. Ich habe keinerlei Erfahrung mit solchen Situationen.“

Ich zwinkere. „Stimmt, Severin spielt sonst immer Babysitter. Aber ich kann dich beruhigen, mir geht es schon besser.“

„Sicher?“

„Ganz sicher“, murmle ich. „Verrat mich nicht.“

Ich erhalte ein Seufzen. Jochen kennt Severin und seine Fürsorge um mich schlicht zu gut. Ich wedle mit der Hand, um ihn zu überzeugen, weiterzufahren. Jochen starrt mich weitere Sekunden an, sucht typische Anzeichen von Schwäche an mir und scheint abzuwägen. Ich stehe still, wage nicht einmal zu atmen. Er nickt kurz darauf und streckt zwei Finger, gleich einem Seemannsgruß, an die Stirn. „Dann gute Nacht. Wir sehen uns. Bis die Tage.“

Schon braust das Taxi davon und wird von der Dunkelheit geschluckt, nachdem es eine lang gezogene Kurve hinter sich gelassen hat.

Ich sehe dem Wagen hinterher, bereue ein klein wenig, nicht zugestiegen zu sein, und zweifle an meiner Entscheidungsfähigkeit. Das Gefühl, der Bass dröhne in mir weiter, verfolgt mich seit Verlassen des Clubs. Mein gesamter Körper rebelliert mit jedem Schritt stärker gegen den krassen Unterschied von Temperatur, Helligkeit und Lautstärke. Mollig warm war es im Club, dafür aber viel zu laut, zu stickig und die Lichter auf der Tanzfläche zu grell. Jetzt ist es kalt, dunkel, leise.

Zu leise, das Dröhnen nimmt überhand. Ich sehe mich um, lasse weitere Wagen an mir vorbeirollen und trete, als keine Scheinwerfer mehr zu sehen sind, einen Schritt vor, um auf der Straße weiterlaufen zu können. Im selben Moment, in dem ich mit der Schuhspitze an einer Grasnarbe hängen bleibe, merke ich, dass ich mein Gleichgewicht nicht halten kann. Ich knicke weg, lande unsanft mit Knien und Händen auf dem Boden und sehe meinem Handy hinterher, das über den Asphalt schlittert.

„Scheiße!“ Frustriert balle ich die Hände zu Fäusten, mobilisiere Kraft und versuche mich auf meinen Hintern zu setzen. Doch nicht einmal das will funktionieren. Ein eisiger Schauer packt mich. Ruhig bleiben, warten, bis die Schaltzentrale die Befehle umgesetzt hat. Ist nur ein Funkloch. Eine technische Störung. Ein beschissener, irreparabler Defekt. Verbittert presse ich die Lippen aufeinander, schnaufe lautstark und werfe einen Blick zu meinem Handy, das auf dem Display gelandet ist. Kein Licht blinkt auf. „Scheiße, verdammte.“

Wie durch einen Nebel nehme ich einen nächsten Scheinwerferkegel wahr, mein Herz donnert in der Brust, kalter Schweiß rinnt meine Schläfen hinab. Ich muss von der Straße. Jetzt! Keine Sekunde zu spät reagiere ich, rolle zur Seite. Das Quietschen der Bremsen fräst sich in meinen Gehörgang und endet abrupt. Eine Tür wird aufgestoßen und jemand stürzt auf mich zu. „Nathan? Bist du das? Um Himmels willen.“ Devin? Den schickt der Himmel. Ich höre Fetzen eines Wortwechsels, gleich darauf kauert er tatsächlich neben mir nieder. „Was ist denn passiert? Bist du überfallen worden? Hat dich jemand angefahren?“

„Bin nur gestürzt“, antworte ich lahm und lehne, am Ende meiner Kraft, meinen gefühlt tonnenschweren Kopf an seine Schulter.

Eine fremde Stimme erreicht mich, die Person dazu sehe ich nicht. „Was ist mit ihm? Braucht er einen Arzt?“

„Hörst du? Sollen wir einen Arzt rufen?“

„Nein. Ich muss nur nach Hause.“ Schnellstens. „Gleich stehe ich auf. Ja? Gleich. Bleib bitte solange neben mir.“ Gleich – ein lächerlich nutzloser Begriff. Vor allem, wenn ich ihn verwende. Denn es könnte dauern, bis ich mich sortiert habe. Ich bin mir zwar sicher, dass meine Beine mittlerweile wieder das tun würden, was ich von ihnen fordere, aber ich fühle mich viel zu schlapp. Ich brauche unendlich viel Ruhe. Habe, zum Teufel noch mal, die Warnsignale in der Lounge missachtet. Zu allem Überfluss ist mir der Haustürschlüssel an der Garderobe aus der Hand gefallen, die Bezahlkarte für die Getränke habe ich dreimal in der falschen Tasche meiner Hose gesucht. Eindeutig zu viel.

„Bist du sicher, dass du nur gestürzt bist?“ Plötzlich spüre ich, wie Devin die Hand an meine Wange hebt und leichten Druck ausübt. „Kannst du mich mal ansehen?“

Kann ich. Möchte ich aber nicht.

Trotzdem hebe ich den Kopf. „Es geht schon wieder, okay? Ich bin nur gestolpert.“ Ich brauche mein Bett, muss mich hinlegen. „Hilfst du mir bitte auf?“

Verdammt. Meine Knochen kommen mir schwer wie Blei vor. Nur langsam kann ich mich aufrichten, gestützt von Devin. Er will mich auf die Füße ziehen, aus einem völlig falschen Winkel heraus. Halt suchend greife ich nach ihm, schüttle den Kopf. „Bitte, bleib einfach vor mir stehen und gib mir Halt. Ich muss es selbst schaffen.“

„Nur gestürzt, ha? Erzähl das jemand anderem. Ich weiß, was mit dir los ist, glaubst du etwa, das ist an mir vorbeigegangen?“

„Es ist sieben Jahre her“, presse ich hervor. „Ich gelte als austherapiert.“ Ungern werde ich an dieses körperliche Totalversagen und die nagende Angst, die mich jahrelang begleitet hat, erinnert. Gesund bin ich deshalb trotzdem nicht – mein Gewissen klopft lautstark an.

Ich gebe mir einen Ruck, setze einen Fuß auf und zerquetsche Devin beinahe die Finger, als ich den anderen nachziehe, mich langsam vor ihm aufrichte und mein Gleichgewicht suche. Erst gefühlte Minuten später traue ich mich ihn loszulassen und gehe ein paar vorsichtige Schritte, teste, ob alles funktioniert. Ob ich funktioniere.

Mir graut jetzt schon davor, morgen den Arzt aufsuchen zu müssen, denn dieser Sturz zählt nicht zu den normalen Krampfanfällen, die ich immer mal wieder habe. Ich muss mir wohl einen frühzeitigeren Termin zu einer MRT geben zu lassen. Das Ergebnis vor vier Monaten bei der halbjährlich angesetzten Routineuntersuchung war ohne Veränderung gleichbleibend zu dem davor. Bitte nicht … bitte, bitte nicht. Automatisch fasse ich mir wieder an die Seite des Kopfes, wo der Tumor vor Jahren entfernt wurde. Als könnte ich ertasten, ob das Restgewebe, das nicht hatte entfernt werden können, wieder im Wachstum ist.

Devin fasst an meine Hand, zieht sie sanft von meinem Haar und nimmt sie zwischen seine. Reibt unendlich guttuend meine klammen Finger. „Du zitterst. Lass uns einsteigen, wir bringen dich hier weg.“

Den Mann neben uns realisiere ich erst jetzt vollständig. Betroffen nickt er mir zu. „Sven, hi. Da hast du aber Glück, dass wir genau in diesem Moment hier entlanggekommen sind. Du brauchst ganz sicher keinen Arzt? Ich kann dich ins Krankenhaus fahren.“

„Ich möchte nur meine Ruhe“, erwidere ich leise. „Danke fürs Mitnehmen.“

„Kein Thema. Hier. Ich nehme an, es ist deines. Lag vor dem Auto auf der Straße.“ Er hält mir mein Handy hin und zuckt mit den Schultern. „Es ist aus.“

Energisch drücke ich sämtliche Knöpfe, der Bildschirm bleibt allerdings schwarz, ein hässlicher Riss verläuft quer darüber. „Das hat mir gerade noch gefehlt.“

„Möchtest du jemanden anrufen?“ Devin hält mir sein Smartphone hin und rollt mit den Augen. „Severin ist auch abgespeichert.“

„Echt? Woher …? Severins Nummer ist vertraulich.“

„Er hat sie mir irgendwann im letzten Sommer gegeben. Sofern er sie also nicht gewechselt hat, kannst du ihn über das Telefonbuch finden.“

Will ich das? Die beiden werden sicher schon schlafen. Ich bin erreichbar. Severins Textnachricht. Mein Daumenhoch-Symbol kommt mir ebenfalls in den Sinn.

„Ich ruf ihn an. Danke, Devin.“

Er schenkt mir lediglich einen Blick. Aus unendlich dunklen Augen. Sein Gesichtsausdruck verrät nichts. Was er wohl denkt?

„Danke“, murmle ich erneut und scrolle mich durch eine lange Liste an Telefonbucheinträgen bis hin zu S für Severin. Kein Eintrag vorhanden. Unter Seine Majestät von Hohenkamp finde ich ihn letztendlich. Hoffentlich schämt sich Devin in genau diesem Moment dafür.

 

Mir kam der Weg vom Club bis zur Innenstadt nie so weit vor. Die Fahrt zieht sich wie Kaugummi. Ich sitze schweigend auf der Rückbank, die Hände in meinem Schoß zu Fäusten verkrampft, Devin neben statt vor mir. Er blickt mich an, seit Minuten nun schon. „Brauchst du wirklich keinen Arzt?“

„Nein“, murmle ich, schaffe kein Kopfschütteln mehr. „Ich brauche Schlaf.“

„Und Medikamente vermutlich.“

„Sei mir nicht böse, aber … ich rede nicht über meine Krankheit. Nicht mit Fremden.“

Aus dem Augenwinkel nehme ich seine Regung wahr, seine Hand schiebt sich in mein Sichtfeld, auf meine Fäuste drauf. Ich möchte sie wegziehen, sehne gleichzeitig eine tröstende, vor allem aber kraftspendende Umarmung herbei. Eine, die mir sagt: Alles wird gut. Severin ist ein Meister darin, mich vergessen zu lassen, wie kaputt ich eigentlich bin. Devin streicht über meine Hände, reibt sanft immer und immer wieder über meine steifen Gelenke. „Dann sollte ich wohl daran arbeiten, kein Fremder mehr zu sein. Man sieht deinen Fingern an, wie verkrampft du sie hältst. Schmerzen sie?“

„Nein, ich …“ Ich senke den Kopf, wispere: „Ich spüre sie kaum. Sie sind gerade wie taub.“

„Nathan …“

„Nein!“, weise ich ihn entschieden zurück. „Lass gut sein. Ich habe alle meine Sinne bei mir, ich weiß, was ich tue. Und nein, ich brauche keinen Arzt.“

Ein Blick nach draußen verrät mir, dass wir endlich angekommen sind. Sven hält den Wagen an der Einmündung zur Fußgängerzone, die zu dem Wohngebäude-Komplex führt.

Severin reißt plötzlich die hintere Tür auf. „Nathan!“ Seine Stimme vibriert, als er nach mir greift und mir aus dem Wagen hilft. Langsam, in Zeitlupe. „Du hast mir einen Riesenschrecken eingejagt. Wie geht es dir jetzt?“

„Alles gut. Glaube ich.“ Endlich darf ich mich anlehnen, endlich darf ich meinen Kopf abschalten. Severin ist da. Er wird mich hochbringen, er wird mich ausziehen, mir ins Bett helfen, mir notfalls den Hintern abwischen, wenn ich noch mal auf die Toilette müsste.

Er legt einen Arm um meine Hüften und sieht an mir vorbei. Seine Kiefer malmen, seine Lippen sind zu einem Strich zusammengepresst. Fehlt nur ein Knurren, das er sich wohlweislich verkneift.

„Lass von dir hören, wie es dir geht“, meldet sich Devin mit undurchdringlicher Mimik. „Also, ein Anruf morgen wäre nett. Hast du meine Nummer?“

„Nein, ich … Deine Nummer kann ich mir über Jochen besorgen und … ich muss erst mal nach meinem Handy sehen. Ich denke, es hat den Sturz nicht überlebt. Das wird schwierig mit einem Anruf. Aber ich melde mich … irgendwie“, versichere ich Devin. „Versprochen.“

Severin neben mir streckt die Hand aus und wartet geduldig, bis Devin seine hineinlegt. „Danke, dass du dich um Nathan gekümmert hast. Schuldet er dir was?“

Dieser Blick! Beinahe sprühen Funken. Wortlos lässt Devin Severins Hand los, steigt in den wartenden Wagen, diesmal auf der Beifahrerseite, und knallt die Tür hinter sich zu. Sekunden später sehen wir nur noch die Rücklichter.

„Unhöflicher Zeitgenosse.“ Bitterkeit schwingt in Severins Stimme mit.

Einerseits kann ich ihm nachfühlen, andererseits … „Ohne ihn wäre ich jetzt noch nicht zu Hause.“

Diesmal folgt das zuvor mühsam unterdrückte Knurren. „Du hättest längst zu Hause sein können! Wir sind keine Stunde vorher aufgebrochen. Ich habe geahnt, dass es ein Fehler ist, dich zurückzulassen.“ Fest drückt er mich an sich und zieht mich bis zum Eingang. Natürlich hat er die Zweitschlüssel des Hauses und meiner Wohnung dabei, wie selbstverständlich öffnet er die Tür und bugsiert mich hinein.

„Es hätte auch hier passieren können. Es war einfach zu viel heute.“

„Genau deswegen verstehe ich nicht, dass du länger bleiben wolltest.“

„Severin … bitte.“

Augenblicklich wandelt sich sein verärgerter Gesichtsausdruck, wird sanft. „Ich hatte eine Scheißangst um dich.“

Er schließt im vierten Stock meine Dachwohnung auf und schiebt mich in den überschaubaren Flur, bevor er gewissenhaft hinter uns verriegelt. Die angenehme Stille der Wohnung wirkt sich beinahe sofort auf meine strapazierten Nerven aus. Das Dröhnen des Basses hallt nicht mehr. Mein vertrauter Geruch hängt in den Räumen, die leidenschaftliche Unordnung tut ihr Übriges. Ich fühle mich gleich besser. Endlich zu Hause.

„Ich bringe dich jetzt ins Bett. Du hattest ewig keinen Aussetzer dieser Art. Wann ist deine nächste Vorsorge?“

„In zwei Monaten“, gebe ich schleppend Auskunft, lege mich auf die Matratze und lasse zu, dass Severin mir Schuhe und Socken auszieht.

„Mir wäre lieber, du gehst direkt morgen.“

„Hatte ich vor.“

„Wirklich?“

Glaubt er mir nicht? „Ich habe Angst. Hoffentlich wächst nicht wieder was.“

Mit steifen Fingern greife ich an meinen Gürtel, um die Hose zu öffnen, doch auch hier hilft er mir. Schiebt sachte meine Hand beiseite und zieht gleich darauf die Jeans über meine Hüften nach unten. Mit einem Griff breitet er die Decke über mir aus und legt sich neben mich, bettet meinen Kopf auf seinem Oberarm und streicht mir über die Wange. „Ich bin für dich da. Egal, was du für ein Ergebnis bekommst. Wenn sich herausstellt … Nein, daran will ich nicht denken. Es wird alles in Ordnung sein, wie in den Jahren zuvor auch. Und wenn es dir besser damit geht: Im Gutshof gibt es nach wie vor ein Zimmer für dich.“

„Aber …“

„Kein Aber. Enno und Marise würden genau dasselbe sagen. Das Haus bietet Platz genug für uns vier.“

Mann, mein Herz trommelt wie verrückt in meiner Brust. Schlägt für Severin, für den liebsten Menschen, den ich neben meiner Familie habe. Leise seufze ich an seinem Hals und schließe die Augen.

„Geht es besser? Möchtest du einen Tee oder was anderes?“

„Einfach nur schlafen.“ Obwohl meine Kehle ausgetrocknet ist. Ich könnte Severin um ein Glas Wasser bitten. Nur, dafür müsste ich meine Finger von seinem Shirt lösen und könnte wetten, ich bin eingeschlafen, noch bevor er aus der Küche zurückgekommen ist.

„Dann schlaf jetzt. Ich stelle dir eine Flasche Wasser auf den Nachttisch.“ Er kennt mich! „Getrunken hast du zudem wahrlich genug.“

„Waren nur zwei Bier und zwei Coke. Und dein Soda.“

„Hoffentlich waren es die letzten Bier für die nächste Zeit. Nathan … hey … du hast nur dieses eine Leben. Wenn du es durch Unachtsamkeit aufs Spiel setzt, würde ich dir das nie verzeihen.“

„Das hier ist doch schon mein zweites Leben“, nuschle ich und gähne herzhaft. Severins Geruch hüllt mich ein. Er riecht ein bisschen nach sich selbst, ein bisschen nach Enno. Weit entfernt von frisch geduscht, dafür genau so, wie ich es mag. Selten bemerke ich, wie ich wirklich einschlafe, heute jedoch spüre ich körperlich, wie in meinem Kopf nacheinander die Lichter ausgeknipst werden.

3. Drachenhöhle

 

Ich beuge mich zur Fahrerseite, hin zu Severin, der die gesamte Nacht über meinen Schlaf gewacht hat und nun müder aussieht als ich, und drücke ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Danke fürs Absetzen.“

Allein seine Mimik verrät mir, dass er nicht damit einverstanden ist, was ich vorhabe. „Mir wäre ja lieber, du kommst mit zu mir, aufs Gut, und besuchst deine Eltern nebenan. Lori verwöhnt dich gern.“

Das gesamte Frühstück über hat er versucht mich von meinem Vorhaben, Devin zu besuchen, abzubringen. Letztendlich gab er auf. Denn neben meiner Unsicherheit hat Sturheit einen ebensolchen Stellenwert in meinem Leben. Wenn ich mir etwas vornehme, möchte ich es gern umsetzen. Sofort! Sonst komme ich vielleicht nie wieder dazu. Ein Blick aus dem Fenster reicht allerdings, um meinen eigenen Plan zu hinterfragen. Was mache ich hier?

Ein verwahrloster betonierter Hof breitet sich vor uns aus. Hier und da ranken immergrüne Pflanzen, ein paar Bäume und heckenartige Gewächse scheinen sich im Laufe der Zeit an den unmöglichsten Plätzen selbst gepflanzt zu haben, sind aus Rissen im Beton herausgewachsen und trotzen der Kargheit, umringt von verrosteten Stahlzäunen. Dieser Hof wirkt nicht einladend, eher abstoßend. Auch das ehemalige Verwaltungsgebäude hat beileibe bessere Zeiten hinter sich. Die Fassade aus rotem Backstein bröckelt vor sich hin, Kletterpflanzen ranken als dichte Teppiche empor. Am linken Flügel sind eingeschlagene Scheiben zu erkennen und ein maroder Durchgang verrät, dass dort einst eine Tür gewesen sein muss.

Ich zähle drei Stockwerke an der intakten Halle daneben. Laut Jochen wohnt Devin im Erdgeschoss. „Klingel oder klopf einfach an der grauen Stahltür links vom Backsteinhaus. Und lass dich nicht von der Umgebung täuschen, Devin wohnt nett. Ich war allerdings ewig nicht dort. Nicht, seit Marc weg ist. Seitdem möchte Devin keinen Besuch mehr.“ Das waren Jochens Worte, als ich heute Morgen mit ihm von Severins Handy aus telefoniert hatte. Der Flurfunk war schnell, er hat meinen besten Freund angerufen und wollte wissen, ob mit mir alles in Ordnung sei. Er klang besorgt, hat sich Vorwürfe gemacht, mich nicht energisch genug aufgefordert zu haben. Das Wissen darum, dass Severin bei mir war, hat ihn allerdings sofort wieder beruhigt. Mich irgendwie auch.

Zugehängte Fenster machen es einem unmöglich, einen Blick in das Gebäude zu werfen. Vorhänge sind es allerdings nicht. Mir kommt es eher vor, als seien wahllos Stofflagen hinter dem Glas drapiert worden.

„Ungemütlich“, murmelt Severin und sieht mich wieder an. „Ich habe genug gesehen. Was ist? Fahren oder bleiben? Soll ich auf dich warten?“

Ich schüttle den Kopf. Das Gefühl, Devin gegenübertreten zu müssen, um mich bei klarem Verstand bei ihm für die geleistete Hilfe zu bedanken, hat sich direkt nach dem Aufwachen in mir festgesetzt. Am Telefon käme mir das schäbig vor.

„Ich melde mich“, versichere ich meinem Freund und erwidere den Druck seiner Finger, die er um meine Hand gelegt hat. „Es kann aber früher Abend werden, bis ich zu Hause bin. Vorher muss ich in die Klinik.“

„Enno ist ohnehin unterwegs und ich fahre jetzt in die Firma. Ehrlich, mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass du in Devins Reich eindringst. Mit dem haben wir nichts zu tun. Und gut Kirschen essen war mit ihm noch nie drin.“

„Komm schon.“ Amüsiert verziehe ich die Lippen, muss nur an den Kuss in der Nacht denken, den Devin mit mir geteilt hat. „Er ist kein Monster. Ich möchte mich gern bedanken und finde es nicht verkehrt, mir meinen eigenen Eindruck zu machen.“

Grimmig starrt Severin aus dem Fenster. „Weit von einem Monster entfernt ist er nicht. Aber tu, was du nicht lassen kannst. Du bist dein eigener Herr.“

„Wenn ich nicht wieder auftauche, weißt du ja, aus wessen Klauen du mich retten musst.“

Sein fiebrig glänzender Blick landet auf mir, sagt mir, wie nicht-witzig er meine Phrase findet. „Geh jetzt. Ich kann dich ja doch nicht abhalten. Hoffentlich muss ich mir in Zukunft keine Gedanken darüber machen, wie ich mit einer Freundschaft zwischen euch beiden umzugehen gedenke.“

Mein kleiner Unfall gestern war wohl Fluch und Segen zugleich. Severin hat mir bisher nicht angemerkt, dass ich etwas Delikates vor ihm verberge. Und ich werde einen Teufel tun, es ihm jetzt zu erzählen. Zumal es keine Wiederholung geben wird. Keine schmutzige Affäre also, aber auch keine Freundschaft.

„Diese Sorge kann ich dir getrost nehmen. Devin ist doch gar nicht der Typ für enge Freundschaften.“

„Weil er ein Charakterschwein ist.“

„Ich habe ihn gestern anders kennengelernt. Hey, er war zur Stelle, als es mir mies ging. Zählt das nicht?“ Severin brummt, schließt reuevoll die Augen. Er hasst den Gedanken, dass er nicht an meiner Seite war. „Ich möchte mir gern meine eigene Meinung bilden“, bitte ich leise. „Auch eine jahrelang gefestigte kann man durchaus ändern.“

„Dir geht er ja auch nicht seit dem Teenageralter auf den Keks.“

Ich lache auf, tätschle Severins Oberschenkel. „Wie gesagt, er ist nicht der Typ für Freundschaften. Ich werde dir also nicht untreu.“

„Diable!“ Severins Mundwinkel zucken, er startet den Wagen und sieht mich auffordernd an. „Bis später. Pass auf dich auf, mon ami.“

„Bis später“, erwidere ich, mittlerweile heiter. „Möchtest du anschließend Details?“

„Du willst ja wohl nicht mit ihm in die Kiste?“ Fassungslos erdolcht er mich mit seinem Blick. Ich lache herzhaft los und drehe den Kopf schnell weg. Ganz sicher werde ich gerade rot.

„Hatte ich nicht vor“, antworte ich vage. „Ich meinte das eher so generell.“

Ein französischer Wortschwall folgt. Verstehen kann ich ihn nicht, aber ich denke, den Inhalt zu kennen: „Bloß nicht mit dem!“ Das bringt mich nur noch mehr zum Lachen.

„Nein, will ich nicht“, grummelt Severin auf Deutsch weiter. „Verschone mich mit Einzelheiten. Dieser Mensch interessiert mich kein bisschen.“

Tief atme ich durch. Soll ich mir jetzt wünschen, Devin möge sich aufführen wie ein Idiot, damit ich in Zukunft nicht zwischen ihm und meinem besten Freund stehen muss? Blödsinn, Jochen schafft den Spagat auch, und der hat eine ganz andere Meinung über Devin – heute werde ich mir die meine bilden.

 

Auch nach zweimaligem Klingeln öffnet niemand die Tür. Ich sehe an der Fassade hinauf, das Gebäude wirkt selbst aus nächster Nähe wie ausgestorben. Schützend ziehe ich die Schultern nach oben, als mich ein eisiger Schauer erfasst. Das hier ist definitiv kein Ort, an dem ich länger als nötig verweilen möchte. Wenn Devin nicht da ist, habe ich eben Pech gehabt. Dann werde ich schnellstens den Weg zurück in die Innenstadt nehmen und darauf hoffen, dass ich nicht zu lange an der nächsten Bushaltestelle warten muss. Ein Taxi wäre vermessen – meine Ersparnisse gehen spätestens am Anfang der Woche für ein neues Handy drauf. Meines ist hinüber, hat den Sturz nicht überlebt. Zudem könnte ich mir ohne Telefon ohnehin kein Taxi in diese Einöde bestellen.

Leicht frustriert wappne ich mich für den Fußmarsch. Der gestrige wütet in meinen Gedanken. Ohne Devin und seine Begleitung wäre der Heimweg beschwerlich geworden. Wer war dieser Mann eigentlich? Ein Bekannter, der ihm im Club über den Weg gelaufen ist? Oder ein Kerl, den er für die Nacht klargemacht hat? Schlafen die beiden noch? Oha!

„Nathan? Was zur Hölle tust du hier?“

Ruckartig drehe ich mich herum, Devin steht, nackt bis auf eine rauchgraue Pants am Leib, auf der Türschwelle. Das Haar sieht zerwühlt aus, das Gesicht wirkt zerknautscht. Sein gesamtes Erscheinungsbild vermittelt mir, dass er gerade erst aufgestanden ist. Verdammt! Er war wirklich mit diesem Typ zusammen. Natürlich liegen die beiden noch in der Kiste.

„Ich wollte euch nicht wecken. Sorry.“ Ich laufe die wenigen Meter zurück, mustere ihn aus der Nähe. Seine Pupillen sind klein, kaum sichtbar in dem sanften Braun, das gestern noch schwarz wie die Nacht gewirkt hat. Die Brustwarzen sind vor Kälte hart zusammengezogen, auf den Armen und seinem Oberkörper bildet sich Gänsehaut. Die mysteriösen Tattoos winden sich um seine Unterarme bis hoch zum Bizeps. Entpuppen sich tatsächlich als Fabelwesen. Zwei wunderschöne Drachen. Faszinierend. Ich revidiere im Stillen: Sein Erscheinungsbild ist phänomenal anziehend. Nicht minder gut als gestern, als sein Haar drahtig und verschwitzt war, seine Kleidung wie eine zweite Haut an ihm gesessen hat.

„Bin schon ’ne Weile wach“, muffelt er und macht sich extra breit im Türrahmen. So kommt es mir vor. Zeigt mir deutlich, wie unwillkommen ich bin. „Und? Was willst du nun hier?“

Unsicher ziehe ich die Schultern noch höher und könnte mich ohrfeigen, nicht auf Severin gehört zu haben. „Ich wollte mich bei dir bedanken. Bei dir und … dem Fahrer. Ich habe den Namen vergessen. Ohne euch wäre es ein harter Heimweg für mich geworden. Danke, dass ihr angehalten habt.“

Devin legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und atmet tief in den Bauchraum hinein. Sein gesamter Oberkörper arbeitet mit. Muskeln spielen unter der noch reichlich von Sommerbräune gezierten Haut, sein Adamsapfel hüpft. Einmal. Zweimal. Auch ein drittes Mal, bis er mich wieder anblickt, die Lippen ärgerlich zusammengepresst. „Bitte. Gern geschehen. Mach bloß keinen Kniefall wegen solch einer Kleinigkeit. War das alles oder liegt dir noch was auf dem Herzen?“

Demonstrativ trete ich zwei Schritte zurück und blicke ihm fest ins Gesicht. Knurrig sein, das kann ich auch. „Nein, nichts mehr“, spucke ich ihm entgegen und spüre, wie meine Wangen rot vor Zorn werden. „Nichts zumindest“, füge ich hinzu, „was dich etwas angehen würde.“ Meinen gesundheitlichen Zustand vor allem, über den er informiert werden wollte. Ich lache gleich. „Du bist und bleibst ein Scheißkerl. Ich weiß gar nicht, was mich gestern geritten hat. Vermutlich war mein Wahrnehmungsvermögen bereits im Keller, als ich dich geküsst habe. Schönen Tag noch … Devin. Geh wieder schlafen. Du wirst sicher erwartet. Außerdem siehst du übermüdet aus.“

„Stopp.“ Barfüßig läuft er hinter mir her, packt mich am Ärmel der Jacke und zerrt mich zu sich herum. Natürlich könnte ich mich wehren, aber wozu? Damit er Genugtuung bekommt? Dummerweise ist er ein Stück größer als ich und kann mit seinem harten Blick auf mich herabschießen. Dennoch recke ich mein Kinn vor. Sagt er auch noch was? Oder hat es ihm die Sprache verschlagen? „Was wolltest du wirklich?“

„Bist du jetzt wieder handzahm oder was? Nichts wollte ich. Nichts von Belang. Jetzt lass mich los, ich habe noch einen Termin.“

„Bist du immer so leicht auf die Palme zu bringen?“ Spöttisch verzieht er die Lippen. „Komm schon, du wirst mir nachsehen müssen, dass ich auf Seine Hoheit und seinen Pfiffi nicht sonderlich gut zu sprechen bin. Und für ’nen Fick bist du sicher auch nicht da. Der Club mit seinen dunklen Ecken war dir nicht angemessen genug, attraktiver ist es hier in deinen Augen vermutlich ebenfalls nicht. Außerdem habe ich dir gestern schon erklärt: Ich. Bin nicht. Dein Typ. Daran ändert auch dein Überfall nichts. Du solltest mir besser aus dem Weg gehen.“

Absolut im Sinne von Severin. Haben die sich abgesprochen?

„Dev?“, ruft jemand mit rauer Stimme. „Dauert das noch länger bei dir? Es zieht kalt herein.“

Erstaunt sehe ich an meinem Gegenüber vorbei und reiße die Augen auf. Eine Frau, ebenso dürftig bekleidet, taucht hinter ihm auf und sie sieht nach allem aus, aber nicht danach, eben erst aufgewacht zu sein. Wo, zum Teufel, hat Devin mitten in der Nacht noch eine Frau aufgegabelt? Er war doch mit einem Mann unterwegs. Oder hat er eine Freundin? Wow! Damit habe ich nicht gerechnet.

Ob sie darüber im Bilde ist, wie sich ihr Kerl nachts in Clubs vergnügt? „Ich bin nicht schwul.“ Seine Worte leuchten in fetten Lettern vor meinem inneren Auge auf. Ist ihr überhaupt bewusst, dass Devin beiden Geschlechtern zugeneigt ist?

„Wenn er wieder von Beruf Sohn sein will, braucht er eine Frau an seiner Seite.“ Jochens Worte. Vor knapp einem Jahr hat er sie Severin, Enno und mir auf dem Boot Theó anvertraut. Das war an Ennos Geburtstag, ich erinnere mich sehr gut an den Abend. Die beiden waren noch nicht lange zusammen, als Severin seinem Liebsten das Wertvollste geschenkt hat, was er jemals hätte schenken können: Die Segeljacht Theó, die Enno seit Kindertagen gehört hat und irgendwann aus Geldmangel in der Familie veräußert werden musste. Severin hat sie zurückgekauft. Für seinen Herzensmenschen Enno, für dessen Seelenheil, für all die Träume, die auf der Jacht auf offener See noch geträumt werden wollen. Gegen das Heimweh, das Enno an manchen Tagen quält, und für die Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit, die jede einzelne Kerbe im Schiffsholz erzählt.

Ich zucke fürchterlich zusammen, als Devin mit der Hand vor meinem Gesicht herumwedelt. Kurz muss ich mich sammeln, deute anschließend mit dem Kopf zu der Frau. „Dann noch viel Spaß. Wieso machst du überhaupt die Tür auf, wenn es unpassend ist?“

„Wir waren fertig.“ Devin gibt ihr einen Wink und sie verschwindet, ohne zu murren. Respekt. Also ich würde ja wissen wollen, mit wem mein Freund halb nackt Gespräche in der Öffentlichkeit bei einer Temperatur knapp über null Grad führt. Vor allem, wenn er dafür die warme Liebeshöhle verlässt. „Wann ist dein Termin?“

„Termin?“ Wiederholt starre ich ihn an. „Was für ein Termin?“

„Aus dir soll mal einer schlau werden. Eben hast du es noch eilig gehabt.“

Das Krankenhaus! Rasch sehe ich auf meine Armbanduhr, die ich mangels eines Handys angezogen habe. Viertel vor zwölf. Ich habe noch Zeit.

„Kein Termin also. Dachte ich mir beinahe. Kaffee, Nathan? Also ich könnte jetzt einen gebrauchen.“ Provokativ greift er sich an den Schritt, dreht sich um und geht zur Stahltür zurück. „Kommst du?“

Kaffee bei Devin? Nachdem er mir soeben deutlich zu verstehen gegeben hat, wie sehr er Severin und seinen Hund verachtet und eigentlich Besseres zu tun hat? Trotz dieser Tatsache laufe ich hinter ihm her, meine Neugierde und mein Wissensdurst sind ausgeprägter als meine Vorsicht. Und Devin ist mit Vorsicht zu genießen – das steht für mich nach nur wenigen Kennenlernminuten fest.

In der Halle empfängt mich kühle Luft und … nichts. Gar nichts. Was ich erwartet habe, kann ich nicht sagen, aber nicht nichts. Erstaunt sehe ich mich in dem kargen Raum um. Eine anthrazitfarbene Couch, die stark nach Designermöbel aussieht, dominiert den Bereich vor den zugehängten Fenstern. Die Stofflagen sind wenig kunstvoll über Eisenstangen drapiert, mäßig lassen sie Tageslicht durch. Die volle Dosis würde wahrlich zu viel des Guten sein, dafür ist es hier zu eintönig. Ein Flatscreen steht inmitten des geschliffenen Betonbodens, daneben eine Spielekonsole und ein paar weitere technische Geräte. Schränke suche ich vergebens, nicht mal ein Tisch durfte Einzug halten. Und das trotz der Größe der grau in grau gehaltenen Halle, die einen Wohnraum darstellen soll.

„Wow!“, entfährt es mir, als ich den Kopf in den Nacken lege und das Dachgebälk viele, viele Meter über mir in Augenschein nehme. Von wegen, drei Stockwerke. „Du wohnst hier ganz allein? Ich dachte, es wären mehrere Parteien im Haus.“

Devin breitet die Arme aus. „Sie gehört mir, wurde von mir saniert und eingerichtet. Das Gelände gehört ebenfalls mir. Vor Jahren habe ich es auf einer Auktion ersteigert. Da ich nicht vorhatte, Gebäude abzureißen und einen Einkaufstempel darauf zu bauen, werde ich der Stadt Hamburg wohl immer ein Dorn im Auge bleiben. Meine Anwälte waren klüger und letztendlich siegreicher unterwegs.“

Beinahe entschuldigend zuckt er mit den Schultern, bückt sich nach einer Jeans, die vergessen auf dem Boden herumzuliegen scheint, und steigt geistesabwesend hinein. „Links über meine Schulter hinweg siehst du eine eingezogene Decke, mein Schlafbereich in luftigen drei Meter Höhe. Wenn du dich einmal nach links drehst, gelangst du in die Küche, rechts von uns die Tür führt zum Bad. Das war’s. Führung beendet.“ Er eilt, den Kopf gesenkt, in die eben erwähnte Küche davon. „Kaffee? Ja oder nein? Ansonsten habe ich nur Bier oder Hochprozentiges im Haus. Oder Tee. Alternativ Wasser aus dem Hahn.“

Und die Frau? Wie in einem merkwürdig grotesken Traum gefangen drehe ich mich ein paar Mal im Kreis und versuche einen Blick auf seinen Schlafbereich zu erhaschen. Doch die eingezogene Decke ist viel zu hoch. Auch die Badezimmertür ist verschlossen. Die Frau wird auftauchen. Sie kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.

Nach einem letzten Rundumblick folge ich Devin in die Küche. Wie vom Donner gerührt bleibe ich stehen. Erwartet habe ich eine gut ausgestattete, extra nach Maß gefertigte Designerküche. Zu Gesicht bekomme ich eine karge, schwarz glänzende Küchenzeile mit Herd und Ofen sowie einem irgendwann in grauer Vorzeit bunt lackierten Tisch, von dem die Farbe bereits abblättert. Vier Stühle und ein Schrank an der gegenüberliegenden Wand machen die Einrichtung auch schon komplett.

Hier lebt Devin? Was genau hat Jochen geraucht, wenn er dieses farblose Loft – oder sollte ich sagen: Loch? – als einladende Wohnung empfindet? Devin wird mir immer suspekter.

„Kleine Krise vor ein paar Monaten“, murmelt er und erschreckt mich trotz gedämpfter Stimme, so nah steht er auf einmal vor mir. „Ich musste eine wichtige Zahlung leisten, die meine Möglichkeiten überschritten hat. Daher habe ich Mobiliar umgesetzt.“ Trotz des ernsten Themas zwinkert er mir zu. „Du glaubst gar nicht, wie frei man sich fühlt, wenn man bis auf die lebensnotwendigen Dinge nichts um sich herum hat, das einen mit der Zeit schier erdrückt. Brauche ich alles nicht. Schnörkellose, überschaubare Einrichtung – genau mein Ding.“

Schnörkellos – damit verbinde ich eher Severins Appartement, aber nicht dieses zugige Mauseloch. Hier ist es wirklich kalt. „Also hättest du deine Möbel noch, wenn es finanziell besser um dich stehen würde?“