Das Buch Andras 2: Dämonenbeschwörung - Eberhard Weidner - E-Book

Das Buch Andras 2: Dämonenbeschwörung E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Drei Tage vor ihrem neunzehnten Geburtstag erwacht Sandra Dorn ohne jede Erinnerung in einem Münchener Privatsanatorium. Sie erfährt, dass ihre Eltern im Keller ihrer Villa anlässlich einer schwarzen Messe brutal ermordet wurden und darüber hinaus ihr Zwillingsbruder Andras verletzt wurde und spurlos verschwunden ist. In der geheimen Bibliothek des Sanatoriums eröffnen ihr der Direktor und ein ehemaliger Beamter des BLKA, dass sie Mitglieder eines geheimen Netzwerks sind, das sich der Bekämpfung der Dämonen und ihrer menschlichen Helfer verschworen hat. Nach ihren Worten beeinflussen unfassbare Wesen aus einer anderen Welt oder Dimension, die der Einfachheit halber als Dämonen bezeichnet werden, schon seit Jahrtausenden die Menschheit. Sie können mit Ritualen beschworen werden und Menschen geistig in Besitz nehmen, streben aber mit aller Macht danach, leibhaftig in unsere Welt zu gelangen, um die Menschheit zu unterwerfen. Nach neuesten Gerüchten soll nun ein Ritual entwickelt worden sein, das dies ermöglichen und dadurch die Unterwerfung der Menschheit einleiten könnte. Und Sandra und ihr Zwillingsbruder Andras scheinen ein wichtiger Bestandteil dieses Rituals zu sein, denn ANDRAS ist auch der Name des Dämons, der die Grenzen zwischen den Welten passieren will. Im Sanatorium ist Sandra vor den Dämonen und ihren Knechten zwar sicher, da diese die Ausstrahlung der psychisch Kranken nicht ertragen können, doch sobald sie es verlässt, begibt sie sich in tödliche Gefahr. Die Befürchtungen der Netzwerkmitglieder scheinen sich nur allzu bald zu bewahrheiten, denn nicht nur religiöse Eiferer trachten Sandra nach dem Leben. Auch die Satanisten bemühen sich mit allen Mitteln, sie wieder in die Hände zu bekommen, um die Dämonenbeschwörung zu wiederholen ...

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INHALTSVERZEICHNIS

 

COVER

TITEL

TAG DREI

VII. Der Überfall auf die Station

VIII. Der Einbruch in die Kanzlei

Drittes Zwischenspiel: Verlorene Erinnerungen

IX. Der Weg ins Kloster

Viertes Zwischenspiel: Die Geschichte der Nonne

TAG VIER

X. Die Dämonenbeschwörung in der Klosterkapelle

Fünftes Zwischenspiel: Das Haus, in dem die Zeit stillsteht

Epilog

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

IMPRESSUM

 

 

 

 

TAG DREI

Samstag, 20. Juni

VII. Der Überfall auf die Station

 

Kapitel 1

 

Der gellende Schrei hallte durch die dunklen Gänge, bevor er abrupt zum Verstummen gebracht wurde.

Noch immer von dem unwirklichen Gefühl erfüllt, in einen bodenlosen, finsteren Abgrund zu stürzen, erwachte ich aus dem Schlaf und riss die Augen auf. Erneut fand ich mich aufrecht in meinem Bett sitzend wieder, doch im fahlen Licht des sichelförmigen, zunehmenden Mondes, das durch das vergitterte Fenster in den Raum fiel, erkannte ich erleichtert, dass ich mich nicht in der kargen Zelle des Klosters aus meinem Traum, sondern in meinem Zimmer im Sanatorium befand.

Noch immer hatte ich wie eine düstere Resonanz die letzten Traumbilder so lebhaft und deutlich vor Augen, dass ich kaum glauben konnte, dass ich all das nur geträumt und nicht leibhaftig erlebt hatte. Alles war noch unglaublich präsent und wirkte gleichzeitig so lebensecht. Doch allmählich verblassten auch diese Bilder und verschwanden in den Tiefen meines verwirrten Verstandes, um dort abgelegt und bei Bedarf erneut in mein Bewusstsein zurückgeholt zu werden.

Denn was sollte es sonst gewesen sein, wenn nicht ein furchtbarer, nächtlicher Traum, enthielt er doch alle Zutaten, mit denen mein Gehirn in den letzten beiden Tagen gefüttert worden war: schreckliche Dämonenfratzen, der düstere Opferaltar inmitten des Drudenfußes und der Kerzen, mein Ebenbild auf dem Steinblock, das Messer in der Brust des Opfers. Und all das zweifellos als wesentliche Bestandteile eines finsteren Rituals. Das Kloster, die Nonnenkleidung meines Traum-Ichs und die ältere Nonne, die ich flüchtig im spiegelnden Glas des Fensters gesehen hatte, waren natürlich neue, mir bisher unbekannte Elemente, doch auch sie reichten meiner Meinung nach nicht aus, aus den Szenen mehr zu machen als einen bloßen Albtraum. Zum Beispiel eine versinnbildlichte Vorhersehung künftiger Ereignisse oder die Wahrnehmung tatsächlicher Geschehnisse durch die Augen einer anderen Person, um nur zwei der versponnenen Möglichkeiten zu nennen, die der weniger rationale Teil meines Verstandes mir anbot.

Ich schüttelte demonstrativ den Kopf über meine eigenen verdrehten Gedanken. Anscheinend hatten mich Direktor Engel und Karl Augstein mit ihrer Sicht der Welt bereits weitaus stärker infiziert, als ich wahrhaben wollte. Weshalb sollte ich sonst derartig unglaubwürdige Theorien überhaupt in Erwägung ziehen, wenn ich nicht durch all die Dinge, die ich in letzter Zeit erlebt und erfahren hatte, allmählich den Boden der Realität unter meinen Füßen verlor.

Immerhin hatte ich es geschafft, die Szenen meines Traumes erfolgreich aus meinem Verstand zu verbannen. Im Gegensatz zur letzten Nacht war ich dieses Mal auch nicht schweißgebadet erwacht. Ich hätte mich also einfach wieder hinlegen und – hoffentlich traumlos – weiterschlafen können.

Doch irgendetwas – ein winziges Detail, ein Gedanke vielleicht, eine Beobachtung, ein Geräusch oder was auch immer –, klopfte noch immer beharrlich an die Tür meines Verstandes und begehrte Einlass. Doch selbst dann, als ich mich darauf zu konzentrieren begann, konnte ich nicht deutlicher erkennen, was mich noch immer in leichte Unruhe versetzte.

War es tatsächlich nur das Ende meines Albtraumes gewesen, das zu meinem Erwachen geführt hatte, fragte ich mich plötzlich, oder war da nicht noch etwas anderes gewesen, das mich letztendlich geweckt hatte?

Wie als Reaktion auf meine eigenen Überlegungen hörte ich plötzlich einen gedämpften Schrei, der allerdings unverzüglich wieder erstickt wurde.

Da erinnerte ich mich endlich, dass ich beim Übergang vom Schlaf zum Wachzustand ebenfalls einen Schrei gehört hatte. Allerdings war ich in den ersten verwirrenden Augenblicken, nachdem ich vollends erwacht war, aber noch mit den Nachbildern meines Traumes zu kämpfen hatte, davon ausgegangen, dass ich selbst geschrien hatte, weil ich geglaubt hatte, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Doch nun war ich mir darüber gar nicht mehr so sicher.

Ich lauschte konzentriert, hörte jedoch vorerst nichts mehr.

Im Grunde war es ja auch nichts Ungewöhnliches, an diesem Ort nachts gelegentlich Laute wie Schreien, Stöhnen oder Jammern zu hören. Selbst wenn man für einen Moment außer Acht ließ, welche Art von Menschen hier untergebracht war – ich betrachtete mich selbst dabei natürlich als Ausnahme von der Regel –, brachte es jede derartige Ansammlung von Leuten auf so engen Raum von Haus aus mit sich, dass es selbst in der Nacht nie völlig still war. Und wenn man dann noch berücksichtigte, unter welchen psychischen Erkrankungen die Insassen dieser Abteilung teilweise zu leiden hatten, konnte man sich lebhaft vorstellen, dass der eine oder andere oft auch nachts von seinen eigenen inneren Dämonen geplagt wurde – die aber nichts mit den Dämonen der Herren Engel und Augstein gemein hatten – und solcherart gepeinigt laut schrie oder jammerte.

Obwohl ich noch nicht lange hier war, hatte ich mich überraschend schnell an diese nächtlichen Geräusche gewöhnt. Sie störten mich also kaum noch, wenn ich einschlafen wollte oder während ich schlief. Vielleicht war ich bislang aber auch nur jedes Mal zu erschöpft gewesen, als ich zu Bett gegangen war, sodass ich sogar eingeschlafen wäre, wenn direkt neben meinem Bett eine Blaskapelle den bayerischen Defiliermarsch gespielt hätte.

Doch gerade weil ich mich an die Schreie, die gelegentlich durch die Abteilung gellten, mittlerweile gewöhnt hatte und sie kaum noch bewusst zur Kenntnis nahm, beunruhigte mich dieser Schrei, den ich soeben gehört hatte, denn er unterschied sich in meiner Wahrnehmung deutlich von den gewöhnlichen Schreien.

Auch wenn ich während meines kurzen Aufenthalts an diesem Ort bereits deutlich mehr Leute hatte schreien hören als in einem drittklassigen Horrorfilm, hätte ich die verschiedenen Schreie dennoch nicht den jeweiligen Insassen zuordnen können. Ich wusste lediglich, dass die alte Dame im Zimmer neben mir im Schlaf ab und zu rief: »Mein Geld kriegst du nie!«, und fragte mich, ob sie damit wohl den jungen Mann meinte, der sie heute Abend besucht hatte. Aber abgesehen davon wusste ich in der Regel nicht, wer nun den gellenden Schrei, das laute Schluchzen oder das weinerliche Gejammer ausgestoßen hatte, wenn ich es hörte.

Obwohl ich also grundsätzlich weder die Urheber identifizieren noch die Laute individuellen Personen zuordnen konnte, beunruhigten mich diese jedoch meist nicht, da sie für mich unterbewusst vermutlich dennoch vertraut klangen. Doch bei dem Schrei, den ich soeben gehört hatte, war das absolute Gegenteil der Fall. Er klang nach meinem Empfinden nicht wie einer der üblichen Laute. Denn die Schreie, die sonst auf dieser Station in der Nacht zu hören waren, wurden weder gedämpft noch abgewürgt, sondern erfolgten in voller Lautstärke und Länge, weil diejenigen, die sie ausstießen, sich selbst aufgrund ihrer Erkrankungen keinerlei Beschränkungen auferlegten und ihren Gefühlen quasi freien Lauf ließen.

Eine innere Stimme sagte mir daher sehr deutlich und bestimmt, dass mit diesem Schrei etwas nicht stimmen konnte, und brachte mich so zu dem spontanen Entschluss, aufzustehen und der Sache auf den Grund zu gehen. Selbst wenn ich gewollt hätte, dann hätte ich mich spätestens ab diesem Moment nicht mehr einfach zurücklegen und weiterschlafen können. Zu unruhig und aufgewühlt war ich mittlerweile, sodass an Schlaf vorerst ohnehin nicht zu denken war. Ich konnte die Sache jetzt nicht einfach auf sich beruhen lassen und so tun, als wäre nichts gewesen, denn in den letzten beiden Tagen war bereits zu viel Ungewöhnliches in meiner unmittelbaren Umgebung geschehen. Manches, was zunächst wie ein zufälliges Ereignis erschienen war, hatte sich im Nachhinein als Mosaikstein einer erheblich größeren und bedeutenderen Wahrheit herausgestellt, von der ich bislang noch immer zu wenig Teile vorliegen hatte – die zudem nicht einmal richtig zusammenzupassen schienen –, als dass ich das ganze Bild zu diesem Zeitpunkt auch nur ansatzweise erkennen konnte.

Ich machte Licht und sah auf den Wecker auf dem Nachttisch, der ebenfalls zum sanatoriumeigenen Inventar gehörte. Es war ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht. Ich hatte also, grob gerechnet, gerade mal eine Stunde geschlafen, nachdem Direktor Engel mich nach der Besprechung in der geheimen Bibliothek auf mein Zimmer zurückgebracht hatte und ich zu Bett gegangen war. Ich fühlte mich zwar immer noch müde, aber wenigstens nicht mehr so erschöpft wie zuvor. Die Stunde Schlaf hatte mir trotz des Albtraums gutgetan. Auch meine diversen Wehwehchen, die mir vor dem Zu-Bett-Gehen noch zu schaffen gemacht hatten, schmerzten mittlerweile kaum noch. Die blauen Flecken und Schürfwunden an meinen Beinen sahen schon erheblich besser aus, stellte ich nach einer kurzen Sichtprüfung fest, und die Einschnürungen an meinen Handgelenken waren nahezu spurlos verschwunden. Anscheinend verfügte ich über gutes Heilfleisch. Zumindest ein tröstlicher Gedanke angesichts der vielfältigen, immer neuen Probleme, mit denen ich seit meinem Erwachen vorgestern beständig konfrontiert wurde.

Ich stieg aus dem Bett und streckte mich, um meine steifen Muskeln und Gelenke zu lockern. Es knackte und knirschte dabei zwar an allen möglichen Ecken und Enden, doch selbst meine durch die wilde Motorradfahrt stark beanspruchten Rückenwirbel hatten sich anscheinend ausreichend erholt und gaben Ruhe.

Ich zog das Nachthemd über den Kopf und legte es aufs Bett. Dann zog ich der Einfachheit halber die Sachen an, die ich schon bei der Besprechung getragen hatte. Ich hatte zwar nicht vor, weit zu gehen – lediglich hinaus auf den Flur und zum Schwesternzimmer –, es widerstrebte mir aber, nur mit einem Nachthemd bekleidet durch die Gegend zu marschieren. Und ein Morgenmantel, den ich mir rasch hätte überziehen können, stand mir leider nicht zur Verfügung. Ich verzichtete lediglich darauf, die Schnürsenkel meiner Turnschuhe zu binden, und steckte die offenen Enden in die Schuhe, damit ich nicht versehentlich darüber stolperte.

Die Tür zu meinem Zimmer ließ sich zum Glück auch von innen öffnen. Auf dieser Station waren schließlich nur die leichteren und harmloseren Fälle untergebracht, daher war es nicht notwendig und im Notfall eher hinderlich, die Türen nachts zu verschließen. Ich trat auf den Gang, der von den in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebrachten Nachtlichtern nur schwach erhellt wurde. Die Beleuchtung war jedoch ausreichend genug, damit man ohne Schwierigkeiten alles erkennen und seinen Weg finden konnte.

Ich schloss die Tür zu meinem Zimmer leise hinter mir und ging über den Gang gemächlich zum Schwesternzimmer. Wie mir der Direktor erst gestern erzählt hatte, hielt sich dort nachts stets eine Schwester oder ein Pfleger auf und tat Dienst, um auf Notfälle oder andere plötzlich auftretende Schwierigkeiten reagieren zu können. Außerdem musste einigen Insassen auch in der Nacht in regelmäßigen zeitlichen Abständen Medizin, vor allem Beruhigungsmittel, verabreicht werden.

Bevor ich die große Glasscheibe erreichte, durch die man vom Gang ins Schwesternzimmer hineinsehen und bei der ein Schiebefenster geöffnet werden konnte, musste ich gähnen. Ich hielt es inzwischen für eine Schnapsidee, überhaupt aufgestanden zu sein, und bereute meinen Entschluss. Aber da ich jetzt schon einmal so weit gekommen war, wollte ich mich mit eigenen Augen überzeugen, dass alles in Ordnung war. Das Gähnen trieb mir Tränen in die Augen, die meine Sicht trübten. Ich erkannte verschwommen, dass das Schiebefenster geschlossen war, und ging weiter, um die diensthabende Schwester oder den diensthabenden Pfleger sehen zu können.

Doch als ich endlich in den Raum hineinsehen konnte und sich mein verschwommener Blick geklärt hatte, blieb ich augenblicklich stehen und riss vor Überraschung die Augen auf. Denn ich sah im Schwesternzimmer nicht nur eine einzelne Person, womit ich gerechnet hatte, sondern gleich drei Leute, was um diese Uhrzeit äußerst ungewöhnlich war.

Noch befremdlicher war allerdings, dass zwei der Anwesenden nicht nur wie für ein nächtliches Kommandounternehmen gekleidet, sondern auch bewaffnet waren und dass ich diese beiden Männer kannte, auch wenn ich sie in denkbar schlechter Erinnerung hatte.

Die beiden Männer, die sich vor zwei Tagen als Kriminalbeamten und mit den vermutlich falschen Namen Gehrmann und Klapp vorgestellt hatten, trugen eng anliegende und funktionelle schwarze Kleidung und dazu klobige Fallschirmspringerstiefel der gleichen Farbe. Ihre Gesichter waren von dunklen, rußig wirkenden Streifen überzogen, die zweifellos zur Tarnung oder Unkenntlichmachung ihrer Gesichtszüge dienen sollten. Dennoch hatte ich sie augenblicklich und ohne Probleme erkannt, denn ihre Gesichter – insbesondere das von Klapp – hatten sich förmlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Jeder von ihnen hielt eine große Automatikpistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer in der Hand und bedrohte damit, als wäre für diesen Zweck nicht schon eine einzige der klobigen Schusswaffen ausreichend genug gewesen, die Nachtschwester.

Ich kannte die junge, ganz in Weiß gekleidete Frau nicht, die in dieser Nacht Dienst hatte. Allerdings war ich noch nicht lange genug im Sanatorium und einen Großteil dieser Zeit ohnehin unterwegs gewesen, um schon alle Angehörigen des Personals persönlich kennengelernt zu haben. Die Frau war hübsch, hatte langes schwarzes Haar, einen dunkleren Teint und schien ursprünglich von den Philippinen oder zumindest aus dieser Ecke der Welt zu stammen. Sie kauerte eingeschüchtert auf einem Bürostuhl und stand in diesem Augenblick ersichtlich Todesängste aus. Ihr ganzer Körper zitterte unkontrolliert. Auch ihre Gesichtsmuskeln zuckten ständig, während ihr der Schweiß in glänzenden Bahnen herunterlief. Aus unnatürlich geweiteten, dunkelbraunen Augen, und scheinbar ohne dabei ein einziges Mal zu blinzeln, schielte sie in die dunkle Mündung der schallgedämpften Waffe, die ihr Gehrmann in einem Abstand von weniger als zwei Zentimetern in Höhe ihrer Nasenwurzel vors Gesicht hielt.

Ich konnte sehr gut nachempfinden, wie sie sich in diesem Moment fühlen musste, hatte ich doch erst vorgestern exakt die gleiche Situation am eigenen Leib erfahren müssen.

Die junge Krankenschwester war unzweifelhaft die Urheberin der beiden Schreie gewesen, die mich zunächst geweckt und dann so tief beunruhigt hatten, dass ich mich auf den Weg hierher gemacht hatte. Nicht ohne Grund, wie ich nun zu meinem Bedauern feststellen musste. Gehrmann und Klapp mussten jeden der beiden Schreie rasch wieder erstickt haben, um niemanden auf der Station zu wecken. Allerdings hatte das in meinem Fall nicht funktioniert, weil ich möglicherweise wegen meines Albtraums ohnehin nicht sehr tief geschlafen hatte. Und ausgerechnet das Abwürgen des zweiten Aufschreis hatte mich am meisten beunruhigt.

Der Umstand, dass die junge Frau noch ein zweites Mal geschrien hatte, bewies mir zumindest, dass sie sich nicht so einfach geschlagen gegeben und mutig versucht hatte, andere auf die Bedrohung aufmerksam zu machen oder zu warnen. Allerdings gab es auf einer Station für psychisch Erkrankte mitten in der Nacht vermutlich nicht allzu viele Menschen, die ihr in einer derartigen Situation eine große Hilfe gewesen wären. Auch ich fühlte mich hilflos und außerstande, ihr zu helfen, schließlich hatten wir es mit zwei bewaffneten und sicherlich zu allem entschlossenen Männern zu tun. Was konnte ich, allein und unbewaffnet, schon dagegen ausrichten, außer auf der Stelle davonzurennen und zu versuchen, so schnell wie möglich jemanden zu benachrichtigen.

Die Zeit war seit dem Moment, als ich die gefährliche Lage im Schwesternzimmer erkannt hatte, in meiner subjektiven Wahrnehmung so zähflüssig und langsam verstrichen, als wäre sie in Bernstein gegossen worden. Nur dieser Umstand hatte es mir überhaupt erlaubt, all den in Sekundenbruchteilen in meinem Verstand aufblitzenden Gedankengängen nachzugehen. Nun hatte ich das irrationale Gefühl, aus einer anderen Zeitebene in den normalen Zeitablauf zurückzukehren, als ich plötzlich wieder die leisen Geräusche meiner nächtlichen Umgebung bewusst wahrnahm und in diesem Moment Gehrmanns gedämpfte Stimme hörte – wenn er denn tatsächlich so hieß.

»Ich frag dich jetzt zum letzten Mal: Wie lautet ihre Zimmernummer?«

Die kalte Stimme des Mannes weckte in mir unangenehme Erinnerungen an seinen hasserfüllten Blick, den ich nun, im Nachhinein, natürlich leichter zu deuten wusste.

Die Schwester bewies erneut mehr Mut, als ich ihrer zierlichen, zerbrechlich wirkenden Erscheinung zugetraut hätte, denn sie schüttelte trotz ihrer immensen Angst so heftig den Kopf, dass ihre langen schwarzen Haare herumgewirbelt wurden. Dabei ließ sie jedoch die Pistolenmündung vor ihrem Gesicht keine einzige Sekunde aus den Augen, als hätte sie Angst, den Moment zu verpassen, in dem das Projektil den Lauf verließ – als würde sie die Kugel tatsächlich sehen können, bevor diese ihren Schädel und ihr Gehirn durchschlug und ihre tödliche Wirkung entfaltete.

Die nur mühsam unterdrückte Wut war aus Gehrmanns nächsten Worten deutlich herauszuhören, auch wenn er sich noch immer beherrschen konnte und betont leise und deutlich sprach. Nur die Waffe in seiner Hand zitterte leicht und zeigte seine innere Erregtheit. »Ich verliere langsam die Geduld mit dir. Sag mir endlich, wo ich Sandra Dorn finde. Ich zähle bis drei, dann schieße ich ein Loch in deinen Kopf, so wahr mir Gott helfe. Ich tu es nicht gern, aber Ungehorsam gehört bestraft. Zwing mich also lieber nicht dazu. Aber ich werde es dennoch tun. Zur Not finden wir sie nämlich auch ohne deine Hilfe. … Eins!«

Hätte ich je auch nur den geringsten Zweifel daran gehabt, wen die beiden Männer an diesem Ort außerhalb der gewöhnlichen Besuchszeiten und ohne einen schönen Blumenstrauß, sondern stattdessen mit tödlichen Waffen in den Händen besuchen wollten, dann hätten Gehrmanns Worte dem spätestens in diesem Moment ein jähes Ende bereitet.

»Zwei!«

Die Krankenschwester schluchzte leise. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie stumm ein Gebet sprechen.

Auch ich konnte nur mühsam einen verräterischen Laut unterdrücken. Ich hob die Hand und presste sie gegen meinen Mund, um nicht laut schreien zu müssen, während ich fieberhaft überlegte, was ich tun konnte, um der tapferen jungen Frau zu helfen und das scheinbar Unabwendbare doch noch zu verhindern. Doch mein Gehirn, das ansonsten von allerlei nutzlosen Gedanken überquoll, war plötzlich wie leergefegt.

Die Schwester musste die Bewegung meines hochgerissenen Armes aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben, denn noch bevor Gehrmann in der Lage war, die letzte Ziffer auszusprechen und seine Drohung in die Tat umzusetzen, wandte sie den Blick von der todbringenden Mündung der Pistole ab und sah zu mir.

Durch die dünne Glasscheibe, die uns trennte, blickten wir uns in die Augen. Es war ein merkwürdig intensiver und gleichzeitig intimer Augenblick, als jede von uns in den Augen der jeweils anderen zu versinken schien, während uns zugleich entsetzlich bewusst war, dass es der definitiv letzte Augenblick im Leben der jungen Krankenschwester sein konnte, bevor die von Gehrmann abgefeuerte Kugel ihr Ziel fand.

Doch es war nur ein kurzer Moment, denn Gehrmann musste die veränderte Blickrichtung der Augen bemerkt und daraus geschlussfolgert haben, dass die Aufmerksamkeit der jungen Frau durch etwas hinter seinem Rücken von der todbringenden Waffe in seiner Hand abgelenkt worden sein musste. Vielleicht hatte ihm aber auch ein zusätzlicher Sinn, der den Menschen nur selten und auch nur dann, wenn man ihn am dringendsten brauchte, zugänglich ist, eingeflüstert, dass jemand hinter ihm im Gang vor dem Schwesterzimmer stand und Zeuge seines schändlichen Treibens wurde.

Der Mann, der sich als Kriminalhauptkommissar Klaus Gehrmann ausgegeben hatte, wandte in einer blitzschnellen Bewegung den Kopf in meine Richtung und sah mich an. Ich musste meinen Blick erst mühsam von dem der Nachtschwester lösen, bevor ich ihn auf den wesentlich älteren Mann richten konnte. Wahrscheinlich konnte ich ihn wesentlich besser sehen als er mich, denn er stand im hellen Licht des Schwesternzimmers, während der Gang durch die Notbeleuchtung und das durch die Trennscheibe fallende Licht nur mäßig erhellt wurde. Dennoch erkannte er mich augenscheinlich sofort wieder. Seine Augen weiteten sich vor Verblüffung, sogar noch mehr, als das bei der Schwester der Fall gewesen war, obwohl diese immerhin Todesängste ausgestanden hatte.

Lauf!, brüllte die Stimme meines Selbsterhaltungstriebes in meinem Kopf in einer ungeahnten Lautstärke, die den Befehl durch sämtliche Korridore meines Verstandes hallen ließ. Noch bevor meine Reflexe einsetzen und die entsprechenden Befehle meines trägen Gehirns durch mein verzweigtes Nervensystem zu den jeweiligen Muskeln in den für eine erfolgreiche Flucht erforderlichen Körperteilen gelangen konnten, war ich gezwungen mitanzusehen, wie Gehrmanns Hand, in der er die Waffe hielt, vom Gesicht der Krankenschwester weg- und zu mir herumschwenkte. Doch ich hatte nicht vor, abzuwarten und tatenlos zu beobachten, wie die tödliche Waffe die bogenförmige Bewegung vollendete, bis die Mündung schließlich direkt auf mich gerichtet war.

Schon allein die Panik, die mich bei dem Gedanken erfasste, erneut in den Lauf einer Schusswaffe zu blicken, sorgte dafür, dass mein Körper zusätzliche Mengen des Stresshormons Adrenalin ausschüttete. Es sorgte unter anderem dafür, dass blitzschnell zusätzliche Energiereserven mobilisiert wurden und sich die Herzleistung verbesserte. Dies ermöglichte es mir, mich gerade noch rechtzeitig zur Seite wegzuducken, bevor der Pistolenlauf seine Drehung beenden und die Waffe ihr tödliches Projektil in meine Richtung spucken konnte.

Die Kugel traf zuerst die Trennscheibe, die sich daraufhin in einem klirrenden Regen aus glänzenden Scherben in den Gang ergoss. Dann sirrte sie, vom Zusammenprall mit dem Glas nur geringfügig abgelenkt, haarscharf an meiner Schulter vorbei, durchbohrte die Luft an der Stelle, an der sich Sekundenbruchteile zuvor mein Oberkörper befunden hatte, und schlug am Ende ihrer Flugbahn hinter mir in die Wand, wo sie zweifellos einen ansehnlichen Krater hinterließ. Allerdings hatte ich weder Zeit noch große Lust, mich davon zu überzeugen, denn ich rannte bereits geduckt los, bevor Gehrmann Gelegenheit fand, erneut auf mich anzulegen und dieses Mal unter Umständen besser zu zielen.

Aufgrund des Umstands, dass ich auf dem Herweg sofort stehen geblieben war, sobald es mir möglich gewesen war, in das Schwesternzimmer hineinzusehen und die drei Personen zu erkennen, erforderte es nun nur wenige Schritte, den unmittelbaren Gefahrenbereich wieder zu verlassen.

Das charakteristische Geräusch, das ich mittlerweile zu fürchten gelernt hatte und sich in meinen Ohren wie das keuchende Husten eines Lungenkranken anhörte, ertönte erneut, als Gehrmann ein weiteres Mal schoss. Doch auch diese Kugel jagte hinter mir harmlos durch den Flur und teilte das Schicksal ihrer Vorgängerin, indem es sich in den Verputz der Wand bohrte.

»Los, sofort hinterher!«, schrie Gehrmann, offensichtlich frustriert durch die beiden Fehlschüsse. Ich ging logischerweise davon aus, dass er den Befehl nicht der Nachtschwester erteilt hatte, die dem Tod im letzten Moment von der Schippe gesprungen sein dürfte, sondern seinem jüngeren Kumpan oder Untergebenen Klapp, der vermutlich trainierter und schneller als Gehrmann war.

Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb. Wenn Klapp erst einmal aus dem Schwesternzimmer heraus und im Gang war, konnte er seelenruhig auf mich anlegen und mich abschießen wie auf dem Schießstand, denn der Gang war leer und bot mir keinerlei Deckung. Ich durfte also nicht länger einfach nur den Flur hinunterrennen, sondern musste schnellstmöglich ein geeignetes Versteck finden.

Da mir nichts anderes übrig blieb, lief ich, ohne lange darüber nachzudenken, auf die nächstgelegene Tür auf der rechten Seite des Flurs zu. Noch während ich mich gegen das Türblatt warf und gleichzeitig die Klinke nach unten riss, flehte ich alle himmlischen Schutzheiligen an, gefälligst dafür Sorge zu tragen, dass die Tür unverschlossen war.

»Danke!«, hauchte ich kaum hörbar, als die Tür dem Druck nachgab, und schlüpfte rasch in das Zimmer, sobald der Spalt groß genug dafür war. Dann schloss ich die Tür behutsam und bedächtig so weit, bis nur noch ein schmaler Spalt blieb, durch den ich nach draußen auf den Gang sehen konnte.

Der Blickwinkel war so günstig, dass ich von meinem gegenwärtigen Standpunkt sogar die Tür zum Schwesternzimmer sehen konnte. Noch immer schwer atmend wegen des kurzen Spurts hierher, spähte ich durch den Türspalt und sah in diesem Moment auch schon, wie Klapp mit schussbereiter Waffe auf den Flur stürmte und sich in meine Richtung wandte. Er war sich wohl relativ sicher gewesen, dass ich noch immer völlig kopflos wie ein aufgescheuchtes Huhn den Gang hinunterrannte und er mir nur noch in den Rücken schießen musste, denn er hob sofort den Arm und zielte in die Richtung, in die ich noch immer laufen würde, hätte ich nicht in diesem Zimmer Schutz gesucht. Doch bevor er in die leere Luft feuerte, registrierte er, dass dort, wo er mich vermutet hatte, niemand war, verhielt in seinem Lauf und ließ den Arm unentschlossen sinken. Ratlos stand er im Flur, ließ den Blick hin und her schweifen und fragte sich vermutlich, wohin ich verschwunden sein könnte. Die naheliegendste Lösung, dass ich hinter einer der Türen Zuflucht gesucht hatte, schien ihm zunächst aber nicht einzufallen. Vielleicht dachte er in seinem Wahn auch, ich hätte magische Kräfte und mich in Luft aufgelöst.

Dann trat, wesentlich langsamer als zuvor, sein Kollege Gehrmann aus dem Schwesternzimmer in den Flur. Ich konnte mir leicht ausrechnen, dass er sich erst um die Nachtschwester gekümmert hatte. Allerdings hoffte ich, dass er sie nicht umgebracht, sondern nur gefesselt oder schlimmstenfalls bewusstlos geschlagen hatte. Immerhin hatte ich keinen weiteren Schuss gehört, was meine diesbezügliche Hoffnung in meinen Augen berechtigter erscheinen ließ.

Gehrmann war allem Anschein nach nicht umsonst der Anführer dieses ungleichen Duos, denn er schien wesentlich erfahrener und klüger als sein junger Begleiter zu sein. Bereits nach einem einzigen raschen Blick in die Runde musste ihm bewusst geworden sein, was es mit meinem spurlosen Verschwinden auf sich hatte. Ich hatte zwar im Stillen gehofft, die beiden würden die Aktion abblasen, nachdem ich nun gewarnt war und sie mich nicht so leicht erwischen würden, wie sie sich das unter Umständen insgeheim ausgerechnet hatten, doch erneut wurde ich enttäuscht.

»Sie muss in einem der Zimmer sein!«, sagte Gehrmann und wies zur Verdeutlichung seiner Worte mit der Pistole auf diverse Zimmertüren. »Du bewachst den Flur, während ich die Zimmer durchsuche. Hinter einer dieser Türen muss sie stecken. Und dort sitzt sie jetzt in der Falle und kann uns nicht mehr entkommen.«

 

Kapitel 2

 

Mein Herz klopfte rasend schnell und überlaut in meiner Brust. Seine Schläge dröhnten in meinen eigenen Ohren wie die einer riesigen Kirchturmglocke. Das war aber vermutlich nicht mehr die Folge des vorherigen Adrenalinschubs, denn das Stresshormon wurde sehr rasch wieder abgebaut, sondern hatte seinen Ursprung eher in meiner Angst aufgrund Gehrmanns Ankündigung, alle Zimmer zu durchsuchen, während Klapp im Flur ausharren sollte. Als ich Gehrmanns eiskalten, aber entschlossenen Gesichtsausdruck gesehen hatte, war mir sofort klargeworden, dass er nicht einfach aufgeben, sondern sämtliche Zimmer nach mir absuchen würde. Allerdings hatte ich gehofft, die beiden Männer würden sich diese Aufgabe teilen, damit sie schneller fertig wurden. Das hätte mir dann wiederum Gelegenheit gegeben, mein Versteck zu verlassen und den Gang hinunterzulaufen, bevor die Männer aus den Zimmern, die sie durchsuchten, wieder herauskamen. Doch wenn Klapp auf dem Gang stehen blieb, war mir diese Möglichkeit verwehrt. Ich musste in diesem Zimmer ausharren, ob ich wollte oder nicht. Daher war es nur eine Frage der Zeit, bis Gehrmann mich aufstöbern würde.

Ich beobachtete, wie Gehrmann aus meinem Blickfeld verschwand, und hörte unmittelbar darauf, dass eine der Türen zu den Patientenräumen leise geöffnet wurde. Gehrmann hatte also mit der Durchsuchung begonnen. Klapp bewachte währenddessen wie angewiesen den Flur. Er gähnte einmal unterdrückt und hielt dabei die Hand vor den Mund. Langsam drehte er sich, auf der Stelle tretend, im Kreis. Wahrscheinlich wollte er seine Aufgabe besonders sorgfältig erledigen und den ganzen Flur im Auge behalten, übersah dabei aber, dass ich in dem Teil des Gangs, auf den er gerade seine ganze Aufmerksamkeit richtete, gar nicht sein konnte. Na ja, schließlich war niemand von uns perfekt, auch wenn bei Klapp noch viel mehr im Argen zu liegen schien.

Obwohl mir Klapp in diesem Moment den Rücken zukehrte, ahnte ich, dass mir nicht genügend Zeit bleiben würde, auf den Gang hinauszuhuschen und ein anderes Versteck zu suchen, bevor er sich wieder in meine Richtung gedreht hatte. Ich nutzte die günstige Gelegenheit allerdings dazu, die Tür möglichst geräuschlos ganz zu schließen, da sonst die Gefahr bestand, dass einer der Männer früher oder später auf den schmalen Spalt aufmerksam und misstrauisch wurde. In dem Fall hätte ich genauso gut ein Schild an der Tür befestigen können, auf dem in großen Buchstaben »Hier bin ich!« stand.

Obwohl der schwache Lichtschein aus dem Flur, der durch den schmalen Spalt ins Zimmer gelangt war, nach dem Schließen der Tür fehlte, war es zum Glück dennoch nicht völlig dunkel. Die dicken Vorhänge waren zwar geschlossen, sodass kein Mondlicht durchs Fenster hereinfiel, aber ein mattes Leuchten, das von einem kleinen Nachtlicht auf der anderen Seite des Bettes direkt neben dem Notruf für die Schwestern stammte, ließ mich wenigstens vage Umrisse erkennen, als ich mich vorsichtig und langsam tiefer in das Zimmer hineinbewegte.

Erst jetzt, als würde sich mein Verstand aufgrund des dämmrigen Lichts verstärkt auf das Gehör und nicht mehr so sehr auf die Augen konzentrieren, bemerkte ich das nicht sehr laute, aber regelmäßige Schnarchen. Das Bett, aus dem die auf Dauer wahrscheinlich nervtötenden Geräusche kamen, befand sich nur wenige Schritte vor mir. Ich konnte darauf eine dunkle, langgezogene Erhebung ausmachen, bei der es sich um den Bewohner des Zimmers handeln musste, der unter der Decke lag und allem Anschein nach noch immer tief und fest schlief.

Als ich näher heranschlich, schälten sich weitere Umrisse aus dem Dunkel. Ich sah einen Nachttisch, einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen und einen Schrank auf der dem Bett gegenüberliegenden Seite des Raumes. Im Großen und Ganzen entsprach die Ausstattung somit der in meinem Zimmer. Was ich allerdings nicht entdecken konnte, war eine zweite Tür, die in eine kleine, angrenzende Toilette führte. Anscheinend waren nicht alle Zimmer mit einem eigenen WC ausgestattet, und manche Insassen mussten wohl auf die Gemeinschaftstoilette gehen, wenn sie ein dringendes Bedürfnis verspürten.

Ich hätte am liebsten laut geschimpft, um meiner Enttäuschung Luft zu machen, als meine Pläne erneut von widrigen Umständen durchkreuzt wurden. Denn eigentlich hatte ich vorgehabt, mich auf der Toilette hinter der Tür zu verstecken und Gehrmann, sollte er auch nur den Kopf hineinstrecken, mit einem geeigneten Gegenstand eins überzubraten. Das konnte ich mir jetzt natürlich abschminken. Nun hieß es, ein anderes geeignetes Versteck zu finden. Die Auswahl war allerdings nicht besonders groß, und die Chance, dass Gehrmann mich dennoch nicht entdeckte, eher gering. Andererseits wollte ich mich den Männern, die mich umbringen wollten, auch nicht wie auf dem Präsentierteller darbieten. Vielleicht nahm sich Gehrmann gar nicht so viel Zeit bei seiner Suche und konnte, um nicht alle Insassen aufzuwecken, auch nicht in jedem Winkel nachsehen, sodass er mich unter Umständen übersah. Und genau darauf setzte ich alle Hoffnungen, die ich noch hatte, denn etwas anderes blieb mir im Augenblick nicht übrig.

Da ich weder in den Schrank noch unter das Bett kriechen wollte und auch nicht das Bedürfnis hatte, mich neben den unbekannten Schläfer ins Bett zu legen, um meinen Verfolger auf diese Weise in die Irre zu führen, entschied ich mich für die einzige Möglichkeit, die übrigblieb. Ich beschloss, mich in den etwa zwanzig Zentimeter breiten Spalt zu zwängen, der sich zwischen der von der Tür abgewandten Seite des Schranks und der dahinterliegenden Wand befand, und zu hoffen, dass Gehrmann mich dort nicht entdeckte.

Doch vorher nahm ich mir noch die Zeit, auf Zehenspitzen lautlos um das Bett herumzugehen und das Nachtlicht aus der Steckdose zu ziehen. Sofort wurde es stockfinster im Zimmer. Ich konnte nichts mehr sehen. Nur noch das regelmäßige Schnarchen war zu hören und half mir zumindest, mich akustisch zu orientieren.

Ich wusste nicht, wer dieses Zimmer bewohnte und in dem Bett lag. Außer van Helsing kannte ich bislang ohnehin nur wenige der anderen Insassen, diese auch nur vom Sehen, und hatte nicht die geringste Ahnung, wer in welchem Raum der Station untergebracht war. Allerdings war das auch nicht von Belang. Solange die unbekannte Person weiterschlief und nicht plötzlich aufwachte und das Licht anmachte, war ich verhältnismäßig sicher.

Da ich mir, bevor ich das Nachtlicht entfernt hatte, meine Umgebung eingeprägt hatte, bereitete es mir nun keine Schwierigkeiten, mich bis zu dem von mir ins Auge gefassten Versteck vorzutasten. Ich hatte Glück und stieß auch nicht gegen irgendwelche Hindernisse, die mir aufgrund der unzulänglichen Beleuchtung verborgen geblieben waren.

Ich schob mich tief in die Lücke zwischen Schrank und Wand und wartete dann ab. Da sich meine Atmung wieder normalisiert hatte, bereitete es mir keine Mühe, flach und geräuschlos durch den geöffneten Mund zu atmen. Und falls ich doch versehentlich ein Geräusch verursachte, würde es vom Schnarchen des Schläfers übertönt werden.

Ich erschrak, als das schnarchende Geräusch plötzlich abbrach und die Person im Bett sich raschelnd bewegte. Doch anscheinend hatte sie im Schlaf nur eine andere Position eingenommen, denn unmittelbar danach lag der Schläfer wieder still und begann auch sogleich wieder damit, lautstark imaginäre Bäume umzusägen.

Allerdings blieb mir nicht viel Zeit, mich wieder zu beruhigen, denn nur wenige Augenblicke später begann mein Herz erneut schneller zu schlagen, als auf dem Gang vor der Tür Schritte ertönten, rasch lauter wurden und unmittelbar vor der Tür verstummten. Ich hielt den Atem an. Zunächst herrschte – bis auf die Geräusche des Schnarchers – wieder Stille, und ich dachte schon, ich hätte mich getäuscht und mir die Schritte nur eingebildet. Doch im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet.

Die Tür schwang nach innen, bis sie mit dem Türgriff beinahe gegen die Wand stieß, und ließ das matte Licht der Gangbeleuchtung hereinfallen, die ein verzerrtes, schiefes Viereck auf den Boden malte, das nicht ganz bis zum Bett reichte. Inmitten dieses hellen Rechtecks ragte tiefschwarz und bedrohlich der Schatten einer schlanken Gestalt in den Raum.

Ich hatte um die Ecke des Schranks gespäht und alles beobachtet. Doch nun beschloss ich, dass ich mehr als genug gesehen hatte, und zog den Kopf vorsichtig zurück, damit Gehrmann mich nicht sehen konnte. Vielleicht gab er sich mit einem Blick von der Tür ins Zimmer zufrieden und ging anschließend weiter. Doch da der Einsatz mein Leben war, verzichtete ich darauf, zu wetten, dass die Sache so leicht werden würde.

Ich konnte zwar nicht mehr zur Tür sehen, wo Gehrmann schweigend und bedrohlich in der hellen Öffnung stand, doch ich sah von meinem Versteck aus das Bett und seinen Schatten auf dem Boden. Sosehr ich mir auch wünschte, er möge sofort wieder verschwinden und die Tür hinter sich schließen, erfüllte sich dieser Wunsch jedoch nicht.

Gehrmann harrte mehrere Sekunden lang regungslos auf der Schwelle aus. Womöglich, um sich einen Überblick zu verschaffen, auf verdächtige Geräusche zu lauschen oder auch nur aus Vorsicht, damit er nicht aus der Dunkelheit heraus angefallen werden konnte. Dann betrat er das Zimmer. Beinahe lautlos kam er herein und ging geradewegs auf das Bett zu, aus dem unverändert die lauten Schnarchgeräusche kamen.

Als er das Bett erreichte, konnte ich deutlich die Umrisse der Pistole in seiner Hand erkennen. Er hielt sie allerdings so, dass die Mündung mit dem aufgesetzten Schalldämpfer nach oben zur Zimmerdecke zielte.

Mein Pulsschlag und das Geräusch meiner flachen Atmung dröhnten mir plötzlich wieder überlaut in den Ohren. Ich befürchtete, dass Gehrmann, der nur wenige Meter von mir entfernt stand, beides deutlich hören könnte. Am liebsten wäre ich mit der Wand in meinem Rücken verschmolzen, um mich dadurch vollständig unsichtbar zu machen. Ich presste mich unwillkürlich noch fester dagegen, doch das harte Material gab natürlich kein bisschen nach.

Doch Gehrmann konnte weder mein Herz, das in meiner Brust wummerte wie ein alter Dieselmotor, noch meine nahezu lautlosen Atemzüge hören. Und selbst wenn sie tatsächlich so laut gewesen wären, wie ich in meiner Panik befürchtete, wären sie aufgrund der Geräusche, die der Schläfer verursachte, dennoch nicht zu hören gewesen.

Aus der Dunkelheit meines Verstecks heraus beobachtete ich, wie Gehrmann sich über die schlafende Gestalt im Bett beugte, um deren Gesicht ansehen zu können, das von ihm abgewandt war. Möglicherweise dachte er, ich hätte mich einfach ins Bett gelegt, würde mich nun schlafend stellen und den dazu passenden Soundtrack produzieren. Aber was hätte ich in diesem Fall mit dem ursprünglichen Bewohner des Zimmers anstellen sollen. Hätte ich ihn einfach in meine Hosentasche stecken sollen?

Doch da fiel mir wieder ein, dass Gehrmann aufgrund des mutigen Widerstands der Nachtschwester gar nicht wusste, welches Zimmer ich bewohnte. Er musste daher bei jedem Zimmer, das er kontrollierte, davon ausgehen, dass es mir gehörte, und deshalb jede schlafende Person in jedem einzelnen Bett überprüfen. Eine derartige Vorgehensweise kostete natürlich jede Menge Zeit. Viele andere wären deshalb möglicherweise schneller und damit auch weniger sorgfältig vorgegangen. Allerdings gehörte Gehrmann nicht zu diesem Menschenschlag. Er war – diesen Eindruck hatte ich bereits bei der Besprechung mit ihm im Beisein von Dr. Jantzen und Gabriel gewonnen – penibel bis ins Mark und nahm alles peinlichst genau. Halbe Sachen gab es für ihn vermutlich nicht, und deshalb war es für seinen Kollegen Klapp wahrscheinlich auch nicht leicht, den älteren Mann halbwegs zufriedenzustellen, weshalb ich den Übereifer und die übertriebene Sorgfalt, die Klapp zeitweise an den Tag legte, nun ein wenig besser verstand.

Und weil Gehrmann eine Sache lieber zweimal kontrollierte und nicht zur Schlamperei neigte, überprüfte er auch in diesem Moment besonders gewissenhaft, ob es sich bei dem Schläfer im Bett nicht doch vielleicht um mich handelte. Dazu beugte er sich so weit nach vorn, dass ich schon befürchtete, er könnte das Gleichgewicht verlieren und vornüber aufs Bett kippen, und betrachtete aufmerksam das im Schatten liegende Gesicht der schlafenden Gestalt. Als er – möglicherweise aufgrund der Farbe oder Länge des Haars, der Form oder Farbe des Gesichts oder anderer leicht erkennbarer Merkmale – zu seiner Zufriedenheit festgestellt haben musste, dass der Schläfer nicht die Person war, die er suchte, begann er wieder damit, sich möglichst behutsam aufzurichten, ohne die Person im Bett dabei zu wecken.

Doch bevor er die Bewegung beenden und sich vollständig aufrichten konnte, ertönte urplötzlich ein ohrenbetäubender, gellender Schrei, der auch mich in meinem Versteck vor Schreck so stark zusammenzucken ließ, dass ich mit einem Knie und der Stirn gegen die Seitenwand des Schranks vor mir und mit einem Ellbogen und dem Hintern gegen die Wand hinter mir krachte. Die lauten Geräusche, die ich dadurch zwangsläufig verursachte, gingen aber in dem Krach unter, der im Bereich des Bettes laut wurde.

Ohne mich um die Schmerzen in den diversen angeschlagenen Körperteilen zu kümmern, verfolgte ich gebannt die dramatischen Ereignisse, die dem vollkommen überraschend erfolgten Aufschrei auf dem Fuße folgten und in denen Gehrmann eine tragende, gleichzeitig aber auch tragische Rolle zukommen sollte.

Den ohrenbetäubenden Schrei, der sowohl Gehrmann als auch mich überrascht und erschreckt hatte, hatte niemand anderes ausgestoßen als der dritte Anwesende im Zimmer, den Gehrmann und ich tief schlafend gewähnt hatten. Noch bevor der Schrei vollends verklungen war, schnellte der Oberkörper der bislang reglosen Gestalt, wie von einer straff gespannten Feder angetrieben, im Bett senkrecht nach oben. Gleichzeitig drehte sich die Person, die auf der Seite gelegen hatte, bis sie innerhalb eines halben Augenblicks aufrecht im Bett saß. Der rechte Arm des Unbekannten fuhr herum und beschrieb einen perfekten Halbkreis, dessen Endpunkt sich in Höhe von Gehrmanns linker Brustseite befand. Gehrmann stand wie erstarrt und noch immer nicht vollständig aufgerichtet neben dem Bett und starrte wahrscheinlich ebenso verblüfft wie ich auf die Gestalt im Bett, die wie ein rasender Kastenteufel so jäh zum Leben erwacht war.

Ich nahm an, der Schläfer wäre durch Gehrmann im Schlaf gestört worden und lediglich hochgeschreckt. Seine Reaktionen – der Schrei, das Aufrichten und die abrupte Armbewegung – hielt ich für einen panischen Reflex, mit dem der Sanatoriuminsasse auf die dunkle, bedrohliche Gestalt reagierte, die so überraschend mitten in der Nacht neben seinem Bett aufgetaucht war. Doch ich täuschte mich gewaltig. Erst als ich den Gegenstand, den die Person im Bett in der rechten Hand hielt und in Richtung von Gehrmanns Oberkörper schwang, deutlicher sehen konnte und erkannte, um was es sich dabei handelte, wurde mir mein Irrtum bewusst.

»Fahr zur Hölle, Kreatur der Verdammnis!«, schrie van Helsing und rammte Gehrmann den angespitzten Holzpfahl in die Brust, bevor dieser auch nur in der Lage war, den Angriff abzuwehren oder ihm zu entgehen.

Ich stellte mir unwillkürlich die Frage – auch wenn der Moment alles andere als passend für derartige Überlegungen war –, ob es sich um denselben Pflock handelte, an dem der selbst ernannte Vampirjäger vor wenigen Stunden in der geheimen Bibliothek so ausdauernd und kunstvoll herumgeschnitzt hatte.

Gehrmann ächzte vor Schmerz. Ein geisterhaft wirkender Laut, der wie ein leichter Windhauch aus seinem weit aufgerissenen Mund drang und kaum hörbar war. Er senkte die Hand mit der Schusswaffe, um eine Kugel auf seinen Peiniger abzufeuern. Doch van Helsing verstärkte den Druck auf den Pfahl, der im Brustkorb des anderen Mannes steckte, und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Mit einem ekelerregenden, nassen Geräusch, das sich anhörte, als würde jemand seinen Fuß aus dickflüssigem, klebrigem Morast ziehen, drang die Spitze des Holzpflocks noch tiefer in Gehrmanns Körper.

Die Pfahlspitze musste schließlich das Herz des Mannes durchstoßen haben, denn jäh erzitterte Gehrmanns Körper von Kopf bis Fuß wie unter einem Stromstoß. Die Finger der rechten Hand öffneten sich, bevor er die Pistole abfeuern konnte, und die Waffe fiel zu Boden, wo sie mit einem lauten Poltern landete.

Erneut drang ein gespenstischer Laut aus dem Mund des tödlich getroffenen Mannes, der mich unwillkürlich an das nächtliche Stöhnen auf einem verlassenen Friedhof denken ließ und mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Ich war in diesem Augenblick fest davon überzeugt, dass mich dieser Laut noch jahrelang in meinen Träumen verfolgen würde.

Dann erstarb das Zittern so rasch, wie es entstanden war, als scheinbar von einer Sekunde zur nächsten alles Leben aus Gehrmanns Körper entfloh. Starr und in aufrechter Haltung kippte Gehrmann wie ein gefällter Baum nach hinten und landete hart auf dem Boden. Er blieb auf dem Rücken liegen und zuckte ein letztes Mal spasmisch.

Im schwachen Licht, das aus dem Gang ins Zimmer fiel, nur undeutlich erkennbar, sah ich, dass ein dünner Blutfaden aus seinem Mundwinkel lief und an seiner Wange nach unten rann. Seine Augen hatte er vor Entsetzen und Agonie weit aufgerissen, doch sie starrten nur blick- und ausdruckslos zur Decke.

Trotz des Schocks, den mir das soeben Erlebte und vor allem die Rasanz und Unaufhaltsamkeit der Geschehnisse versetzt hatten, erholte ich mich erstaunlich schnell wieder. Wahrscheinlich hatte ich in letzter Zeit einfach zu viele schreckliche Dinge erlebt, sodass inzwischen ein Gewöhnungseffekt eingetreten war. Ich quetschte mich aus meinem Versteck und rannte am Bett vorbei, in dem van Helsing noch immer aufrecht saß und, mit sich und der Welt anscheinend vollkommen zufrieden und im Einklang, lächelnd auf sein blutiges Werk herabblickte.

Neben Gehrmanns gefälltem Körper ging ich in die Hocke. Ich brauchte mir gar nicht erst die Mühe zu machen, nach seiner Halsschlagader zu tasten und seinen Puls zu fühlen. Es reichte ein Blick in seine starren, vollkommen leblosen Augen, um sofort zu erkennen, dass der Mann tot war und nichts und niemand in der Lage sein würde, ihn zu retten. Wie der abgesägte Schaft einer monströsen Lanze ragte der hölzerne Pfahl aus seiner linken Brustseite. Van Helsings Hieb war so kraftvoll gewesen, dass fast die Hälfte des Holzpflocks in Gehrmanns Körper eingedrungen war. Im schwachen Lichtschein konnte ich große Mengen Blut sehen, die aus der Wunde geflossen waren, als sein Herz noch geschlagen hatte, und die schwarze Kleidung um die grässliche Wunde herum noch dunkler erscheinen ließ.

Ich erinnerte mich daran, dass die gefährliche Situation noch längst nicht ausgestanden war, denn im Gang stand ein weiterer Mann mit einer geladenen, schussbereiten Waffe. Und wenn er den Lärm aus diesem Zimmer gehört hatte – und davon musste ich ausgehen –, dann war er sicherlich schon längst hierher unterwegs, um nach seinem Kollegen zu sehen.

Ich durfte also nicht länger herumtrödeln und kostbare Zeit verlieren. Also riss ich mich von dem Anblick des toten Mannes los, dessen Ableben in meinen Augen ohnehin nicht völlig unverdient erfolgt war – wer Gewalt sät usw. –, auch wenn die Brutalität und Vehemenz, mit denen es eingetreten war, mich dennoch schockiert hatten. Rasch griff ich nach Gehrmanns Pistole, die neben dem Bett am Boden lag und matt glänzte.

»Bleib lieber, wo du bist, van Helsing!«, raunte ich und richtete mich gleichzeitig auf. »Draußen ist nämlich noch einer von denen.«

 

Kapitel 3

 

Während ich auf leisen Sohlen zur Tür huschte, konnte ich hören, dass auf der Station inzwischen auch andere Stimmen und Geräusche laut wurden. Der für diese Uhrzeit ungewohnte Lärm, angefangen bei den abgewürgten Schreien der Nachtschwester über das Splittern der zerschossenen Trennscheibe bis hin zu van Helsings gellendem Schrei, der dem Ganzen die Krone aufgesetzt und vermutlich auch den letzten Erwachenden davon überzeugt hatte, dass in der heutigen Nacht auf der Station etwas nicht in Ordnung war, war natürlich nicht ungehört geblieben. Zahlreiche Insassen in der unmittelbaren Umgebung mussten mittlerweile geweckt worden sein und rührten sich nun. Und allmählich, wie ein Waldbrand, breitete sich die Unruhe aus und zog weitere Kreise.

Die Bewohner des Sanatoriums, die psychisch ohnehin in den allerwenigsten Fällen ausreichend gefestigt und durch den ungewohnten nächtlichen Lärm nun auch noch aus dem Schlaf geschreckt worden waren, reagierten verständlicherweise panisch auf die Durchbrechung ihrer gewohnten Routine, die für viele von ihnen für eine erfolgreiche Behandlung ihrer Krankheiten von entscheidender Bedeutung war.

Stampfendes Getrampel war zu hören, als jemand panisch umherlief. Laute Schreie in unterschiedlichen Lautstärken und Tonhöhen erklangen aus allen Richtungen, teils langgezogen wie schrille Sirenen, teils abgehackt und in rhythmischer Folge. Außerdem wurden ringsum auch hysterische Rufe, Gejammer und fragende Stimmen lauter.

Als ich die Türöffnung erreichte, herrschte auf der ganzen Station bereits ein höherer Lärmpegel, als es tagsüber der Fall war. Wenn man die Augen schloss, konnte man das Gefühl haben, sich inmitten eines erwachenden Zoos oder im tropischen Regenwald zu befinden angesichts der Kakophonie und Vielfältigkeit der Geräusche, die oftmals eher an die Laute von Tieren als an von Menschen verursachte Töne erinnerten. Die Station war also mittlerweile akustisch im wahrsten Sinne des Wortes das reinste Tollhaus.

Ich musste mir nicht mehr besonders viel Mühe geben, mich lautlos oder zumindest möglichst leise zu verhalten, da jedes Geräusch, das ich verursachte, ohnehin in der sich weiterhin steigernden und um sich greifenden Unruhe unterging. Vor der Tür ging ich erneut in die Hocke und spähte um den Türstock herum nach draußen in den Flur.

Klapp war selbstverständlich auf den Lärm aus diesem Zimmer aufmerksam geworden. Vermutlich war er anfangs noch etwas irritiert gewesen, was der Schrei zu bedeuten hatte, und hatte erst noch eine kleine Weile abgewartet, ob sein Kollege wieder heraus in den Gang kam oder nach ihm rief. Als das allerdings nicht geschehen war, musste er selbstständig eine Entscheidung getroffen und sich in Marsch gesetzt haben, um nach dem Rechten zu sehen. Deshalb marschierte Klapp nun mit schussbereit vor sich gehaltener Waffe direkt auf diesen Eingang und damit auf mich zu. Allerdings hatte er mich noch nicht entdeckt, da ihn der lauter werdende Lärm um ihn herum erschreckte und seine weit aufgerissenen Augen hektisch in alle Richtungen zuckten, als hätte er Angst, jeden Moment von einer Meute Wahnsinniger hinterrücks angefallen zu werden.

Ich sah, dass sich bereits einige Türen geöffnet hatten und vereinzelt Patienten mehr oder weniger zögerlich auf den Flur traten, um nachzusehen, was los war. Dann zog ich jedoch lieber den Kopf zurück, bevor ich von Klapp gesehen werden konnte.

Ich überlegte fieberhaft, was ich tun sollte. Ich hielt zwar ebenfalls eine Schusswaffe in der Hand, was mich meinem Gegner zumindest hinsichtlich der Bewaffnung ebenbürtig machte. Ich war mir jedoch keineswegs sicher, ob ich auch dieselbe Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit wie er besaß, um im entscheidenden Moment abzudrücken, sollte die Situation es erfordern. Am liebsten wäre es mir natürlich, wenn ich erst gar nicht in die Lage geriet, eine derartige Entscheidung treffen zu müssen. Aber so, wie es momentan aussah, würde es mir wohl nicht erspart bleiben, denn Klapp würde, wenn kein Wunder geschah, nur allzu bald im Türrahmen auftauchen.

Da nahm ich völlig überrascht wahr, dass eine flinke Gestalt an mir vorbeihuschte. Ich blickte rasch auf und erkannte van Helsing. Barfüßig rannte er durch die Tür, sodass seine nackten Sohlen auf den Boden klatschten, und stieß dabei ein derart infernalisches Heulen aus, dass es sogar den allgemeinen Geräuschpegel übertönte. Er trug lediglich einen hellblauen Schlafanzug, der mit unzähligen Comic-Fledermäusen in verschiedenen Größen bedruckt war, und schwenkte in einer Hand einen Pflock und in der anderen ein großes hölzernes Kreuz. Da ich an dem Pfahl kein Blut entdecken konnte, ging ich davon aus, dass der Pflock, der Gehrmann getötet hatte, noch immer in dessen Körper steckte. Allem Anschein nach bewahrte van Helsing eine ganze Sammlung dieser Mordinstrumente in seinem Zimmer auf.

Ich hob noch die Hand, um ihn zurückzuhalten, doch er war zu überraschend und schnell an mir vorbeigehuscht, als dass ich wirklich eine Chance gehabt hätte, ihn zu erwischen. So blieb mir nur, tatenlos mitanzusehen, wie van Helsing mit erhobenen Armen auf Klapp zurannte, dabei mit der Linken das Kreuz vor sich hielt, um das Böse in Gestalt des bewaffneten jungen Mannes in Schach zu halten, und die Rechte mit dem Pflock stoßbereit erhoben hatte.

»Dein dunkler Meister hat durch meine Hand bereits sein untotes Leben ausgehaucht, elender Blutsauger. Und auch du entgehst deiner gerechten Strafe nicht!«, rief van Helsing gestelzt und theatralisch, nachdem er sein Heulen beendet hatte, und begann unmittelbar im Anschluss, laut das Vaterunser zu beten.

Klapp blieb abrupt stehen, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis gerannt, und sah dem auf ihn zustürzenden Wahnsinnigen entgeistert entgegen. Er schien total verwirrt und von der Situation restlos überfordert zu sein. Wahrscheinlich war in ihren Planungen dieses nächtlichen Kommandounternehmens Widerstand durch die Bewohner des Sanatoriums nicht in Betracht gezogen worden. Er hatte daher auch keine Ahnung, wie er auf diese neue Entwicklung reagieren sollte.

Doch da erinnerte sich der junge Attentäter wieder an die Schusswaffe in seiner Hand, denn er richtete sie kurzerhand auf den heranstürmenden van Helsing. Er konnte nun jederzeit schießen und den Angreifer durch einen gezielten Schuss niederstrecken, bevor van Helsing auch nur in seine Nähe kam und ihm gefährlich werden konnte..

Ich hob die Pistole, die ich gewissermaßen von Gehrmann »geerbt« hatte, und zielte damit am Türstock vorbei auf Klapp. Ich wollte auf ihn schießen, bevor er seinerseits Gelegenheit hatte, auf van Helsing zu feuern.

Doch auch hier und jetzt zeigte Klapp, wie schon zu Beginn des missglückten Mordversuchs an mir, dass er im Grunde seines Herzens kein skrupelloser Mörder war. Im Gegensatz zu Gehrmann, dem ich jede Schandtat ohne Weiteres zugetraut hatte.

Klapp zögerte und war anscheinend nicht in der Lage abzudrücken, während die Waffe in seiner Hand unkontrolliert zu zittern anfing. Möglicherweise machte ihm der Umstand zu schaffen, dass es sich bei van Helsing nicht um die Zielperson dieser Nacht-und-Nebel-Aktion, sondern um einen Unbeteiligten handelte, der mit der ganzen Situation nichts zu schaffen hatte. Klapps Blick schien dabei jedoch weder auf den bedrohlichen Pflock in van Helsings Hand noch auf dessen entschlossene Miene gerichtet zu sein, sondern auf das Holzkreuz. Und dabei bewegte er die Lippen, als würde er im Einklang mit dem selbst ernannten Vampirjäger lautlos beten.

Die Lage wurde für Klapp allerdings mit jedem Augenblick kritischer und bedrohlicher. Denn ganz abgesehen von dem für seine Begriffe offensichtlich vollkommen Durchgeknallten, der mit einem Holzpfahl in der Hand auf ihn zustürmte und ihn damit pfählen wollte, kamen mittlerweile weitere Insassen dieser Station aus ihren Zimmern in den Flur, sahen sich verwirrt und ängstlich nach der Quelle des nächtlichen Lärms um und fragten sich teils verängstigt, teils hysterisch, was dieses ungewohnte nächtliche Spektakel zu bedeuten hatte.

Klapp brach der Angstschweiß aus. Ich konnte deutlich eine Vielzahl von Schweißperlen auf seiner Stirn glitzern sehen, während ich ihn über den Lauf der Schusswaffe in meiner Hand hinweg immer noch anvisierte. Er sah sich hektisch nach allen Seiten um und versuchte, die immer undurchschaubarer werdende Situation im Blick und auch ohne die Unterstützung seines älteren und erfahreneren Kollegen Gehrmann weiterhin unter Kontrolle zu behalten.

Erneut bewegte Klapp die Lippen, sodass ich wieder den Eindruck gewann, er würde leise beten. Doch dieses Mal sprach er wesentlich lauter, sodass ich ihn trotz des hohen Lärmpegels bruchstückhaft verstehen konnte.

»… dringend Verstärkung … spurlos verschwunden … Irren angegriffen … sofort … weiß nicht … irgendwo … dieser Station … verstanden!«

Schließlich entdeckte ich, als ich genauer hinsah, ein kleines unscheinbares Gerät, das mit einem Bügel an seinem Ohr befestigt war und von dem ein schmaleres Teilstück an seiner Wange in Richtung Mund ragte. Ich begriff, dass es sich dabei um das Headset eines Funkgerätes handelte, eine Kombination aus Kopfhörer und Mikrofon, mit dem Klapp in Kontakt zu einer weiteren Person stand.

Hätte ich in diesem Moment nicht mit hundertprozentiger Sicherheit gewusst, dass Gehrmann kein derartiges Gerät getragen hatte, als er gestorben war, wäre ich womöglich davon ausgegangen, Klapp versuchte in diesem Moment vergeblich, mit seinem inzwischen verstorbenen Kollegen Kontakt aufzunehmen. So aber stellte sich die entscheidende Frage, mit wem Klapp dann sprach. Und die niederschmetternde Antwort darauf konnte eigentlich nur lauten, dass Gehrmann und Klapp nicht allein gekommen waren, sondern weitere Männer ins Sanatorium eingedrungen waren, die möglicherweise damit beschäftigt gewesen waren, die anderen Stationen nach mir abzusuchen. Und nun befanden sich diese Männer, von ihrem panischen Kollegen Klapp alarmiert, vermutlich auf dem Weg hierher. Schließlich hatte Klapp ausdrücklich das Wort »Verstärkung« erwähnt. Und vielleicht hatte Klapp sie bereits beim ersten Anzeichen, dass hier etwas schiefzugehen drohte, informiert und jetzt nur noch einmal auf die Dringlichkeit hingewiesen, mit der er Unterstützung benötigte, sodass die Männer bereits näher waren, als mir lieb sein konnte. Ich wusste zwar nicht, mit wie vielen Gegnern ich es in diesem Fall zu tun bekommen würde, aber jeder weitere Angreifer wäre schon einer zu viel. Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich auch nicht vor, es herauszufinden, da es mir bestimmt mehr als nur die Laune verderben würde. Aber was sollte ich tun?

Obwohl sich Klapp im Augenblick in arger Bedrängnis befand und gar keine Gelegenheit hatte, auf mich zu achten, war ich hier dennoch nicht mehr sicher. Denn möglicherweise saß ich, sollte ich zu lange zögern, in der Falle. Ich musste also schnellstens von hier verschwinden, bevor die Verstärkung der beiden Attentäter auftauchte und meine Überlebenschancen damit auf schätzungsweise null Komma null Prozent sank.

Während ich gedanklich blitzschnell die wenigen Möglichkeiten durchging, die mir blieben, und sie hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit und Erfolgschancen abklopfte, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Geschehnisse im Flur.

Van Helsing hatte Klapp mittlerweile erreicht und versuchte fuchtelnd, ihm den Pfahl in die Brust zu rammen, so wie er es bereits bei Gehrmann erfolgreich praktiziert hatte. Allerdings handelte es sich hier nicht um einen Überraschungsangriff, mit dem niemand gerechnet hatte. Klapp konnte die Vorstöße des selbst ernannten Vampirkillers im Augenblick noch mühelos mit der schweren Schusswaffe in seiner Hand abwehren, die er aufgrund innerer Hemmungen scheinbar noch immer nicht ihrem eigentlichen Verwendungszweck gemäß einsetzen wollte. Doch Klapp geriet auch von anderer Seite in Bedrängnis, als plötzlich weitere Sanatoriuminsassen in den Kampf eingriffen, um ihrem Mitpatienten van Helsing zu helfen. Im Nu war Klapp von einem halben Dutzend wütender und panischer Bewohner umzingelt, die von allen Seiten mit bloßen Händen oder geballten Fäusten auf ihn losgingen. Allerdings fehlte den größtenteils ungezielten Hieben oftmals die Kraft, um Schaden anzurichten. Deshalb konnte Klapp die Schläge problemlos einstecken und seine Abwehrmaßnahmen stattdessen auf den gefährlichsten Gegner konzentrieren, mit dem er es zu tun hatte, und der hieß van Helsing und schwang einen gefährlich spitzen Holzpflock in der Hand. Wahrscheinlich spielte Klapp auf Zeit und hoffte, dass die Kavallerie schnellstmöglich eintraf und ihn aus dieser brenzligen Situation befreite.

Während der Auseinandersetzung umkreisten sich die beiden Hauptkontrahenten langsam wie ein Paar auf dem Tanzparkett. Als Klapp mir den Rücken zuwandte, sah ich endlich meine Chance, unentdeckt durch den Flur zu rennen und zu versuchen, das Treppenhaus zu erreichen, bevor Klapps Kollegen mir den einzig möglichen Fluchtweg versperrten. Da Gehrmann und Klapp hier höchstwahrscheinlich gewaltsam eingedrungen waren, ging ich davon aus, dass der Weg nach draußen unversperrt war. Wieso sollten sie auch hinter sich abschließen, wenn sie doch wieder den gleichen Weg in entgegengesetzter Richtung für ihre anschließende Flucht benutzen mussten.

Ich richtete mich rasch auf und rannte in den Gang. Dort wandte ich mich in Richtung Ausgang, musste allerdings die ständig anwachsende Menschentraube mit dem verzweifelten Klapp in ihrer Mitte passieren. Ich hoffte, dass der junge Mann mich nicht bemerkte, weil er zu sehr damit beschäftigt war, sich seiner Haut zu erwehren. Und falls er mich doch beim Vorbeilaufen entdeckte, würde er dennoch nicht so leicht auf mich anlegen und schießen können, da er weiterhin vor dem Holzpflock auf der Hut sein musste und sich zudem ständig weitere Patienten als Deckung zwischen uns schoben.

Ich umrundete zuerst die Menschenansammlung und passierte anschließend das Schwesternzimmer, ohne einen lauten Ausruf von Klapp zu hören, der mir zeigte, dass er meinen Fluchtversuch registriert hatte. Beinahe wäre ich auf den zahllosen Glasscherben ausgerutscht, die von der gesplitterten Trennscheibe stammten und den Boden übersäten. Ich konnte meinen Körper gerade noch abfangen und ging anschließend vorsichtiger und langsamer über dieses Minenfeld aus glitzernden Scherben.

Ich wandte kurz die Augen vom Boden und warf einen raschen Blick ins Schwesternzimmer. Die Nachtschwester saß noch immer auf dem Drehstuhl. Allerdings war sie nun mit mehreren Mullbinden, die Gehrmann in einem der Schränke gefunden haben musste, gefesselt worden, damit sie nicht weglaufen und Hilfe holen konnte. Auch um den unteren Teil ihres Kopfes war eine Mullbinde geschlungen worden, die ihren Mund vollständig bedeckte und sie so daran hinderte, laut um Hilfe zu rufen. Die junge Frau verfolgte meinen Weg über den Scherbensee aus geweiteten Augen. Ich winkte ihr mit der freien Hand zu, froh darüber, dass sie unversehrt war und es ihr den Umständen entsprechend ganz gut ging. Doch mehr konnte ich im Moment nicht tun. Wollte ich sie befreien, würde mich das nur kostbare Zeit kosten, die ich wahrscheinlich gar nicht mehr zur Verfügung hatte. Und am Ende würden wir beide geschnappt werden, wodurch sich meine persönliche Situation im Verhältnis zur augenblicklichen Lage wesentlich verschlechtert hätte. Außerdem ging ich davon aus, dass ihr nichts passieren würde, da es die Männer allein auf mich abgesehen hatten. Ansonsten hätte Gehrmann sich gar nicht erst die Mühe gemacht, sie dermaßen zu verschnüren, sondern hätte sie gleich erschossen. Was die Männer mit mir anstellen würden, wenn sie mich in die Finger bekamen, stand hingegen auf einem ganz anderen Blatt und war mit Sicherheit um ein Vielfaches unangenehmer.

Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Weg und lief schneller, nachdem ich den mit Glasscherben bedeckten Bereich unfallfrei hinter mich gebracht hatte. Während des restlichen Weges bis zur Tür ins Treppenhaus hoffte ich, dass nicht nur der Nachtschwester, sondern auch den Patienten, die Klapp attackierten – und unter diesen natürlich insbesondere mein spezieller Freund van Helsing – keine Gewalt angetan wurde, da die Männer schließlich nur hier waren, um mich zu töten. Alle anderen hatten mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun und waren mehr oder weniger zufällig hineingeraten.

Ich hatte die Tür, die aus der Station führte – sie bestand aus zwei nahezu undurchsichtigen, gewellten Milchglasscheiben in einem metallenen Rahmen und wurde sonst ständig verschlossen gehalten –, fast erreicht, als im Treppenhaus erregte Stimmen und das Poltern schwerer, rasch näher kommender Schritte laut wurden.

Verdammt! Beinahe hätte ich es noch rechtzeitig geschafft. Doch die Verstärkung, die Klapp zu seiner Unterstützung herbeigerufen hatte, stand schon fast vor der Tür und versperrte mir dadurch den einzigen Fluchtweg, der gegenwärtig aus der abgesperrten Station des Sanatoriums nach draußen führte.

 

Kapitel 4

 

Ich lehnte mit dem Rücken gegen die Tür, die aufgrund der schweren Stiefeltritte schwach vibrierte. Während ich in der Dunkelheit stand und auf die lauten Geräusche horchte, die von den Männern verursacht wurden, die draußen im Flur vorbeirannten, hielt ich unwillkürlich den Atem an, obwohl meine Lunge nach dem Spurt durch den Gang und die anschließende panische Suche nach einem geeigneten und nahen Versteck nach Sauerstoff gierte und schon leicht zu schmerzen anfing.

Die Tür zum Treppenhaus direkt vor Augen, die wegen der Rufe und des Polterns wuchtiger Schritte auf der Treppe jedoch keine Rettung, sondern im Gegenteil einen baldigen Tod versprochen hatte, war ich vor lauter Frustration kurz davor gestanden, einfach aufzugeben und diesen Wahnsinn nicht länger mitzumachen. Denn ständig geriet ich in neue, schier ausweglose Situationen, vom Regen in die Traufe gewissermaßen. Und wenn ich endlich glaubte, einen Ausweg aus dem momentanen Dilemma gefunden zu haben, reckte schon das nächste Problem den Kopf und rief mir wie der schlaue Igel dem dämlichen Hasen zu: »Ich bin schon da!« Wieso, fragte ich mich, musste ausgerechnet mir immer wieder so etwas passieren? Womit hatte ich das alles auch nur ansatzweise verdient? Da mir mein bisheriges Leben noch immer weitgehend unbekannt war, konnte ich natürlich nicht sagen, ob ich unter Umständen genau das erntete, was ich irgendwann einmal gesät hatte. Aber da ich ein glühender Anhänger der Unschuldsvermutung war, hielt ich mich solang für schuldlos an allem, was mir widerfuhr, bis mir jemand verdammt noch eins das Gegenteil bewies.

Doch trotz all dieser negativen Gedanken gab ich dann doch nicht auf. Etwas tief in mir – mein starker Selbsterhaltungstrieb oder auch nur ein masochistisch veranlagter Teil meiner Persönlichkeit, der möglicherweise Gefallen daran fand, dass ich jedes Mal noch tiefer in der Scheiße landete – wollte sich nicht ergeben und in sein Schicksal fügen, sondern beschloss, dass längst noch nicht alles vorbei war.