Schreckensnächte - Eberhard Weidner - E-Book

Schreckensnächte E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Als Elke Weber ihren Jugendfreund Rainer Schwarz Jahre nach ihrer Trennung und ihrem Wegzug aus dem gemeinsamen Heimatort wiedersieht, ist sie entsetzt, wie sehr er sich in den vergangenen Jahren verändert hat. Doch mehr noch schockiert sie die Geschichte, die er ihr erzählt und in der er schildert, was ihm und seinen Freunden in den letzten Jahren widerfahren ist. Denn als er und seine Freunde Bernie, Mark und Martin ihrem prahlerischen Kumpel Uli eine Wette vorschlugen, damit dieser eine Nacht im Leichenhaus – nur in Gesellschaft eines kürzlich bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht getöteten jungen Mädchens – verbringen sollte, ahnten sie nicht, dass sie damit eine Kette von Ereignissen in Gang setzen würden, die die Nacht der Mutprobe zu einer wahren Schreckensnacht werden lassen sollte. Und dieser ersten Nacht sollten weitere Schreckensnächte folgen, wenn sich die entsetzlichen Ereignisse in der Leichenhalle jährten.

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INHALTSVERZEICHNIS

 

COVER

TITEL

ERSTES KAPITEL: 1988 - Die fünfte Schreckensnacht

ZWEITES KAPITEL: 1984 - Die erste Schreckensnacht

DRITTES KAPITEL: 1985 - Die zweite Schreckensnacht

VIERTES KAPITEL: 1986 - Die dritte Schreckensnacht

FÜNFTES KAPITEL: 1987 - Die vierte Schreckensnacht

SECHSTES KAPITEL: 1988 - Zwei Tage vor der fünften Schreckensnacht

SIEBTES KAPITEL: 1988 - Die letzte Schreckensnacht

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

IMPRESSUM

 

 

 

 

ERSTES KAPITEL

1988 - Die fünfte Schreckensnacht

1

 

Verzweifelt lief er durch die wie ausgestorben wirkenden nächtlichen Straßen der fremden Großstadt, von deren abweisenden dunklen Fassaden seine taumelnden Schritte hohl widerhallten. Doch er achtete weniger auf die Geräusche, die er selbst verursachte, sondern eher auf die, die von denjenigen stammten, vor denen er davonlief.

Und obwohl er seine unheimlichen Verfolger in dieser Nacht noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte, wusste er dennoch ganz genau, dass sie in seiner Nähe waren! Denn wie unheimliche, zu geisterhaftem Leben erweckte Schatten aus der Vergangenheit hatten sie sich an seine Fersen geheftet und schlichen nun im Schutz der Finsternis hinter ihm her.

Unsichtbar und möglichst lautlos, aber dennoch unaufhaltsam!

Oh ja, und schlau waren sie noch dazu. Verdammt schlau sogar, auch wenn in ihren zerfressenen Gehirnen mittlerweile nur noch Maden hausten. Sie hielten sich im Verborgenen und zeigten sich ihm nicht – noch nicht zumindest! Auf diese Weise wollten sie ihn in Sicherheit wiegen. Damit er unvorsichtig wurde und einen Fehler beging. Mit Sicherheit seinen allerletzten und im Endeffekt tödlichen Fehler!

Doch darauf konnten sie lange warten, schließlich wusste er um ihre schauerliche Existenz. Und er wusste auch ganz genau, dass sie in diesem Augenblick ihre nach Fäulnis stinkenden Leiber genau dort entlang schleppten, wo die Finsternis am schwärzesten war, und nur darauf lauerten, ihn in einem Moment der Schwäche zu erwischen und zwischen ihren knochigen Klauen zerreißen zu können.

Längst lief er nicht mehr, sondern wankte nur noch mit taumelnden Schritten mühsam voran, und der Zeitpunkt, an dem ihn seine Kräfte endgültig verlassen würden, war nicht mehr fern. Wenn es erst so weit war, würde er sich vermutlich nicht mehr länger auf den Beinen halten können, sondern auf dem regennassen Pflaster zusammenbrechen, zu Tode erschöpft und unfähig, sich überhaupt noch zur Wehr setzen zu können. Und dann wäre ihre Zeit gekommen. Sie würden aus ihren finsteren Verstecken hervorkriechen und mit provokativ langsamen, schlurfenden Schritten näherkommen, um sich schließlich gierig auf ihn zu stürzen und sich zu rächen. Um endlich Rache nehmen zu können für das, was er ihnen ihrer Meinung nach vor Jahren angetan hatte.

Aber es war doch nicht seine Schuld gewesen! Woher hätte er denn wissen sollen, dass diese ganze an und für sich harmlose Geschichte einen so furchtbaren Verlauf nehmen würde? Und letzten Endes hatte ohnehin das Los entschieden, wen von ihnen es traf. Dann könnte man ja genauso gut dem kürzeren Streichholz die ganze Verantwortung zuschieben, da es die Wahl entschieden hatte.

Er wischte in einer unkontrolliert wirkenden Geste mit den Armen durch die Luft, als wollte er die finsteren Erinnerungen vertreiben, die bei dem Gedanken an die damalige Streichholzwahl auf ihn einzustürzen drohten. Erinnerungen an eine Nacht voller Schrecken vor exakt vier Jahren. Und es war nicht die einzige Schreckensnacht geblieben. Denn der ersten waren weitere gefolgt – Jahr für Jahr, immer wieder –, da sie niemals aufgegeben hatten und ihn unermüdlich verfolgten. Sie jagten ihn mit einem grenzenlosen Hass, der über den Tod hinausreichte und sich tief in ihre verdammten Seelen gefressen haben musste.

Und dabei hätten sie ihn einmal sogar beinahe erwischt. So wie sie vorher die anderen gekriegt hatten. Damals war es wirklich verdammt knapp gewesen. Aber er war schlauer gewesen. Er hatte sie austricksen können und war entwischt.

Aber heute Nacht waren sie ihm erneut dicht auf den Fersen und so nahe wie schon lange nicht mehr.

(Kein Wunder, denn heute ist die letzte Schreckensnacht! Heute Nacht kriegen sie dich!)

»Nein!«, schrie er so laut, dass seine Stimme von den dunklen Häuserfronten widerhallte, und verfluchte gleichzeitig die bösartige innere Stimme für diesen grausamen und destruktiven Gedanken.

Dennoch konnte er nicht verhindern, dass die Panik erneut nach seinem Herzen griff, und urplötzlich war er davon überzeugt, eine eiskalte Klaue auf seiner rechten Schulter zu spüren, die schon in der nächsten Sekunde ihre langen, mit getrockneter Friedhofserde verkrusteten Nägel in sein Fleisch graben würde. Gehetzt warf er den Kopf herum und sah mit vor Schrecken geweiteten Augen nach hinten. Aber hinter ihm war gar nichts, nur die leere, nächtliche Straße.

Er atmete erleichtert auf. Der Moment, den er seit langer Zeit fürchtete, war noch nicht gekommen. Sie zeigten sich ihm noch immer nicht, sondern hielten sich noch eine Weile im Verborgenen. Kein Wunder, schließlich waren sie sich ihrer Sache sicher und konnten warten.

Während sein Herz noch immer rasend schnell und heftig schlug und einen Rhythmus vorgab, den er mit den Beinen schon längst nicht mehr mithalten konnte, richtete er den Blick rasch wieder nach vorn. Verlassen und wie ausgestorben lag die Straße vor ihm, die an eine Schlucht erinnerte und von der nur gelegentlich eine schmale Gasse oder der enge Zugang zu einem Hinterhof abzweigte. Rechts und links erhoben sich die Fronten der fünf- bis sechsstöckigen Wohnhäuser wie schlafende Giganten. Und die Stadt um ihn herum schlief tatsächlich. Hinter keinem der unzähligen Fenster, an denen er vorbeikam, brannte Licht. All diese unschuldigen Menschen schliefen friedlich in ihren Betten und ahnten nichts von dem Grauen, das in Gestalt seiner vier Verfolger wie ein mordgieriges, schleimiges Reptil im Schutze der Nacht durch ihre Straßen und Gassen schlich.

In regelmäßigen Abständen schufen hohe Straßenlaternen Inseln aus Licht auf dem nassen, glänzenden Asphalt. Doch es handelte sich nur um Eilande inmitten eines Meeres aus undurchdringlicher Finsternis, in dem sie sich verbargen und das sie durchpflügten wie mörderische Haifische, die Blut gerochen hatten, um ihm zu folgen, unsichtbar und nahezu geräuschlos. Bis schließlich früher oder später unweigerlich der Augenblick kommen würde, in dem sie …

Der Gedankengang endete abrupt, da er es nicht wagte, ihn weiterzuverfolgen. Nicht jetzt zumindest, wo er sich konzentrieren und auf so viele andere Dinge achtgeben musste, beispielsweise nicht zu stolpern oder zu straucheln. Außerdem war das, was sie mit ihm vorhatten, sollte er ihnen in die Hände fallen, zu grauenhaft, um es sich immer wieder aufs Neue auszumalen. Er hatte es schon oft genug miterleben müssen, als sie sich in seine Träume geschlichen und ihm vorgeführt hatten, was sie mit ihm machen würden. In seinem schrecklichsten Albtraum war es ihm nämlich nicht gelungen, ihnen zu entkommen. Und so war er anschließend laut schreiend aufgewacht, weil das Entsetzen sich tief in seine Brust gefressen und mit stählerner Faust sein hämmerndes Herz umklammert hatte, um es wie eine gekochte Kartoffel zu zerquetschen. Doch die eiskalte Klaue hatte beinahe widerwillig von ihm abgelassen, und er war wieder allein gewesen. Allein mit seinen Ängsten, die ihn ständig begleiteten.

Doch heute Nacht wollten sie ihre Drohung endlich wahr und Nägel mit Köpfen machen, das spürte er mit jeder Faser seines Körpers. Heute Nacht sollte es kein Traum bleiben, aus dem er entkommen konnte, indem er erwachte. Und obwohl ihm alles noch immer wie ein Albtraum erschien, der nicht enden wollte, war es grausame Realität.

Trotz seiner Erschöpfung trugen ihn seine müden Beine noch immer Schritt um Schritt vorwärts und seinem Ziel entgegen. Allerdings kam er nur quälend langsam voran, so als wäre er noch immer in einen Traum gefangen und müsste durch kniehohen Morast waten.

Dennoch musste er sein Ziel erreichen. Ein Scheitern kam für ihn nicht infrage, denn dann würde er noch in dieser Nacht alles verlieren, was ihm geblieben war, und das war ohnehin nicht mehr viel. Deshalb durfte er jetzt auf gar keinen Fall aufgeben, nicht so kurz vor seinem Ziel. Außerdem wusste er nicht, ob er noch einmal die Kraft haben würde, wieder auf die Beine zu kommen, sollten sie ihm nun ihren Dienst versagen.

Im Grunde war es ja auch ganz einfach. Er musste immer weitergehen, egal wie, und durfte auf keinen Fall stehen bleiben. Das war alles, was für ihn heute Nacht zählte. Bloß nicht aufgeben. Selbst wenn das bedeutete, dass er kriechen musste, um es bis zu seinem Ziel, bis zu ihr zu schaffen!

Elke!

Ihr Name, den er nur in Gedanken, aber dennoch voller Liebe formulierte, beschwor sogleich ihr Bild vor seinem inneren Auge herauf. Schon ihr Anblick schenkte ihm Trost, den er in diesem Moment bitter nötig hatte, auch wenn sie vermutlich gar nicht mehr genau so aussah, wie er sie in Erinnerung hatte. Schließlich war es über vier Jahre her, dass er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Menschen veränderten sich in dieser Zeit. Auch er hatte sich in den letzten Jahren stark verändert, doch darüber wollte er jetzt lieber nicht nachdenken.

Elke!

Sobald er bei ihr war, würde er ihr alles erzählen können. Die ganze furchtbare Geschichte in all ihren schrecklichen Details, die vor vier Jahren auf so grauenvolle Weise ihren Anfang genommen hatte, seitdem jedes Jahr mit blutiger Tinte fortgeschrieben worden war und nun schlussendlich auch noch ihn zu verschlingen drohte.

Elke würde ihm sicherlich nicht nur geduldig zuhören, sondern ihn auch verstehen und ihm vor allem Glauben schenken. Sie hatte ihn ja schon damals besser verstanden als all die anderen. Damals, als er das Leben noch in vollen Zügen genießen konnte. Als er noch nichts von den finsteren Dingen ahnte, die jenseits der Wirklichkeit auf einen lauern konnten. Als er sich weder vor Albträumen noch vor unmenschlichen Verfolgern hatte fürchten müssen. Damals, als er … als er noch Freunde besessen hatte!

Er schauderte, als er an seine Freunde dachte, verfolgte aber auch diesen Gedanken lieber nicht bis zu seinem schrecklichen Ende, sondern dachte stattdessen wieder an Elke. Sie musste ihm einfach glauben, auch wenn vieles von dem, was er erlebt hatte, auf den ersten Blick unglaublich war. Aber wieso sollte sie an seiner Geschichte zweifeln, wenn er ihr versicherte, dass er die Wahrheit sagte, nichts als die Wahrheit? Und sobald sie erst einmal alle Details kannte, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als an die Wahrhaftigkeit seiner Worte zu glauben und ihm helfen, auch wenn er momentan gar nicht wusste, wie diese Hilfe konkret aussehen könnte. Aber vielleicht kannte Elke zumindest einen Ort, wo sie ihn verstecken und seine Verfolger ihn nicht finden konnten.

(Vergiss es! Einen solchen Ort gibt es nicht. Sie finden dich überall!)

Er weigerte sich standhaft, der grausamen, flüsternden Stimme in seinem Innern Glauben zu schenken, auch wenn er es insgeheim besser wusste. Doch er wollte sich das bisschen Hoffnung, das er noch besaß, nicht nehmen lassen, sonst könnte er ja gleich aufgeben. Aber dazu war er noch nicht bereit. Solange auch nur ein Quäntchen Hoffnung bestand, würde er kämpfen. Alles, was er brauchte, war ein bisschen Hilfe. Und wenn Elke ihn unterstützte, würden sie ihn schon nicht kriegen, schließlich waren sie auch nur …

(Ja? Was genau sind sie denn deiner Meinung nach?)

Menschen!, hatte er eigentlich gemeint, doch das waren sie nicht – nicht mehr zumindest!

»Ungeheuer!«, flüsterte er deshalb mit rauer, atemloser Stimme, damit sie ihn nicht hören konnten. »Sie sind mordgierige, erbarmungslose Monster!«

Doch die Stimme in seinem Kopf gab sich damit nicht zufrieden.

(Na komm schon! Du weißt es besser!)

»Ja«, brüllte er die dunklen Häuserfronten an. »Ich weiß, was sie sind. Aber ich will nicht darüber nachdenken, nicht jetzt!«

Der Widerhall seiner Worte klang verzerrt, als würden seine Verfolger ihn mit hämischer Stimme nachäffen, um ihn zu verspotten. Doch er wusste, dass es jenseits ihrer Möglichkeiten lag, sich noch länger verständlich zu artikulieren. Nur im Traum waren sie weiterhin in der Lage zu sprechen, das hatte er selbst erlebt.

Um seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken und dadurch hoffentlich auch die flüsternde Stimme in seinem Verstand endgültig zum Verstummen zu bringen, dachte er wieder an Elke. Er war überzeugt, dass sie keine Sekunde zögern würde, ihm zu helfen, schließlich hatten sie sich früher einmal sehr geliebt. Allerdings erschien ihm das mittlerweile wie aus einem völlig anderen Leben in einer fremden Welt – einem ungleich glücklicheren Leben in einer schöneren Welt –, da seitdem so viele schreckliche Dinge geschehen waren, die seine eigene Existenz komplett umgekrempelt und ihm letztlich alles genommen hatten, was ihm früher etwas bedeutet hatte.

Die neue Route, die seine Gedanken eingeschlagen hatten, behagte ihm ebenfalls nicht besonders. Zumindest nicht in dieser Nacht, in der seine unsichtbaren Verfolger ihm so dicht auf den Fersen waren.

Er warf einen Blick auf die Schilder mit den Hausnummern an den Fassaden, an denen er vorbeikam und sah, dass es nun nicht mehr weit sein konnte. Die paar Meter würde er vermutlich auch noch schaffen, ohne vorher zusammenzubrechen. Wenn also nicht noch etwas Unvorhergesehenes dazwischenkam, wäre er bald in Sicherheit vor den grausamen Todesboten, die einem Ort entstiegen waren, der für immer und ewig hätte verschlossen bleiben sollen.

Bei Elke wäre er fürs Erste vor den Verfolgern geschützt, denn bislang hatten sie stets darauf geachtet, dass es keine Zeugen für ihre widernatürliche Existenz und ihre abscheulichen Taten gab. Solange er sich in Gesellschaft anderer Menschen befunden hatte, waren sie nicht persönlich in Erscheinung getreten, sondern hatten sich darauf beschränkt, ihn in seinen Träumen heimzusuchen. Doch ihm war stets bewusst gewesen, dass sie sich irgendwann nicht mehr darauf beschränken würden, ihm furchterregende Albträume zu schicken, sondern leibhaftig zu ihm kommen würden. Selbst verschlossene Türen, vergitterte Fenster oder massive Wände wären dann keine Hindernisse mehr für sie.

Doch noch gab es Hoffnung für ihn, die mit jedem Schritt größer wurde. Denn in Kürze würde er sein Ziel erreichen und wäre nicht länger allein. Dann wäre Elke bei ihm, und sie wären nach all den Jahren der Trennung endlich wieder vereint.

(Und was ist mit den Leuten aus der Anstalt?)

Er stöhnte leise, als ihn die verfluchte Stimme in seinem Innern, die sich allem Anschein nach durch nichts zum Schweigen bringen ließ, ausgerechnet jetzt an die Männer aus der Anstalt erinnerte, die ebenfalls hinter ihm her waren. In seiner Angst vor den anderen Verfolgern hatte er gar nicht mehr an sie gedacht.

Dabei waren die Männer aus der Anstalt nicht auf die Nacht und die Finsternis angewiesen, die sie vor neugierigen Blicken schützte. Und sie scheuten weder die Öffentlichkeit noch Zeugen für ihr Tun.

Sie sind aber längst nicht so gerissen wie die anderen Verfolger, beruhigte er sich selbst.

Denn während diese ihm mit ebenso untrüglicher Sicherheit auf der Spur blieben wie hungrige, blutgierige Wölfe ihrer waidwunden Beute, hatte er zumindest die Männer aus der Anstalt abhängen können. Sie waren eben nur Menschen und schon allein deswegen nicht so grausam und furchterregend wie die anderen.

Die Angst vor seinen Verfolgern brachte ihn dazu, einen weiteren Blick in die Richtung zu riskieren, aus der er gekommen war, um sich zu vergewissern, dass sie sich zwischenzeitlich nicht hinterrücks an ihn herangeschlichen hatten. Und obwohl er noch immer keine Spur von ihnen entdecken konnte, wusste er dennoch mit untrüglicher Sicherheit, dass sie ganz in der Nähe waren. Fast glaubte er sogar, er könnte schon ihren Gestank riechen.

Bei dem Gedanken an den Verwesungsgeruch, der ihnen anhaftete wie ein ekelerregendes Eau de Toilette, stahl sich ein bitteres Lächeln auf seine Lippen, verschwand jedoch augenblicklich wieder wie weggewischt, als er vollkommen unerwartet über ein Hindernis stolperte. Der anschließende Sturz war in seinem geschwächten Zustand geradezu unvermeidlich. Er riss noch beide Arme nach oben, als suchte er in der Luft nach einem Halt, der ihn vor dem Fallen bewahrte, doch es gab nichts, an dem er sich hätte festhalten können. Ein leiser erschrockener Aufschrei, kaum mehr als ein Hauch, kam über seine Lippen, als er anfangs wie in Zeitlupe vornüber kippte und dann immer schneller wurde. Im schwachen Licht einer entfernten Laterne erkannte er die unterste Stufe einer kleinen Vortreppe, die ihn zu Fall gebracht hatte und ihm nun mit der Geschwindigkeit und Unvermeidlichkeit eines Fausthiebs entgegenkam.

Beim Aufprall knickte der rechte Arm, mit dem er seinen Sturz abfangen wollte, unter ihm ein, sodass er mit der Stirn gegen die scharfe Kante der steinernen Stufe prallte, ehe er von der Treppe auf den Gehsteig hinunterrollte. Er landete direkt in einer Pfütze und blieb benommen liegen.

 

2

 

Für einen Moment, der sich in seiner benebelten Wahrnehmung endlos in die Länge zog, explodierten unmittelbar hinter seiner Stirn leuchtende Sterne in allen möglichen und unmöglichen Farbvariationen, als wäre Silvester dieses Jahr um mehr als zwei Monate vorverlegt worden, und das Bewusstsein drohte ihm zu schwinden. Heftige Schmerzwellen pulsierten wie flüssige Lava durch seinen geplagten Körper und wollten ihn in ein finsteres Land davonzerren, in dem das Vergessen regierte und von dem es für ihn vermutlich keine Wiederkehr gab, sobald er es betrat. Doch bevor es dazu kommen konnte, tauchte er mit dem Gesicht in die Pfütze unter seinem Körper, und die kalte Flüssigkeit erfrischte nicht nur sein fiebrig heißes Gesicht, sondern spülte auch die Benommenheit aus seinem Verstand.

Ganz allmählich gewann er die Besinnung wieder, während der Schmerz sich widerstrebend zurückzog und abklang. Dennoch trieb er seinen ermatteten Körper nicht sofort wieder hoch und auf die Füße, sondern blieb erst einmal erschöpft liegen und gönnte sich eine kurze Ruhepause.

Hier würde ich gern für immer und ewig liegen bleiben und am liebsten alles vergessen, was geschehen war und was im Schutz der finsteren Nacht auf der Lauer lag, dachte er. Warum tat er es dann nicht einfach? War doch eine ausgezeichnete Idee, oder etwa nicht? Er vergaß ganz einfach alles, was passiert war, und machte es dadurch ungeschehen. Dann konnte ihm auch nichts mehr passieren. Wenn er doch nur früher darauf gekommen wäre, dass es im Grunde so einfach war. Er musste nur alles aus seinem Gedächtnis löschen, um die Zeit zurückdrehen und es ungeschehen machen zu können. Das war des Rätsels Lösung! Warum, zum Teufel, war er nicht schon früher darauf gekommen?

Nicht weit von ihm entfernt ertönte das Klirren von Glas und durchbrach die nächtliche Ruhe.

(Friedhofsruhe trifft es schon eher.)

Er hörte das Geräusch zwar, doch es drang nicht bis zu seinem Verstand durch, um dort eine Reaktion, einen schrillen Alarmton vielleicht, auszulösen. Und selbst wenn, so wäre es ihm momentan dennoch egal gewesen. Denn er wusste ja jetzt, wie er ihnen entkommen konnte: durch bloßes Vergessen!

(Vergessen und vergeben …)

So einfach war das also, ein Kinderspiel geradezu. Jetzt würden sie verdammt lange, vermutlich bis in alle Ewigkeit, darauf warten müssen, dass sie ihm die Eingeweide aus dem Leib reißen konnten. Er war eben doch eine Spur zu clever für diese vier hirnlosen Gesellen.

Aus der Finsternis, die ihn umgab, drang ein Scharren an seine Ohren, erheblich näher als zuvor das Klirren. Es hörte sich so an, als würde ein nackter, verdreckter Fuß über den Boden schleifen. Doch auch das hatte für ihn inzwischen jede Bedeutung und Bedrohung verloren.

Vermutlich war es ohnehin nur eine Katze, die in der Nähe auf Mäusejagd ging. In einer Wohngegend wie dieser gab es meistens einige Katzen, die nachts durch die Straßen und Gassen schlichen. Vielleicht waren es auch zwei Kater, die sich ihr Revier streitig machten und gegenseitig belauerten …

(Warum nicht gleich vier Katzen? Vier streunende, stinkende Straßenkater in verdreckten Totenhemden auf der Jagd nach einer ganz besonderen Maus! Und dreimal darfst du raten, wer die Maus ist, mein todgeweihter Freund!)

Maus? Wovon sprach die Stimme in seinem Kopf, die seiner eigenen so verblüffend ähnlich war? Er dachte kurz darüber nach, wusste aber keine Antwort, da er die Geräusche von soeben schon wieder aus seinem Gedächtnis verdrängt hatte.

Stattdessen kamen ungewollt ganz andere Erinnerungen zum Vorschein, als würde ein Zauberer sie wie Kaninchen aus seinem Hut zaubern, und blitzten vor seinem inneren Auge auf wie eine mentale Diavorführung. Zunächst sah er nacheinander die lachenden Gesichter von vier jungen Männern, und sein Gedächtnis lieferte ihm dazu passende Namen: Bernie, Uli, Martin und Mark.

Wer?

In einer unbewussten Geste zuckte er mit den Schultern, denn er hatte bereits vergessen, wer diese jungen Leute waren und welcher Name zu welchem Gesicht gehörte. Schließlich war das Vergessen die Lösung seines dringlichsten gegenwärtigen Problems, wie er gerade eben herausgefunden hatte.

Doch seine Erinnerungen ließen nicht locker, und so kamen weitere Bilder, bei denen es sich um Momentaufnahmen aus seiner Vergangenheit handelte. Zuerst ein unheimlich wirkendes, steinernes Gebäude, dessen Tür lautlos aufschwang, als würde sie von Geisterhand geöffnet werden. Drinnen war es stockdunkel, er glaubte allerdings, einen gellenden Schrei zu hören, der wie abgeschnitten endete. Danach sah er ein anderes Haus, diesmal ein einfaches Wohnhaus. Aus einer Fensteröffnung im ersten Stock schlugen lodernde Flammen. Inmitten des Feuers konnte man undeutlich vier schemenhafte Umrisse erkennen, als stünden dort Menschen aufrecht inmitten der Flammen. Doch bevor er die Details näher in Augenschein nehmen konnte, wechselte das Bild erneut und ein großes, herrschaftliches Gebäude tauchte auf, das einen freundlichen und warmen Eindruck in ihm erweckte. Es lag in einem weitläufigen, gepflegten Park, der von einer hohen Mauer umgeben war, und sämtliche Fenster waren vergittert.

Obwohl die Bilder Emotionen in ihm auslösten, die über das rein Sichtbare hinausgingen und ihm auf diese Weise signalisierten, dass er mit ihnen vertraut sein musste, sagten sie ihm momentan dennoch nichts. Seine Strategie, alles, was geschehen war, aus seinem Gedächtnis zu löschen, schien zumindest teilweise zu funktionieren. Nun musste er nur noch diese Bilder, die letzten Überbleibsel seiner Vergangenheit loswerden, dann wäre er endgültig gerettet.

Doch im gleichen Moment, als er dieses Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, tauchten das Bild eines jungen, blonden Mädchens und ein Name in seinem Kopf auf: Elke!

Elke?

Irgendwo in seinem trägen, benebelten Gedankenapparat rastete etwas ein.

Telefon …

Ein weiteres Puzzleteil fiel an seinen Platz, und er erinnerte sich wieder. Ja, genau! Er hatte mit Elke telefoniert. Aber das musste schon verdammt lange her sein, denn er konnte sich kaum noch an das Gespräch erinnern.

Heute Abend!

Was, heute Abend sollte das gewesen sein? Er konnte es nicht fassen. Doch dann erinnerte er sich plötzlich wieder, als wäre in seinem Verstand ein Vorhang zur Seite gezogen worden, hinter dem sich die Erinnerungen verborgen hatten. Ja, richtig, mit den Münzen, die er im Wagen gefunden hatte, hatte er sie angerufen. Aus einer Telefonzelle, die an einem Ort stand, an dem sich viele Menschen aufgehalten hatten.

Am Bahnhof!

Ja, denn nur dort, inmitten der schützenden Menge, hatte er sich vor seinen unheimlichen Verfolgern sicher gefühlt. Und die Männer aus der Anstalt hatte er zu diesem Zeitpunkt längst abgeschüttelt gehabt.

Die Erinnerungen wurden mit jedem weiteren Schlag seines Herzens deutlicher und konkreter.

Und so wurde ihm nun wieder vollends bewusst, dass er nach all den Jahren mit Elke gesprochen und ihr gesagt hatte, wie dringend sie miteinander reden mussten. Sie hatte ihn natürlich gefragt, worum es ging. Aber das konnte er ihr nicht am Telefon sagen. Nein, bloß nicht! Vielleicht hörten seine Verfolger mit. Doch trotz seiner Geheimniskrämerei, die ihr verdächtig erscheinen musste, hatte Elke seine Erwartungen nicht enttäuscht. Ohne zu zögern, hatte sie seine Bitte um ein Treffen erhört und ihn zu sich eingeladen. Allerdings hatte er auch nichts anderes von ihr erwartet. Gute, treue Elke!

Während ihr Bild in seiner Erinnerung allmählich verblasste und wieder in die Untiefen seines Verstandes eintauchte, klärte sich sein Blick wieder. Zum ersten Mal nahm er bewusst die dreckige Pfütze wahr, in der er lag. Unmittelbar vor seinen Augen schwamm eine alte zerfledderte Zigarettenkippe.

Das Wasser kräuselte sich, als ein Tropfen mit leisem Platschen in der Pfütze landete und rote Schlieren ins schmutzig graue Wasser zauberte.

Blut?

Es war tatsächlich Blut, und zwar sein eigenes, das aus einer Platzwunde an seiner Stirn stammen musste. Der Gedanke wirkte wie ein Funke, der die kurze Lunte einer Sprenglandung entzündete, denn von einem Augenblick zum anderen kehrte explosionsartig der Schmerz hinter seiner Stirn zurück und ließ ihn leise aufstöhnen.

Unmittelbar darauf nahm er erstmals die eisige Kälte des Wassers wahr, in dem er lag. Er fröstelte und erschauderte, denn die Kälte war bereits durch seine zu dünne Kleidung gedrungen, hatte seine Haut taub werden lassen und kroch nun in seine Gliedmaßen.

Hinter ihm ertönte ein verstohlenes Scharren, das sich erschreckend nah anhörte.

(Gleich haben sie dich!)

Sekundenlang war er noch immer wie gelähmt, während zumindest sein Verstand wieder die Arbeit aufnahm. Er vermeinte fast, das Knirschen hören zu können, mit dem sich die eingerosteten Zahnräder in seinem Oberstübchen allmählich wieder in Bewegung setzten.

Ein Scharren! Vielleicht sogar das Scharren von nackten, schmutzigen Füßen auf dem Asphalt?, fragte er sich.

(SIE KOMMEN!)

 

3

 

Die Heftigkeit dieses Gedankens ließ ihn aufschrecken und die Lähmung seines Körpers überwinden. Mit quälender Langsamkeit rappelte er sich auf, kam zunächst mühsam wie ein alter Mann auf die Knie, ehe er schließlich wieder schwankend auf seinen zitternden Beinen stand, woran er schon fast nicht mehr geglaubt hatte. Er hielt den Kopf schief und horchte angestrengt, doch das Scharren wiederholte sich nicht. Auch sonst war nichts zu hören.

Aber waren da zuvor nicht auch noch andere Geräusche?, überlegte er.

(Ja, du Idiot! Das Klirren von Glas und ein weiteres Scharren.)

Er fragte sich, wie lange er überhaupt dort am Boden gelegen war? Nur wenige Sekunden oder gar mehrere Minuten? Er konnte es nicht beurteilen, da der Sturz und die Benommenheit ihm jegliches Gefühl für die verstrichene Zeit geraubt hatten. Doch die wichtigere Frage lautete ohnehin, wie nah ihm seine Verfolger in der Zwischenzeit gekommen waren. Auch das konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber er ahnte, dass sie seine Schwäche ausgenutzt hatten und näher gekommen waren. Für seinen Geschmack viel näher, als ihm lieb sein konnte.

(Lauf, mein Freund!)

Wahrscheinlich hatten sie bereits geglaubt, er wäre am Ende. Aber sie wussten eben nicht, wozu ein verzweifelter Mensch in seiner Lage fähig war. Nein, davon hatten sie vermutlich keine Ahnung. Woher auch, schließlich waren sie selbst keine Menschen mehr.

(Lauf!)

Endlich reagierte er, gehorchte der sonst so verhassten inneren Stimme und wirbelte herum. Jedenfalls kam es ihm selbst wie ein schnelles Herumwirbeln vor, da ihm sogar kurzzeitig schwindelig wurde, auch wenn er sich in Wahrheit vermutlich nur langsam und schwerfällig bewegte. Dann lief er weiter, ein wenig schneller als vor dem Sturz, weil ihn die Panik antrieb und dazu veranlasste, verborgene Kraftreserven anzuzapfen.

Verdammt, wie lange hatte er nur auf dem Boden gelegen? Und wie hatte er nur so verrückt sein können, zu glauben, ihm könnte nichts geschehen, wenn er einfach liegen blieb und vergaß, was geschehen war? Genauso gut könnte er sich selbst eine Kugel durch den Schädel jagen. Das hätte denselben Effekt, wäre aber schneller vorbei und weniger schmerzhaft, als wenn sie ihn erwischten.

(Völlig verrückt!)

Ausnahmsweise musste er der Stimme in seinem Kopf recht geben. Diese Aktion war in der Tat vollkommen verrückt gewesen. So hatten sie ihn auch manche Leute in der Anstalt genannt: verrückt, irre, durchgeknallt! Und deshalb hatten sie ihn ja auch weggesperrt.

Dabei war er gar nicht verrückt! Das hatte er doch gerade bewiesen, oder etwa nicht? Schließlich war er nicht liegen geblieben und hatte tatsächlich alles vergessen, wie es ein komplett Durchgeknallter vermutlich getan hätte. Ganz im Gegenteil, er hatte sich wieder aufgerappelt und war weitergerannt. War das nicht Beweis genug, dass er geistig völlig gesund war?

Außerdem hätten ihn ansonsten vermutlich längst seine Verfolger erwischt, und er wäre bereits tot.

Er rannte keuchend weiter und achtete jetzt besser auf etwaige Hindernisse, die ihn zu Fall bringen konnten. Denn wenn er noch einmal stolperte, bedeutete das gewiss sein Todesurteil, weil sie schon viel zu dicht hinter ihm waren.

Er hob den Blick für einen kurzen Moment vom Pflaster des Gehsteigs vor ihm und sah nach der Nummer des Hauses, an dem er gerade vorbeikam. Erleichtert atmete er auf, als er feststellte, dass es jetzt nur noch wenige Meter waren, bis er am Ziel und in Sicherheit wäre. Er biss die Zähne zusammen und schaffte auch die letzten Schritte, ohne noch einmal zu straucheln. Als er endlich die Tür des Hauses erreichte, das sein Ziel war, lehnte er sich schwer atmend dagegen. Er konnte es kaum glauben, aber er hatte es tatsächlich geschafft. Mit der rechten Hand suchte er blind nach der Klinke, fand sie auch gleich und drückte sie nach unten. Die Tür gab dem Druck seines Körpers allerdings nicht nach, sondern blieb verschlossen.

Vor Enttäuschung hätte er beinahe laut geschrien. Sollte er so kurz vor dem Ziel doch noch scheitern, und das ausgerechnet wegen einer verschlossenen Tür? Das konnte doch nicht wahr sein. Er sah sich rasch um, doch in der näheren Umgebung war noch immer alles ruhig.

Er versuchte es noch einmal, drückte die Klinke bis zum Anschlag nach unten und warf sich mit seinem ganzen Körper gegen die massive Tür, sodass sie laut dröhnend in ihren Angeln erbebte. Doch mehr geschah nicht. Es war hoffnungslos. Auf diese Weise ließ sich die Haustür nicht öffnen.

Er ließ den Türgriff los, den er so fest umklammert hatte, dass seine Hand ein wenig wehtat, ballte die Fäuste und atmete ein paar Mal tief durch, um die anschwellende Panik in seinem Inneren zurückzudrängen, die ihn zu übermannen drohte und zu kopflosen Aktionen veranlassen wollte. Doch er wusste, dass er einen kühlen Kopf bewahren musste, um dieses Problem in den Griff zu kriegen und richtig zu reagieren.

Nachdem die Panik sich wieder gelegt hatte, dachte er darüber nach, was er jetzt tun sollte. Ihm fiel wieder ein, wie spät es war und dass die meisten Leute in ihren Betten lagen und schliefen. Deshalb war es auch ganz normal, dass die Haustür abgeschlossen war, schließlich war es mitten in der Nacht, und da wollten die Bewohner natürlich nicht, dass Fremde ungehindert ins Haus marschieren konnten. Die verschlossene Tür war also noch lange kein Grund, in Panik zu verfallen.

Nach einem weiteren prüfenden Blick in die Runde, wo es noch immer geradezu verdächtig still war, ging er vorsichtig ein paar Schritte rückwärts, bis er mitten auf der Straße stand und an der Fassade nach oben blicken konnte. Wenigstens musste er sich um diese Uhrzeit keine Gedanken darüber machen, dass ihn ein Auto überfahren könnte. Als er nach oben sah, bemerkte er zum ersten Mal, dass im ersten Stock Licht brannte. Es war, soweit er sehen konnte, das einzige beleuchtete Fenster in der ganzen Straße. Es musste ein Fenster von Elkes Wohnung sein. Anscheinend war sie wach geblieben, um auf ihn zu warten. Vielleicht war sie auch bei brennendem Licht eingeschlafen, während sie auf ihn gewartet hatte.

Das beleuchtete Fenster wirkte auf ihn wie das Licht eines Leuchtturms im dichten Nebel, denn es schenkte ihm Hoffnung und gab ihm neue Zuversicht.

Er marschierte zurück zur Haustür und studierte das Klingelbrett, das sich rechts neben der Tür befand. Im Schein einer nahen Straßenlaterne konnte er ohne allzu große Mühe die Namen auf den kleinen Messingschildern entziffern. Und tatsächlich war in eins von ihnen der Name Elke Weber eingraviert.

Er legte seinen linken Daumen auf den kleinen Messingknopf neben ihrem Namen und ließ es mehrmals hintereinander klingeln. Am liebsten hätte er Sturm geläutet, bis ihm Elke endlich die Tür öffnete, doch er wusste, dass er ihr nicht schon auf die Nerven gehen durfte, bevor sie überhaupt ein Wort miteinander gesprochen hatten. Deshalb zwang er sich dazu, den Finger vom Klingelknopf zu nehmen und ungeduldig zu warten.

Als nach einer halben Minute, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, noch immer nichts passiert war, wurde er immer nervöser. Er ballte immer wieder die Hände zu Fäusten und entspannte sie dann wieder, während er die Straße in beiden Richtungen im Auge behielt. Doch zum Glück regte sich dort nichts. Nicht einmal das leiseste Geräusch war zu hören, sonst wäre er in seinem augenblicklichen überreizten Zustand vermutlich in die Luft gesprungen und hätte versucht, an der Hauswand hochzuklettern.

Seine linke Hand zuckte nach oben, um noch einmal, dieses Mal wesentlich ausdauernder, zu läuten, doch im gleichen Augenblick zerfetzte ein krachendes Geräusch ganz in der Nähe die nächtliche Ruhe,

(… die Ruhe der Toten …!)

das wie ein Pistolenschuss klang und ebenso laut war.

Er stöhnte erschrocken und fuhr herum. Sein erster Gedanke galt natürlich seinen Verfolgern. Kamen sie nun doch aus ihren Löchern, um ihn im letzten Moment, so kurz vor seinem Ziel abzufangen? Hatten sie die ganze Zeit nur ihr dreckiges Spiel mit ihm getrieben, um ihn zu verhöhnen, und hatten ihn hoffen lassen, er könnte sein Leben retten, um diese Hoffnung nun unter ihren verkohlten, nackten Füßen zu zertreten?

Doch da hörte er Elkes Stimme, die er sogleich wiedererkannte, und er wusste, dass es noch nicht so weit war. Sein galoppierendes Herz beruhigte sich wieder einigermaßen, sofern es in letzter Zeit überhaupt noch in einem Rhythmus geschlagen hatte, den man als normal bezeichnen konnte, und er seufzte erleichtert. Er hatte es tatsächlich geschafft. Er war am Ziel. Endlich! Er war in Sicherheit!

»Rainer? Bist du das?«

Er schaute nach oben, konnte aber aus diesem Winkel, so nah am Haus, nicht viel erkennen. Alles, was er sah, war ein Kopf, der sich aber nur als dunkler Umriss gegen das aus dem Fenster fallende Licht abzeichnete.

Es handelte sich um das Fenster, hinter dem er das Licht gesehen hatte. Und der Lärm, der wie ein Pistolenschuss geklungen und ihn so erschreckt hatte, musste entstanden sein, als Elke es aufgerissen hatte.

Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Er musste sie erst frei räuspern, bevor er zu einer verständlichen Antwort fähig war. »Ja, ich bin’s«, antwortete er krächzend, während er nervös von einem Bein aufs andere trat, als müsste er dringend aufs Klo. »Tut mir leid, aber … aber es ist etwas später geworden.« Wie belanglos und geradezu normal seine Worte doch klangen. Unbeschreibliche Schrecken lagen hinter ihm und grausame Monster waren hinter ihm her, und dennoch benahm er sich, als wäre er nur etwas zu spät aus der Kneipe nach Hause gekommen.

Danach herrschte wieder für mehrere Augenblicke Stille, in der er nur das Blut hinter seinen Schläfen rauschen hören konnte. Erneut regte sich die Panik in ihm und hob ihr hässliches Haupt, als ihm der Gedanke kam, dass Elke es sich doch anders überlegt haben könnte. Wird sie mich jetzt etwa doch im Stich lassen?, fragte er sich bang. Vielleicht hatte sie ja das Blut auf seiner Stirn und die völlig verdreckte und durchnässte Anstaltskleidung gesehen, und war sich nun gar nicht mehr sicher, ob es überhaupt eine so gute Idee war, ihn in diesem Zustand und noch dazu mitten in der Nacht in ihre Wohnung zu lassen.

»Pass auf, Rainer, ich werfe dir den Schlüssel hinunter«, hörte er sie dann jedoch zu seiner grenzenlosen Erleichterung mit gedämpfter Stimme sagen. »Hier, fang auf!«

Schon im nächsten Moment fiel ein kleiner Gegenstand nach unten und reflektierte das Licht der Straßenlaternen, als er immer wieder aufblitzte, während er sich um die eigene Achse drehte. Rainer wollte ihn auffangen, reagierte jedoch zu träge. Und so fiel der Schlüssel zwischen seinen zupackenden Händen hindurch und landete klirrend vor seinen Füßen. Er bückte sich, wobei er jeden einzelnen Muskel in seinem erschöpften Leib zu spüren glaubte, und hob ihn auf. Als er sich wieder aufgerichtet hatte und noch einmal nach oben zum Fenster sah, war Elkes Silhouette bereits verschwunden. Wahrscheinlich war sie schon unterwegs zur Wohnungstür, um für ihn aufzumachen.

Er trat ganz nahe an die Haustür und schob mit zitternden Fingern – er war sich nicht sicher, ob das Zittern von der Kälte oder hauptsächlich von seiner Angst herrührte – den Schlüssel ins Schloss. Er musste ihn mehrmals im Schloss drehen, bevor sich die Tür öffnen ließ. Ehe er ins Haus schlüpfte, sah er sich sicherheitshalber noch einmal um und lauschte gleichzeitig auf verdächtige Geräusche. Doch die Straße lag wie ausgestorben da,

(Gestorben, wie wahr!)

und außer seinem eigenen Schnaufen und dem Pochen des Blutes in seinen Schläfen nahm er kein anderes Geräusch wahr. Erleichtert huschte er durch den Spalt ins Treppenhaus, ließ die Tür hinter sich krachend ins Schloss fallen und lehnte sich dann erschöpft mit dem Rücken dagegen.

 

4

 

Er atmete mehrere Male tief durch und spürte dabei, wie sich ein Teil seiner enormen Anspannung auflöste, denn vorerst war er wieder in Sicherheit.

Er hatte es tatsächlich geschafft. Er hatte alles auf eine Karte, genauer gesagt, auf seine ehemalige

(… und letzte …)

Freundin Elke gesetzt und tatsächlich gewonnen. Jetzt konnte er in Ruhe mit ihr reden und ihr die ganze verfluchte Geschichte erzählen. Und im Gegensatz zu allen anderen würde sie ihm glauben, was er sagte, davon war er felsenfest überzeugt. Denn Elke war anders als die Typen in der Anstalt, die verständnisvoll nickten, ihn gleichzeitig aber insgeheim auslachten und dachten: Du kleiner irrer Scheißer bleibst bis zum Ende deines beschissenen Lebens in unserer VIP-Luxus-Suite für die total Durchgeknallten!

Nein, so wie diese Leute würde Elke niemals auf seine Geschichte reagieren, auch wenn diese sich noch so haarsträubend anhörte. Sie würde ihm nicht nur glauben, was er ihr erzählte, sondern würde ihm anschließend auch helfen, einen Ausweg aus diesem ausweglos erscheinenden Schlamassel zu finden. Auch wenn sie ihn dazu höchstpersönlich irgendwo hinbringen müsste, wo ihn seine Verfolger nicht fanden.

(Träum weiter, Junge. So einen Ort gibt es auf der ganzen verschissenen Welt nicht!)

Vielleicht doch. Denn unter Umständen reichte es schon, wenn Elke ihm Geld für ein Flugticket nach Südafrika, Südamerika oder nach Australien lieh. Diese Orte waren nicht nur beruhigend weit weg von hier, es lagen auch große und tiefe Meere dazwischen, die sogar für die unmenschlichen Wesen, die ihn jagten, nicht so leicht zu überwinden sein dürften. Außerdem war es dort nicht so kalt, sondern angenehm warm.

(Du vergisst, dass du schon ein Ticket gebucht hast, mein Freund, und zwar direkt in die Hölle. Da ist es übrigens auch schön warm …)

Das Aufflackern der Treppenhausbeleuchtung ließ die innere Stimme verstummen und riss ihn aus seinen Überlegungen.

Gleich darauf ertönte Elkes besorgte Stimme: »Rainer, alles in Ordnung bei dir?«

(Nichts ist in Ordnung, Baby. Überhaupt nichts!)

Er nickte so heftig, als wollte er auf diese Weise die grausame Stimme in seinem Kopf und ihre Lügen zum Schweigen bringen, bis ihm einfiel, dass Elke ihn gar nicht sehen konnte. »Ja, … ja, ich komme gleich«, rief er und machte sich auch sogleich daran, die alten Holzstufen hinaufzusteigen, die unter seinem Gewicht laut knarrten. Im Treppenhaus roch es intensiv nach Bohnerwachs.

Das Treppensteigen bereitete ihm größere Mühe, als er erwartet hatte. So erschöpft und müde, wie er momentan war, konnte er gut nachempfinden, wie man sich als alter Mann fühlen musste.

(So alt, wie du dich fühlst, wirst du nicht werden! Das werden deine Freunde nämlich nicht zulassen.)

Hinzu kam, dass nahezu sämtliche Knochen und Muskeln bei jedem Schritt Schmerzimpulse durch seinen geschundenen Körper schickten und die Wunde an seiner Stirn pochte, seit er das deutlich wärmere Treppenhaus betreten hatte.

Obwohl er nur in den ersten Stock musste, drohte ihn mehrmals die Kraft zu verlassen, und die Beine wollten ihm den Dienst versagen. Aber immerhin war er jetzt im Haus, und ein Zusammenbruch, der im Freien vermutlich unweigerlich zu seinem Tod geführt hätte, wäre hier drin nur ein Ärgernis. Doch er biss die Zähne zusammen und kämpfte sich tapfer und verzweifelt eine Stufe nach der anderen hinauf, als müsste er die letzten Meter bis zum Gipfel eines Achttausenders erklimmen. Schließlich konnte er seinem Körper in wenigen Augenblicken die dringend benötigte Ruhe gönnen, sobald er Elkes Wohnung erreicht hatte. Was bis vor Kurzem allerdings noch ein Kinderspiel für ihn gewesen war, wurde nun zu einem mittelschweren Martyrium, das einfach kein Ende zu nehmen schien.

Doch da bekanntlich alles irgendwann ein Ende hat,

(Insbesondere das Leben, hahaha!)

erreichte er schließlich die erste Etage.

Er fühlte sich, als hätte er soeben den Mount Everest bestiegen – zu Tode erschöpft, aber gleichzeitig stolz auf das eigene Durchhaltevermögen –, und blieb schwer atmend auf dem Treppenabsatz stehen, um zu verschnaufen und sich zu orientieren, wo er hinmusste. Rechts und links befanden sich Wohnungstüren, allerdings war die linke geschlossen, während die rechte weit und einladend offen stand. Im Wohnungsflur dahinter brannte Licht. Als die Lampen im Treppenhaus nach Ablauf der eingestellten Zeitdauer automatisch ausgingen, fiel nur noch durch die geöffnete Wohnungstür etwas Licht ins Treppenhaus. Das meiste wurde jedoch von der Gestalt abgeschirmt, die wie ein bedrohlicher schwarzer Schattenriss im hellen Rechteck der offenen Tür stand.

Rainers Herz setzte aus, als die finstere Gestalt die Hand hob. Einen schrecklichen Moment lang befürchtete er tatsächlich, seine Verfolger könnten ihm zuvorgekommen sein und einer von ihnen würde ihm gleich mit einem einzigen tödlichen Streich die Kehle aufschlitzen oder gleich den ganzen Kopf von den Schultern reißen.

Doch da erwachte die Treppenhausbeleuchtung zu neuem Leben, und in ihrem Licht erkannte er, dass es sich bei der Gestalt im Türrahmen nicht um einen seiner albtraumhaften Verfolger, sondern um Elke handelte, die die Hand gehoben hatte, um nach dem Lichtschalter zu greifen und das Licht anzuschalten. Nachdem sie das getan hatte, ließ sie die Hand wieder sinken und vergrub sie in der Tasche ihres Morgenmantels.

Keiner von beiden ergriff als Erster das Wort und sagte etwas. Stattdessen standen sie sich in einem Abstand von weniger als zwei Metern schweigend gegenüber, als würden sie von einer unsichtbaren Mauer getrennt werden, die aus den massiven Ziegeln der verstrichenen Zeit erbaut worden war, seitdem sie sich nicht mehr gesehen hatten und in der sie einander fremd geworden waren. Und wie zwei völlig Fremde, die sich zufällig an der Bushaltestelle oder an der Supermarktkasse begegneten, musterten sie sich nun aufmerksam gegenseitig, um sich ein erstes Bild vom jeweils anderen zu machen.

Trotz der Entfremdung, die aufgrund der vergangenen Jahre und ihrer getrennten Lebenswege, die so unterschiedlich verlaufen waren, unweigerlich eingetreten sein musste, entdeckte Rainer überraschend viel Vertrautes in seinem Gegenüber, sodass er Elke sogar dann sofort wiedererkannt hätte, wenn sie sich zufällig auf der Straße begegnet wären, denn sie hatte sich, seitdem er sie zuletzt gesehen hatte, ganz im Gegensatz zu ihm kaum verändert, so als wäre für sie beide unterschiedlich viel Zeit verstrichen. Daher kam es ihm nun auch so vor, als würden die vergangenen Jahre, die sie getrennt voneinander verbracht hatten, in diesem Augenblick des Wiedersehens dahinschmelzen wie ein Schneeball in der Hölle.

(Apropos Hölle. Ich störe diese schnulzige Wiedersehensszene zwar nur ungern, aber ich muss dich dennoch daran erinnern, dass du vermutlich noch vor Tagesanbruch genau dort landen wirst, wenn deine Verfolger dich in die Finger kriegen.)

Doch Rainer ließ es ausnahmsweise nicht zu, dass die bösartige Stimme in seinem Verstand ihn wie gewohnt irritierte und diesen kostbaren Moment mit ihrem verqueren Humor – oder mit dem, was sie für Humor hielt – zerstörte, und achtete nicht auf ihre gehässigen Worte.

Stattdessen fragte er sich, ob Elke in den letzten Jahren noch schöner geworden war, obwohl sie in seiner Erinnerung schon immer wunderschön gewesen war. Ihr hellblondes Haar, das er immer so geliebt hatte, war jetzt zwar ein Stück kürzer, als sie es damals getragen hatte, ansonsten hatte sich ihr Äußeres allerdings nicht großartig verändert. Und obwohl ihr Gesicht vom Schlaf gezeichnet war und müde wirkte und ihr Haar zerwühlt aussah, war sie in seinen Augen eine der attraktivsten Frauen, die er kannte.

(Na ja! Allzu viele Frauen kennst du ja nicht, oder?)

Der größte Unterschied zu früher bestand vermutlich darin, dass sie nicht mehr das junge Mädchen war, das er gekannt hatte, sondern eine erwachsene Frau. Dennoch drohte er nun erneut in ihren grünen Augen zu versinken, die über die Jahre nichts von ihrer Ausstrahlungskraft verloren hatten und noch genauso strahlten wie damals, als sie sich in der Diskothek kennengelernt hatten. Erinnerungen, die er lange Zeit tief in seinem Bewusstsein vergraben hatte, weil sie ihm Schmerzen bereitet hatten, überfluteten ihn plötzlich mit farbenfrohen, leuchtenden Bildern. Der erste etwas unbeholfene Kuss im strömenden Regen. Endlose Spaziergänge im Wald. Das erste Mal, als sie miteinander geschlafen hatten, dann aber alles so fürchterlich danebengegangen war und er sich trotz ihrer tröstenden Worte maßlos geschämt hatte. Immer neue Erinnerungsbilder kamen und drohten seinen Verstand zu überschwemmen. Doch obwohl er sie in diesem Augenblick genoss, riss er sich dennoch zusammen und verdrängte sie energisch. Schließlich war er nicht hierhergekommen, um in schönen Erinnerungen zu schwelgen. Sein Besuch hatte einen anderen, viel ernsteren Hintergrund.

 

5

 

Auch Elke musterte den nächtlichen Besucher, der vor ihr im Treppenhaus stand, aufmerksam. Sie musste allerdings mit Entsetzen feststellen, dass er nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Jungen von damals hatte, mit dem sie fast zwei Jahre lang zusammen gewesen war. Der Mann vor ihr sah nämlich eher aus wie etwas, das die Katze nach einem nächtlichen Beutezug nach Hause schleppt, nachdem sie es stundenlang gequält hat, und dann als Geschenk an ihre menschlichen Dienstboten auf der Türschwelle liegen lässt.

Er muss krank sein!, war daher Elkes erster Gedanke. Denn ihrer Meinung nach konnte sich kein Mensch in wenigen Jahren in solch einem Ausmaß verändern, wenn mit ihm gesundheitlich alles in Ordnung war.

Als sie ihn verlassen hatte, war er ein etwas pickeliger, aber dennoch attraktiver, lebenslustiger junger Mann von fast neunzehn Jahren gewesen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie seine großen dunkelbraunen Augen sie traurig angesehen hatten, nachdem sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie nicht nur ihre Beziehung beenden, sondern sogar aus dem Ort wegziehen würde.

Er hatte sie damals gar nicht nach den Gründen gefragt, weder für die Trennung noch für den Umzug. »Wenn du woanders hinziehst, ist eine Trennung vermutlich unumgänglich, obwohl es momentan noch verdammt wehtut«, hatte er bemüht tapfer gesagt und ihr zum Abschied einen letzten Kuss gegeben, allerdings nicht mehr auf den Mund, sondern nur noch auf die Stirn. Anschließend hatte er sich ohne ein weiteres Wort umgedreht und war mit hängendem Kopf weggegangen. Seine Schultern und sein Oberkörper hatten dabei gezuckt, als hätte er heftig geweint. Er hatte sich aber nicht mehr nach ihr umgesehen, während sie ihm hinterhergeblickt hatte, und seit diesem Moment hatten sie sich nicht mehr gesehen.

Rückblickend erkannte sie, dass es vermutlich das einzige Mal gewesen war, als sie ihn wirklich unglücklich gesehen hatte, denn sonst war er stets fröhlich und gut gelaunt gewesen. Und so überkamen sie plötzlich heftige Schuldgefühle, als sie sich fragte, ob etwa sie an seinem jetzigen Zustand schuld war, weil sie ihn damals verlassen hatte? Aber nein, beantwortete sie ihre Frage sogleich selbst, eine Trennung konnte doch nicht die Ursache für eine derart radikale Veränderung sein. Oder doch?

Aufgrund der lebhaften Erinnerung hatte sie noch immer ein deutliches Bild seines früheren Selbst vor Augen, das sich nun wie eine Doppelbelichtung über das schob, was sie vor sich sah, und so einen unmittelbaren Vergleich erlaubte.

Damals hatte er sein dunkelbraunes Haar schulterlang getragen und täglich gewaschen. Außerdem war stets tadellos rasiert gewesen. Sein jetziges Aussehen war Welten davon entfernt, sodass sie sich sie in diesem Moment am liebsten umgedreht hätte, zurück in ihre Wohnung gerannt wäre, die Tür hinter sich zugeschlagen und den Schlüssel umgedreht hätte. Denn der Mann, der ihr im kalten Licht der Treppenhausbeleuchtung gegenüberstand, konnte nie und nimmer derselbe Mensch sein, den ihre Erinnerung ihr zeigte. Stattdessen schien ein Fremdling vor ihr zu stehen, dem sie noch nie zuvor begegnet war.

Doch sie unterdrückte den Fluchtreflex und blieb, wo sie war, denn ihr Verstand wusste es besser und erkannte an einigen wenigen charakteristischen und unveränderlichen Merkmalen, dass es doch stimmte und es sich tatsächlich um Rainer handelte. Aber was konnte geschehen sein, dass sich ein Mensch innerhalb weniger Jahre so dramatisch zu seinem Nachteil verändert hatte?

Vielleicht ist das ja sein anderes, sein wahres Ich, flüsterte etwas in ihr, das sie nur entfernt an ihre eigene Stimme erinnerte, weil sie viel kühler, rationaler und emotionsloser klang. Das ist vermutlich die dunkle, zerstörerische Seite von ihm, die erst zum Vorschein kam, nachdem wir uns getrennt hatten. Doch sie brachte die innere Stimme, deren Emotionslosigkeit sie frösteln ließ, energisch zum Verstummen, und sah den Mann, der so fremd auf sie wirkte, stattdessen noch einmal etwas genauer an.

Wie das sprichwörtliche Gestalt gewordene Häufchen Elend stand er vor ihr und schien nicht nur etwas mehr als die vier Jahre, die tatsächlich vergangen waren, sondern mindestens zehn Jahre älter geworden zu sein. Die ehemals schulterlangen Haare waren nur noch halb so lang wie ein Streichholz und ungepflegt, und die verklebten Strähnen standen wie Borsten vom Kopf ab. Elke erkannte sogar einen Streifen aus weißem Haar, der sich wie eine gekrümmte Schlange quer über den Kopf zog. Rainers untere Gesichtshälfte war von schmutzstarrenden, teilweise ergrauten Bartstoppeln übersät, und der Mund war zu einem Ausdruck voller Bitterkeit verzogen, der auf lang erduldetes Leid hinzuweisen schien. Das Gesicht war so eingefallen und hager, dass man deutlich die darunterliegenden Knochen des Schädels erkennen konnte, und zahlreiche tiefe Furchen hatten sich kreuz und quer in die Haut gegraben, was vorwiegend dazu beitrug, ihn wesentlich älter aussehen zu lassen, als er tatsächlich war.

Doch was sie in diesem Moment an ihm am meisten erschreckte, waren seine Augen, die wie zwei entzündete Wunden wirkten. Sie waren dunkel umrandet und blutunterlaufen, lagen tief in ihren Höhlen und glänzten fiebrig. Vor allem gefiel Elke der Blick nicht, mit dem Rainer sie ansah, obwohl sie gar nicht hätte sagen können, was der sonderbare Ausdruck darin zu bedeuten hatte. Dennoch ließ er sie unwillkürlich erschaudern und machte ihr Angst. Man sagt ja, dachte sie, dass die Augen die Fenster zur Seele seien. Doch wenn das tatsächlich so war, dann wollte Elke lieber keinen intensiveren Blick durch diese beiden Fenster in Rainers Inneres werfen.

Siehst du denn nicht, dass er wahnsinnig ist und vermutlich komplett den Verstand verloren hat?, meldete sich erneut die Stimme in ihrem Kopf mit neu gewonnener Kraft zu Wort.

Doch bevor sie genauer über diese naheliegende Vermutung und die möglichen Konsequenzen für sich selbst nachdenken konnte, fiel ihr zum ersten Mal die Wunde in der Mitte seiner Stirn auf. Sie wirkte frisch, blutete allerdings nicht mehr, sondern war von einer dünnen Kruste aus geronnenem Blut bedeckt. Sie sah aus wie ein Stigma. Ihre berechtigten Zweifel an seiner geistigen Gesundheit wurden mit einem Schlag in den Hintergrund ihres Denkens gedrängt, als sie realisierte, dass er verletzt war und Hilfe benötigte. Und da sie in der Lage war, ihm zu helfen, indem sie ihn in ihre warme Wohnung ließ, ihm trockene Sachen zum Anziehen gab und seine Wunde verarztete, zögerte sie nun auch nicht mehr länger.

»O mein Gott, Rainer, du hast dir ja wehgetan!« Sie ging zu ihm, nahm den noch immer Reglosen kurzerhand am Arm und zog ihn mit sich in ihre Wohnung. Er ließ es geradezu emotionslos und teilnahmslos über sich ergehen, während seine Augen noch immer an ihrem Gesicht hingen, als wollte er jede einzelne neu hinzugekommene Linie darin erkunden. Elke konnte nun keine Spur mehr von dem entdecken, was ihr zuvor Angst eingejagt hatte, sondern nur noch das Leid und die Qualen darin erkennen, die er durchgemacht haben musste. Sie verbannte daher fürs Erste alle Zweifel und Ängste aus ihrem Bewusstsein – Habe ich mich denn tatsächlich vor ihm, vor Rainer gefürchtet?, fragte sie sich verwundert. –, denn es war nun wichtiger, dass seine Verletzung versorgt wurde und er aus den nassen Sachen und ins Warme kam. »Los, komm mit! Ich werde deine Wunde versorgen. Das sieht ja böse aus. Wer hat dich denn so zugerichtet?« Die Worte sprudelten jetzt nur so aus ihr heraus, als wollte sie die emotionslose Stimme in ihrem Hinterkopf damit zum Schweigen bringen.

Doch die Zweifel waren, einmal geweckt, hartnäckig und ließen sich nicht so einfach beiseite drängen. Wie unerwünschte Besucher klopften sie erneut leise an die Pforte ihres Verstandes und begehrten energisch Einlass in ihr Denken. Was ist nur mit ihm geschehen?, fragten sie. Und weiter: Vor wem oder was fürchtet er sich nur dermaßen? Denn dass er große Angst hatte, das konnte man deutlich sehen? Und ist das, vor dem er davonzulaufen scheint, noch immer hinter ihm her?

---ENDE DER LESEPROBE---