Vier Todesfälle und ein Tankstellenraub - Eberhard Weidner - E-Book

Vier Todesfälle und ein Tankstellenraub E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Am Abend des Champions-League-Viertelfinal-Rückspiels zwischen Juventus Turin und Bayern München kommt es an einer Tankstelle im bayerischen Oberhofberg zu einem Überfall und zum schicksalhaften Aufeinandertreffen von vier Menschen. Am nächsten Tag hat die Polizei vier mysteriöse Todesfälle und einen Tankstellenraub zu untersuchen. In der Tankstelle wurde der Kassierer erschossen. In einem Weiher mitten im Ort findet man ein gestohlenes Fahrzeug. Der Autodieb sitzt noch immer hinterm Steuer, er konnte sich nicht mehr befreien und ist ertrunken. In einem Park ganz in der Nähe wiederum liegt ein polizeibekannter Drogensüchtiger mit einem Messer in der Brust. Und vor dem Eisenbahntunnel, der unter der Autobahn hindurchführt, wurde eine junge Frau von einem ICE überrollt. Die Behörden gehen von einem Suizid aus, obwohl kein Abschiedsbrief gefunden wurde. Zunächst deutet trotz der Tatsache, dass sich all diese Vorfälle innerhalb weniger Stunden in und um Oberhofberg ereignet haben, nichts darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Ereignissen geben könnte. Doch Franz Schäringer von der Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck, der zusammen mit seinem jungen Kollegen die Morde an dem Tankstellenkassierer und dem Drogensüchtigen aufklären muss, spürt beim morgendlichen Studium der Schlagzeilen über die Todesfälle, den Tankstellenraub und den Diebstahl eines Trekking Bikes, dass es ein verbindendes Element und damit einen Zusammenhang zwischen diesen Vorkommnissen geben muss. Aus diesem Grund überlässt er die Ermittlungen in den beiden Mordfällen größtenteils seinem skeptischen Kollegen und richtet sein Augenmerk vorwiegend auf die anderen Ereignisse jener Nacht, um auf diese Weise der wahren Geschichte hinter den Schlagzeilen auf die Spur zu kommen.

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INHALTSVERZEICHNIS

 

COVER

TITEL

PROLOG

1.

2.

ERSTER TEIL – Die Ermittlungen

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

ZWEITER TEIL – Die Ermittlungsergebnisse

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

EPILOG

1.

2.

3.

4.

5.

6.

ANMERKUNGEN DES AUTORS

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

IMPRESSUM

 

 

 

 

PROLOG

1.

 

Oberhofberg, Tankstelle in der Fürstenfeldbrucker Straße

10. April 2013, 21:51 Uhr

 

Das Unheil begann in dieser mondlosen Nacht mit der Ankunft des Fahrradfahrers an der Tankstelle, aber das ahnte Fabian Becker zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und er wusste auch nicht, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte, sonst hätte er sich in den letzten Minuten seines Lebens vermutlich ganz anders verhalten.

Fabian arbeitete gern in der Tankstelle. Vor allem in einer Nacht wie dieser. In exakt neun Minuten würde er die Tür verschließen und die Kunden nur noch über den Nachtschalter bedienen. Allerdings war momentan ohnehin nichts los. Fabian überlegte, ob er schon jetzt abschließen sollte, dann könnte er sich noch besser auf die zweite Halbzeit des Champions-League-Viertelfinales zwischen Juventus Turin und Bayern München konzentrieren, die vor zwei Minuten angepfiffen worden war. Wenn allerdings vor 22 Uhr doch noch ein Kunde kommen sollte und sich bei Fabians Chef beschwerte, würde es nur wieder Ärger geben. Darauf konnte Fabian aber gut und gerne verzichten, deshalb beschloss er, alles korrekt nach Vorschrift zu machen und die paar Minuten auch noch abzuwarten.

Wenigstens hatte er den Fernseher, um das Spiel nebenbei verfolgen zu können. Es handelte sich um ein kleines, tragbares Röhrengerät, das bestimmt schon mehr als fünfzehn Jahre alt war, damit gewissermaßen aus der Steinzeit des Fernsehzeitalters stammte und auf zwei aufeinandergestapelten, leeren Bierkästen hinter dem Verkaufstresen stand. Der Bildschirm war im Vergleich zu dem Flachbildgerät, das er zu Hause hatte, geradezu winzig, aber er funktionierte und erfüllte somit seinen wichtigsten Zweck. So konnte Fabian das wichtige Spiel seines Lieblingsvereins gegen Juve verfolgen, während er gleichzeitig arbeitete und Geld verdiente. Und falls tatsächlich ein Kunde kam, konnte er den Fernseher mit der Fernbedienung unter der Theke einfach stumm schalten.

Soeben, es war die 49. Minute des Spiels, schoss der Turiner Spieler Fabio Quagliarella aus 17 Metern aufs Tor der Bayern. Fabian, der rein zufällig die deutsche Version desselben Vornamens trug, beobachtete atemlos und mit offenem Mund, wie der Ball gegen den Außenpfosten knallte, und vergaß dabei ganz, den Bissen seines Salami-Baguettes weiter zu kauen, den er gerade im Mund hatte.

Puh, gerade noch mal gut gegangen. Er atmete erleichtert durch, kaute weiter und schluckte dann.

Aus den Augenwinkeln registrierte er eine Bewegung vor der Tankstelle. Obwohl er den Blick nur ungern vom Bildschirm abwandte, aus Angst, er könnte die nächste spannende Torszene oder unter Umständen sogar das erste Tor verpassen, hob er automatisch den Kopf und sah nach draußen.

Er hatte mit einem Auto gerechnet, das an eine der vier Zapfsäulen gefahren war, doch es war nur ein Fahrradfahrer. Was wollte der denn hier? Allem Anschein nach war er kein Fußballfan, sonst säße er jetzt gemütlich zu Hause oder in seiner Stammkneipe vor der Glotze. So wie unzählige andere, die noch bis kurz vor dem Anpfiff hier gewesen waren, getankt hatten oder auf den letzten Drücker Getränke und Knabberzeug für einen spannenden Fernsehabend besorgt hatten. Zu der Zeit bis ungefähr fünf Minuten vor Spielbeginn war an der Tankstelle noch richtig viel los gewesen, beinahe schon Hochbetrieb, und Fabian war kaum mit dem Kassieren nachgekommen und gehörig ins Schwitzen geraten. Danach war aber kaum jemand gekommen, lediglich ein halbes Dutzend Kunden in der Halbzeitpause, sodass Fabian ganz ohne Störung die erste Halbzeit hatte verfolgen können.

Jetzt war es allerdings mit der Ruhe vorbei, denn der Radfahrer hatte mittlerweile sein Rad neben der Eingangstür abgestellt, marschierte zur Eingangstür und öffnete sie, sodass die Glocke läutete, die darüber angebracht war.

Fabian seufzte leise, als der Fahrradfahrer die Tankstelle betrat, und biss ein weiteres Stück von seinem Baguette ab. Er behielt den Kunden noch ein paar Sekunden im Auge, bis dieser, nachdem er sich kurz umgesehen und offenbar orientiert hatte, zum Zeitschriftenregal ging.

Der Radfahrer trug einen grünen Overall, wie ihn sonst nur Bundeswehrpiloten anhatten, allerdings ohne Rangabzeichen, und schwarze Stiefel. Er wirkte merkwürdig unförmig, so als trüge er unter dem Overall noch einen Pullover und ein zweites Paar Hosen, aber das war bei den derzeitigen niedrigen Temperaturen und der Tatsache, dass er nachts mit dem Fahrrad unterwegs war, nicht weiter verwunderlich. Darüber hinaus hatte er eine dunkelblaue Baseballkappe auf dem Kopf, deren langer Schirm die obere Hälfte seines Gesichts und seine Augen beschattete, und einen sehr dichten, schwarzen Vollbart.

Irgendetwas an der Art, wie sich der Typ bewegte und umsah, kam Fabian merkwürdig vor. Er kam jedoch nicht darauf, was ihn daran störte. Außerdem war das momentan auch nicht so wichtig. Wichtiger war das Fußballspiel, dem er nun schon zu lange keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Fabian biss vom Baguette ab, kaute mechanisch und richtete den Blick wieder auf den Bildschirm. Es war die 52. Spielminute und stand zum Glück immer noch null zu null. Thomas Müller dribbelte in den gegnerischen Strafraum. Fabians Pulsfrequenz stieg, während er auf das erste Tor für die Münchener hoffte. Doch daraus wurde nichts, denn der Bayern-Spieler wurde abgeblockt.

Fabian sah rasch auf die Uhr. Es war bereits 21:55 Uhr, in 5 Minuten würde er die Eingangstür abschließen.

In diesem Moment fuhr draußen ein Auto an die Zapfsäule Nummer 2. Fabian bemerkte es erneut aus dem Augenwinkel und richtete den Blick nach draußen. Ein Mann, vermutlich ein paar Jahre älter als Fabian, stieg aus dem Wagen, umrundete den BMW und öffnete den Tankdeckel. Dann nahm er den Zapfhahn und steckte ihn in die Tanköffnung. Während das Benzin in den Tank floss, sah er sich aufmerksam um.

Fabian warf ganz automatisch einen Blick auf den Monitor der Überwachungskameras seitlich unter der Theke, doch der Bildschirm war dunkel. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass die Anlage defekt war und erst am folgenden Vormittag repariert werden sollte.

Er sah stattdessen wieder zum Fahrradfahrer am Zeitschriftenregal, der die Ankunft des Autofahrers ebenfalls bemerkt hatte und in diesem Moment über die Schulter nach draußen blickte. Das Auftauchen eines weiteren Kunden schien ihn zu größerer Eile anzutreiben, denn er kam mit einer Zeitschrift in der Hand und zügigen Schritten durch den linken der beiden Gänge, die zwischen den Warenregalen entlangführten, auf die Kasse zumarschiert.

Fabian nahm noch einen Bissen von seinem verspäteten Abendessen, bevor er es in die Ablage unter dem Verkaufstresen legte. Dann griff er nach der Fernbedienung für den Fernseher, die direkt daneben lag, und stellte das Gerät mit einem Knopfdruck stumm. Er warf einen letzten Blick auf den Bildschirm, aber es schien sich zwischenzeitlich nichts Dramatisches ereignet zu haben, denn die Partie war noch immer torlos.

Nachdem Fabian die Fernbedienung neben das Baguette gelegt und den Blick gehoben hatte, sah er, dass draußen ein Motorrad gehalten hatte. Allerdings stand es nicht an einer der Zapfsäulen, sondern zehn Meter vom Eingang entfernt bei den Münzstaubsaugern.

Verdammter Mist!, dachte Fabian verärgert. Da er erst den Radfahrer abkassieren musste und zwischenzeitlich vermutlich auch noch der Auto- und der Motorradfahrer in die Tankstelle kamen, würde er es wohl heute nicht schaffen, die Eingangstür pünktlich zu verriegeln.

Der Radfahrer war kurz stehengeblieben und hatte über die Schulter hinweg ebenfalls die Ankunft des Motorradfahrers verfolgt. Nun ging er rasch weiter.

Fabian hatte noch immer einen vollen Mund, als der Fahrradfahrer auch schon den Kassentresen erreichte, auf den er mit einer lässigen Bewegung aus dem Handgelenk die Zeitschrift warf, bevor er in den Overall griff, der vorne bis zur Höhe des Bauchnabels offen stand, und einen Gegenstand hervorholte, dessen glänzende Oberfläche das Licht der Leuchtstoffröhren unter der Decke reflektierte.

»Das ist ein Überfall!«, sagte der Fahrradfahrer mit tiefer, offenkundig verstellter Stimme. »Lass dir bloß keine Dummheiten einfallen, Freundchen …!«

Es war 21:57 Uhr, und Fabian hatte nur noch wenige Minuten zu leben.

2.

 

Sieben Schlagzeilen aus dem Lokalteil des Oberhofberger Kuriers vom 11. April 2013:

 

»Champions-League: Bayern gewinnt Viertelfinal-Rückspiel gegen Juventus Turin. Zwei Bundesligisten unter den letzten vier Mannschaften.«

 

 

»Tödlicher Tankstellenraub. Unbekannter Täter erschießt Kassierer und entkommt unerkannt mit Beute.«

 

 

»Autodieb fährt gestohlenen Wagen in Weiher und ertrinkt.«

 

 

»Fahrraddiebstahl in der Rosenstraße. Hochwertiges Trekking Bike aus offener Garage gestohlen.«

 

 

»Mord im Stadtpark. Erstochener Drogensüchtiger vermutlich Opfer eines misslungenen Drogendeals.«

 

 

»Unbekannte von ICE überrollt. Behörden gehen von Suizid aus.«

 

 

»Bürgermeister entsetzt über Häufung von Gewaltdelikten. Laut Polizei keine Verbindung zwischen den Ereignissen der letzten Nacht.«

 

 

 

 

ERSTER TEIL

Die Ermittlungen

1.

 

Fürstenfeldbruck, Büro der Mordkommission

11. April 2013, 8:58 Uhr

 

Kriminalhauptkommissar Franz Schäringer von der Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck nahm einen Kugelschreiber aus dem Stifthalter seines Schreibtischs und umrandete mehrere Schlagzeilen auf der ersten Seite des Lokalteils des Oberhofberger Kuriers, einer Lokalausgabe des Münchner Merkurs, vom heutigen Tag mehrmals.

Es wunderte ihn nicht einmal, dass die Zeitung so flott gewesen war und noch alle Vorkommnisse der zurückliegenden Nacht in ihrer aktuellen Ausgabe untergebracht hatte, denn er hatte einen ihrer Reporter gesehen, den er von früheren Begegnungen kannte, als er selbst kurz vor Mitternacht am ersten Tatort in Oberhofberg eingetroffen war. Der Polizeireporter war vermutlich schon viel früher, wahrscheinlich sogar unmittelbar nach den alarmierten Streifenbeamten vor Ort gewesen, weil er entweder einen Informanten bei der Polizei hatte oder illegal den Polizeifunk abhörte. Schäringer hatte ihm grüßend zugenickt, während der Reporter mit seinem Handy am Ohr bereits die ersten Berichte an seine Zeitung durchgegeben hatte, die unmittelbar danach in Druck gegangen sein mussten, damit die Tageszeitung noch rechtzeitig fertig werden konnte.

Anwohner hatten nach einem Schuss in der Tankstelle in der Fürstenfeldbrucker Straße kurz nach 22 Uhr umgehend die Polizei alarmiert. Nachdem die Besatzung des Streifenwagens die Tankstelle überprüft und den toten Kassierer gefunden hatte, hatte sie sofort die Zentrale informiert und Verstärkung angefordert, um den Tatort zu sichern, die Umgebung abzusuchen und erste Fahndungsmaßnahmen einleiten zu lassen. Im Verlauf dieser Suche nach dem Täter oder den Tätern in Oberhofberg war dann auch der erstochene Motorradfahrer im öffentlichen Park entdeckt worden. Und nur kurze Zeit später hatte ein Anwohner, der mit seinem Hund Gassi gegangen war, einen Einsatzwagen angehalten und von einem Loch im Zaun, der den Weiher umgab, berichtet. Es sehe ganz so aus, als sei da ein Auto durchgebrettert, hatte er gesagt. Und tatsächlich war bei der anschließenden Überprüfung im Weiher ein versunkener BMW gefunden worden, der kurz zuvor 50 Kilometer entfernt gestohlen worden war. Der Fahrer und mutmaßliche Autodieb hatte noch immer am Steuer gesessen, offensichtlich ertrunken. Und als wäre das alles noch nicht genug für einen Ort und eine Nacht gewesen, war die Meldung von einem Selbstmord an den Bahngleisen eingegangen, wo sich eine junge Frau allem Anschein nach vor den ICE geworfen hatte, der gerade aus einem Tunnel gekommen war.

Nachdem Schäringer alle Artikel markiert hatte, die ihm interessant erschienen waren, las er sie noch einmal der Reihe nach durch, runzelte nachdenklich die Stirn und schüttelte dann den Kopf.

Die Tür zum Büro ging auf, und Kriminalkommissar Lutz Baum, Schäringers Mitarbeiter in der Mordkommission, trat ein. Er schlurfte zu seinem Schreibtisch und ließ sich dann auf den Drehstuhl fallen, als hätte er zu dieser frühen Stunde schon einen Marathonlauf hinter sich. Baum war mittelgroß, hatte kurzes, gelocktes Haar in der Farbe frisch geernteter Karotten und neigte zum Übergewicht, was sich allerdings noch nicht an seinem ganzen Körper, sondern momentan bevorzugt in den Regionen um Bauch und Hüften und im Gesicht zeigte und vermutlich auf seine Vorliebe für gutes, reichhaltiges Essen und Berge von Süßigkeiten zwischen den Mahlzeiten zurückzuführen war. Der 38-Jährige stöhnte, ehe er den Becher mit Automatenkaffee an die Lippen setzte und schlürfend einen großen Schluck nahm.

Schäringer sah zu und verzog angewidert das Gesicht. Er konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, wie man die Brühe aus dem sogenannten »Kaffeeautomaten« im Aufenthaltsraum trinken konnte, ohne sich Mund, Speiseröhre und Magen zu verätzen. Er hatte ein einziges Mal vor vielen Jahren einen Schluck getrunken, aber sofort wieder ausgespuckt, weil der Geschmack ihn an viele andere eklige Dinge, nur nicht an Kaffee erinnert hatte. Sein jüngerer Kollege trank hingegen jeden Morgen seine zwei bis drei Tassen mit extra viel Zucker, ohne mit der Wimper zu zucken oder unter ernsthaften Folgen für seine Gesundheit zu leiden. Manchmal trank er auch mehr Automatenkaffee, wenn er, so wie es nach seinem Aussehen zu schließen auch heute Morgen wieder der Fall war, in der Nacht zu wenig Schlaf bekommen hatte und übermüdet war.

»Brauchst du eigentlich gar keinen Schlaf, Franz?«, fragte Baum, nachdem er seinen Kaffeebecher ächzend auf den Schreibtisch gestellt, vorsichtig ein tonnenschweres Augenlid gehoben und einen Blick auf Schäringer geworfen hatte. »Wahrscheinlich bist du schon seit Stunden hier und hast die beiden Mordfälle von letzter Nacht längst gelöst, habe ich recht?«

Schäringer schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Lutz. So lange bin ich auch noch nicht da. Allerdings habe ich schon allein durch das morgendliche Zeitungsstudium genügend Ideen gesammelt, wo ich heute mit meinen Ermittlungen ansetzen werde. Übrigens brauche ich sehr wohl meinen Schlaf, vielleicht nur ein bisschen weniger als du.«

Im Gegensatz zu seinem jüngeren Kollegen war Kriminalhauptkommissar Franz Schäringer sehr schlank und mit seinen ein Meter neunzig um mehr als einen Kopf größer. Obwohl er schon deutlich auf die Sechzig zusteuerte – es waren gerade mal zweieinhalb Jahre bis dahin –, war in seinem aschblonden Haar mit Ausnahme der Schläfen nur wenig Grau zu entdecken. Wie immer trug er einen der 2-teiligen Anzüge, die er vor ein paar Jahren im Katalog eines Versandhandels gesehen und der Einfachheit halber gleich in den Farben braun, mittelgrau, mitternachtsblau und schwarz bestellt hatte – am heutigen Tag war der mittelgraue an der Reihe –, ein weißes Hemd und eine Krawatte.

Lutz Baum war in der letzten Nacht ebenfalls über die Morde informiert und zu den Tatorten gerufen worden. Zum Glück war das Spiel der Bayern gegen Juve schon vorbei gewesen, als sein Telefon geklingelt hatte, sonst wäre er vermutlich ziemlich sauer und unausstehlich gewesen. Nach zweieinhalb Stunden in der Tankstelle und im Stadtpark, wo sich die beiden Kriminalbeamten einen ersten Eindruck von den Mordopfern, Tatorten und Tatumständen verschafft und erste, noch sehr vage und vorsichtige Informationen von der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin erhalten hatten, waren Schäringer und Baum wieder nach Hause gefahren – es war mittlerweile zwanzig nach zwei –, um in dieser Nacht wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, bevor sie heute Vormittag mit vollem Elan in die Ermittlungen der beiden Morde einstiegen. Baum ließ von diesem Elan momentan allerdings wenig erkennen.

»Selbst heute schon Zeitung gelesen?«, fragte Schäringer.

Baum schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf, nahm den Kaffeebecher und trank ihn leer. »Steht heute etwa etwas Interessantes drin?«

»Kann man so sagen. Es gibt zum Beispiel schon erste Berichte über unsere beiden Morde.«

Baum hob die Augenbrauen und machte ein überraschtes Gesicht. »Das ging aber schnell. Allerdings weiß ich über die Morde schon Bescheid, weil ich persönlich an den Tatorten war und mir dort die halbe Nacht um die Ohren schlagen musste. Da muss ich also nichts mehr in der Zeitung darüber lesen. Sonst noch was?«

Schäringer wiegte den Kopf hin und her. »Kommt ganz drauf an. Was hältst du davon, wenn ich dir sieben Schlagzeilen vorlese, die ich ausgewählt habe. Mal sehen, was du darüber denkst. Pass auf!«

»Ich bin ganz Ohr. Die Augen muss ich dazu ja nicht unbedingt offen haben, oder?«

»Hauptsache, du spitzt die Ohren, der Rest deines Körpers interessiert mich nicht. Also, hier kommt die erste Schlagzeile: Champions-League: Bayern gewinnt Viertelfinal-Rückspiel gegen Juventus Turin. Zwei Bundesligisten unter den letzten vier Mannschaften. Was sagst du dazu!«

»Das finde ich als Roter natürlich super«, sagte Baum, der von einer Sekunde zur anderen viel aufgeweckter wirkte, als das Gespräch auf seinen Lieblingsverein kam. »Die Bayern haben verdient gewonnen und sind völlig zu Recht weitergekommen, findest du nicht auch? Aber seit wann interessierst du dich eigentlich für Fußball?«

»Ich habe mich noch nie für Fußball interessiert und interessiere mich auch jetzt nicht besonders dafür. Allerdings steht es in Zusammenhang mit dem Tankstellenüberfall und dem Mord am Kassierer.«

»Ach ja? Inwiefern das?«

»Als wir am Tatort waren, lief auf dem kleinen Fernseher hinter der Verkaufstheke noch immer der Sender, der zuvor das Spiel übertragen hatte. Der Kassierer, sein Name war, Moment, …« Schäringer beugte sich nach vorn, schlug eine der beiden dünnen Akten auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, und las auf der ersten Seite den Namen des Opfers. »… genau, Fabian Becker verfolgte also während der Arbeit das Champions-League-Viertelfinale, als er erschossen wurde. Allerdings war der Ton stumm geschaltet, vermutlich, weil ein Kunde – höchstwahrscheinlich sogar der Mörder – zur Theke gekommen war.«

»Okay. Aber ist das überhaupt von Bedeutung?«

Schäringer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. In einem Mordfall weiß man am Anfang nie, was später noch wichtig werden kann.«

Baum seufzte und verdrehte die Augen. »Du denkst mal wieder viel zu kompliziert und um tausend Ecken herum, Franz. Aber wenn du dich unbedingt wieder in solchen Kleinigkeiten verrennen willst, die mit dem Fall ohnehin nichts zu tun haben, von mir aus. Ich ziehe es stattdessen vor, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und kläre damit unsere beiden Fälle in der Hälfte der Zeit. Aber du hast von sieben Schlagzeilen gesprochen. Lies doch mal die nächste vor!«

»Gut. Hör zu! Tödlicher Tankstellenraub. Unbekannter Täter erschießt Kassierer und entkommt unerkannt mit Beute.«

»Jetzt beginnt es endlich, interessant zu werden, denn das ist unser Fall Numero Uno. Allerdings können es auch durchaus mehrere Täter gewesen sein. Schade, dass die Überwachungsanlage defekt war, dann wären wir jetzt schon erheblich schlauer. Meinst du, da hat jemand absichtlich dran gedreht oder nur die Gunst des Augenblicks genutzt?«

»Es schadet zumindest nichts, die anderen Beschäftigten des Tankstellenpächters und die Firma zu überprüfen, die sich um die Überwachungsanlage kümmert. Das kannst ja du heute Vormittag übernehmen.«

»Hatte ich ohnehin vor. Wie gesagt, ich konzentriere mich aufs Wesentliche. Ich kann mir allerdings schon denken, wie deine dritte Schlagzeile lautet.«

»Ach ja. Und wie?«

»Junkie im Park erstochen! Hab ich recht?«

»Leider nicht. Die kommt erst später und hört sich im Original auch ein bisschen eleganter an.«

»Aha. Und was kommt dann an dritter Stelle? Und wieso eigentlich nicht der Mord im Park, schließlich ist das unser zweiter Fall? Alles andere geht uns doch gar nichts an.«

»Ich hab mir erlaubt, die Schlagzeilen der letzten Nacht, die ich hinsichtlich unserer Ermittlungen für bedeutsam halte, in eine eigene, sinnvolle Reihenfolge zu bringen.«

»Und wieso das?«

»Das verrate ich dir, wenn ich die Fälle aufgeklärt habe.«

»Ach so«, sagte Baum und grinste, als hätte er andere Vorstellungen, wer von ihnen als Erster die richtigen Antworten auf die Fragen nach den Mördern finden würde. »Na gut. Aber verrätst du mir dann wenigstens jetzt schon, wie Schlagzeile Nummer drei nun lautet?«

»Nichts lieber als das. Hier kommt sie: Autodieb fährt gestohlenen Wagen in Weiher und ertrinkt.«

»Ach ja. Davon hab ich letzte Nacht auch gehört. Aber was hat das mit unserem Fall zu tun?«

Schäringer zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber findest du es nicht auch merkwürdig, dass in derselben Nacht, in der ein Tankstellenkassierer bei einem Raub erschossen und ein Junkie im Park erstochen wird, ganz in der Nähe jemand mit einem gestohlenen Wagen in einen Weiher rast und anschließend ertrinkt?«

»Purer Zufall, würde ich mal sagen. Kommt immer wieder mal vor. Wahrscheinlich hatte der Idiot nur zu viel getrunken. Oder hast du irgendwelche Informationen, dass diese drei Vorfälle etwas miteinander zu tun haben?«

»Bisher noch nicht. Die Kriminaltechnik hat allerdings noch nicht alle Spuren auswerten und untersuchen können. Ich hoffe, dass wir da im Laufe des Tages nähere Informationen bekommen, und behalte es trotzdem für meine eigenen Ermittlungen im Auge.«

»Mach, was du ohnehin nicht lassen kannst, Franz. Kommt jetzt wenigstens die Schlagzeile mit dem toten Junkie?«

»Nein. Erst kommt noch die hier: Fahrraddiebstahl in der Rosenstraße. Hochwertiges Trekking Bike aus offener Garage gestohlen.«

Baum sah Schäringer mit einem Blick an, als zweifelte er nun doch ernsthafter am Verstand des älteren Kollegen. »Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?«

»Was ist nicht mein Ernst?«

»Du willst jetzt nicht auch noch ernsthaft behaupten, dass zwischen einem ordinären Fahrraddiebstahl und zwei vorsätzlichen Morden ein unmittelbarer Zusammenhang bestehen könnte, oder?«

»Wieso denn nicht? Die Rosenstraße ist von beiden Tatorten nicht weit entfernt, und der Diebstahl erfolgte vermutlich kurz vor dem Überfall.«

»Wahrscheinlich hat der Eigentümer erst zu dem Zeitpunkt bemerkt, dass sein Drahtesel weg ist, und das Ding wurde schon viel früher von irgendeinem übermütigen Rotzlöffel gemopst. Glaubst du etwa, jemand, der eine Tankstelle ausrauben will, fährt mit dem Fahrrad dorthin, wenn er hinterher schnell flüchten muss?«

Schäringer zuckte erneut mit den Schultern. »Möglich wäre das doch, oder?«

»Möglich ist alles. Aber ob es auch wahrscheinlich ist, das ist doch die große Frage. Und ich halte es eben für sehr unwahrscheinlich. Aber lass uns lieber mit deiner Schlagzeilengeschichte weitermachen. Ich hoffe, jetzt kommt endlich unser zweiter Mordfall.«

»Wenn ich dir damit eine Freude machen kann. Hier ist sie: Mord im Stadtpark. Erstochener Drogensüchtiger vermutlich Opfer eines misslungenen Drogendeals.«

»Da könnten die Jungs von der Zeitung sogar recht haben. Wir sollten das Umfeld des Opfers … Wie war noch mal sein Name?«

Schäringer beugte sich erneut nach vorn, schob die obere Akte zur Seite und öffnete die zweite. »Lukas Lang«, sagte er dann, nachdem er den Eintrag gefunden hatte.

»Danke. Wir sollten das Umfeld von Lukas Lang überprüfen. Vielleicht erfahren wir ja, von wem er üblicherweise seinen Stoff bezog. Und Bingo, haben wir schon einen Hauptverdächtigen.«

»Das kannst ebenfalls du erledigen. Nimm dir am besten gleich alle drei männlichen Todesopfer Lukas Lang, Tim Bloch – das ist der ertrunkene Autodieb – und Fabian Becker vor. Durchsuch ihre Wohnungen und befrag die Eltern, Bekannten, Arbeitskollegen und jeden, der sie sonst noch kannte.«

»Gut. Und was machst du so lange?«

»Ich kümmere mich um die Spuren, die Gerichtsmedizin und die anderen Fälle.«

»Welche anderen Fälle meinst du? Wenn ich dich daran erinnern darf: Wir sind die Mordkommission, und es gab letzte Nacht nur zwei Mordfälle. Alles andere, was in Oberhofberg passierte, hat mit unseren Ermittlungen vermutlich überhaupt nichts zu tun und führt uns nur auf falsche Fährten.«

»Mal sehen. Pass auf, ich schlage dir eine Wette vor. Wenn ich mich tatsächlich täusche und die anderen Vorfälle gar nichts mit den Morden zu tun haben, kaufe ich dir eine Eintrittskarte für das nächste Spiel der Bayern.«

»Aber das muss mindestens ein Champions-League-Spiel sein. Bin schon gespannt, gegen wen sie in der nächsten Runde spielen, Barcelona, Real oder Dortmund. Eine Karte für ein Auswärtsspiel wäre echt geil.«

»Aber nur die Karte. Die Fahrtkosten kannst du selber zahlen.«

»Abgemacht.«

»Okay. Aber wenn ich doch recht habe, bekomme ich auch etwas von dir, Lutz!«

»Und was? Eine Eintrittskarte für die Oper, Opa?«

Schäringer grinste und schüttelte den Kopf. »Nein, wenn ich recht habe, wirst du in diesem Büro nie wieder über Fußball reden, verstanden?«

Baum überlegte nur kurz und zuckte dann mit den Schultern. »Von mir aus. Du hast sowieso unrecht. Aber von welchen anderen Fällen sprichst du eigentlich genau? Meinst du den ertrunkenen Autodieb und den Fahrraddiebstahl?«

»Auch, aber nicht nur. Du hast die Schlagzeile Nummer sechs noch nicht gehört.«

»Dann lass mal hören.«

»Unbekannte von ICE überrollt. Behörden gehen von Suizid aus.«

»Ein Selbstmord? Da glaube ich ja noch eher, dass unser Tankstellenräuber tatsächlich das Fahrrad geklaut hat. Aber wenn du meinst. Ich wünsche dir auf jeden Fall schon mal viel Spaß bei deinen überflüssigen Ermittlungen, denn ich muss jetzt gehen. Da ich mich auf das Wesentliche, nämlich auf unsere beiden Mordfälle, konzentriere und dabei fast alles allein machen muss, hab ich heute nämlich noch eine Menge Arbeit vor mir.« Er stand auf, warf den leeren Kaffeebecher in den Papierkorb und schlenderte langsam zur Tür. »Wir sehen uns vermutlich erst heute Abend wieder, um unsere Ermittlungsergebnisse auszutauschen. Ach ja, wie lautet eigentlich die siebte Schlagzeile? Das ist bestimmt der Knaller, oder?«

»Wie man’s nimmt. Die letzte Schlagzeile, die mir bedeutsam erschien, lautet: Bürgermeister entsetzt über Häufung von Gewaltdelikten. Laut Polizei keine Verbindung zwischen den Ereignissen der letzten Nacht.«

»Da siehst du’s, Franz. Es gibt keine Verbindung!«

»Vielleicht täusche ich mich ja tatsächlich. Aber irgendwie hab ich trotzdem das Gefühl, dass all diese Dinge zusammenhängen.«

»Tsss!«, machte Baum nur, winkte Schäringer zum Abschied zu und verließ das Büro.

2.

 

Oberhofberg, Rosenstraße

11. April 2013, 9:45 Uhr

 

Nachdem Schäringer kurze Zeit später ebenfalls das Büro verlassen hatte, fuhr er ins 25 Kilometer von Fürstenfeldbruck entfernt gelegene Oberhofberg, das in der letzten Nacht durch die unerklärliche Häufung von Gewaltdelikten traurige Berühmtheit erlangt hatte. Sein erster Weg führte ihn zur örtlichen Polizeiinspektion, wo der Diebstahl des Trekking Bikes angezeigt worden war. Er ließ sich eine Kopie der Diebstahlanzeige geben, auf der nicht nur die Anschrift der Eigentümer stand, sondern auch Informationen über das gestohlene Fahrrad festgehalten worden waren, die eine Identifizierung des Diebesguts ermöglichten.

Anschließend fuhr er zu der Adresse und parkte seinen Wagen am Straßenrand vor dem gepflegten Garten eines hübschen Einfamilienhauses. Er stieg aus und ging zur Doppelgarage, deren Tore geschlossen waren. Anscheinend hatten die Eigentümer aus dem Diebstahl gelernt und ließen die Tore nicht mehr für längere Zeit unbeaufsichtigt offen stehen.

Noch bevor er zur Haustür gehen und klingeln konnte, tauchte an der Hausecke eine etwa dreißigjährige, blonde Frau auf, die einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt hatte und ein schlichtes, blaues Kleid trug, das sich eng an ihren schlanken Körper schmiegte. Sie blieb stehen, als sie ihn bemerkte, und sah ihn misstrauisch an. »Sie wünschen?«

»Schäringer, Kriminalpolizei«, antwortete er, zückte gleichzeitig seinen Dienstausweis und ging auf die Frau zu, die sich daraufhin sichtlich entspannte. »Sind Sie Frau Hartwig?«

Sie nickte unsicher. »Kriminalpolizei?«

»Ja. Wir ermitteln in den beiden Mordfällen, die gestern Nacht hier im Ort verübt wurden. Vermutlich haben Sie davon gehört. Im Rahmen unserer Ermittlungen gehen wir auch allen anderen Delikten nach, die gestern in unmittelbarer Nähe zu den Tatorten verübt wurden. Aus diesem Grund hätte ich auch an Sie ein paar Fragen wegen des gestohlenen Trekking Bikes, Frau Hartwig.«

Sie musterte den Dienstausweis aufmerksam und verglich das Foto mit seinem tatsächlichen Aussehen. Allem Anschein nach hatte er immer noch genügend Ähnlichkeit mit seinem Ausweisfoto, um keine Zweifel an seiner Identität bei ihr aufkommen zu lassen, denn sie sagte: »Da müssen Sie meinen Mann fragen. Ihm gehörte das Rad. Aber Markus ist momentan nicht da, sondern im Büro.«

Schäringer nickte. »Vielleicht können Sie mir trotzdem ein paar Fragen beantworten, wenn Sie gerade Zeit haben, Frau Hartwig.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hab um halb elf einen Termin beim Augenarzt, aber für ein paar Fragen habe ich natürlich Zeit. Was wollen Sie wissen, Herr Kommissar?«

Er holte die Kopie der Diebstahlanzeige aus der Innentasche seines Jacketts. »Bei dem Fahrrad handelte es sich nach Angaben Ihres Mannes um ein Maranello Light Trekking Bike von KTM im Wert von 1.100 Euro. Ist das korrekt?«

Sie verzog das Gesicht und zuckte erneut mit den Schultern. »Wenn mein Mann das bei der Polizei so angegeben hat, dann wird das auch stimmen. Ich selbst kenne mich damit nicht aus.«

»Und das Fahrrad stand zum Zeitpunkt des Diebstahls in der Garage.«

»Das kann ich bestätigen! Ich kann Ihnen sogar die Stelle zeigen, wenn Sie wollen.«

Er nickte.

»Augenblick, ich muss nur erst das Tor aufmachen. Einer der elektrischen Garagentoröffner liegt im Hausflur.«

Sie wandte sich um und verschwand um die Hausecke, hinter der sie hervorgekommen war.

Schäringer drehte sich um und ging langsam zurück zur Garage. Er sah sich aufmerksam um und suchte dabei vor allem auf der Zufahrt zur Garage nach Spuren, konnte auf den Pflastersteinen allerdings nichts entdecken.

Nach zwei Minuten begann sich das linke Tor, das näher an der Haustür lag, rumpelnd und quietschend zu heben. Die Haustür ging auf, und Frau Hartwig kam heraus. Sie warteten, bis das Tor sich vollständig geöffnet hatte und zum Stillstand gekommen war, ehe sie die Garage betraten. Der linke Stellplatz war verwaist. Vermutlich stand hier sonst das Auto des Ehemanns, mit dem er heute früh ins Büro gefahren war. Hinter dem geschlossenen Tor stand ein roter Fiat 500. In den Ecken standen Felgenbäume mit Winterreifen, an den Wänden hing Werkzeug, und an der Wand vor der Motorhaube des Fiat lehnte ein Damenfahrrad an der Wand.

»Hier stand auch das Fahrrad meines Mannes.«

»War es abgesperrt oder sonst irgendwie gesichert?«

Frau Hartwig seufzte. »Doch nicht hier in der Garage.«

»Aber die Garage war offen?«

»Bedauerlicherweise ja. Als ich nämlich nach dem Einkaufen nach Hause kam, wollte ich nur schnell die Einkäufe in die Küche bringen und sofort danach das Tor zumachen. Aber dann klingelte das Telefon, und hinterher hab ich vergessen, dass es noch offen war. Erst als mein Mann um halb zehn am Abend nach Hause kam, bemerkten wir, dass die Garage die ganze Zeit offen gestanden hatte. Und da stellten wir dann auch fest, dass das Fahrrad fehlte. Mein Mann hat gleich die Polizei angerufen und wurde gebeten, heute Vormittag auf seinem Weg ins Büro vorbeizukommen, um eine Diebstahlanzeige aufzugeben.«

»Also war es purer Zufall, dass die Garage gestern offen war, weil sie sonst immer verschlossen ist?«

Sie nickte. »Immer. Außer natürlich, wenn einer von uns gerade raus- oder reinfährt. Aber danach machen wir das Tor sofort wieder zu.«

»Was ist mit Kindern, die so etwas öfter mal vergessen, Frau Hartwig?«

Sie schüttelte den Kopf. »Markus und ich haben noch keine Kinder.«

»Da Sie vom Einkaufen gekommen waren, gehe ich davon aus, dass das rechte Tor offen stand. Dann konnte man das Fahrrad von der Straße vermutlich sehen.«

»Davon gehe ich aus. Der Dieb sah das Rad, hatte keine Lust mehr zu laufen, nutzte seine Chance, rannte in die Garage, schnappte sich das Rad und fuhr weg. Der Diebstahl dauerte vermutlich nur wenige Sekunden.«

Schäringer nickte. »Sie haben aber niemanden gesehen, oder?«

»Nein. Ich war ja die ganze Zeit über im Haus und habe auch bei meiner Ankunft niemanden in unserer Straße bemerkt.«

Schäringer sah sich in der Nähe des Platzes um, an dem das gestohlene Fahrrad gestanden hatte, bückte sich und begutachtete den Boden, ob es dort irgendwelche Spuren gab. Doch der gegossene Betonboden war makellos sauber. Es gab weder Fuß- noch Reifenabdrücke, und es lag auch kein Dreck herum.

»Haben Sie vielleicht etwas gefunden, was dem Dieb gehört haben könnte?«

»Nein. Tut mir leid, aber hier war nichts.«

Schäringer musterte das Damenfahrrad. »Ihr Fahrrad ist ja von derselben Marke.«

Sie nickte strahlend. »Natürlich! Wir haben Sie vor anderthalb Jahren zusammen gekauft, ein Damen- und ein Herrenfahrrad.«

»Ich würde mir gern einen Abdruck eines Ihrer Reifen machen, um diesen dann gegebenenfalls mit Spuren an den Tatorten zu vergleichen, wenn Sie nichts dagegen haben, Frau Hartwig.«

»Da habe ich eine viel bessere Idee«, sagte sie, ging an ihm vorbei zur Seitenwand, wo unter anderem eine Aluminiumleiter an der Wand hing, und nahm einen von zwei Fahrrad-Mänteln, die unter der Leiter an einem Haken hingen und die er bislang gar nicht bemerkt hatte. »Sie können sich für die Dauer Ihrer Ermittlungen gern diesen Mantel ausleihen. Er ist nämlich identisch mit den Reifen am Rad meines Mannes. Markus ist immer übervorsichtig und hat sich deshalb schon beim Kauf der Räder Ersatz-Mäntel geben lassen, falls mal einer kaputtgeht.«

»Perfekt!«, sagte Schäringer und nickte anerkennend.

»Ich hoffe, ich konnte Ihnen damit helfen. Der Verlust des Fahrrads ist zwar bedauerlich, aber im Vergleich zu den anderen Dingen, die letzte Nacht geschahen, nicht so schlimm. Viel furchtbarer finde ich es ja, dass die Mörder der beiden jungen Männer noch immer auf freiem Fuß und vielleicht noch immer irgendwo in der Nähe sind. Ich hoffe, Sie schnappen die Kerle bald.«

»Das hoffe ich auch«, antwortete Schäringer. »Und ich bin sehr zuversichtlich, dass uns das bald gelingen wird.«

3.

 

Umgebung von Oberhofberg, Eisenbahntunnel

11. April 2013, 10:33 Uhr

 

Mit dem Fahrrad-Mantel auf dem Beifahrersitz fuhr Schäringer durch Oberhofberg. Er hatte sich alle Tatorte – die Tankstelle, den Weiher, den öffentlichen Park in der Ortsmitte, die Garage der Hartwigs und die Stelle des Selbstmords der jungen Frau vor dem Eisenbahntunnel auf einer Karte markiert. Sie bildeten zwar keine schnurgerade Linie, die eine Systematik erkennen ließ, lagen aber dennoch aufgereiht wie Perlen auf einer leicht gewundenen Schnur, die insgesamt von Nordwesten nach Südosten verlief.

Er folgte gerade dem letzten Teil dieser Linie und fuhr auf einem engen Kiesweg durch den Wald. Als er schon wieder zwischen den Bäumen heraus und ins Freie kam, lag linker Hand des Weges ein verlassener, heruntergekommener Bauernhof. Das Wohnhaus musste schon vor Jahren niedergebrannt sein. Die Scheune daneben stand völlig schief und machte den Eindruck, als könnte sie jeden Moment beim feinsten Windhauch einstürzen.

Er konzentrierte sich auf den schmalen Feldweg, der ihn zum Bahndamm führte und dann parallel dazu verlief. Er fuhr noch ein Stück neben der Böschung her, bis der Weg vor ihm erneut scharf nach links abknickte, weil geradeaus der Steilhang der vielbefahrenen, sechsspurigen Autobahn lag, die wie eine Messerklinge die Landschaft teilte. Die Schienen auf dem Bahndamm verschwanden in einem Tunnel, der unter der Autobahn hindurchführte. Genau vor dieser Tunnelöffnung hatte sich die junge Frau vor den ICE gestürzt.

Er ließ den Wagen stehen und stieg zum Bahndamm hinauf. Der Lärm der Autos auf den sechs Fahrspuren, drei in jede Richtung, war sehr laut. Anscheinend herrschte um diese Zeit besonders viel Verkehr. In der Nacht, als die Unbekannte überrollt worden war, musste jedoch weit weniger los und der Geräuschpegel nicht so hoch gewesen sein. Vielleicht sollte er noch einmal zum Zeitpunkt des Unfalls hierher zurückkehren, um die Lautstärke der Verkehrsgeräusche von der Autobahn zu überprüfen.

Er erreichte das obere Ende des Hangs, blieb allerdings in respektvollem Abstand zu den Gleisen stehen und sah sich um. Reste von Absperrbändern lagen herum und flatterten im leichten Wind, dazwischen weggeworfene Einweghandschuhe. Und wenn man die Schienen, die Holzbohlen und den Schotter des Gleisbetts ein wenig genauer ansah, konnte man hier und da noch immer Flecken und Tropfen aus getrocknetem Blut entdecken. Alles andere, einschließlich jeder Menge weggeworfenen Mülls, war fein säuberlich eingesammelt und eingetütet worden, um es im Labor kriminaltechnisch zu untersuchen. Schließlich wurde momentan nur vermutet, dass es sich um einen Suizid handelte, bis ein Fremdverschulden zweifelsfrei ausgeschlossen werden konnte.

Auch alle Bruchstücke eines Handys, die man gefunden hatte, waren eingesammelt worden. Allerdings waren Gerät und PIN-Karte dermaßen zerstört gewesen, dass man daraus vermutlich nichts mehr über den Anschluss und den Eigentümer herausfinden konnte. Außerdem hatte man einen Teil der Bruchstücke gar nicht mehr gefunden, weil sie entweder zu klein waren, um sie im Gras der Böschung beiderseits des Gleisbetts zu entdecken, oder aufgrund der Wucht des Aufpralls und der Geschwindigkeit des Zuges zu weit weggeschleudert worden waren.

Da die Tote auch keinerlei Papiere bei sich gehabt hatte, war bislang jeder Versuch gescheitert, sie zu identifizieren. Wenn es tatsächlich ein Selbstmord gewesen war, worauf zumindest der erste Anschein hindeutete, hätte die junge Dame es ihnen auch leichter machen können, denn sie hatte nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen. Und wie war sie überhaupt hierhergekommen? Vom Ortsrand bis hierher waren es viereinhalb Kilometer. Schäringer hatte das auf der Fahrt mit seinem Kilometerzähler überprüft. Zu Fuß ein ziemliches Stück. Wenn man allerdings mit dem Fahrrad unterwegs war, sah die Sache schon anders aus. Allerdings war kein Fahrrad in der Nähe gefunden worden. Wäre ja auch zu schön gewesen.

Schäringer rief sich die Karte ins Gedächtnis und suchte nach dem nächstbesten Ort, an dem man einen Wagen abstellen konnte, ohne dass es sofort jemandem auffiel. Er erinnerte sich, dass es ganz in der Nähe, ungefähr zwei bis drei Kilometer von hier, eine Autobahnraststätte gab. Allerdings lag sie auf der anderen Seite der Autobahn. Die kürzeste Art, von hier dorthin zu kommen, war der Weg durch den Tunnel.

Schäringer runzelte unwillig die Stirn, beugte sich dann ein wenig nach vorn und sah in den dunklen Tunnel. Da er nur bis zur anderen Seite der Autobahn reichte, konnte er das andere Ende als hellen Rundbogen etwa 40 Meter entfernt sehen. Momentan war zwar weit und breit kein Zug zu sehen, er wollte jedoch auf keinen Fall mitten im Tunnel überrascht werden. Rechts und links der Gleise gab es zwar genug Platz, wenn man sich dort flach auf den Boden legte oder gegen die Tunnelwand presste, würde einen der vorbeirauschende Zug auch nicht erwischen. Allerdings befürchtete Schäringer, der Luftzug eines mit Hochgeschwindigkeit durch die enge Röhre fahrenden ICE könnte einen Menschen mitreißen und unter die Räder wirbeln.

Er lauschte angestrengt, würde wegen der Verkehrsgeräusche von der Autobahn aber vermutlich erst dann hören, dass ein Zug angebraust käme, wenn er bereits darunter läge. Er griff in die linke Innentasche seines Jacketts und holte den Fahrplan heraus, den er sich nach dem Besuch bei Frau Hartwig am Bahnhof geholt hatte. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Spalten und Zeilen, bis er fand, wonach er gesucht hatte. Der nächste planmäßige Zug würde aus dieser Richtung durch den Tunnel fahren und nach diesem Fahrplan erst in ungefähr 27 Minuten kommen. Ein ICE aus der anderen Richtung musste kurz vor seiner Ankunft vorbeigekommen sein. Hoffentlich hatte der heute nicht Verspätung.

Schäringer steckte den Fahrplan wieder ein und seufzte tief, bevor er nach einem letzten Blick auf seinen Wagen neben den Schienen in den Tunnel ging. Er hielt sich möglichst nah an der linken Tunnelwand, ohne sie allerdings zu berühren, und sah geradeaus zum Ende des Tunnels. Dort konnte er allerdings nur einen Rundbogen aus Tageslicht und nichts von der Landschaft sehen, die dahinter lag. Wenn ein Zug kommen sollte, würde er ihn vermutlich erst sehen, sobald er in den Tunnel fuhr und das Tageslicht blockierte. Und hören würde er ihn vermutlich noch später, denn die Fahrzeuggeräusche von der Autobahn erschienen ihm im Tunnel noch viel lauter. Außerhalb des Tunnels hatte er anscheinend nur die Geräusche von den näher gelegenen Fahrspuren gehört, und das war schon verhältnismäßig laut gewesen. Innerhalb des Tunnels fühlte er sich wie in einem Schalltrichter, der jeden zusätzlichen Laut verstärkte, denn er hörte jedes einzelne Fahrzeug, das darüber hinwegfuhr, in Form eines dumpfen Dröhnens, das ihm durch Mark und Bein ging und seine fest aufeinandergepressten Zähne vibrieren ließ.

Alle fünf Schritte sah er über die Schulter nach hinten, ob sich von dort ein Zug näherte. Das wäre zwar immer noch mehr als 20 Minuten zu früh und für die Deutsche Bahn eher untypisch, aber man wusste ja nie.

Im Tunnel war es viel wärmer als draußen, als staute sich hier die Luft, und ihm traten Schweißperlen auf die Stirn.

Warte nur ab,bis der nächste Zug wie ein Sturm hier hindurchfegt und mehr frische Luft mitbringt, als dir guttut.

Allerdings wollte er längst nicht mehr hier sein, wenn es dazu kam. Er beschleunigte seine Schritte unwillkürlich, als er seiner Schätzung nach die Hälfte der Strecke geschafft hatte. Über ihm musste nun der Mittelstreifen der Autobahn liegen, an dem in diesem Moment unzählige Fahrzeuge in beiden Richtungen vorbeirauschten, deren Reifen ein tiefes Dröhnen auf dem Asphalt erzeugten, das Schäringer allmählich Kopfschmerzen verursachte.

Schon mal was von Flüsterasphalt gehört?

Sein Kopf ruckte so abrupt herum, dass es in seinen Halswirbeln knackte und ein stechender Schmerz durch seine Wirbelsäule fuhr, als er plötzlich das Gefühl hatte, ein kühler Luftschwall hätte ihn von hinten getroffen. Im ersten Moment ging er davon aus, dass es sich um die verdichtete Luft handelte, die ein Zug vor sich herschob, der durch einen Tunnel fuhr. Er rechnete bereits damit, direkt ins Führerhaus eines Triebwagens zu blicken, und machte sich bereit, sich augenblicklich gegen die Wand zu pressen. Doch hinter ihm war nur der leere Tunnel.

Er schluckte, holte tief Luft und wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn, bevor sie ihm in die Augen laufen konnten. Dann sah er rasch wieder nach vorn. Er hatte das Gefühl, die Tunnelwände zögen sich um ihn herum immer enger zusammen, als wollten sie ihn zwischen sich zerquetschen. Er erhöhte seine Geschwindigkeit noch einmal, lief nun beinahe im Dauerlauftempo, geriet noch mehr ins Schwitzen und atmete keuchend.

Nie wieder!, sagte er sich im Rhythmus seiner Schritte, jede einzelne Silbe ein Schritt. Nie wieder! Nie wieder! Nie wieder!

Nie wieder würde er aus freien Stücken in einen Tunnel gehen, wenn auch nur die entfernteste Möglichkeit bestand, dass ein Zug kommen könnte! Er war definitiv zu alt für solche Abenteuer.

Die letzten Meter legte Schäringer im Spurt zurück. Kaum hatte er das Tunnelende erreicht und kam ins grelle Tageslicht, trat er rasch zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken erschöpft gegen die Wand neben der Tunnelöffnung. Er schnappte nach Luft, während er mit zitternden Händen ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche fummelte und sein schweißüberströmtes Gesicht trocken wischte.

»Nie wieder!«, sagte er noch einmal laut, auch wenn niemand in der Nähe war, der ihn hören konnte. Da er nun aber auf dieser Seite des Tunnels war und sein Auto noch immer auf der anderen, stellte sich die Frage, wie er wieder zurück zu seinem fahrbaren Untersatz kam. Er beschloss, von der Autobahnraststätte entweder ein Taxi oder einen Streifenwagen zu rufen, der ihn zurückbrachte. Immerhin hatte er durch seine wahnwitzige Aktion bewiesen, dass man auf diesem Weg rasch auf die andere Seite der Autobahn gelangen konnte, wenn man nur wagemutig genug war. Allerdings bestand natürlich auch die Gefahr, dass man, wenn man nicht aufpasste, von einem Zug überrollt wurde. Und genau das war letzte Nacht einer jungen, bislang noch unbekannten Frau geschehen.

Nachdem Schäringer wieder halbwegs zu Atem gekommen war, sah er sich um. Um zur Autobahnraststätte zu kommen, musste er sich nach rechts wenden. Und dazu musste er zunächst das Gleis überqueren. Er trat wieder näher an die Schienen, bis er in den Tunnel sehen konnte. Dies war seiner Meinung nach der gefährlichste Moment, wenn man von der Seite vor den Tunnel trat und nicht wusste, ob gerade ein Zug hindurchfuhr. Hören konnte man ihn wegen der Geräusche von der Autobahn vermutlich ohnehin nicht. Und wenn man darüber hinaus in Gedanken versunken oder abgelenkt war, oder wenn man sich vielleicht aufgrund unvorhergesehener Ereignisse verspätet hatte und die berechneten Zeiten nicht mehr stimmten, dann konnte leicht ein Unglück passieren.

Er blickte in den Tunnel, der noch immer leer war. Kein bedrohlich schwarzer Umriss eines heranrasenden, brüllenden Ungetüms verdunkelte die Tunnelöffnung auf der anderen Seite, von der er gekommen war und die ihm nun gar nicht mehr so weit entfernt vorkam. Gerade eben im Tunnel war ihm der Weg viel länger erschienen. Er sah auf die Uhr. Bis der nächste Zug eintraf, dauerte es noch immer ungefähr 20 Minuten, sofern er pünktlich war.

In einer mondlosen Nacht würde man allerdings keine helle Tunnelöffnung am anderen Ende sehen können, sondern nur tiefschwarze Dunkelheit. Unter Umständen die Lichter des näher kommenden Zuges, aber vielleicht war es dann schon zu spät.

Schäringer sah noch einmal wie ein artiges Schulkind, das auf dem Nachhauseweg die Straße überqueren musste, in beide Richtungen, um ganz auf Nummer sicher zu gehen, dass tatsächlich kein Zug kam, ehe er rasch über die Schienen lief.

---ENDE DER LESEPROBE---