Das Buch Andras: Gesamtausgabe - Eberhard Weidner - E-Book

Das Buch Andras: Gesamtausgabe E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Drei Tage vor ihrem neunzehnten Geburtstag erwacht Sandra Dorn ohne jede Erinnerung in einem Münchener Privatsanatorium. Sie erfährt, dass ihre Eltern im Keller ihrer Villa anlässlich einer schwarzen Messe brutal ermordet wurden und darüber hinaus ihr Zwillingsbruder Andras verletzt wurde und spurlos verschwunden ist. In der geheimen Bibliothek des Sanatoriums eröffnen ihr der Direktor und ein ehemaliger Beamter des BLKA, dass sie Mitglieder eines geheimen Netzwerks sind, das sich der Bekämpfung der Dämonen und ihrer menschlichen Helfer verschworen hat. Nach ihren Worten beeinflussen unfassbare Wesen aus einer anderen Welt oder Dimension, die der Einfachheit halber als Dämonen bezeichnet werden, schon seit Jahrtausenden die Menschheit. Sie können mit Ritualen beschworen werden und Menschen geistig in Besitz nehmen, streben aber mit aller Macht danach, leibhaftig in unsere Welt zu gelangen, um die Menschheit zu unterwerfen. Nach neuesten Gerüchten soll nun ein Ritual entwickelt worden sein, das dies ermöglichen und dadurch die Unterwerfung der Menschheit einleiten könnte. Und Sandra und ihr Zwillingsbruder Andras scheinen ein wichtiger Bestandteil dieses Rituals zu sein, denn ANDRAS ist auch der Name des Dämons, der die Grenzen zwischen den Welten passieren will. Im Sanatorium ist Sandra vor den Dämonen und ihren Knechten zwar sicher, da diese die Ausstrahlung der psychisch Kranken nicht ertragen können, doch sobald sie es verlässt, begibt sie sich in tödliche Gefahr. Die Befürchtungen der Netzwerkmitglieder scheinen sich nur allzu bald zu bewahrheiten, denn nicht nur religiöse Eiferer trachten Sandra nach dem Leben. Auch die Satanisten bemühen sich mit allen Mitteln, sie wieder in die Hände zu bekommen, um die Dämonenbeschwörung zu wiederholen ...

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INHALTSVERZEICHNIS

 

COVER

TITEL

Prolog

TAG EINS

I. Das Erwachen im Sanatorium

II. Der Anschlag in der Villa

III. Die Besprechung in der geheimen Bibliothek

Erstes Zwischenspiel: Eine albtraumartige Begegnung

TAG ZWEI

IV. Die Beisetzung auf dem Waldfriedhof

V. Das Haus auf der Lichtung

VI. Die Hetzjagd durch den Wald

Zweites Zwischenspiel: Hinter Klostermauern

TAG DREI

VII. Der Überfall auf die Station

VIII. Der Einbruch in die Kanzlei

Drittes Zwischenspiel: Verlorene Erinnerungen

IX. Der Weg ins Kloster

Viertes Zwischenspiel: Die Geschichte der Nonne

TAG VIER

X. Die Dämonenbeschwörung in der Klosterkapelle

Fünftes Zwischenspiel: Das Haus, in dem die Zeit stillsteht

Epilog

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

IMPRESSUM

Prolog

 

Deine Augenlider klappen so ruckartig nach oben, als handle es sich um ein identisches Paar kleiner, mit Sprungfedern versehener Sargdeckel.

Die Rückkehr deines noch immer halb betäubten Bewusstseins in die Realität geschieht so unerwartet und abrupt, als seien in einem von der Außenwelt hermetisch abgeschlossenen, stockdunklen Zimmer soeben simultan die Beleuchtung angeschaltet und alle Geräusch- und Geruchsquellen aktiviert worden. Aus nahezu jeder denkbaren Richtung attackieren nun laute Geräusche, die im ersten Augenblick nicht voneinander zu unterscheiden, geschweige denn zu identifizieren sind, deine durch diese betäubende Kakophonie überforderten Ohren. Fremdartige Gerüche unterschiedlichster Herkunft und Stärke bilden eine einzigartige, ekelerregende Mischung, die deinen gerade erst wiedererwachten Geruchssinn auf eine harte Probe stellen und deinen leeren Magen reizen. Gleichzeitig werden deine nach der langen Ruhephase noch immer empfindlichen Augen von wild umhertanzenden Lichtern geblendet.

Ein vages Gefühl, dass hier etwas nicht so ist, wie es eigentlich sein soll, regt sich tief im Innern deines erwachenden Bewusstseins. Es ist jedoch noch immer zu schwach und unausgeprägt, um sich gegen die überwältigenden Eindrücke zu behaupten, die von außen auf dein dahindämmerndes Ich einstürzen. Der Gedanke vergeht daher so rasch und spurlos, wie er zuvor in dir aufgeblitzt ist, und hinterlässt eine spürbare Leere, ein Vakuum, das danach giert, gefüllt zu werden. Dein nur mühsam zu sich findender Verstand greift deshalb in seiner Verzweiflung nach allen Wahrnehmungen, die ihm deine überforderten Sinne bereitwillig und in großer Menge übermitteln, um die Unvollkommenheit in seiner Mitte mit neuem Leben zu erfüllen.

Der Untergrund, auf dem dein Körper ruht, ist hart und kalt, was nicht nur ein Frösteln auslöst, sondern seltsamerweise auch Ekel erzeugt. Doch dein Bewusstsein hat keine Gelegenheit, sich mit dieser Merkwürdigkeit oder anderen Sinneswahrnehmungen näher zu befassen, da es sofort von zahlreichen weiteren Eindrücken bestürmt wird. Jeder einzelne dieser Reize buhlt um die ungeteilte Aufmerksamkeit deines Verstandes, der aber noch immer nicht ganz wach ist, sondern benommen und schläfrig reagiert.

Eine finstere Silhouette erhebt sich bedrohlich in unmittelbarer Nähe.

Dein Herz schlägt sofort um einige Takte schneller. Der Schweiß bricht aus all deinen Poren.

Auch wenn deine Sinne pausenlos neue Eindrücke liefern, so arbeiten deine Sinnesorgane noch sehr unzuverlässig und nehmen die Umwelt nur undeutlich wahr. Dein Bewusstsein bemüht sich, seine Sinne zu schärfen, doch aufgrund deines benommenen Zustands ist es eine viel zu anstrengende und langwierige Arbeit, als dass sie rasch Wirkung zeigen kann.

Aus dem in seiner Gesamtheit überwältigenden Duftpotpourri kristallisiert sich allmählich der Geruch nach heißem Wachs heraus, worauf dein Verstand unwillkürlich eine Verbindung zur unbeständigen, sich ständig in Bewegung befindlichen Helligkeit zieht, die die Umgebung nicht nur erhellt, sondern große Teile des umgebenden Raumes gleichzeitig in Schatten hüllt.

Nach dem angenehmen Geruch brennender Kerzen werden nun auch andere, teilweise weniger wohlriechende Duftnoten fassbarer, als sei der Eifer deines Geruchssinnes nach diesem ersten Erfolgserlebnis angestachelt worden. Der Gestank nach altem, ranzig gewordenem Körperschweiß kontrastiert mit dem in seiner Penetranz nahezu alles überlagernden Geruch nach brennendem Weihrauch.

Gleichzeitig heben sich aus der zunächst ohrenbetäubenden, unentwirrbaren Geräuschkulisse einzelne Töne ab und werden dadurch für dein halb betäubtes Bewusstsein leichter identifizierbar. Eine Vielzahl menschlicher Stimmen ist zu hören, die im Gleichklang merkwürdige und unheimlich klingende Laute von sich geben, als würden sie etwas in einer fremdartigen Sprache rezitieren, die dein Bewusstsein nicht einmal ansatzweise beherrscht.

Die bedrohliche, dunkle Gestalt, die in unmittelbarer Nähe aufragt, nimmt nun ebenfalls konkretere Formen an. Aus dem Umriss, der von dir vorher allenfalls als dunkler Schemen wahrgenommen wurde, schälen sich konkrete Einzelheiten. Ein schwarzer Kapuzenmantel wird sichtbar, der jedoch keinen Blick auf das Gesicht oder die Hände der regungslos verharrenden Person erlaubt.

Aufgrund der jähen Erkenntnis, ein anderes körperliches Wesen in deiner Nähe zu wissen, bemüht sich dein Bewusstsein nun verstärkt darum, ebenfalls eine erhöhte Körperlichkeit zu erreichen, indem es Teile deines eigenen Leibes in Bewegung versetzt, ist dazu aber nicht in der Lage.

Panik breitet sich daraufhin in dir aus und versetzt deinen Verstand in Aufruhr.

Der disharmonische Sprechgesang wird in diesem Moment lauter und steigert sich zu schrillen Schreien, während gleichzeitig ein gefährlich wirkendes, tierisches Brüllen immer näher kommt.

Eine Spirale aus absoluter Dunkelheit breitet sich in der Luft über deinem Bewusstsein aus und dreht sich, immer schneller und schneller werdend, wirbelnd um sich selbst.

Da hebt die finstere Erscheinung die Arme, und das jähe Aufblitzen reflektierenden Kerzenlichtes in den Händen blendet deine Augen und jagt durch dein immer panischer werdendes Bewusstsein.

Der Lichtblitz saust rasend schnell herab.

Doch da findet dein Bewusstsein endlich seine Körperlichkeit wieder, nach der du dich sehntest, und reagiert ebenfalls gedankenschnell.

Das silbrig schimmernde Objekt mit den aufblitzenden scharfen Kanten wird vom vorbestimmten Kurs abgebracht und zur Seite gelenkt. Ein markerschütternder Schrei ertönt. Der Geruch frisch vergossenen Blutes liegt plötzlich in der Luft und breitet sich rasch aus.

Dein Bewusstsein realisiert, dass gerade etwas Furchtbares geschehen sein muss, kann jedoch in seinem Dämmerzustand die überwältigende Flut verschiedenartiger Wahrnehmungen zu keinem konkreten Bild formen, das für dich einen Sinn ergibt und die Ereignisse begreifbar macht.

Dein Gesicht dreht sich nur widerwillig in die Richtung, in die das scharfkantige, schimmernde Ding gelenkt wurde. Dein Bewusstsein blickt in einen Spiegel, der deine eigene Gestalt nur verzerrt wiedergibt. Eine schreckliche Wunde klafft in der Seite des Körpers, und der kostbare Lebenssaft pulsiert rot und reichhaltig aus der Öffnung, obwohl dein Verstand keinerlei Schmerz aufgrund der schwerwiegenden Verletzung fühlen kann.

Der Schrei aus dem weit aufgerissenen Mund inmitten des schmerzhaft verzerrten Spiegelgesichts geht in den schrillen Schreien und aufgeregten Rufen anderer unter.

Der kreiselnde Wirbel erstarrt zu schwarzem Eis. Ein ohrenbetäubendes Brüllen löscht jeden anderen Laut aus und lässt die Trommelfelle deines von den Ereignissen geschockten Bewusstseins vibrieren. Dein Verstand spürt den Schmerz und schreit ihn ebenfalls hinaus.

Ein glühend heißer Windstoß fährt von oben herab und presst deinen in Schweiß gebadeten Körper gegen den Untergrund. Er bringt den überwältigenden Gestank nach Schwefel, Moder, Fäulnis und Pestilenz mit sich, eine widerwärtige Mixtur, die deinen Würgereflex reizt.

Dann verstummt das unmenschliche Gebrüll gnädigerweise. Gleichzeitig löst sich der erstarrte Wirbel in der Luft auf und verschwindet spurlos.

Erneut dreht dein halb betäubtes Bewusstsein den Kopf und blickt in den Spiegel. Du hebst die Hand, um dein Ebenbild zu berühren, doch dieses entfernt sich plötzlich rasch.

Enttäuschung macht sich in dir breit, als deinem Bewusstsein das Spiegelbild genommen wird. Du willst einen Namen, möglicherweise deinen eigenen

(ANDRAS)

rufen. Doch ehe du dazu in der Lage bist und dein Verstand neue Informationen erhält, die dich unter Umständen in die Lage versetzen, die Ereignisse zu erfassen, versinkst du wieder in der Finsternis, aus der du erst kurz zuvor emporgestiegen bist.

Die aufgeregten Rufe zahlreicher Menschen und der alles übertünchende Gestank nach Blut begleiten dein Bewusstsein, als es wieder erlischt.

Dann ersterben jäh alle Geräusche und Gerüche, und die Dunkelheit kehrt schlagartig zurück, als habe jemand alle Aus-Schalter auf einmal betätigt.

Ganz am Ende schließen sich deine Augenlider, als würde sich der Deckel eines Sarges endgültig herabsenken.

 

 

 

 

TAG EINS

Donnerstag, 18. Juni

I. Das Erwachen im Sanatorium

 

Kapitel 1

 

Mein Erwachen war beileibe keine leichte Angelegenheit, sondern im Gegenteil mühsam und langwierig, denn ich musste mich an die Oberfläche meines Verstandes kämpfen wie ein Taucher aus den dunklen, bodenlos erscheinenden Tiefen des Ozeans. Gleichzeitig spürte ich, wie bleischwere Gewichte an meinem Verstand zerrten, um ihn sofort wieder nach unten in die Finsternis zu ziehen, sollte ich in meinem Bemühen, das Bewusstsein wiederzuerlangen, auch nur einen einzigen Augenblick nachlassen.

Währenddessen wirbelte eine unüberschaubare Vielzahl von Bildern durch meinen Kopf wie ein Schwarm bunter Schmetterlinge. Entweder handelte es sich dabei um Erinnerungsfetzen oder wirre Sequenzen eines Traumes, die mich noch ein Stück des Weges aus dem Schlaf in den Wachzustand begleiteten. Die Bilder waren jedoch zu schnell und zu flüchtig für mein noch nicht vollständig erwachtes, zu träge reagierendes Bewusstsein, denn als ich sie zu fassen versuchte, vergingen sie und lösten sich einfach in nichts auf, bevor ich sie zu greifen bekam.

Ich stöhnte schwach und öffnete die Augen, doch alles, was ich von meiner Umgebung zu sehen bekam, war ein winziger, unendlich fern erscheinender Lichtpunkt, fast so, als würde ich alles nur durch eine lange, dünne Röhre wahrnehmen. Aber dann, mit jeder Sekunde, die ich mich weiter an die Oberfläche meines Verstandes kämpfte, wuchs der Lichtpunkt rasch an, als würde ich mit einer Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern im Führerhaus eines ICE durch einen Eisenbahntunnel rasen, bis er schließlich mein Gesichtsfeld vollständig ausfüllte und mir einen ersten, wenn auch noch völlig unscharfen Blick auf meine Umgebung erlaubte.

Noch ziemlich benommen, aber zumindest halbwegs wach, blinzelte ich einmal, dann in rascher Folge mehrmals hintereinander, um ein klareres, vor allem schärferes Bild zu bekommen. Und in diesem Augenblick wurde ich mir plötzlich – so als hätte ich erst durch die körperliche Tätigkeit des Blinzelns einen Körper erhalten und wäre vorher nur auf meinen Verstand reduziert gewesen – meines Körpers und seiner gegenwärtigen Bedürfnisse bewusst.

Auch wenn ich soeben erst erwacht war, fühlte ich mich müde und zerschlagen, als hätte ich in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekommen, auch wenn ich aufgrund des mühsamen Erwachens eher vermutete, dass ich sehr lange und besonders tief geschlafen hatte. Ein Widerspruch, den ich im Augenblick nicht klären konnte. Mein Mund und meine Kehle fühlten sich staubtrocken und wund an, und ich litt unter schrecklichem Durst. Und in meinem Kopf fühlte ich ein leichtes, aber unangenehmes Pochen, das mir bereits jetzt in Aussicht stellte, im Laufe der nächsten Stunde zu hämmernden Kopfschmerzen heranzuwachsen. Ich wusste zwar nicht, welchem berauschenden Mittel ich diesen Kater zu verdanken hatte, hoffte aber, dass ich wenigstens meinen Spaß gehabt hatte, wenn ich jetzt auch die Folgen zu erdulden hatte.

Nach dieser kurzen, aber schmerzhaften Bestandsaufnahme meines körperlichen Befindens richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Umgebung, die nur langsam klarere Konturen annahm, während mein Blick sich allmählich fokussierte. Allerdings gab es nur wenige Konturen, an denen meine Augen ihre wiedererwachte Sehschärfe trainieren konnten, denn der Raum, in dem ich zu mir gekommen war, war klein und in seiner Ausstattung karg und trostlos. Eierschalenfarbene Wände, eine ebenfalls eierschalenfarbene Decke und eine Tür, die nur unwesentlich heller war, umgaben mich. Möbel gab es, soweit ich sehen konnte, mit Ausnahme des Bettes, auf dem ich lag, keine. Dass es sich um ein Bett handeln musste, schloss ich allein aufgrund der weichen Oberfläche unter meinem ausgestreckt daliegenden Körper, denn als ich meinen Kopf zur Seite bewegen wollte, um mich zu vergewissern, schoss ein schmerzhaftes Ziehen von meiner Nackenmuskulatur bis in mein Gehirn und gesellte sich dort zu seinem entfernten Verwandten, dem heranwachsenden Kopfschmerz.

Wenigstens gelang es mir ohne größere Beschwerden, eine kleine rechteckige Scheibe in der oberen Hälfte der Tür zu entdecken, durch die man einen Blick in dieses Zimmer werfen konnte, ohne die Tür öffnen zu müssen. Allerdings war die Sicht durch das Fenster im Augenblick durch eine Klappe versperrt.

Mein umherwandernder Blick verharrte jedoch nicht, sondern huschte weiter durch den Raum. Er blieb schließlich am letzten Gegenstand hängen, der sich noch im Raum befand. An einem Gestell in einer Ecke des Raumes hing eine Kamera von der Decke. Und das schimmernde Objektiv war genau auf meine auf dem Bett liegende Gestalt gerichtet.

Ich riss schockiert die Augen auf und stöhnte erneut, dieses Mal etwas lauter. Zu differenzierteren verbalen Äußerungen war ich im Moment ohnehin noch nicht in der Lage.

Mein Verstand fühlte sich noch immer so an, als wäre er zuerst in eine dicke Schicht Watte gehüllt und dann in einen zu kleinen Karton gepackt worden, um demnächst per Luftfracht nach Kalkutta oder irgendeinen anderen weit entfernten Ort verschickt zu werden. Meine Gedanken rollten daher so langsam und schwerfällig wie tonnenschwere Bowlingkugeln durch meinen Verstand.

Wer beobachtet mich im Schlaf? Und was noch viel wichtiger war: Aus welchem Grund werde ich im Schlaf beobachtet?

Die dumpf klingenden Worte hörten sich an wie eine Tonbandaufnahme, die mit zu geringer Geschwindigkeit abgespielt wurde, und rollten zunächst ziellos und scheinbar auch sinnlos wie die durcheinanderkullernden Perlen einer zerrissenen Kette durch meinen Kopf, um sich dann doch noch zu vernünftigen Sätzen aneinanderzureihen. Erleichtert erkannte ich, dass es nur meine eigene innere Stimme war, die zu mir sprach.

Doch meine Erleichterung währte nur den Bruchteil eines Augenblicks, denn meine Empörung darüber, dass mich jemand mithilfe dieser Kamera mehr oder weniger heimlich beobachtete, steigerte sich mit jeder Sekunde. Direkt unter der Linse leuchtete eine kleine grüne Diode und bewies mir, dass die Kamera in diesem Augenblick in Betrieb war und die Aufnahmen an einen anderen Ort übertrug, wo sie entweder unmittelbar über einen Monitor angesehen oder zumindest aufgezeichnet wurden.

Zornig stemmte ich meinen Oberkörper empor und wollte mich im Bett aufrichten. Doch ich fiel sofort wieder auf die Matratze zurück, als ich mit dem Brustkorb auf Widerstand stieß und meine Brüste schmerzhaft zusammengequetscht wurden. Ich schluckte die wenig damenhafte Verwünschung, die mir auf der Zunge lag, hinunter – vorwiegend, weil ich meiner Stimme noch nicht traute – und stieß stattdessen erneut ein gequältes Stöhnen aus. Dann richtete ich meinen Blick nach unten, sah auf meinen Körper, und entdeckte einen breiten, brauen Ledergurt, der von einer Seite des Bettes zur anderen verlief und über meinen sich rasch hebenden und senkenden Brustkorb gespannt war. Ähnliche, wenngleich etwas schmalere und kürzere Gurte fesselten sowohl meine Hand- als auch meine Fußgelenke an den metallenen Rahmen des Bettes. Nur am Rande nahm ich außerdem wahr, dass ich einen hellblauen Pyjama trug und von den Schienbeinen bis zum Bauch von einer leichten weißen Decke verhüllt wurde.

Eine weitere, wesentlich schrecklichere Verwünschung bildete sich in dem Teil meines Verstandes, in dem die Niedertracht das Zepter schwingt und in dem derartige verbale Widerwärtigkeiten geboren werden. Ein Ort, der möglicherweise an einen stinkenden, sumpfigen Pfuhl erinnert, an dessen Oberfläche übel riechende Fluchblasen zerplatzen, prall gefüllt mit Obszönitäten und Gemeinheiten. Und dieses Mal, das wusste ich instinktiv, würde es mir nicht mehr gelingen, die Worte zu unterdrücken, ob meine Stimme nun mitmachte oder nicht. Dieses Mal musste ich meinem Ärger über die Behandlung, die mir hier widerfuhr – heimlich observiert und ans Bett gegurtet wie der übelste Schwerkriminelle –, Ausdruck verleihen.

Ich hatte bereits den Mund geöffnet, doch noch bevor ich den ersten Ton des üblen Wortschwalls über die Lippen bringen konnte, hörte ich ein schrilles, durch Mark und Bein gehendes Quietschen wie von einem nicht geölten Scharnier, das schätzungsweise die letzten 184 Jahre nicht in Gebrauch gewesen war, und unmittelbar darauf ein hölzernes Klappern.

Mein wüster Fluch blieb mir förmlich in der Kehle stecken. Ich sah erschrocken zur Tür, dem Ursprung der plötzlichen Geräusche, und bemerkte, dass die Klappe hinter der gläsernen Scheibe geöffnet worden war. Ein Paar leuchtend blauer Augen sah mich durch das nicht ganz saubere Glas aufmerksam an und verschwand wieder, ehe die Klappe kreischend und klappernd geschlossen wurde. Gedämpft hörte ich das Klirren von Schlüsseln, bis einer davon ins Schloss geschoben und rasselnd gedreht wurde, bevor sich die Tür schließlich leise knarrend öffnete.

 

Kapitel 2

 

An dem Mann, der durch die offene Tür trat, fiel mir zuallererst die Größe auf, denn er musste sich leicht bücken und den Kopf einziehen, um nicht am oberen Türrahmen anzustoßen. Ich schätzte seine Körpergröße daher auf eins fünfundneunzig, obwohl er mir in diesem Moment aus meiner Perspektive noch gigantischer, ja geradezu wie ein Riese erschien.

Die übrigen Proportionen seines komplett in Weiß gekleideten Körpers passten zu seiner imposanten Größe. Sein Brustkorb war eindrucksvoll, wirkte dabei aber keineswegs zu breit, und er machte auch sonst einen sehr kräftigen, durchtrainierten Eindruck, ohne dick oder aufgeschwemmt zu sein. Das leicht gelockte, blonde Haar war schulterlang und zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Seine Kleidung – kurzärmliges Hemd und Leinenhose – erinnerte mich unwillkürlich an einen Pfleger in einem Krankenhaus und gab mir damit, verbunden mit der Tatsache, dass ich mit Gurten ans Bett gefesselt war, eine erste, wenn auch nicht sehr angenehme Vorstellung von dem Ort, an dem ich mich gegenwärtig befand. Doch fürs Erste verdrängte ich die langsam und bedrohlich in mir heraufdämmernde Erkenntnis, um mich stattdessen voll und ganz auf meinen Besucher zu konzentrieren, der nun unmittelbar neben dem Bett stand, an das ich geschnallt war, und mit einem freundlichen Gesichtsausdruck und der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen auf mich herabsah. Über dem linken Unterarm trug er, wie ich erst jetzt bemerkte, ein Bündel zusammengelegter Kleidungsstücke, das in seinen riesigen Armen geradezu winzig wirkte.

»Mein Name ist Gabriel. Wie geht es Ihnen?«

Seine Stimme klang tief und grollend, gleichzeitig aber auch sehr angenehm. Sie wirkte – ebenso wie seine ganze Erscheinung – beruhigend auf mich. Die Verärgerung über die Fesselung und die Kamera, die noch kurz zuvor in mir gekocht hatte, war seit seinem Erscheinen immer mehr in sich zusammengesunken wie eine aufblasbare Gummifigur, aus der zischend die Luft entwich, und verebbte nun nahezu vollkommen. Anstatt meiner Erregung also lautstark Luft zu machen, wie ich es vor seinem überraschenden Auftauchen eigentlich vorgehabt hatte, dachte ich stattdessen über seine Frage und insbesondere eine passende Antwort darauf nach.

Ich zuckte mit den Schultern, was mir trotz der Gurte möglich war, räusperte mich und sagte dann mit erstaunlich klarer, wenn auch schwacher Stimme: »Es geht so. Ich habe leichte Kopfschmerzen, aber die sind noch zu ertragen. Viel schlimmer ist der Durst. Könnte ich vielleicht etwas Wasser bekommen?« Sobald ich diesen Wunsch geäußert hatte, fiel mir ein, dass ich im Zimmer weder ein Waschbecken noch ein Wasserglas gesehen hatte. Wahrscheinlich musste ich mich also noch etwas gedulden, bevor ich meinen Durst stillen konnte.

Gabriel bestätigte meine Einschätzung auch sogleich. »Sie bekommen etwas zu trinken, sobald ich Sie zum Doktor gebracht habe.«

»Doktor?«, fragte ich, während das Wort in meinem Verstand widerhallte wie die Glocke einer Friedhofskapelle. Die düsteren Ahnungen über meinen Aufenthaltsort kehrten mit Macht zurück, und mir brach der Schweiß aus. Gleichzeitig blitzten in meinem Kopf in rasender Folge Fragen auf, schneller noch, als ich sie zu stellen vermochte. Während ich sprach, überschlug sich meine Stimme und wurde vor Verzweiflung immer schriller. »Von welchem Doktor sprechen Sie? Wo bin ich? Und warum bin ich überhaupt hier? Warum werde ich beobachtet? Wer hat das angeordnet? Und wieso wurde ich festgeschnallt? Wer ist für all das verantwortlich? Wo …?«

Ich verstummte abrupt, als Gabriel die rechte Hand hob, als wollte er damit wie mit einem Schutzschild die auf ihn einprasselnden Fragen abwehren, und mir Einhalt gebot. Doch anstatt auf meine Fragen zu antworten, stellte er selbst eine Frage an mich. »Erinnern Sie sich denn nicht?«

Die Frage klang auf den ersten Blick einfach, doch sie brachte mich dennoch aus dem Konzept. Natürlich erinnere ich mich!, dachte ich fast trotzig und begann, in meinem Gedächtnis nach den entsprechenden Erinnerungen zu suchen, da sie nicht sofort präsent waren. Doch sosehr ich mich auch bemühte, ich wurde nicht fündig. Dies erschien mir auch logisch, denn warum hätte ich ihm sonst all diese Fragen stellen sollen, wenn ich die Antworten darauf selbst gekannt hätte.

Gabriel hatte mich währenddessen aufmerksam beobachtet. Ich hatte das unangenehme Gefühl, er würde in diesem Moment bis tief in meine Seele blicken und dort erkennen, dass ich mich nicht erinnern konnte. Ohne meine Antwort abzuwarten, die mir unter Umständen ohnehin vom Gesicht abzulesen war, fuhr er fort: »Wissen Sie denn wenigstens, wie Sie heißen? Können Sie mir Ihren Namen nennen?«

Diese Fragen erschienen mir schon wesentlich einfacher. Ich öffnete den Mund, und eigentlich hätte die Antwort darauf, nämlich die Nennung meines Namens, wie aus der Pistole geschossen kommen müssen. Doch als nichts dergleichen geschah, und ich stattdessen stumm wie ein Fisch blieb und immer angestrengter nachdenken musste, wurde mir schlagartig und mit erschreckender Gewissheit bewusst, dass es gar keine einfachen Fragen waren. Zumindest nicht für mich und nicht in diesem Augenblick. Gleichzeitig wurde für mich deutlich, dass ich wohl ein wesentlich größeres Problem hatte, als ich zunächst angenommen hatte.

Dennoch ließ ich mich nicht so schnell entmutigen. Ich schloss die Augen, um jede Ablenkung durch die Außenwelt auf ein Minimum zu reduzieren, und forschte noch intensiver in den Tiefen meines bodenlos wirkenden Verstandes. Das gibt es doch nicht, dass ich mich nicht mehr an meinen eigenen Namen, nicht einmal mehr an mich selbst erinnern kann, dachte ich grimmig. Natürlich hatte ich von derartigen Fällen bereits gehört oder gelesen – Amnesie wurde dieser Zustand genannt –, aber das konnte doch nicht mir widerfahren sein. Mein Name ist … Ich bin … Doch an diesem Punkt kam ich einfach nicht weiter.

Meine Gedanken stießen immer tiefer in mein Gedächtnis wie bohrende, tastende, suchende Finger und forschten dort geradezu fieberhaft – und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn mir wurde schlagartig heiß und der Schweiß brach mir aus, obwohl ich diese körperlichen Empfindungen nur am Rande wahrnahm – nach jedem noch so winzigen Fetzen einer Information, die mir einen Anhaltspunkt für die Antworten auf Gabriels Fragen geben könnte. Plötzlich hatte ich das starke Empfinden, ganz nah dran zu sein, so als würde mir der Name gleich auf der Zunge liegen, sodass ich ihn nur noch aussprechen musste. Doch dann stießen meine Gedankenfinger unvermittelt ins Leere. Sie tasteten umher wie der Stock eines Blinden, trafen jedoch nirgends in ihrer unmittelbaren Umgebung auf den geringsten Widerstand. Ein ziemlich ausgedehnter Bereich aus absolutem Nichts schien sich an dieser Stelle meines Gedächtnisses zu befinden, an der eigentlich Tausende von Erinnerungen zu finden sein müssten. Wie eine ausgedehnte Fläche Ödland inmitten eines grünen, wuchernden Regenwaldes, auf der absolut nichts, nicht einmal ein winziger Grashalm wuchs.

Ich glaubte, einen schwachen Sog wahrzunehmen, der von dieser unheimlichen Leere in meinem Gedächtnis ausging, nach meinem tastenden Verstand griff und ihn in das unheimliche Nichts zerren wollte wie in ein schwarzes Loch. Ich zog meine Gedankenfinger daher so schnell wie möglich wieder etwas zurück, konnte es jedoch nicht lassen, weiterhin die Ränder dieses Leerraums prüfend abzutasten, so wie man mit der Zunge immer wieder ungewollt über eine wunde Stelle im Zahnfleisch streicht, obwohl man genau weiß, dass man das besser bleiben lassen sollte. Ich stellte dabei fest, dass es im Grunde keinen gleitenden Übergang gab, sondern der Bereich mit intakten Erinnerungen – die allerdings nur allgemeine und keine persönlichen Dinge betrafen – schlagartig endete, so als wäre mit einem scharfen Skalpell ein bestimmter Bereich meines Gehirns herausgeschnitten worden. Das war natürlich absoluter Blödsinn, wie selbst mir als Laie im Bereich der Gehirnchirurgie klar war.

Ich testete Erinnerungen und Fähigkeiten, die in den unbeschädigten Bereichen meines Verstandes gespeichert waren. Ich konnte mich an zahlreiche Personen der Zeitgeschichte, Orte, geschichtliche Ereignisse und eine Unmenge anderer Dinge erinnern. Ich war problemlos in der Lage, einfache und sogar kompliziertere Rechenaufgaben zu lösen und ganze, willkürlich gewählte Sätze ins Englische, ins Französische und teilweise sogar ins Lateinische zu übersetzen, obwohl ich bei Letzterem schon größere Schwierigkeiten hatte.

Insgesamt betrachtet machte es mir also keine besondere Mühe, mich innerhalb kurzer Zeit an all diese eher allgemeinen Informationen zu erinnern. Doch sobald ich wieder in den Bereich vorstieß, in dem sich die persönlichen Erinnerungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens in seinem Gedächtnis abspeichert, hätten befinden müssen, fand ich nichts anderes als die schrecklich gähnende Leere. Alles, was mich persönlich betraf – mein Name, meine gesamte Vergangenheit, im Grunde mein komplettes bisheriges Leben –, war wie ausgelöscht. Beinahe kam es mir so vor, als hätte ich vor meinem Erwachen überhaupt nicht existiert.

Ein furchtbarer Gedanke, der mir Angst machte.

 

Kapitel 3

 

Schließlich gab ich auf, zog meine gedanklichen Finger aus den Tiefen meines Verstandes und öffnete die Augen.

Es waren scheinbar nur wenige Sekunden vergangen, obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorgekommen war, denn Gabriels Gesichtsausdruck hatte sich nicht im Geringsten verändert. Immer noch sah er interessiert und freundlich auf mich herab und wartete auf eine Antwort, ohne zu ahnen, welches Drama sich soeben in meinem Verstand abgespielt hatte.

Ich spürte den Schweiß, der mir unter anderem in Form unzähliger kleiner Perlen auf der Stirn stand, und hatte plötzlich Mühe, ein Schluchzen und die Tränen zurückzuhalten, die meine Augen zu überschwemmen drohten. Zu groß war in diesem Moment die Enttäuschung über die niederschmetternde Erkenntnis, dass ich eine Frau ohne Namen und Vergangenheit war.

Da ich befürchtete, in lautes, unkontrollierbares Schluchzen auszubrechen, sollte ich versuchen, auch nur ein einziges Wort zu äußern, beschränkte ich mich darauf, den Kopf zu schütteln. Dabei lösten sich zahlreiche Schweißtropfen von meiner Stirn, liefen mir übers Gesicht und vermischten sich mit ein paar Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte und die mir aus den Augenwinkeln rannen.

Gabriel verstand, was ich damit ausdrücken wollte. Er nickte, während sich ein mitfühlender Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete. In diesem Moment glaubte ich zu erkennen, dass in der breiten Brust dieses im wahrsten Sinne des Wortes großen Mannes auch ein mindestens ebenso großes Herz schlagen musste.

»Das haben wir befürchtet!« Gabriel runzelte nachdenklich die Stirn, ließ aber offen, wen er mit wir meinte. »Aber wenigstens kann ich Ihnen in einer Sache weiterhelfen: Ihr Name ist Sandra Dorn.«

Sandra Dorn – Sandra Dorn – Sandra … Dorn – Sandra … Dorn – San…dra … Dorn – Sa…n…d…ra … D…or…n …

Der Name wirbelte durch meinen Kopf wie eine aufgeregte Fliege in einem verschlossenen Marmeladenglas, erzeugte immer wieder neue Echos, die von den Innenwänden meines Schädels abprallten wie verbale Querschläger, sich überlagerten und in ihre Einzelteile, ihre Silben, ja sogar ihre einzelnen Buchstaben zersplitterten, bis die beiden Worte jegliche Bedeutung verloren hatten, ohne während all dessen auch nur einmal ein Gefühl von Vertrautheit oder Wiedererkennen in mir auszulösen.

Zunächst hatte ich noch gehofft, die Nennung meines Namens würde, einer Initialzündung gleich, eine Flut weiterer Erinnerungen auslösen, die aus den Tiefen meines Unterbewusstseins hervorströmten und meinen Verstand überschwemmten, doch nichts dergleichen geschah. Es schienen nur zwei einfache Worte zu sein, die Bezeichnung einer Person zwar, aber ohne eine besondere Beziehung zu mir oder eine tiefere Bedeutung für mich persönlich.

Dennoch war dieser Name im Augenblick scheinbar alles, was mir von meinem bisherigen Leben geblieben war, sodass ich ihn trotz seiner anfänglichen Fremdheit dankbar annahm wie ein kostbares Geburtstagsgeschenk und sogleich in verschiedenen Variationen in Gedanken benutzte, um mich daran zu gewöhnen: Sandra Dorn. Mein Name ist Dorn, Sandra Dorn. Ich heiße Sandra Dorn. Hallo, ich bin Sandra. Vielleicht, so hoffte ich, würde er mir mit der Zeit und mit dem Grad seiner Anwendung vertrauter werden, so wie man neue Schuhe auch erst einlaufen muss, bevor sie hundertprozentig passen.

»Frau Dorn?«

Gabriel hatte mich wohl schon mehrmals mit meinem Namen angesprochen, bevor ich endlich darauf reagierte. Einerseits war ich tief in Gedanken versunken gewesen, zum anderen hatte ich noch Startschwierigkeiten, mich an den für mich in meiner gegenwärtigen Situation noch unvertraut klingenden Namen zu gewöhnen und dementsprechend zu reagieren, wenn ich ihn hörte.

»Hat Ihr Name weitere Erinnerungen in Ihnen ausgelöst?«, fragte Gabriel, als ich ihm wieder meine volle Aufmerksamkeit schenkte.

»Nein!« Es gelang mir, dieses eine Wort zu sagen, ohne in Tränen auszubrechen. Die Traurigkeit darüber, all meine wertvollsten Erinnerungen an mein früheres Leben und mein Ich verloren zu haben, war noch nicht vollständig abgeklungen, sondern für den Augenblick allenfalls an den Rand meines Bewusstseins verlagert worden. Ich hegte jedoch die Befürchtung, dass sie dort geduldig darauf wartete, um zu gegebener Zeit und aus gegebenem Anlass erneut über mich herzufallen. Es sei denn, es gelang mir vorher, meine Erinnerungen auf andere Art und Weise wiederherzustellen, so wie man nach dem versehentlichen Löschen der Festplatte eines Computers auf eine zuvor erstellte Sicherheitskopie zurückgreift. Ich besaß zwar kein solches Backup meiner Erinnerungen, möglicherweise konnte ich die Lücken aber durch Informationen füllen, die ich von anderen erhielt. Schon formte sich in meinem Kopf ein wahrer Katalog weiterer Fragen, die meine Aufmerksamkeit so vollständig gefangen nahmen, dass mir schon aus diesem Grund keine Zeit blieb, weiterhin Trübsal zu blasen.

Gabriel musste mir angesehen haben, dass ich mich wieder gefangen hatte und ihn jeden Moment mit einem weiteren Bombardement an Fragen eindecken würde. Bevor ich auch nur eine einzige davon stellen konnte, nahm er mir aber schon den Wind aus den Segeln, indem er sagte: »Ich bin im Augenblick leider nicht in der Lage, Ihnen weitere Fragen zu beantworten, Frau Dorn. Vielleicht kann Ihnen aber Dr. Jantzen dabei helfen, die eine oder andere Lücke in Ihrem Gedächtnis zu füllen. Sobald er erfahren hatte, dass Sie aufgewacht und allem Anschein nach wieder bei Sinnen sind, wies er mich an, Sie zu ihm zu bringen.«

»Wieder bei Sinnen …?«, wiederholte ich nachdenklich. Zumindest wurde mir nun ansatzweise bewusst, warum ich mit Ledergurten ans Bett gebunden worden war. Ich war wohl nicht bei Sinnen gewesen, was immer das im konkreten Fall bedeutete.

Erneut schien mir Gabriel anzusehen, was ich dachte. Vielleicht war ich auch nur sehr einfach zu durchschauen. Was wusste ich denn schon über mich? Gar nichts!

»Sie haben richtiggehend getobt«, konkretisierte der Pfleger seine vorherige Aussage. »Nachdem Sie eingeliefert worden waren, haben Sie jedes Mal, sobald Sie erwacht sind, fürchterlich geschrien, um sich geschlagen, getreten und sogar gebissen. Zu Ihrer eigenen und zur Sicherheit des Personals mussten wir Sie fixieren …« Bei diesen Worten wies er mit der rechten Hand nacheinander auf die diversen Ledergurte. »… und medikamentös ruhigstellen. Der Durst und die Kopfschmerzen kommen wahrscheinlich davon.«

Möglicherweise hatte er mir damit weitaus mehr erzählt, als er eigentlich vorgehabt hatte, und unweigerlich einen Rattenschwanz weiterer Fragen aufgeworfen. Doch bevor ich auch nur ein Wort äußern konnte, vollführte er mit der Hand wieder eine entschlossene Geste, die mir Schweigen gebot.

»Da Sie jetzt wach und nach meinem ersten Eindruck auch wieder endgültig bei Sinnen sind, gehe ich davon aus, dass die Fixierung durch die Gurte nicht länger erforderlich ist. Wenn Sie mir versprechen, keine Schwierigkeiten zu machen, kann ich auch davon absehen, Ihnen zur Sicherheit eine Zwangsjacke anzuziehen.«

Mir wurde bereits bei der bloßen Vorstellung ganz anders, in einer Zwangsjacke durch das Gebäude zu diesem Doktor Jantzen geführt zu werden. »Was immer vorher mit mir los war, jetzt bin ich wieder vollkommen klar im Kopf«, versicherte ich dem Pfleger daher rasch und ergänzte, wenn auch nur in Gedanken: Abgesehen von einer Gedächtnislücke so groß wie ein Fußballfeld. Laut fuhr ich fort: »Ich verspreche hoch und heilig, Ihnen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Großes Indianerehrenwort. Ich werde ganz brav sein.« Meine Worte klangen zwar ziemlich kindisch, doch ich meinte sie ernst. Und wenn ich meine Hände hätte bewegen können, dann hätte ich meine Worte sogar durch die entsprechenden Gesten ergänzt, so eifrig war ich bemüht, Gabriel von meiner Ernsthaftigkeit zu überzeugen, denn eine Zwangsjacke war in meiner Vorstellung zu eng mit dem Begriff »Irrsinn« verknüpft. Möglicherweise befürchtete ich, neben dem offensichtlichen Problem mit meiner Erinnerung tatsächlich den Verstand zu verlieren, sobald man mich in eine Zwangsjacke stecken würde.

Meine ernsthaften Worte und vermutlich auch mein Gesichtsausdruck mussten überzeugend genug gewesen sein, denn Gabriel nickte schließlich. »Gut, dann will ich Ihnen mal glauben. Sobald ich die Gurte entfernt habe, können Sie diese Kleidungsstücke anziehen. Ich hoffe, sie passen halbwegs. Ich werde draußen im Flur warten, bis Sie sich angezogen haben. Danach bringe ich Sie zu Dr. Jantzen. Er wartet bestimmt schon ungeduldig auf uns.« Nach diesen Worten legte er das Kleiderbündel, das er die ganze Zeit über dem linken Unterarm getragen hatte, direkt neben meinem Kopf auf dem Bett ab und begann dann, nacheinander die Gurte zu lösen.

 

Kapitel 4

 

Dr. Jantzen machte überhaupt nicht den Eindruck, als hätte er ungeduldig auf mein Erscheinen gewartet. Ganz im Gegenteil: Er hatte mich weder begrüßt, als Gabriel mich in den Raum geführt hatte, noch hatte er bislang in sonst einer äußerlich erkennbaren Weise meine Gegenwart zur Kenntnis genommen. Er blätterte stattdessen in einem schmalen Hefter, dessen Inhalt seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Man musste kein Albert Einstein sein, um zu erraten, dass es sich bei der Mappe wohl um meine Krankenakte handelte. Sie war zum Glück nicht sehr umfangreich. Dies weckte in mir die berechtigte Hoffnung, dass ich kein Dauergast in dieser oder einer ähnlichen Einrichtung war, sondern nur aufgrund eines unglücklichen Umstands, möglicherweise eines Irrtums – wogegen aber mein von Gabriel erwähntes Toben in den letzten Tagen sprach –, für kurze Zeit hier gelandet war und bald wieder in mein Leben, wie immer dieses auch aussehen mochte, zurückkehren konnte.

Der Arzt und ich saßen uns in einer Art Besprechungszimmer gegenüber, jeder an der Schmalseite eines langen Tisches, der, wäre er auch nur um wenige Meter länger, es wohl erforderlich gemacht hätte, dass wir uns schreiend verständigen oder mit Walkie-Talkies ausgerüstet werden mussten. Allerdings war es weder von seiner noch von meiner Seite bislang zu einem Versuch der Verständigung gekommen. Vielleicht hatte der gute Doktor auch Angst, Schwachsinn könnte ansteckend sein, und versuchte daher, so viel Raum wie nur möglich zwischen sich und seine Patienten zu bringen.

Ich trug mittlerweile nicht mehr den blauen Schlafanzug, in dem ich erwacht war, sondern schlichte weiße Baumwollunterwäsche, eine hellblaue Jeans, ein schwarzes T-Shirt ohne Aufdruck, weiße Socken und ein Paar einfacher, weißer Leinenturnschuhe. Nicht alles davon passte wirklich hundertprozentig, weswegen ich davon ausging, dass es nicht meine eigenen Sachen waren. Was mit meiner Kleidung geschehen war und warum ich fremde Sachen anziehen musste, waren zwei weitere Rätsel, die sich in die lange Liste der Fragen einreihten, auf die ich mir von Dr. Jantzen im Laufe unseres bevorstehenden Gesprächs Antworten erhoffte.

Auch wenn mein erster Eindruck von Dr. Jantzen aufgrund seines distanzierten Verhaltens nicht der allerbeste war, war mir dennoch bewusst, dass mein weiterer Aufenthalt in dieser Einrichtung und die Umstände desselben wohl in erster Linie vom Urteil dieses Mannes abhängen würden. Ich hatte daher nicht vor, ihn schon bei unserer ersten Begegnung allein dadurch gegen mich aufzubringen, indem ich ihn beim Studium meiner Krankenakte störte. Aus diesem Grund übte ich mich vorerst in Geduld und trank gelegentlich von dem Wasser, das Gabriel mir unmittelbar nach unserer Ankunft in einem großen Glas zusammen mit einer Aspirin-Tablette gegen meine Kopfschmerzen gebracht hatte. Ich vermeinte bereits zu spüren, dass der pochende Schmerz in meinem Schädel von Minute zu Minute schwächer wurde, während Dr. Jantzen sich Seite um Seite durch die zum Glück nicht sehr umfangreiche Akte arbeitete und scheinbar jeden einzelnen Abschnitt sehr aufmerksam und teilweise sogar mit gerunzelter Stirn studierte. Immerhin verhalf mir diese Geduldsprobe zu einem weiteren kleinen Mosaiksteinchen in meinem verlorenen Selbstbildnis, indem sie mir zeigte, dass ich, wenn es darauf ankam, geduldig sein konnte.

Anfangs verkürzte ich mir die Wartezeit dadurch, dass ich aus dem Fenster sah, das sich schräg hinter Dr. Jantzen befand. Es war schließlich das erste Fenster, durch das ich seit meinem Erwachen nach draußen sehen konnte, denn weder der winzige Raum, in dem ich zu mir gekommen war, noch die Flure, durch die wir hierhergekommen waren, hatten Fenster gehabt. Allerdings wurde mir schnell langweilig, denn alles, was ich sehen konnte, waren das sattgrüne Laub zahlreicher Bäume und darüber ein Streifen des strahlend blauen Himmels. Wenn mich meine Erinnerung in dieser Hinsicht nicht ebenfalls im Stich ließ, dann musste es Mitte bis Ende Juni sein, an das genaue Datum konnte ich mich aber beim besten Willen nicht erinnern.

Gabriel stand währenddessen wie ein Wachtposten schräg hinter mir und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Als ich mich kurz nach ihm umsah, schien er in Gedanken versunken zu sein. Wahrscheinlich war er die Eigenheiten von Dr. Jantzen gewöhnt und hatte, weil es im Augenblick für ihn nichts zu tun gab, geistig abgeschaltet. Vielleicht spielte er auch gerade im Kopf eine komplizierte Schachpartie gegen sich selbst oder dichtete Haikus. Beides hätte ich ihm durchaus zugetraut.

Um nicht ebenfalls mangels äußerer Anreize geistig auf Sparflamme zu schalten, spulte ich mein Leben im Kopf kurzerhand um ein paar Minuten zurück und ließ gedanklich erneut einen Teil der Eindrücke Revue passieren, die ich gewonnen hatte, als ich an Gabriels Seite durch die Flure dieses Gebäudeteils hierhermarschiert war.

Eigentlich hatte ich mir das Innere einer Irrenanstalt – denn um eine solche handelte es sich aller Voraussicht nach, so viel war mir inzwischen klar geworden – ein wenig anders vorgestellt. Falls ich bereits vor meinem jetzigen Aufenthalt Erfahrungen mit dem Innenleben einer Klapsmühle gemacht hatte, so waren diese zusammen mit den anderen persönlichen Erinnerungen über Bord gegangen und gehörten damit zu den wenigen, die von mir nicht sonderlich vermisst wurden. Mein diesbezügliches Wissen beschränkte sich daher, wie bei den meisten Menschen, eher auf allgemeine Eindrücke, Bilder und Sätze, die aus Filmen, Fernsehberichten, Illustrierten oder Büchern stammen mussten.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, ließ mich Gabriel aus dem Zimmer, in dem ich zu mir gekommen war. Ich hatte insgeheim damit gerechnet, mich in einem düsteren Gang wiederzufinden, in dem sich auf beiden Seiten eine verriegelte Zellentür an die andere reihte. Zellentüren, hinter denen all die Verrückten in winzige Räume eingeschlossen waren wie Gefangene in einem mittelalterlichen Verlies. Die Realität sah natürlich ganz anders aus.

Der Raum, aus dem ich in den hell erleuchteten, in freundlichen Farben gestrichenen Flur trat, wurde Beruhigungsraum genannt und diente dazu, gewalttätige Patienten für eine Weile zu isolieren und ruhig zu stellen, bis sie sich wieder beruhigt hatten. Das erklärte mir Gabriel während unseres kurzen Spaziergangs zu meinem Blind Date mit Dr. Jantzen.

Ansonsten beherbergte diese Abteilung ohnehin nur leichtere Fälle, was mich schon einmal beruhigte, sah ich mich doch selbst keineswegs als Verrückte. Die Türen zu zahlreichen Patientenzimmern, die wie Zimmer in einem Wohnheim eingerichtet waren, und zu den großen Aufenthaltsräumen, in denen die Insassen an mehreren Tischen Brett- oder Kartenspiele spielen, lesen, stricken, sich unterhalten oder abends fernsehen konnten, standen offen, und es herrschte ein reges Kommen und Gehen auf den Fluren. Nur wenige Türen – vor allem Toiletten, Baderäume, Schwesternzimmer, Therapieräume etc. – waren geschlossen.

Auf den Fluren, durch die wir auf unserem Weg kamen, begegneten uns zahlreiche Personen. Andere hielten sich in einem der Aufenthaltsräume oder ihren Zimmern auf und gingen diversen Tätigkeiten nach. Das Personal – Schwestern, Pfleger, Ärzte – konnte man daran erkennen, dass sie in der Regel in Weiß gekleidet waren so wie Gabriel, der vielen grüßend zunickte oder sogar beim Namen nannte.

Die Patienten trugen hingegen überwiegend normale Straßenkleidung, so wie in meinem Fall, einige auch bequeme Jogging- oder Hausanzüge und manche lediglich Morgenmäntel über ihren Schlafanzügen oder Nachthemden, als wären sie gerade erst aufgestanden und auf dem Weg zum Frühstück, obwohl es dafür bereits viel zu spät war.

Letztere machten in der Regel einen zutiefst verwirrten oder sogar komplett weggetretener Eindruck, starrten beispielsweise die weiße Wand oder den Boden zu ihren Füßen an, während sie teilweise unverständliche Laute von sich gaben, oder tanzten zu Melodien, die nur sie hören konnten. Diesem Personenkreis war noch am ehesten anzusehen, dass sie an diesem Ort genau richtig waren und wahrscheinlich nie mehr – schon zu ihrem eigenen Besten – von hier weggehen würden. Bei vielen anderen fiel es mir dagegen schon wesentlich schwerer oder war es sogar schlichtweg unmöglich, sie allein aufgrund ihres äußeren Eindrucks als Irre zu identifizieren. Wäre ich einigen von ihnen in der U-Bahn oder auf der Straße begegnet, hätte ich sie kaum eines zweiten Blickes gewürdigt, so normal wirkten sie auf mich. Trotzdem gab es vermutlich bei allen einen guten Grund, weswegen sie schlussendlich an diesem Ort gelandet waren.

Ich betrachtete all diese Menschen nicht als Leidensgenossen, da ich mich eben nicht wie eine Verrückte, also wie eine von ihnen fühlte. Schließlich litt ich nur unter einer Erinnerungslücke, auch wenn diese Lücke, um ehrlich zu sein, nicht gerade klein, sondern eher so breit wie eine dreispurige Autobahn zu sein schien. Aber nur wegen fehlender Erinnerungen war man doch noch lange nicht verrückt, oder? Na schön, ich sollte seit meiner Einlieferung wie die sprichwörtliche Wahnsinnige getobt und sogar andere gebissen haben, was Menschen, die als normal angesehen werden und alle Tassen im Schrank haben, in der Regel nicht tun. Aber das war vorbei. Seit meinem Erwachen war ich doch wieder vollkommen normal, oder? Zumindest fühlte ich mich, abgesehen von meinen fehlenden Erinnerungen, vergleichsweise normal und hoffte, dass Dr. Jantzen diese geistige Normalität alsbald bestätigen und mir zur Entlassung aus dieser Irrenanstalt zurück in die Freiheit verhelfen würde.

Doch diese Hoffnung war nicht völlig ungetrübt, denn meine fehlenden Erinnerungen hingen nach wie vor bedrohlich wie ein Damoklesschwert über mir. Schließlich wusste ich nicht einmal, wo ich nach meiner Entlassung hingehen sollte. Wo wohnte ich? Welche Personen kannte ich dort draußen? Wo war meine Familie? Wer waren meine Freunde? Ich hatte unzählige Fragen, auf die ich mir durch das Gespräch mit Dr. Jantzen Antworten erhoffte.

Doch bevor ich mir weitere Gedanken über meinen eigenen Geisteszustand im Vergleich zu dem der übrigen Insassen machen konnte, wurde ich abrupt in die Realität zurückgeholt, als Dr. Jantzen seine fesselnde Lektüre beendete und bereit war, sich endlich mit mir zu befassen.

 

Kapitel 5

 

»Guten Tag, Frau Dorn«, sprach mich Dr. Jantzen an und riss mich damit aus meinen Überlegungen. Dies erfolgte für mich so unerwartet, dass ich erschrocken zusammenzuckte und ihn erst einmal mit großen Augen anstarrte, als sähe ich ein Gespenst oder ein rosa Kaninchen vor mir und nicht den Arzt einer Heilanstalt. Am liebsten hätte ich mich daraufhin selbst geohrfeigt, denn wenn ich schon einen halbwegs normalen Eindruck und nicht den eines komplett durchgeknallten Menschen vermitteln wollte, dann hatte ich das möglicherweise schon durch meine erste Reaktion vergeigt.

»Guten Tag, Herr … äh, Dr. Jantzen«, beeilte ich mich daher zu erwidern. Ich freute mich, dass ich seinen Namen nicht vergessen hatte, und hoffte, die Scharte wieder ausgewetzt zu haben, indem ich ihn namentlich ansprach. Würde sich eine echte Wahnsinnige überhaupt die Mühe machen, sich den Namen zu merken und den Doktor korrekt anzusprechen? Wohl kaum!

Der Arzt hatte die Akte noch immer aufgeschlagen vor sich liegen und seine Ellbogen rechts und links davon auf die Tischplatte aufgestützt, sodass sich die Spitzen seiner Finger über den Unterlagen trafen und seine Handflächen ein Zelt bildeten. Auf dessen Spitze hatte er seine breite, fleischige Nase gelegt, als wäre sie ihm zu schwer geworden. Seine grünen Augen wurden durch die Gläser seiner rahmenlosen Brille vergrößert und musterten mich abschätzend, sodass ich mir für einen Moment vorkam, als wäre ich ein winziges Pantoffeltierchen und würde durch das Okular eines riesigen Mikroskops betrachtet werden. Dann räusperte sich Dr. Jantzen laut, als würde er sich auf einen längeren Vortrag vorbereiten, und brach damit den Bann. Er löste die Hände voneinander und griff, während er mit der linken durch seinen sandfarbenen, von grauen Strähnen durchzogenen Vollbart strich, mit der rechten Hand nach einem Kugelschreiber, um sich vermutlich während des Gesprächs Notizen zu machen.

»Frau Dorn. Ich bin Dr. Stefan Jantzen, Facharzt sowohl für Neurologie und Psychiatrie als auch für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Gleichzeitig bin ich der Leiter dieser Abteilung des psychiatrischen Privatsanatoriums Dr. Straub.«

Ich war mir sicher, dass Dr. Jantzen diesen kleinen Vortrag über seine Qualifikationen jedem seiner Patienten hielt, dennoch leierte er die Worte nicht einfach herunter, sondern sprach ernst und eindringlich mit mir, als wären die beiden Sätze für mich von existenzieller Bedeutung. Und ich hörte ihm auch ebenso aufmerksam zu, denn in meiner gegenwärtigen Situation war ich für jeden Fetzen an Information dankbar, der mir dabei half, das gefräßige schwarze Loch in meinem Schädel wieder aufzufüllen. Was Dr. Jantzen mir bis jetzt gesagt hatte, waren zwar nur allgemeine Informationen über seine eigene Person, seine Funktion und meinen Aufenthaltsort, doch ich hoffte, dass im Laufe unserer Unterredung auch Informationen über mich folgen würden. Gegebenenfalls musste ich den Arzt gezielt danach fragen, doch ich hatte das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen war. Also hielt ich mich zurück und übte mich weiterhin in Geduld.

Dr. Jantzen blätterte kurz in der Akte, als würde er nach bestimmten Informationen suchen, und fuhr dann fort: »Sie wurden vor vier Tagen, am frühen Sonntagmorgen um 4:38 Uhr eingeliefert, nachdem man Sie in einem verwirrten und aggressiven Zustand aufgegriffen hatte. Auch nach der Aufnahme durch den diensthabenden Arzt verhielten Sie sich weiterhin äußerst aggressiv und griffen jeden an, der Ihnen zu nahe kam. Aus diesem Grund wurden Sie medikamentös ruhiggestellt und überwacht. Danach erfolgte die ärztliche Aufnahmeuntersuchung. Sie waren körperlich unversehrt, in Ihrem Blut wurde jedoch eine starke Konzentration verschiedener halluzinogen wirkender Substanzen festgestellt. Sie konnten weder Ihren Namen nennen, noch waren Sie in der Lage, auf einfachste Fragen zu antworten. Der diensthabende Arzt schrieb in den Aufnahmebogen, dass Sie sich wie ein wildes Tier gebärdeten. Sie knurrten und schrien unartikuliert, schlugen um sich, kratzten und bissen sogar zu. Ein Pfleger und eine Schwester mussten wegen Bissverletzungen, die Sie ihnen zugefügt haben, sogar ärztlich behandelt werden. In dieser Hinsicht kann ich Sie allerdings beruhigen, denn es handelte sich um keine schwerwiegenden Verletzungen.«

Dr. Jantzen machte eine Pause und sah mich durch die Gläser seiner Brille konzentriert an, als wollte er seine bisherigen, teilweise durchaus schockierenden Äußerungen auf mich einwirken lassen und vor allem meine Reaktion darauf sehen.

Meine Reaktion auf seine Worte war jedoch eher zwiespältig. Einerseits schockierte es mich natürlich, zu hören, dass ich mich wie ein Tier verhalten und zwei Menschen verletzt hatte. All das tat mir leid, und ich beschloss, mich bei den Betroffenen bei nächster Gelegenheit zu entschuldigen. Andererseits hatte ich aber keinerlei eigene Erinnerungen an diese Geschehnisse, sodass für mich eine unmittelbare Verbindung zwischen den geschilderten Ereignissen und mir fehlte. Es fühlte sich aus diesem Grund eher so an, als wäre all dies nicht mir, sondern einer anderen Person widerfahren. Statt Scham empfand ich daher eher ein starkes Gefühl der Depersonalisation.

»Während Ihres viertägigen Aufenthalts im Beruhigungsraum haben wir durch die richtige Dosierung des Beruhigungsmittels dafür gesorgt, dass Sie dreimal pro Tag zu sich kamen«, fuhr der Arzt fort. »Einerseits dienten diese Wachphasen dazu, Sie zu füttern und zur Toilette zu bringen, andererseits wollten wir natürlich überprüfen, ob sich Ihr Zustand verbessert hatte. Leider waren Sie aber bis heute kein einziges Mal ansprechbar. Ihr psychischer Zustand schien sich nach Ihrer Einlieferung nicht zum Besseren zu verändern. Wir waren daher gezwungen – zu Ihrem eigenen Schutz und dem unseres Personals –, Sie immer wieder in einen künstlichen Schlaf zu versetzen, und hofften, dass sich Ihr Zustand beim nächsten Erwachen wesentlich verbessert hatte. Dies war heute endlich der Fall. Nachdem Sie erwacht waren, stellte das Überwachungspersonal, das Sie mithilfe der Kamera im Beruhigungsraum ständig unter Beobachtung hielt, fest, dass Sie zum ersten Mal bewusst auf Ihre Umgebung reagierten. Ich wurde daher umgehend informiert und schickte Gabriel zu Ihnen, um Sie zu mir bringen zu lassen. Der Rest ist Ihnen bekannt.«

»Ja.«

»Wie geht es Ihnen jetzt? Haben Sie noch irgendwelche Beschwerden?«

Für den Moment drängte ich meine eigenen Fragen in den Hintergrund meines Bewusstseins, wo sie sich wahrscheinlich weiterhin fröhlich und ungebremst vermehrten, während ich nicht auf sie achtete, und konzentrierte mich stattdessen zunächst auf das, was der Arzt von mir wissen wollte.

»Ich hatte nach dem Aufwachen einen ausgetrockneten Mund und leichte Kopfschmerzen«, informierte ich ihn, wie ich es bereits Gabriel gegenüber getan hatte. »Gabriel brachte mir freundlicherweise dieses Glas Wasser und eine Kopfschmerztablette. Beides hat geholfen, meine Beschwerden zu lindern. Die Kopfschmerzen sind inzwischen kaum noch zu spüren. Aber …«

»Aber …«, bohrte Dr. Jantzen sofort nach, nachdem ich verstummt war. Wahrscheinlich gehörte es zu seinem Beruf, beim kleinsten Zögern sofort unnachgiebig nachzuhaken und alles ans Licht des Tages zu zerren, was seine Patienten ansonsten nur widerstrebend von sich gaben.

»Ich … kann mich an … an nichts … äh, erinnern«, sprach ich mein größtes Problem schließlich stotternd aus und sah Dr. Jantzen hilflos an, weil mir in diesem Augenblick die richtigen Worte fehlten, um das ganze Ausmaß meines inneren Zustands angemessen zu beschreiben.

Doch anstatt mir mit Worten eine Art akustischer Hilfestellung zu geben, wartete er einfach schweigend ab, was ich noch aus eigenem Antrieb von mir geben würde. Unter Umständen wollte er meine Aussagen nicht beeinflussen oder unbewusst in eine falsche Richtung lenken.

Ich schluckte, versuchte, mir in Gedanken die passenden Worte zurechtzulegen, und fuhr dann, immer noch stockend, fort: »Ich meine, … alles, was mich selbst betrifft, … meine Vergangenheit, mein Leben, ja, sogar mein Name …, das ist alles weg. Wie ausgelöscht, gewissermaßen wegradiert.« Wie zur Verdeutlichung meiner Erklärungen – irgendwie hatte ich wohl das Gefühl, es bedurfte einer solchen, da mir meine eigenen Worte absolut unzulänglich erschienen, um das Ausmaß der Leere in meinem Verstand auch nur annähernd anschaulich zu machen – klopfte ich mir mit den Handflächen mehrmals leicht von beiden Seiten gegen die Schläfen.

Dr. Jantzen nickte verständnisvoll, als könnte er nachempfinden, wie mir im Augenblick zumute war, was ich jedoch stark bezweifelte, und vollführte mit der linken Hand eine besänftigende Geste. »Beruhigen Sie sich bitte, Frau Dorn. Ich kann mir gut vorstellen, wie Sie sich im Moment fühlen, glauben Sie mir. Aber zunächst möchte ich Ihnen einige Fragen stellen, um das genaue Ausmaß Ihres Gedächtnisverlustes festzustellen. Sind Sie damit einverstanden?«

Ich nickte knapp. Im Grunde war ich mit allem einverstanden, wenn es mir dabei half, den Verlust meiner Erinnerungen wieder rückgängig zu machen.

»Gut. Dann lassen Sie uns anfangen.« Dr. Jantzen zog ein unbeschriebenes Blatt Papier aus der Akte und machte den Kugelschreiber schreibbereit, den er schon die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Umfasst Ihre Erinnerungslücke ausnahmslos Aspekte Ihrer persönlichen Lebensgeschichte?«

Ich nickte, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. »Soweit ich das feststellen konnte, ist es so.«

Der Arzt schrieb ein paar selbst aus der Ferne krakelig erscheinende Worte auf das Blatt und stellte währenddessen schon die nächste Frage: »Sie können allgemeine Informationen, die Sie im Verlauf Ihres bisherigen Lebens gesammelt haben, also bei Bedarf problemlos abrufen und nutzen?«

»Ja. Genauso ist es! Ich habe es selbst schon überprüft. Fremdsprachen, mathematische Berechnungen, geschichtliche Personen und Ereignisse, an vieles aus diesen und anderen Bereichen kann ich mich problemlos erinnern. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, woher ich bestimmte Kenntnisse habe. Ich kann also nicht sagen, was ich beispielsweise in der Schule gelernt habe oder auf andere Weise – aus Büchern oder dem Fernsehen – aufgeschnappt habe.«

Die Spitze der Kugelschreibermine verursachte ein kaum hörbares, schabendes Geräusch, als sie rasch über die Oberfläche des Papiers huschte und ihre wohl nur für Dr. Jantzen lesbaren Schriftzeichen hinterließ.

»Umfasst die Lücke in Ihren Erinnerungen, soweit Sie das zu diesem Zeitpunkt überhaupt beurteilen können, sämtliche autobiografischen Informationen Ihres ganzen bisherigen Lebens, oder beschränkt sie sich nur auf einen bestimmten, eingrenzbaren Zeitraum?«

»Ich denke, dass …« Ich stockte, überlegte kurz, wie ich es formulieren sollte, und setzte dann noch einmal neu an. »Nach meinem Gefühl ist … alles weg.«

»Wie steht es mit Ihrem Kurzzeitgedächtnis? Können Sie sich zum Beispiel lückenlos an alle Ereignisse seit Ihrem Erwachen erinnern?«

»Ja, sicher«, bestätigte ich, insgeheim froh, dass wir uns wieder auf vertrauterem und ungefährlicherem Terrain bewegten. »Damit habe ich überhaupt keine Probleme.«

»Können Sie mir dann sagen, wie ich heiße?«

Ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Sie sind Dr. Stefan Jantzen, Facharzt sowohl für Neurologie und Psychiatrie als auch für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Außerdem sind Sie der Leiter dieser Abteilung des psychiatrischen Privatsanatoriums Dr. Straub«, wiederholte ich nahezu wortwörtlich seine eigenen einleitenden Sätze, mit denen er sich vorgestellt hatte. Es handelte sich zwar nur um einen kleinen Test, mit dem der Arzt mein Kurzzeitgedächtnis prüfen wollte, doch ich fühlte mich, als hätte ich soeben eine wichtige Prüfung erfolgreich gemeistert und konnte mir daher auch ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.

Dr. Jantzen erwiderte mein Lächeln sogar für einen kurzen Moment und nickte anerkennend. »Ausgezeichnet, Frau Dorn. Ihr Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht nur tadellos, Sie haben außerdem auch ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen.« Erneut huschte der Kugelschreiber in seiner Hand über das Papier und fügte dem bisher Niedergeschriebenen weitere Einzelheiten hinzu, die am Ende, wenn unterm Strich alles zusammengezählt wurde, zu einer hoffentlich nicht zu niederschmetternden Diagnose über meinen Zustand führen würden.

»Aber an die Zeit vor Ihrem heutigen Erwachen können Sie sich im Grunde überhaupt nicht erinnern?«

Ich dachte diesmal etwas länger nach, bevor ich antwortete. Noch einmal näherte ich mich mit meinen gedanklichen Fühlern dem Flecken umfassender Leere in meinem Verstand, fand dort jedoch weder einen Widerhall auf die Frage des Arztes noch sonst einen Erinnerungsfetzen. Wenn ich bewusst an mein Leben vor dem heutigen Tag dachte und versuchte, mir Bilder oder Ereignisse davon ins Gedächtnis zu rufen, erntete ich lediglich anhaltendes Schweigen und undurchdringliche Finsternis. Also zog ich meine blind umhertastenden Gedankenfühler rasch wieder zurück, als ich erneut den leichten Sog zu spüren glaubte, der mein Bewusstsein mit sich reißen wollte, und schüttelte den Kopf, einerseits aus Resignation, andererseits als Antwort auf die Frage des Doktors. »Ich kann nichts finden! Absolut gar nichts. Es ist fast so, als … als wäre ein bestimmter, abgegrenzter Bereich einer Festplatte gelöscht und neu formatiert worden.«

»Also fehlen auch sämtliche Erinnerungen an die Nacht, in der Sie bei uns eingeliefert wurden?«

Der Tonfall des Arztes hatte sich bei dieser Frage zwar nur unmerklich verändert, doch ich registrierte es wie ein hochempfindliches Thermometer, das sogar die kleinste Temperaturschwankung wahrnehmen kann. Diese Veränderung in der Tonlage teilte mir unterschwellig mit, dass Dr. Jantzen die Antwort auf diese Frage besonders wichtig zu sein schien, und zwar, wie ich meinte, nicht allein unter therapeutischen Gesichtspunkten, sondern auch aus einem anderen, mir im Augenblick allerdings noch unbekannten Grund. Dieses Mal musste ich nicht erst nachdenken, sondern wusste die Antwort darauf sofort: »Ich kann mich an absolut gar nichts erinnern, was in jener Nacht und davor passiert ist. Aber vielleicht können Sie mir mehr darüber sagen. Möglicherweise enthält meine Krankenakte nähere Informationen darüber.«

Ich glaubte fast zu sehen, wie Dr. Jantzen vor mir zurückwich. Zumindest gedanklich, denn körperlich bewegte er sich keinen einzigen Millimeter. Es war, als würde plötzlich eine dunkle Wolke über ihm schweben und einen Schatten auf sein Gesicht werfen. Aus irgendeinem Grund verschloss er sich meinem Versuch, von ihm Informationen über die Geschehnisse unmittelbar vor meiner Einlieferung in diese Anstalt zu erhalten, und ließ gewissermaßen die geistigen Jalousien herunter.

»Aus therapeutischen Gesichtspunkten ist es weder förderlich noch vollkommen ungefährlich, diese Thematik bereits in einem so frühen Stadium zu besprechen. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt darüber reden«, sagte der Arzt bestimmt und studierte – wie um jede weitere Diskussion über dieses anscheinend heikle Thema zu unterbinden – demonstrativ seine Gesprächsnotizen.

Mir wurde klar, dass Dr. Jantzen damit die Befragung abgeschlossen und vorerst alle wesentlichen Informationen für eine erste Diagnose gesammelt hatte. Ich ließ es daher vorerst bleiben, weiter auf dem Thema herumzureiten, das der Arzt partout nicht mit mir besprechen wollte. Stattdessen schwieg ich und wartete gespannt auf sein fachärztliches Urteil. Dabei interessierten mich weniger die medizinischen Details seiner Ausführungen, sondern vor allem die entscheidende Frage, ob und wie die Erinnerungslücke geschlossen oder die fehlenden Erinnerungen wiederhergestellt werden konnten.

Was immer Dr. Jantzen mir gleich mitteilen würde, würde den Verlauf meines gesamten weiteren Lebens bestimmen. Ich spürte, wie meine innere Anspannung kontinuierlich zunahm. Meine Kehle fühlte sich wieder staubtrocken und kratzig an. Rasch trank ich einen großen Schluck Wasser. Meine Hand zitterte dabei stark, sodass ich, nachdem ich das Glas wieder auf den Tisch gestellt hatte, schnell die Hände in meinem Schoß verbarg und ineinander verschränkte, um sie halbwegs ruhig zu halten.

Schließlich, als ich das Warten kaum noch ertragen konnte, weil meine Aufregung fast zu groß geworden war, um sie weiterhin unter Kontrolle zu halten, legte Dr. Jantzen seine Notizen zur Seite. Er sah mich mit ernstem Blick an und begann mit gerunzelter Stirn zu sprechen: »Frau Dorn, als vorläufige, erste Beurteilung kann ich Ihnen zum augenblicklichen Zeitpunkt Folgendes mitteilen: Bei dem von Ihnen geschilderten vorherrschenden Störungsbild handelt es sich meiner Meinung nach um eine dissoziative Amnesie. Das ist eine plötzlich auftretende Unfähigkeit, sich an Aspekte seiner persönlichen Lebensgeschichte zu erinnern, wobei dieses Unvermögen in Ihrem Fall Ihr gesamtes bisheriges Leben zu umfassen scheint. Die sogenannte dissoziative Amnesie geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz, also beispielsweise eine Droge oder ein Medikament, oder eines neurologischen oder anderen medizinischen Krankheitsfaktors, zum Beispiel aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas, zurück, sondern wird meist durch ein zurückliegendes traumatisches oder besonders belastendes Erlebnis ausgelöst. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von psychogener Amnesie, also eine Art von Verdrängung. Bei Ihrer Einlieferung wurden zwar große Mengen einer ganzen Reihe halluzinogener Substanzen in Ihrem Blut festgestellt, meiner Meinung nach wurde der Gedächtnisverlust allerdings nicht durch eine Substanzintoxikation, also einen sogenannten Blackout, hervorgerufen. Gegen diese Ursache spricht nämlich eindeutig, dass Ihr Kurzzeitgedächtnis nicht gleichermaßen gestört ist.«

»Ist diese … dissoziative Amnesie heilbar?«

»Eine dissoziative Amnesie ist für gewöhnlich reversibel. Da die Gedächtnisstörung in Ihrem Fall nicht auf eine organische Ursache, also eine tatsächliche Verletzung des Gehirns, zurückzuführen ist, besteht somit eine sehr große Chance auf eine komplette Wiederentdeckung oder Wiederherstellung der betroffenen Erinnerungen. Die Gedächtnisstörung kann dabei durchaus kurzlebig sein und spontan abklingen, insbesondere können die Erinnerungen in Situationen, die eine starke Ähnlichkeit mit den unterdrückten Erlebnissen haben, plötzlich wieder auftauchen, oft auch nur bruchstückhaft, was nicht selten zu Verwirrung und enormen Ängsten führt. Normalerweise ist eine dissoziative Amnesie aber – vor allem in einem schwerwiegenden Fall wie Ihrem – langwierig und erfordert eine mehrjährige intensive Therapie.«

»Und wie sieht diese Therapie aus?«

»Ohne schon jetzt allzu sehr ins Detail zu gehen, kann ich Ihnen zumindest die vorrangigen Ziele der stationären Psychotherapie nennen. Sie gliedert sich in einzelne Phasen aus Einzel- und Gruppentherapie. Die primären Ziele der Behandlung bestehen im Wesentlichen darin, dem dissoziativen Menschen beizubringen, mit der Belastung umzugehen, und die tieferliegenden Ursachen der Amnesie zu behandeln. Diese Ziele werden gleichzeitig behandelt. Oft wird dabei auch Hypnose benutzt, um bei der Erinnerung zu helfen und das durchlebte Trauma zu überwinden. Patienten mit dissoziativer Amnesie zeigen häufig eine hohe Hypnotisierbarkeit.«

»Sie sprachen von einem traumatischen Erlebnis als Auslöser«, kam ich zu einem wesentlichen Punkt seiner Ausführungen zurück, der mich besonders interessierte. »Was genau meinen Sie damit? Und welcher Auslöser ist für meine Amnesie verantwortlich?«

»Auch darüber werden wir im Rahmen der Therapie zu gegebener Zeit sprechen, Frau Dorn«, beschied er mich und bestätigte damit meine Vermutung, dass das traumatische Erlebnis und die Ereignisse der Nacht, in der ich eingeliefert worden war, eng zusammenhängen mussten.

»Muss ich neben dem Verlust meiner Erinnerungen unter Umständen noch mit anderen Folgen dieses Traumas rechnen?«, verlieh ich einer Befürchtung Ausdruck, die durch Dr. Jantzens Erläuterungen meines Zustandes plötzlich in mir Gestalt angenommen hatte. Gleichzeitig fragte ich mich aber auch, warum der Arzt das in meinen Augen wichtige Thema des Traumas so beharrlich ausklammerte. Denn gerade wenn ein wichtiges Ziel der Therapie die Behandlung der Ursache der Amnesie war, konnte es in meinen Augen doch nicht schaden, diesen Punkt so früh wie möglich zu erörtern. Warum bis zum offiziellen Beginn der Psychotherapie damit warten? Andererseits mochte der Arzt nachvollziehbare Gründe für sein Verhalten haben. Vielleicht war die Ursache für meinen Erinnerungsverlust so furchtbar, dass er mich behutsam darauf vorbereiten wollte. Bei diesem erschreckenden Gedanken, der mir plötzlich gekommen war, krampfte sich unwillkürlich mein Herz zusammen und schien sogar ein oder zwei Schläge auszusetzen. Mehrere Schreckensszenarien nahmen in meinem Kopf Gestalt an und quälten mich. Vielleicht, so dachte ich, war ich Mutter eines kleinen Kindes und hatte dieses durch eine schreckliche Gewalttat verloren? Oder war ich etwa die einzige Überlebende eines katastrophalen Unglücks, das Hunderte das Leben gekostet hatte?

Zum Glück vertrieb Dr. Jantzens beruhigende Stimme die Schreckensbilder aus meinem Bewusstsein, die sich auflösten wie Morgennebel unter den Strahlen der Sonne. Allerdings hatte ich in meiner Gedankenverlorenheit den Inhalt seiner Antwort nicht mitbekommen.

»Entschuldigen Sie, aber was sagten Sie?«

»Ich sprach gerade über weitere mögliche Symptome einer psychischen Traumatisierung. Aber Sie schienen mit Ihren Gedanken ganz woanders gewesen zu sein. Alles in Ordnung?«

»Ja, sicher. Mir geht es gut.«

Der Arzt schwieg und sah mich erwartungsvoll an, um mir Gelegenheit zu geben, ihm eine Erklärung für mein Verhalten zu liefern. Doch ich erzählte ihm vorerst noch nichts von den furchtbaren Schreckensvisionen, die meine lebhafte Fantasie aufgrund der Ungewissheit über das traumatische Erlebnis in mir hervorgerufen hatte. Wenn er Geheimnisse vor mir hatte, dann war es nur recht und billig, dass ich ebenfalls das eine oder andere für mich behielt.

»Könnten Sie die möglichen Symptome einer psychischen Traumatisierung, von denen Sie zuvor sprachen, bitte noch einmal wiederholen«, bat ich ihn schließlich, als er keine Anstalten machte, dies von sich aus zu tun.