Grabesstill ruht der See - Eberhard Weidner - E-Book

Grabesstill ruht der See E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Magnus Nachtmann ist Schriftsteller. Doch er hat schon seit einem Jahr kein einziges Wort mehr zu Papier gebracht. Denn seit dem Tag, an dem seine Ehefrau Antonia spurlos verschwunden ist, leidet er unter einer Schreibblockade. Doch ausgerechnet am Jahrestag von Antonias Verschwinden erhält er eine mysteriöse Postkarte ohne Text, deren Bild einen kleinen zugefrorenen See zeigt. Magnus kennt den See, denn er besitzt an seinem Ufer ein Ferienhaus, das er von seinen Eltern geerbt hat. Er hat dort schon als Kind zahllose Ferientage verbracht und war auch mit Antonia jedes Jahr mehrere Male dort, um in der Ruhe und Abgeschiedenheit des idyllischen Ortes zu arbeiten. Doch wer hat ihm die Karte geschickt? Und zu welchem Zweck? Dass er sie ausgerechnet an dem Tag erhielt, als sich Antonias Verschwinden zum ersten Mal jährte, kann seiner Meinung nach kein Zufall sein. Also packt er seine Sachen und macht sich auf den Weg zum See, um dort mehr über den Absender und dessen Motive herauszufinden. Doch als er am See ankommt, stellt er fest, dass er, obwohl es mitten im Winter ist und ein Schneesturm bevorsteht, nicht allein dort ist. In einem anderen der sechs Ferienhäuser lebt ganzjährig die Malerin Anna Lindquist. Hat sie vielleicht etwas mit der geheimnisvollen Postkarte zu tun? Und welche Rolle spielt der angebliche Naturliebhaber Benedikt Tannenberger, der mit seinem Schäferhund und einem Fernglas durch die Gegend streift und Magnus vom ersten Augenblick an verdächtig vorkommt. Die ganze Angelegenheit wird noch mysteriöser, als plötzlich eine Leiche gefunden wird. Dann bricht auch noch der Schneesturm los, und Magnus erfährt endlich, was und wer hinter der Postkarte steckt. Doch da gibt es längst kein Entkommen mehr vor der furchtbaren Wahrheit … Überarbeitete Neuauflage.

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INHALTSVERZEICHNIS

 

COVER

TITEL

PROLOG

Mittwoch, 2. Dezember

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Donnerstag, 3. Dezember

Kapitel 6

Kapitel 7

Freitag, 4. Dezember

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Samstag, 5. Dezember

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Sonntag, 6. Dezember

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

EPILOG

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

IMPRESSUM

PROLOG

 

 

Das Auto, das in dieser eisigen Dezembernacht mitten auf dem kleinen, zugefrorenen See stand, wirkte an diesem Ort und um diese Uhrzeit völlig deplatziert. Wie ein einzelner Wagen auf einem riesigen Supermarktparkplatz lange nach Ladenschluss, den jemand vergessen hatte.

Es handelte sich um einen viertürigen, weißen Golf 7. Der Wagen sah verlassen aus. Weder die Lichter noch die Innenraumbeleuchtung brannten. Und trotz der eisigen Temperaturen mehrere Grade unter null waren dennoch sämtliche Fenster offen.

Gleichwohl war der Wagen nicht völlig dunkel. Ein schwacher, flackernder Lichtschein war in seinem Innern zu sehen, als würde dort eine Kerze brennen. Im hellen Tageslicht wäre das Licht nicht einmal zu erahnen gewesen, doch um diese Uhrzeit, vier Stunden nach Mitternacht, in dieser dunklen, bewölkten und sternenlosen Winternacht, noch dazu an diesem einsamen, verlassenen Ort, wirkte das schwach erleuchtete Innere des Fahrzeugs wie ein Leuchtturm, der verlorenen Seelen den Weg weisen sollte.

Der einzige Beobachter des Geschehens stand am Ufer des Sees und trat von einem Bein aufs andere. Nicht nur wegen der Kälte, die ihm längst in sämtliche Gliedmaßen gekrochen war und ihn erzittern ließ, sondern auch vor wachsender Ungeduld, dass endlich zum Abschluss kam, was er in dieser Nacht in Gang gesetzt hatte. Er wünschte sich, dass es endlich vorbei wäre und er zu seinem Wagen gehen konnte, der weniger als einen Kilometer von hier entfernt stand.

Er ließ den Blick aufmerksam umherschweifen und suchte den Rand des Sees nach Bewegung und Licht ab, doch von beidem war nichts zu sehen. Die Ferienhäuser, insgesamt nur ein halbes Dutzend, die den See in nahezu gleichmäßigem Abstand säumten und vor allem in den Sommermonaten bewohnt waren, standen zu dieser Jahreszeit leer, sodass er nicht befürchten musste, dass jemand das Auto auf dem See oder ihn entdeckte. Obwohl die Gefahr der Entdeckung somit gering war, hatte sich die Gestalt am Seeufer dennoch die Kapuze der schwarzen Daunenjacke über den Kopf und tief ins Gesicht gezogen.

Als der Beobachter seine Augen wieder auf das Fahrzeug richtete, glaubte er, eine Veränderung in der Intensität des Lichtscheins zu bemerken, der das Wageninnere erfüllte. Das flackernde Licht war heller geworden. Hätte er nicht kurz den Blick abgewandt, hätte er die Veränderung vermutlich gar nicht bemerkt, da es sich in dieser frühen Phase um einen langsamen, ja geradezu schleichenden Prozess handelte.

»Endlich!«, sagte er leise und rieb die eiskalten Hände aneinander, die nur in schwarzen Lederhandschuhen steckten.

Und wie aufs Stichwort tauchten in diesem Augenblick hinter dem offenen Fahrerfenster auch schon die ersten züngelnden Spitzen der Flammen auf, die gierig nach weiterem Material leckten, das sie verschlingen konnten. Das Feuer, das bereits das Polster des Fahrersitzes verzehrte, wurde nun rasch größer. War das Geschehen nach Ansicht des Beobachters bislang im Schneckentempo vorangeschritten, so gewann es nun zu seiner Freude immer mehr an Tempo.

Die Feuerzungen breiteten sich beständig aus, wurden dabei immer größer und fanden dadurch auch rascher neue Nahrung, die sie wiederum weiter anwachsen ließ. Im Nu stand der Fahrersitz in lodernden Flammen, die in der Dunkelheit wie ein Fanal wirkten, die Deckenverkleidung in Brand setzten und durch das offene Fenster nach draußen leckten, wo der Lack wegen der Hitze vermutlich allmählich Blasen zu werfen begann, was der einsame Zuschauer allerdings nicht sehen konnte, da er zu weit entfernt war.

Dunkler, giftiger Qualm wölkte aus dem Fahrzeuginneren, stieg empor und verlor sich dann in der Dunkelheit der Nacht, sodass er niemanden alarmieren konnte, der im drei Kilometer entfernten Dorf um diese Zeit möglicherweise noch wach war und zufällig aus dem Fenster und in diese Richtung blickte.

Der Beobachter trat nun nicht länger von einem Bein aufs andere. Obwohl er noch immer fror, stand er völlig reglos, als wäre er wie die Oberfläche des Sees zu Eis erstarrt, und sah gebannt auf den Wagen, in dessen Innerem sich die Flammen jetzt immer schneller ausbreiteten.

Endlich war er zufrieden mit dem, was er sah. Gleichzeitig zog ihn das Feuer in seinen Bann, schließlich war er dessen Urheber. Er fühlte sich unwillkürlich in frühere Zeiten zurückversetzt, als die Flammen eine ebenso große Faszination auf ihn ausgeübt hatten, wie sie es auch heute noch taten. Schon damals hatte er nicht widerstehen können, Sachen in Brand zu setzen. Und mehr als einmal war das Feuer anschließend außer Kontrolle geraten. So hatte er nicht nur ein Gartenhäuschen abgefackelt, was ihm besondere Befriedigung verschafft hatte, weil er den Besitzer nicht mochte, sondern auch ein altes, leerstehendes Haus. Dass ein Obdachloser darin geschlafen hatte, hatte er ja nicht wissen können. Es hatte ihm hinterher aber auch keine schlaflosen Nächte bereitet, sondern im Gegenteil die Erregung über seine Tat noch gesteigert. Vor allem, weil er jedes Mal ungeschoren davongekommen war. Es war zwar das erste Mal gewesen, dass er – wenngleich unabsichtlich – einen Menschen getötet hatte, doch dabei war es nicht geblieben. Von den zahllosen Insekten, Mäusen, Hühnern, Hasen und Katzen, die er seit seiner Kindheit zu Tode gequält hatte, ganz zu schweigen.

Der Beobachter stoppte die mentale Bildergalerie seiner bisherigen Opfer, die ihm jedes Mal aufs Neue das allergrößte Vergnügen bereitete, um sich wieder auf das Auto auf dem Eis zu konzentrieren. Schließlich wollte er nichts verpassen und die Szene in seinem Kopf konservieren, um sie jederzeit abrufen und sich erneut daran erfreuen zu können. Immerhin war er in dieser Hinsicht ein echter Genießer. Ein Feinschmecker seiner eigenen Untaten gewissermaßen. Und wie jeder anständige Gourmet wollte er jeden einzelnen Moment auskosten.

Das Feuer, das er im Innern des weißen Golfs entfesselt hatte, hatte längst auf das Armaturenbrett und den Beifahrersitz übergegriffen und war nun auch im Begriff, an der ihm zugewandten Fahrerseite auf die Rückbank überzuspringen. Die Flammen loderten dabei immer höher und schlugen aus den offenen Seitenfenstern, sodass ihm längst die Sicht ins Innere verwehrt war.

Er war zu weit weg, um etwas von der Wärme des Feuers zu spüren, konnte sich aber dennoch lebhaft die enorme Hitze vorstellen, die immer mehr zunahm, je lodernder die Flammen wurden und je weiter sie um sich griffen.

Die Eisschicht unter dem Auto musste allmählich zu schmelzen begonnen haben. Zunächst vermutlich nur die oberste Schicht, doch je größer das Feuer und je intensiver die Hitze wurde, desto mehr Eis würde sich in Wasser verwandeln. Bis die Eisschicht dann irgendwann zu dünn wäre, um das Gewicht des Fahrzeugs noch länger tragen zu können. Daraufhin würde der Wagen durchs Eis brechen und auf Nimmerwiedersehen im Wasser des Sees versinken.

Obwohl der Beobachter das Schauspiel genoss und ewig hätte zuschauen können, hoffte er dennoch, dass es bald geschah. Und das nicht allein wegen der eisigen Temperaturen, die ihm immer mehr zu schaffen machten. Denn wenn das Feuer zu lange wütete und auf den Benzintank übergriff, gab es möglicherweise eine Explosion, und die konnte er überhaupt nicht gebrauchen. Zu groß war die Gefahr, dass irgendjemand im Dorf den lauten Explosionsknall hörte oder den Lichtblitz sah, wenn sich das Benzin rasend schnell entzündete und den Tank sprengte. Außerdem würde eine Explosion das Fahrzeug in unzählige Teile zerfetzen und in alle Richtungen schleudern. Viel besser war es da schon, wenn der Wagen an einem Stück blieb und still und unbemerkt auf den Grund des Sees sank, wo er und sein Inhalt für sehr, sehr lange Zeit vor neugierigen Blicken verborgen sein würden.

»Nun mach schon!«, flüsterte der Beobachter, als könnte er dem Feuer gebieten, noch heißer zu brennen, oder dem Eis befehlen, rascher zu schmelzen.

Mittlerweile füllten die Flammen den Innenraum des Fahrzeugs aus. Selbst wenn noch etwas Lebendiges darin gewesen wäre, als der Brand ausgebrochen war, wäre es in dieser Feuerhölle längst bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Doch es hatte nichts Lebendes im Wagen gegeben, dafür hatte der Beobachter schon gesorgt.

Plötzlich war über das Brausen der Flammen hinweg ein lautes Knacken zu hören, als die schmelzende Eisschicht unter dem tonnenschweren Fahrzeug den ersten Riss bekam. Im nächsten Augenblick brach auch schon das rechte Hinterrad ein und tauchte ins Wasser. Durch die Erschütterung bildeten sich, ausgehend von der ersten Spalte, weitere Risse, die sich in alle Richtungen ausbreiteten, worauf die anderen drei Räder ebenfalls durchs Eis brachen. Für einen Moment stand das brennende Fahrzeug wieder waagerecht, und es sah beinahe so aus, als würde es auf dem Wasser schwimmen. Doch die in unzählige Teile zersprungene Eisplatte unter dem Wagen hielt dem Gewicht nicht lange stand, und so sank das Auto langsam tiefer.

Als der Beobachter das sah, fiel die Anspannung von ihm ab. Er lächelte unwillkürlich und summte zufrieden eine dramatisch klingende Melodie – möglicherweise aus einem Film, den er gesehen hatte – vor sich hin, als wollte er den Soundtrack zum Untergang des Wagens beisteuern, um die Szene noch lebendiger und effektvoller zu gestalten.

Doch da kam das Auto abrupt zum Stillstand, als hätte sich ein vorstehendes Teil im Eis verhakt.

Der Beobachter verstummte, hielt unwillkürlich die Luft an und beobachtete gebannt, was geschah. Sein Lächeln war zu einer Miene des Unglaubens erstarrt. Drohte sein schöner Plan für die Entsorgung des Autos und seines Inhalts letztendlich nur deshalb zu scheitern, weil ein Teil des Rahmens am Eis hängen geblieben war? Das durfte doch nicht wahr sein!

Der Rahmen des Fahrzeugs oder die Eisdecke knarrte laut und langgezogen. Es hörte sich an wie das Stöhnen einer gigantischen Kreatur, die Schmerzen litt, und hallte durch die nächtliche Stille, die nur vom Brausen der Flammen erfüllt wurde. Dann neigte sich der Wagen abrupt zur linken Seite, die schneller versank als die andere.

Der Beobachter stieß erleichtert die angehaltene Luft aus und summte eine neue Melodie, die fröhlicher und beschwingter klang und vermutlich seine Freude darüber zum Ausdruck bringen sollte, dass noch immer alles nach Plan verlief.

Das Auto versank in seiner Schräglage nun rascher im See. Sobald Wasser durch die offenen Fenster auf der Fahrerseite ins Innere strömte, wurden die Flammen mit einem lauten Zischen gelöscht. Eine gewaltige Dampfwolke stob aus allen Fenstern und verwehrte dem Beobachter für mehrere Augenblicke die Sicht. Und als das Feuer schließlich vollständig gelöscht war und der Wasserdampf sich endlich wieder verzogen hatte, war das Auto so spurlos verschwunden, als hätte es nie existiert. Nur das Loch im Eis war noch da und zeugte von dem Schauspiel, das sich hier zugetragen hatte. Doch auch das würde in wenigen Stunden wieder vom Eis bedeckt und zugefroren sein.

Der Beobachter blinzelte mehrmals, um das Nachbild der Flammen von seinen Pupillen zu löschen und seine Augen an die tiefe Finsternis zu gewöhnen, die nach dem Verschwinden des Fahrzeugs wieder eingekehrt war.

Er wollte sich schon zufrieden abwenden und endlich zu seinem Wagen gehen, um die Kälte hinter sich zu lassen, als er das helle Lichtviereck bemerkte.

Bislang hatte ihm das brennende Auto die Sicht auf das gegenüberliegende Ufer und das dort stehende Ferienhaus verwehrt. Doch nun konnte er ungehindert hinüberblicken. Und deshalb sah er jetzt auch, dass eins der Fenster des Hauses hell erleuchtet war.

Der Beobachter glaubte, sein Herz würde vor Schreck zu schlagen aufhören. Das Summen war ohnehin längst verstummt, als seine Lippen mitten in der Bewegung erstarrt waren.

Er war davon überzeugt gewesen, dass in dieser Jahreszeit keines der Ferienhäuser belegt war, denn wer wollte schon den Winter in dieser gottverlassenen Gegend verbringen, drei Kilometer entfernt von der Zivilisation, sofern man das nächste Hinterwäldlerkaff überhaupt als solche bezeichnen konnte. Aber anscheinend hatte er sich getäuscht. Dort drüben wohnte jemand, war aus irgendeinem Grund, vielleicht wegen des lauten Knarrens, mitten in der Nacht wach geworden und hatte Licht angemacht. Fragte sich nur, wie lange dieser Jemand schon wach war und wie viel er gesehen hatte.

Das Lichtviereck verdunkelte sich, als der schwarze Umriss eines menschlichen Oberkörpers darin auftauchte.

Der Beobachter hatte keine Furcht, dass der andere ihn sehen könnte, denn dafür war es in dieser mondlosen Nacht zu dunkel. Außerdem hätte die Person das Licht ausschalten müssen, um nach draußen blicken zu können. Im Übrigen verschmolz der Beobachter in seiner schwarzen Kleidung mit der Finsternis, die ihn umgab, und hob sich nicht von dem dunklen Hintergrund ab, der aus einem Wald bestand, der an dieser Stelle des Ufers beinahe bis ans Wasser reichte. Eine schmale Fahrspur wand sich von der Schotterstraße, die um den See herumführte, zwischen den Bäumen hindurch hierher. Auf ihr hatte der Beobachter den Wagen bis ans Ufer gelenkt und war dann aufs Eis gefahren. Das war der kniffligste Teil seines Plans gewesen, denn er hatte jeden Moment damit gerechnet, dass die Eisschicht unter dem Gewicht bersten und er mitsamt dem Auto und seiner toten Fracht im See versinken würde. Doch es war alles gut gegangen.

Bis jetzt?

Doch der Beobachter schüttelte als Antwort auf die Frage, die seine innere Stimme ihm gestellt hatte, verneinend den Kopf. Denn die Person im Ferienhaus konnte nichts gesehen haben, schließlich war sie erst jetzt am Fenster aufgetaucht, nachdem alles vorbei war, es nichts mehr zu sehen gab und alle Beweise für seine Tat längst auf den Grund des Sees gesunken waren, der an dieser Stelle beinahe 40 Meter tief war.

Es gab also absolut keinen Grund für ihn, beunruhigt zu sein und länger als unbedingt nötig in der Kälte herumzustehen und sich den Arsch abzufrieren. Wurde ohnehin Zeit, dass er endlich von hier verschwand und sich auf den Weg machte, denn er hatte noch ein gutes Stück Fahrt vor sich.

Er sah noch, wie die menschliche Silhouette wieder vom Fenster verschwand, dann wandte er sich rasch ab und marschierte ohne einen Blick zurück mit großen Schritten in den Wald.

 

 

 

Mittwoch

2. Dezember

KAPITEL 1

 

 

Magnus Nachtmann blieb so abrupt stehen, als wäre er gegen eine massive Mauer gerannt, während er noch immer auf das Motiv der Postkarte starrte, die er soeben mitsamt der übrigen Post aus dem Briefkasten geholt hatte. Er drehte die Karte um, doch auf der Rückseite standen nur sein Name und seine Anschrift in akkuraten Druckbuchstaben. Aber kein Text und natürlich auch kein Absender. Er sah sich die Schrift genauer an, doch sie kam ihm nicht im Mindesten bekannt vor. Im Gegensatz zum Motiv auf der Vorderseite, das er sofort erkannt hatte.

Er wendete die Postkarte erneut und starrte auf das Bild, das einen kleinen, zugefrorenen See bei Nacht zeigte, an dessen Ufer vereinzelte Häuser lagen, die unbeleuchtet und deshalb nur schemenhaft zu erkennen waren. Dennoch war er davon überzeugt, dass es sich um den See handelte, an dem er und seine Frau Antonia jedes Jahr ein paar Wochen verbracht hatten.

Der See, der keinen Namen trug, war fast kreisrund und besaß einen Durchmesser von 700 Metern und eine Fläche von 38,5 Hektar. Die maximale Wassertiefe betrug 40 Meter. Er lag etwas abgelegen und versteckt in der Mitte des Dreiecks, das die Städte Augsburg, Fürstenfeldbruck und Landsberg am Lech bildeten, und war nur über einen schmalen Schotterweg zu erreichen, der zuerst durch einen dichten Wald und dann einmal um den See führte. Das nächste Dorf lag etwa drei Kilometer entfernt.

Die sechs Ferienhäuser, die den See umgaben, befanden sich allesamt in Privateigentum, wurden von den Eigentümern allerdings nicht ganzjährig genutzt, sondern zeitweise vermietet. Antonia und Magnus hatten dort während ihrer Ehe jedes Jahr mehrere Wochen verbracht, weil ihnen der abgeschiedene Ort gefiel und sie dort in Ruhe schreiben und fotografieren konnten.

Der neununddreißigjährige Magnus Nachtmann war Schriftsteller. Er hatte dreizehn recht erfolgreiche Thriller geschrieben, die immer wieder neu aufgelegt wurden und ihm mittlerweile ein gutes Einkommen bescherten. Allerdings hatte er seit einem Jahr kein einziges Wort mehr zu Papier gebracht. Sein vierzehnter Roman war damals erst zur Hälfte fertig gewesen und wartete seitdem noch immer darauf, vollendet zu werden. Doch so oft er sich in den zurückliegenden zwölf Monaten auch an den Computer gesetzt und es versucht hatte, so oft war er auch in seinem Bemühen gescheitert, auch nur einen einzigen vernünftigen Satz zu formulieren. In den letzten Wochen und Monaten hatte er es daher nicht einmal mehr versucht. Und auch sein Verlag schien die Hoffnung längst aufgegeben zu haben, denn es hatte sich schon lange niemand mehr bei ihm gemeldet und nachgefragt, wann mit einem neuen Werk aus seiner Feder zu rechnen wäre.

Magnus spürte, dass er zitterte. Das lag allerdings nicht an seinen Erinnerungen oder der Postkarte in seiner Hand, sondern schlichtweg an der Kälte. Er hatte sich nur eine dünne Jacke übergezogen, als er das Haus verlassen und sich auf den Weg zum Briefkasten gemacht hatte. Schließlich hatte er nicht vorgehabt, bei den eisigen Temperaturen, die an diesem Dezembervormittag herrschten, allzu lange draußen zu bleiben. Deshalb zog er jetzt unwillkürlich den Kopf ein, um seinen ungeschützten Hals vor der Kälte zu schützen, und eilte zum Haus.

Die Haustür war nur angelehnt. Er schob sie auf, ging rasch ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Sofort umfing ihn angenehme Wärme, und er hörte schlagartig auf zu zittern. Er zog die Stiefel und die dünne Jacke aus, schlüpfte in seine Hausschuhe und ging dann ins Esszimmer, wo noch immer sein Frühstück auf dem Tisch stand.

Wie immer war er an diesem Morgen spät aufgestanden, denn es gab für ihn schon lange keinen Grund mehr, den Tag früher zu beginnen. Als er noch geschrieben hatte, war er jeden Morgen – mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage – um sieben Uhr aufgestanden und hatte spätestens um acht an seinem Schreibtisch gesessen. Zu Beginn seiner Schreibblockade hatte er diese tägliche Routine noch eine Weile aufrechterhalten, doch nachdem er Tag für Tag stundenlang vor dem Computer gesessen, vergeblich um die richtige Formulierung oder das korrekte Wort gerungen hatte und darüber immer verzweifelter geworden war, hatte er es schließlich aufgegeben. Wozu sollte er sich auch unnötig quälen? Aus finanziellen Gründen hatte er es nicht nötig, ein weiteres Buch zu schreiben. Das Schreiben hatte ihn zwar nicht unbedingt reich gemacht, aber das Haus war abbezahlt und er hatte noch genug Geld auf dem Konto.

Er hatte gerade am Frühstückstisch gesessen und die Tageszeitung gelesen, als er zufällig durchs Fenster nach draußen gesehen und den Postboten bemerkt hatte. Dieser hatte sein Fahrrad vor dem Zaun zum Stehen gebracht und Magnus’ Post in den Briefkasten gesteckt. Dann war er weitergefahren.

Magnus bekam zwar nicht mehr so viel Post wie früher, dennoch stellte sie in seinem öden, weil ereignislosen Tagesablauf eine willkommene Abwechslung dar. Deshalb war er sofort aufgestanden, um durch den Schnee zum Briefkasten zu stapfen und seine Post zu holen.

Und dort, zwischen einer Rechnung seines Telekommunikationsunternehmens und Werbesendungen, hatte er dann die Postkarte gefunden, deren Motiv ihn nun so in Unruhe versetzte und eine Reihe von Fragen aufwarf.

Erstens: Wer hatte ihm die Karte geschickt?

Die Schrift verriet ihm zu seinem Bedauern rein gar nichts über die Identität des Absenders und war vermutlich mit Absicht so ausgeführt worden, dass er auch im Nachhinein nicht zu identifizieren war. Das bedeutete allerdings nicht unbedingt, dass Magnus die Schrift des Absenders andernfalls erkannt hätte. Es konnte sich daher auch um jemanden handeln, dem Magnus noch nie im Leben begegnet war. Allerdings musste die Person wissen, dass Magnus den See kannte, weil es sonst keinen Sinn gehabt hätte, eine Karte ohne Text zu schicken.

Zweitens: Was wollte ihm der Absender damit mitteilen?

Magnus hatte früher über den Verlag Post seiner Leser zugeschickt bekommen, und manche dieser Briefe und Karten waren bereits merkwürdig und skurril gewesen. Aber eine Postkarte völlig ohne Text hatte er noch nie erhalten. Was bezweckte der Absender damit? Magnus glaubte, dass die Botschaft der Postkarte hier nicht, wie es üblicherweise der Fall war, im ohnehin fehlenden Text steckte, sondern sich im Motiv auf der Vorderseite verbergen musste. Das Bild des zugefrorenen Sees war bereits die Nachricht, sodass sich jede textliche Erläuterung erübrigte. Und Magnus kannte den See und wusste, wo er lag. Handelte es sich also einfach nur um eine Einladung? Sollte er zum See kommen? Aber wieso?

Drittens: Warum hatte er die Karte ausgerechnet heute erhalten?

Diese Frage war am einfachsten zu beantworten, auch ohne dass Magnus einen Blick auf den Kalender werfen musste, der an der Wand des Esszimmers hing. Schließlich hatte er schon unmittelbar nach dem Aufwachen gewusst, welcher Tag heute war.

Denn es war auf den Tag genau ein Jahr her, dass seine Frau Antonia spurlos verschwunden war.

Magnus erinnerte sich noch genau an das Telefonat mit dem Polizeiobermeister in der zuständigen Polizeidienststelle, den er damals angerufen hatte, um seine Frau als vermisst zu melden.

KAPITEL 2

 

 

»Wann haben Sie Ihre Frau denn zum letzten Mal gesehen, Herr Nachtmann«, fragte der Beamte, der sich mit dem Namen Brunnmayer vorgestellt hatte und mit niederbayerischem Dialekt und einer für einen Mann ungewöhnlich hohen Stimme sprach. Hätte Magnus es nicht besser gewusst, hätte er zeitweise geglaubt, mit einer Frau zu telefonieren.

»Vor zwei Tagen, am Sonntagnachmittag. Ich war auf Lesereise, aber am Wochenende zu Hause. Am Sonntag fuhr ich dann nach Nürnberg.«

»Lesereise?«

»Ich bin Schriftsteller.«

»Verstehe«, sagte Brunnmayer in einem Tonfall, als hätte Magnus ihm soeben gestanden, dass er in einer Freizeit gerne Senioren vor den Bus schubste. »Dann ist Ihre Frau also seit Sonntagnachmittag verschwunden?«

»Nein! Zu dem Zeitpunkt habe ich sie nur zum letzten Mal gesehen. Sie fragten doch, wann ich sie das letzte Mal gesehen habe.«

»Ich weiß, was ich gefragt habe«, sagte der Polizist und seufzte dann, als hätte er es mit einem Idioten zu tun. »Und seit wann ist Ihre Frau nun genau verschwunden?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Magnus. Er hätte ebenfalls beinahe aufgeseufzt, konnte sich aber gerade noch bremsen, denn er befürchtete, der Polizeibeamte könnte es ihm ansonsten übelnehmen. »Aber gestern Abend gegen halb elf habe ich noch mit ihr telefoniert. Ich war in meinem Hotelzimmer in Nürnberg und habe zu Hause angerufen.«

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann war Ihre Frau also letzte Nacht um halb elf noch zu Hause und ist erst danach verschwunden.«

»Ja, das stimmt.«

»Und wann haben Sie zum ersten Mal festgestellt, dass Ihre Frau verschwunden ist?«

»Heute Vormittag. Als ich nach Hause kam, war sie nicht da. Dabei wusste sie ganz genau, wann ich komme.«

»Möglicherweise ist sie ja nur beim Einkaufen«, gab Brunnmayer zu bedenken. »Oder sie hatte einen wichtigen Termin und hat einfach nur vergessen, Ihnen Bescheid zu gehen. Denn nicht jeder, der nicht zu Hause ist, ist deshalb auch gleich verschwunden, müssen Sie wissen.«

»Das ist mir natürlich auch klar. Aber meine Frau hatte mir bei unserem letzten Telefonat versprochen, dass sie zu Hause ist, wenn ich komme. Und in solchen Dingen ist Antonia immer sehr zuverlässig. Wenn es hingegen wirklich einen wichtigen Grund gegeben hätte, das Haus zu verlassen, dann hätte sie mir auf alle Fälle Bescheid gegeben, damit ich mir keine Sorgen mache. Außerdem …« Er verstummte und überlegte erst, ob er weitersprechen sollte, bevor er es tat. »Außerdem hatte ich sofort ein merkwürdiges Gefühl, als ich das Haus betreten habe.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Brunnmayer und klang zum ersten Mal ansatzweise interessiert. »Gibt es etwa Einbruchsspuren oder Anzeichen für eine Auseinandersetzung oder einen Kampf?«

Magnus schüttelte den Kopf, bis ihm einfiel, dass der Polizist ihn nicht sehen konnte. »Nein, nichts Dergleichen. Aber ich spürte beim Betreten des Hauses, dass sich etwas verändert hatte. Es war, als fehlte plötzlich etwas.«

»Ihre Frau.«

»Ja, die natürlich auch. Aber …« Magnus verstummte erneut, dieses Mal jedoch, weil er nicht wusste, wie er es besser formulieren sollte, damit der Polizist ihn verstand. Im Grunde ein Armutszeugnis für einen Autor.

»Sprechen Sie weiter, Herr Nachtmann«, forderte ihn Brunnmayer auf. Seine Stimme klang dabei sogar noch höher, als wäre er aufgeregt. »Fehlte noch etwas?«

»Ja«, sagte Magnus und seufzte. »Als ich das Haus nach ihr absuchte, stellte ich fest, dass zwei Koffer und ein Teil ihrer Kleidung verschwunden sind. Außerdem ihr ganzer Schmuck und das Bargeld aus dem Tresor. Und ihr Auto ist ebenfalls weg.«

»Wie viel Geld war denn im Tresor?«

Magnus überlegte kurz, bevor er antwortete: »Ungefähr 35.000 Euro.«

Der Polizist stieß einen Pfiff aus, der Magnus dazu veranlasste, den Hörer für einen Moment vom Ohr zu nehmen.

»… Stange Geld«, sagte Brunnmayer in dem Moment, als Magnus den Telefonhörer wieder ans Ohr hielt. »Wieso hatten Sie überhaupt so viel Geld in Ihrem Tresor, Herr Nachtmann?«

»Das spielt ja wohl momentan keine Rolle. Hier geht es um meine Frau und darum, dass sie spurlos verschwunden ist. Ich mache mir große Sorgen um Antonia.«

»Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen, Herr Nachtmann.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Nun, wenn ich alle Fakten, die Sie mir genannt haben, berücksichtige, dann komme ich zu dem Ergebnis, dass Ihre Frau ihre Koffer ins Auto gepackt, das ganze Geld und ihren Schmuck mitgenommen und Sie schlicht und einfach verlassen hat. Sie sind beileibe nicht der erste Mann, dem so etwas widerfährt, Herr Nachtmann. Wir bekommen hier jede Woche Anrufe von besorgten Ehemännern, denen die Frau davongelaufen ist.«

»Meine Frau ist nicht davongelaufen!«, sagte Magnus so langsam, als diktierte er ein Übungsdiktat für eine Klasse von Vollidioten, und betonte dabei jedes einzelne Wort.

»Und wieso hat sie dann zwei Koffer gepackt und alle Wertgegenstände mitgenommen, die sich leicht transportieren lassen?«

»Das weiß ich nicht. Aber wieso sollte sie mich von heute auf morgen verlassen? Wir hatten keinen Streit, keine Auseinandersetzung. Es gab also keinen Grund für sie, alles stehen und liegen zu lassen und einfach zu verschwinden, ohne sich wenigstens zu verabschieden.«

»Manchmal sind die Ehemänner die Letzten, die merken, dass ihre Ehe längst ein Trümmerhaufen ist. Meistens erst dann, wenn die Ehefrau, wie in Ihrem Fall, schon über alle Berge ist.«

»Aber unsere Ehe ist kein Trümmerhaufen! Wir sind glücklich!«

»Und wieso ist Ihre Frau dann mitsamt Koffern, Kleidung, Schmuck, Geld und Auto verschwunden?«

»Das sollten eigentlich Sie herausfinden! Deshalb habe ich Sie ja angerufen.«

»Gibt es sonst noch etwas, das Ihnen merkwürdig vorkam?«, fragte der Beamte und wechselte das Thema. »Ich meine natürlich, außer Ihrem Gefühl, dass sich etwas verändert hat und etwas fehlt.«

Magnus glaubte, den Spott aus Brunnmayers hoher Stimme heraushören zu können, beherrschte sich jedoch, wenngleich nur mit viel Mühe. Es würde ihm nichts bringen, den Beamten zu beleidigen oder zu beschimpfen. Damit würde er nur das Gegenteil dessen erreichen, was er wollte. Wenn er den Mann überzeugen wollte, musste er sachlich bleiben und durfte nicht ausfallend werden.

»Ihre Bilder sind alle noch da.«

»Bilder?«, fragte der Polizist, deutlich hörbar irritiert. »Meinen Sie damit die Familienfotos?«

»Nein, meine ich nicht. Ich spreche von professionellen Fotografien. Meine Frau ist nämlich Fotografin. Und sie würde mich nie freiwillig verlassen, ohne ihre Bilder, die das Ergebnis zwanzigjähriger Arbeit sind, und ihre Fotoausrüstung mitzunehmen.«

»Mmmhhh«, machte Brunnmayer, als wüsste er nicht, was er darauf sagen sollte, obwohl seine Stimme zu hoch war, um das Brummen wirklich eindrucksvoll klingen zu lassen. Dann war ein Geräusch zu hören, als würde er sich am unrasierten Kinn kratzen. »Von wie vielen Fotos sprechen wir denn?«

»Tausende.«

»Also Tausende Fotos und die professionelle Ausrüstung in vielen Kisten und Kartons«, stellte der Polizeibeamte fest, um daraufhin die logische Frage zu stellen: »Würden Sie das alles mitnehmen, wenn sie schnell verschwinden wollen, bevor der Ehemann nach Hause kommt?«

Magnus seufzte, musste allerdings notgedrungen zugeben, dass der Polizist recht hatte. »Vermutlich nicht. Trotzdem kann ich nicht glauben, dass Antonia mich freiwillig verlassen hat.«

»Wenn sie Ihrer Meinung nach nicht freiwillig gegangen ist, was ist dann geschehen?«

»Ich weiß es nicht. Und ehrlich gesagt will ich nicht einmal genauer darüber nachdenken, was alles passiert sein könnte.«

»Glauben Sie etwa, dass Ihre Frau entführt wurde, um Sie zu erpressen? Sie sagten, Sie seien Schriftsteller. Außerdem hatten Sie 35.000 Euro im Tresor. Also könnten Sie vermutlich auch noch mehr bezahlen, um Ihre Frau freizukaufen.«

»Ja.«

»Wie lange ist es jetzt eigentlich her, dass Sie nach Hause kamen und feststellten, dass Ihre Frau nicht da ist?«

Magnus sah auf seine Armbanduhr. »Etwa fünf Stunden.«

»Wenn Ihre Frau tatsächlich entführt worden wäre, dann hätte sich der Entführer schon längst gemeldet. Haben Sie Angehörige und Freunde Ihrer Frau angerufen und nach ihr gefragt?«

»Natürlich habe ich das getan. Doch niemand weiß, wo sie stecken oder warum sie verschwunden sein könnte. Aber alle sind ebenso beunruhigt wie ich, weil so ein Verhalten einfach nicht zu ihr passt. Sie würde sich nicht einfach klammheimlich aus dem Staub machen, ohne vorher mit mir darüber zu sprechen. Wenn es tatsächlich Probleme in unserer Ehe gegeben hätte – was aber definitiv nicht der Fall war –, dann hätte sie versucht, sie gemeinsam mit mir aus der Welt zu schaffen, bevor sie fünfzehn gemeinsame Jahre einfach in den Müll kippt und sang- und klanglos verschwindet.«

»Auch wenn es möglicherweise einen anderen Mann gab, der ihr mehr bedeutete als Sie? Hätte Ihre Frau auch dann das Gespräch gesucht, anstatt sie einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen?«

Für mehrere Augenblicke herrschte atemloses Schweigen in der Leitung. Magnus musste erst verdauen, was der Polizist gesagt hatte, und war unfähig, eine passende Antwort zu geben. Und Brunnmayer schien geradezu begierig darauf zu lauern, was Magnus darauf zu sagen hatte.

»Tut mir leid, Herr Nachtmann«, ergriff Brunnmayer dann jedoch erneut das Wort, nachdem beinahe eine halbe Minute vergangen war, ohne dass Magnus geantwortet hatte, »aber ich kann momentan leider nicht viel für Sie tun.«

»Aber meine Frau ist verschwunden, und ich mache mir große Sorgen um sie.«

»Das glaube ich Ihnen ja auch, Herr Nachtmann. Und ich werde Ihre Vermisstenmeldung selbstverständlich zu Protokoll nehmen. Eine Vermisstenfahndung kann aber erst eingeleitet werden, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind. Dass die Person sich Erstens nicht mehr in ihrem gewohnten Lebensumfeld aufhält und zweitens ihr Aufenthaltsort unbekannt ist. Diese beiden Bedingungen liegen im Fall Ihrer Frau unzweifelhaft vor. Es fehlt jedoch momentan noch an der dritten Voraussetzung.«

»Und welche ist das?«

»Es müsste angenommen werden, dass Ihre Frau sich in Gefahr befindet, zum Beispiel Opfer einer Straftat oder eines Unfalls wurde, hilflos ist oder die Absicht hat, sich selbst zu töten. Denn Erwachsene, die im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, sind berechtigt, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, und müssen ihn niemandem mitteilen, nicht einmal ihren nächsten Angehörigen oder Freunden. In derartigen Fällen ist es auch nicht Aufgabe der Polizei, Aufenthaltsermittlungen durchzuführen, zumindest solange keine Gefahr für Leib und Leben dieser Person besteht.« Er klang, als trüge der Polizist etwas vor, das er irgendwann einmal auswendig gelernt hatte. Aber vielleicht hatte er diese Worte auch einfach nur zu oft von sich geben müssen, wenn besorgte Angehörige mit ihm gesprochen hatten. »Aufgrund Ihrer Schilderungen, Herr Nachtmann, sehe ich momentan allerdings keine Veranlassung, davon auszugehen, dass Ihre Frau sich in Gefahr befindet. Deshalb sind die Voraussetzungen für eine Fahndung leider nicht gegeben.«

Magnus seufzte voller Resignation. »Und was soll ich jetzt tun?«, fragte er flüsternd.

»Rufen Sie jede Person an, die Ihre Frau kennt. Vielleicht hat sie sich doch jemandem anvertraut. Außerdem sollten Sie in den Krankenhäusern nachfragen, ob Ihre Frau oder zumindest jemand, auf den ihre Beschreibung passt, eingeliefert wurde. Wenn das alles zu nichts führt, können Sie leider nur abwarten. In den meisten Fällen tauchen vermisste Personen nämlich schon nach wenigen Tagen wieder auf. Ich werde Ihre Vermisstenanzeige allerdings auf Wiedervorlage in einer Woche setzen und Sie dann anrufen. Falls Ihre Frau dann immer noch verschwunden sein sollte, müssen wir tatsächlich davon ausgehen, dass sie sich möglicherweise in Gefahr befindet. Ich werde den Fall dann an die Vermisstenstelle im Kommissariat 14 der Kriminalpolizei weiterleiten. Da sitzen die Experten für Vermisstenfälle. Die haben eine Aufklärungsquote von über 90 Prozent.«

Anschließend wollte Brunnmayer noch alle möglichen Daten und Fakten von Magnus erfahren, um die Vermisstenanzeige auszufüllen. Magnus antwortete automatisch und konnte sich hinterher gar nicht mehr erinnern, was der Polizist ihn alles gefragt und was er darauf geantwortet hatte. Am Schluss bat ihn der Beamte, in den nächsten Tagen persönlich vorbeizukommen, um die Anzeige zu unterschreiben, dann beendeten sie das Gespräch.

 

Schon am nächsten Nachmittag ging er zur Polizeiinspektion, denn Antonia war noch immer nicht aufgetaucht. Er hatte all ihre Bekannten angerufen, die ihm in den Sinn gekommen waren, doch niemand wusste etwas über ihr Verschwinden oder ihren Aufenthaltsort. Und auch seine Anrufe bei sämtlichen Krankenhäusern in und um München hatten nichts ergeben. Er hatte damit nur seine Zeit verschwendet. Andererseits hatte er wegen seiner Unfähigkeit, seinen Roman fortzusetzen, momentan ohnehin nichts Besseres zu tun.

Brunnmayer war nicht da, doch als Magnus einem anderen Beamten sagte, weswegen er hier war, nickte dieser und legte ihm die Vermisstenanzeige vor, damit er kontrollierte, ob alle Angaben korrekt waren, und anschließend unterschrieb.

 

Brunnmayer hielt Wort und rief tatsächlich eine Woche später an, um nachzufragen, ob Antonia noch immer verschwunden sei.

Magnus saß vor dem Computer und starrte auf den Bildschirm. Der Cursor des Textverarbeitungsprogramms blinkte in regelmäßigen Abständen hinter dem letzten Satzzeichen, das er vor Antonias Verschwinden geschrieben hatte. Seitdem war kein einziges Wort hinzugekommen, geschweige denn ein vernünftiger Satz. Jedes Mal, wenn Magnus versuchte, die Handlung fortzusetzen, hatte er das Gefühl, sein Gehirn wäre völlig leer gefegt. Und die Worte, die er früher so mühelos gefunden und zu sinnvollen Sätzen aneinandergereiht hatte, wollten ihm nicht einfallen.

Er war daher dankbar, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte und ihn erlöste.

»Nachtmann.«

»Grüß Gott, Herr Nachtmann. Hier Polizeiobermeister Brunnmayer. Sie erinnern sich vielleicht an mich. Wir sprachen vor einer Woche miteinander, als Sie Ihre Frau als vermisst gemeldet haben.«

Es war weniger der Name des Polizisten, sondern eher seine unverwechselbare hohe Stimme, die schon nach den ersten vier Worten dafür sorgte, dass Magnus wusste, mit wem er sprach. »Ich erinnere mich. Weswegen rufen Sie an. Haben Sie Neuigkeiten über meine Frau?« Das Herz in seiner Brust schlug unwillkürlich schneller, und ihm brach der Schweiß aus.

»Tut mir leid, aber deswegen rufe ich nicht an.«

»Oh.«

»Ich sagte doch bei unserem ersten Telefonat, dass ich Sie heute anrufe. Ihren Worten entnehme ich, dass Ihre Frau noch immer verschwunden ist.«

Magnus seufzte. »Ja.«

»Haben Sie alle Angehörigen und Freunde Ihrer Frau kontaktiert und in den Krankenhäusern nachgefragt?«

»Habe ich. Aber das hat auch nichts gebracht.«

»Tut mir leid, das zu hören, Herr Nachtmann. Allerdings müssen wir unter diesen Umständen annehmen, dass sich Ihre Frau möglicherweise in Gefahr befindet, und können endlich die Vermisstenfahndung einleiten. Ich werde die Akte daher unverzüglich an die Vermisstenstelle der Kripo weiterleiten. Wie ich schon sagte, sind das die Fachleute für Vermisstenfälle. Wenn jemand Ihre Frau finden kann, dann sind es die Kollegen von der Vermisstenstelle …«

Fast erschien es Magnus, als wollte der Polizist noch etwas hinzufügen, um es dann aber doch für sich zu behalten und mitten im Satz zu verstummen. Magnus überlegte, ihm fiel aber nur eine einzige Möglichkeit ein, wie Brunnmayer den begonnenen Satz sinnvoll zu Ende hätte bringen können: Wenn jemand Ihre Frau finden kann, dann sind es die Kollegen von der Vermisstenstelle, tot oder lebendig. Kein Wunder also, dass er sich vermutlich auf die Zunge gebissen hatte, um die letzten drei Worte ungesagt zu lassen.

»Und wie geht es jetzt weiter?«

»Eine Kollegin oder ein Kollege von der Vermisstenstelle wird sich in Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen. Am besten, Sie suchen schon mal ein gutes Foto Ihrer Frau heraus, das nicht zu alt sein sollte, um es für die Fahndung zu benutzen. Alles Weitere wird Ihnen die Kollegin oder der Kollege mitteilen. Ich hoffe, dass Ihre Frau bald wieder auftaucht und dass es ihr gutgeht.«

»Ja.«

»Leben Sie wohl, Herr Nachtmann.«

»Sie auch. Und … danke für Ihre Hilfe.«

Nachdem er aufgelegt hatte, starrte Magnus eine Weile blicklos auf den Bildschirm, ohne etwas wahrzunehmen. Erst ganz allmählich wurde sein Blick schärfer, bis er die Buchstaben und den blinkenden Cursor sah, der sich in den letzten sieben Tagen nicht vom Fleck bewegt hatte. Er knurrte wütend und schlug mit beiden Händen auf die Tastatur ein, sodass eine willkürliche Folge von Buchstaben, Zahlen und anderen Zeichen auf dem Bildschirm erschien, die natürlich keinen Sinn ergaben. Aber immerhin hatte er endlich wieder etwas geschrieben. Er hielt schwer atmend inne, starrte die Zeichenfolge an und grinste dabei schief.

Wenn du zu nichts Besserem in der Lage bist, solltest du es bleiben lassen und dir einen anderen Job suchen!

Magnus nickte. Ja, vielleicht sollte er das tatsächlich tun. Aber jetzt noch nicht!

Er schaltete den Computer aus, ohne das Programm korrekt zu beenden oder den Computer herunterzufahren. Dann stand er auf und verließ sein Arbeitszimmer, um nach einem aktuellen Foto von Antonia für die Vermisstenfahndung zu suchen.

 

Am nächsten Tag klingelte es am frühen Nachmittag an der Tür.

Magnus hatte am Morgen wie gewohnt den Computer hochgefahren und war zwei Stunden untätig vor dem Bildschirm gehockt, bis ihn Inga, eine Bekannte von Antonia, angerufen hatte, um ihn zu fragen, ob es Neuigkeiten gebe. Da er Inga noch nie leiden konnte, hatte er ihre Fragen einsilbig beantwortet, bis sie die Lust verloren und das Gespräch beendet hatte. Danach war er nicht wieder an den Computer zurückgekehrt, sondern hatte einen Spaziergang gemacht und war auf dem Rückweg in einer Pizzeria eingekehrt, um zu Mittag zu essen.

Er war gerade einmal seit zehn Minuten wieder zu Hause und überlegte, wie er den Nachmittag verbringen sollte, als ihn die Türglocke aus seinen Überlegungen riss.

»Hoffentlich ist das nicht wieder eine Freundin von Antonia«, murmelte er, als er zur Tür ging und sie einen Spaltbreit öffnete.

Doch draußen stand eine Frau, die er noch nie gesehen hatte. Sie hatte sehr kurz geschnittenes dunkelblondes Haar, das reichlich zerzaust war, dazu ein herzförmiges Gesicht mit hohen, markanten Wangenknochen, grünen Augen, einer schmalen, geraden Nase und einem kleinen Mund mit dünnen Lippen. Sie war vermutlich Mitte bis Ende dreißig, ungefähr ein Meter siebzig groß und trug Bluejeans, eine dunkelblaue Daunenjacke mit eingearbeitetem Gürtel und einer abnehmbaren Kapuze mit Kunstfellkragen und dazu schwarze Stiefel.

Magnus blinzelte die Besucherin verwirrt an und fragte sich, wer sie sein könnte. Nach einer Vertreterin sah sie seiner Meinung nach nicht unbedingt aus. Und Zeugen Jehovas waren, soweit er wusste, immer zu zweit unterwegs, auch wenn er keine Ahnung hatte, wieso.

»Was wollen Sie?«, fragte er argwöhnisch, bereit, die Tür jederzeit vor ihrer Nase zuschlagen zu können. Ihm kam nämlich plötzlich der Gedanke, dass sie eine Reporterin sein könnte, die erfahren hatte, dass seine Frau spurlos verschwunden war, und nun eine Skandalgeschichte witterte. Allerdings konnte er kein Kamerateam entdecken. Außerdem war er gar nicht so bekannt, dass sich die Presse für ihn interessierte.

»Herr Nachtmann?«

Er nickte so knapp, dass sie es vermutlich gar nicht bemerkt hatte. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf.«

Sie langte in die Jackentasche, holte ein hellbraunes Lederetui hervor und klappte es auf. »Kriminalhauptkommissarin Anja Spangenberg vom Kommissariat 14.«

Magnus nahm den Blick von ihrem Gesicht und richtete ihn auf den Dienstausweis, den sie ihm entgegenhielt. Auf dem Foto hatte sie noch lange Haare, doch sonst stimmte alles überein. Er nickte. »Die Vermisstenstelle.«

»Stimmt.« Sie klappte das Etui zu und ließ es in einer vielfach geübten Bewegung wieder in ihrer Jackentasche verschwinden. Es sah aus wie der Trick eines Bühnenzauberers. Sie rieb sich die Hände. »Ganz schön kalt heute. Können wir uns drinnen unterhalten?«

»Natürlich. Kommen Sie herein!« Er öffnete die Tür und ging zur Seite, damit sie eintreten konnte. »Geben Sie mir Ihre Jacke«, sagte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte.

Sie öffnete den Reißverschluss, schlüpfte aus der dicken Jacke und gab sie ihm. Darunter trug sie einen hellbraunen Rollkragenpullover. Am Gürtel ihrer Jeans hing ein Pistolenhalfter mit ihrer Dienstwaffe.

Magnus hängte die Jacke auf einen Bügel und diesen an die Garderobe. »Kommen Sie!« Er ging voraus und führte sie ins Wohnzimmer.

Auf dem Weg dorthin sah sich die Polizistin aufmerksam um.

Magnus hatte das Gefühl, dass sie jede Kleinigkeit registrierte und sich einprägte, um sie später in ihren Bericht zu schreiben.

»Nehmen Sie bitte Platz.« Er deutete auf die weiße Couchgarnitur, die aus einem Sessel, einem 2-Sitzer und einem 3-Sitzer bestand. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«

Die Kommissarin schüttelte den Kopf und nahm, wie er bereits vorausgeahnt hatte, auf dem Sessel Platz. »Für mich nichts, danke.« Die Zauberei ging weiter, denn von irgendwoher, vermutlich aus ihrer Gesäßtasche, hatte sie ein kleines Notizbuch und einen kurzen Kugelschreiber hervorgezaubert.

Magnus ging um den Tisch herum und nahm auf dem 2-Sitzer Platz, damit sie sich gegenübersaßen.

»Wir bekamen heute Ihre Vermisstenanzeige«, sagte die Polizistin zum Auftakt, ohne ihn anzusehen, und blätterte in ihrem Notizbuch, bis sie die richtige Seite gefunden hatte. »Ihre Frau Antonia ist demnach vor einer Woche verschwunden.«

»Vor acht Tagen«, präzisierte er, schließlich konnte man in so einem Fall nicht genau genug sein.

Sie hob den Blick und sah ihn an. Nicht unbedingt freundlich, sondern eher argwöhnisch und sezierend, als verdächtigte sie ihn irgendeiner Straftat. Dass er seine Frau ermordet hatte und nun als vermisst meldete, möglicherweise.

Magnus wusste natürlich, dass der Ehemann immer zuerst verdächtigt wurde, wenn eine Frau ermordet worden war. Aber in Antonias Fall ging es schließlich zunächst einmal nur um ihr Verschwinden und nicht um Mord.

Unter dem strengen Blick der Kriminalbeamtin fühlte er sich unwillkürlich unbehaglich, und vielleicht war genau das ihre Absicht. Möglicherweise wollte sie ihn von Anfang an einschüchtern und so dafür sorgen, dass er sie nicht belog, sondern die Wahrheit sagte.

Magnus erwiderte ihren Blick ungerührt und ließ sich nicht anmerken, ob ihre Taktik Erfolg hatte.

»Erzählen Sie mir, was passiert ist.«

Er hob fragend die Augenbrauen. »Das hab ich doch schon alles Brunnmayer, dem Beamten aus der Polizeiinspektion, bei der Vermisstenmeldung erzählt. Er sagte, er würde Ihnen die Akte schicken.«

»Das hat er auch getan. Und deswegen bin ich jetzt hier. Ich würde die Geschichte aber dennoch gern von Ihnen persönlich hören.«

Er nickte, überlegte kurz und erzählte ihr dann dasselbe, was er bereits dem Polizeiobermeister am Telefon gesagt hatte.

Anja Spangenberg unterbrach ihn kein einziges Mal. Sie sah ihn auch nicht an, sondern blickte konzentriert und mit gerunzelter Stirn in ihr Notizbuch, in dem sie in Stichpunkten oder Kurzschrift notierte, was er sagte. Erst eine ganze Weile, nachdem er verstummt war, hörte sie zu schreiben auf und hob den Kopf, um ihn anzusehen. Ihr Blick war noch immer nicht besonders freundlich, und Magnus kam unwillkürlich der Gedanke, dass ihn die Polizistin möglicherweise tatsächlich verdächtigte, er könnte für das Verschwinden seiner Frau verantwortlich sein.

»Was haben Sie alles getan, um Ihre Frau zu finden, nachdem Sie sie bei der Polizei als vermisst gemeldet haben?«, fragte die Beamtin, denn Magnus hatte seinen Bericht mit dem Telefonat mit der Polizei beendet.

Er überlegte, ob es sich dabei um eine Fangfrage handelte. Wenn er sich nicht genug bemüht hatte, Antonia zu finden, dann bewies das möglicherweise, dass er genau wusste, wie aussichtslos es war, weil er seine Frau umgebracht und irgendwo verscharrt hatte. Oder es zeigte zumindest, dass er sie nicht genug liebte oder es Spannungen in ihrer Beziehung gegeben hatte.

Sie schien zu spüren, dass er ihr gegenüber misstrauisch war, denn plötzlich entspannten sich ihre Gesichtszüge. Obwohl sie von einer freundlichen Miene noch weit entfernt war, bemühte sie sich zumindest um einen neutralen Gesichtsausdruck. »Ich frage Sie nur deshalb danach, weil ich mir dann ein paar Maßnahmen ersparen kann, wenn diese bereits bei Ihnen ergebnislos geblieben sind. Es wäre nur eine Vergeudung kostbarer Arbeitszeit und Ressourcen.«

Er nickte. Was sie sagte, klang vernünftig. Und vielleicht interpretierte er auch zu viel in die Art und Weise hinein, wie sie in ansah. Er seufzte, bevor er zu sprechen begann: »Brunnmayer gab mir den Rat, in den Krankenhäusern anzurufen. Das habe ich auch getan. Aber nirgends wurde jemand eingeliefert, auf den Antonias Beschreibung passte.« Er verstummte kurz. »Zum Glück.«

»Warum? Immerhin wäre Ihre Frau dann nicht länger vermisst.«

Magnus schüttelte den Kopf. »Kommt ganz darauf an, was besser ist: die Ungewissheit über das Schicksal meiner Frau oder das Wissen, dass sie einen schweren Unfall hatte und in der Intensivstation um ihr Leben ringt oder im Koma liegt, aus dem sie möglicherweise nie mehr erwacht. In dem Fall ziehe ich die Ungewissheit vor, denn sie beinhaltet wenigstens die Hoffnung, dass es Antonia gut geht, wo immer sie auch ist. Und solange ich keine Beweise für das Gegenteil habe, gehe ich davon aus, dass sie …« Er verstummte und atmete einmal tief durch, bevor er fortfuhr. »… am Leben und wohlauf ist.«

»Hat sie jemals Suizidabsichten erkennen lassen?«

Magnus schüttelte so vehement den Kopf, dass seine Nackenmuskeln sich schmerzhaft verkrampften. »Niemals! Antonia würde so etwas nie tun!«

»Warum nicht?«

»Dafür war sie zu …« Er zuckte die Achseln und suchte nach dem richtigen Wort. »… lebenshungrig.«

»Lebenshungrig«, wiederholte Anja Spangenberg, als hätte sie das Wort noch nie gehört und wollte es durch die Wiederholung ihrem eigenen Wortschatz hinzufügen. »Kommen wir zurück zu den Maßnahmen, die Sie nach der Vermisstenmeldung ergriffen haben, um Ihre Frau zu finden. Was haben Sie noch getan?«

»Ich rief jeden an, der meine Frau kennt, und fragte, ob er wüsste, wo Antonia steckt oder warum sie verschwunden sein könnte.«

»Und?«

Er schüttelte den Kopf. »Fehlanzeige. Alle waren entsetzt über ihr Verschwinden und versprachen mir, sich umzuhören und mich sofort zu informieren, falls sie etwas erfahren. Aber keiner wusste, wohin und warum Antonia verschwunden war. Deshalb …«

»Ja?«

»Deshalb glaube ich nicht, dass Antonia freiwillig gegangen ist. Das sagte ich auch schon Brunnmayer.«

Die Polizistin nickte. Zweifellos hatte sie es bereits in der Akte gelesen. »Allerdings hat Ihre Frau zwei Koffer gepackt, ihren Schmuck und das Geld aus dem Tresor mitgenommen und ist mit dem eigenen Wagen weggefahren. Das spricht doch eher dafür, dass sie freiwillig gegangen ist.«

»Und wenn Sie nun dazu gezwungen wurde, all das zu tun, um den Eindruck zu erwecken, sie hätte das Haus aus freiem Willen verlassen?«

Die Beamtin zuckte mit den Schultern. »Das ist natürlich möglich. Aber darauf kommen wir später zurück. Lassen Sie uns zunächst beim Thema bleiben. Sie haben also alle angerufen, die Ihre Frau kennen?«

Magnus nickte.

»Wie steht es mit Verwandten Ihrer Frau? Könnte es sein, dass sie bei einem ihrer Angehörigen untergeschlüpft ist, der am Telefon die Unwahrheit gesagt hat, weil Ihre Frau nicht will, dass Sie wissen, wo sie steckt?«

»Warum sollte sie so etwas tun?«

»Warum sagen Sie mir das nicht, Herr Nachtmann?«, antwortete die Frau mit einer Gegenfrage. »Hatten Sie und Antonia Streit? Hat Ihre Frau gedroht, Sie zu verlassen? Ging es darum in Ihrem letzten Telefonat vor ihrem Verschwinden?«

»Das ist doch alles Blödsinn!«, rief Magnus und sah die Polizistin zornig an. »Das klingt ja fast so, als würden Sie mich verdächtigen, ich hätte Antonia etwas angetan, weil sie mich verlassen wollte, und anschließend ihre Leiche beiseitegeschafft.«

Anja Spangenberg schüttelte den Kopf. »Wenn ich diesen Eindruck erweckt haben sollte, Herr Nachtmann, dann tut es mir leid. Aber dem ist nicht so, denn bislang gibt es nicht das geringste Anzeichen dafür, dass Ihre Frau das Opfer eines Verbrechens wurde. Wäre es anders, dann würde jetzt nicht ich hier sitzen und sie befragen, sondern meine Kollegen von der Mordkommission. Ich bin hier, um mit Ihnen zusammenzuarbeiten, weil wir ein gemeinsames Ziel haben, und zwar Ihre Frau zu finden. Also helfen Sie mir bitte. Denn nur dann, wenn ich mir ein möglichst genaues Bild von der vermissten Person machen kann, habe ich auch eine reelle Chance, sie zu finden. Und dazu benötige ich jede Information, die ich bekommen kann, um unter anderem Anhaltspunkte über mögliche Motive für das Verschwinden zu erhalten. Deshalb müssen Sie mir auch unbedingt die Wahrheit sagen und dürfen nichts verschweigen, auch wenn die Wahrheit für Sie unter Umständen unangenehm ist.«

Magnus nickte. »Okay, das verstehe ich. Tut mir leid, dass ich Sie angeschrien habe, aber …« Er seufzte.

Die Beamtin hob die Hand mit dem Stift und winkte ab. »Kein Problem. Ich kann verstehen, dass Sie momentan unter starkem Stress stehen. Schließlich ist Ihre Frau vor acht Tagen verschwunden, und Sie können sich anscheinend nicht erklären, aus welchem Grund. Meiner Erfahrung nach gehen die Angehörigen verschwundener Personen in den meisten Fällen sofort von einem Verbrechen oder dem Tod des Vermissten aus. Auch wenn sie das in der Regel nicht einmal vor sich selbst zugeben, weil sie Angst haben, es könnte wahr werden, sobald sie beginnen, ihre schlimmsten Befürchtungen zu akzeptieren.«

Magnus presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Antonia ist nicht tot!«

»Davon gehe ich auch nicht aus«, sagte Anja Spangenberg. »Momentan sprechen die Umstände eher dafür, dass Ihre Frau das Haus freiwillig verlassen hat, auch wenn Sie das verständlicherweise nicht wahrhaben wollen. Deshalb noch einmal meine Frage: Hatten Sie und Ihre Frau Streit?«

Er erwiderte ihren Blick und schüttelte den Kopf. »Nein! Wir hatten keinen Streit. Zumindest keinen Streit, der so heftig gewesen wäre, dass Antonia deshalb die Koffer packt und geht. Natürlich hatten wir gelegentlich auch Meinungsverschiedenheiten, aber das hielt sich alles im normalen Rahmen. Insgesamt führen wir eine sehr glückliche, harmonische Ehe, und Antonia hat nie auch nur ansatzweise erkennen lassen, dass sie mich verlassen könnte. Fragen Sie ruhig unsere Freunde und Bekannten, die werden das sicherlich alle bestätigen.«

»Das werde ich auch tun. Deshalb möchte ich Sie bitten, mir eine Liste aller Verwandten, Freunde und Kollegen zu geben, bevor ich gehe. Kommen wir aber noch einmal auf die Angehörigen Ihrer Frau zurück, bei denen sie Unterschlupf gefunden haben könnte, ohne dass Sie davon erfahren haben.«

Magnus schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich.«

»Warum sind Sie sich da so sicher, Herr Nachtmann?«

»Weil Antonia keine nahen Angehörigen mehr hat. Sie hat keine Geschwister, und ihre Eltern sind schon vor Jahren gestorben.«

»Dann vielleicht ihre beste Freundin?«

»Nein, so etwas hat sie auch nicht. Sie hat eine Handvoll gute Freundinnen, mit denen sie sich gelegentlich trifft. Daneben haben wir ein paar gemeinsame Bekannte. Außerdem gibt es eine Reihe von Leuten, mit denen Antonia zusammengearbeitet hat.«

»Als Fotografin.« Die Polizistin schien ihre Hausaufgaben gemacht und die Akte genau studiert zu haben, bevor sie hierhergekommen war.

Magnus nickte. »Ich mache Ihnen nachher eine Liste von allen Leuten, die ich bereits kontaktiert habe. Wenn einer von denen mich tatsächlich angelogen hat und weiß, wo Antonia steckt, dann erzählt er es ja möglicherweise Ihnen, wenn Sie ihm im Gegenzug versprechen, es mir nicht zu verraten. Denn wenn Antonia partout nicht will, dass ich erfahre, wo sie sich aufhält, dann müssen Sie es mir auch nicht sagen. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum sie so etwas wollen könnte. Aber es reicht mir schon, wenn ich weiß, dass es ihr gutgeht und ihr nichts Schlimmes passiert ist.«

Anja Spangenberg nickte. »Wenn ich Ihre Frau finde, muss ich sie ohnehin fragen, ob sie damit einverstanden ist, dass ich Ihnen ihren Aufenthaltsort mitteile. Denn jeder Erwachsene hat das Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen und ist niemandem Rechenschaft darüber schuldig. Auch wenn die Angehörigen das meist nicht verstehen, müssen sie es dennoch akzeptieren.«

»Damit habe ich kein Problem«, sagte Magnus, der dasselbe bereits von Polizeiobermeister Brunnmayer gehört hatte.

»Gut.« Es sah so aus, als würde die Polizeibeamtin einen Punkt auf ihrer mentalen Merkliste abhaken, um umgehend zum nächsten zu kommen. »Haben Sie schon die Nachbarn gefragt? Vielleicht hat jemand zufällig beobachtet, wie Ihre Frau die Koffer in den Wagen gepackt hat und weggefahren ist und ob sie dabei allein war.«

Magnus seufzte. »Ich habe niemanden direkt danach gefragt, weil ich nicht wollte, dass es Gerede gibt und bald die ganze Straße darüber Bescheid weiß, dass meine Frau verschwunden ist, obwohl ihr Fehlen natürlich schon einigen Leuten aufgefallen ist. Als ich gefragt wurde, wo Antonia sei, habe ich allerdings behauptet, sie sei auf Kur, und im Gegenzug gefragt, ob mein Gesprächspartner denn nicht gesehen habe, wie sie weggefahren ist. Doch keiner, mit dem ich sprach, hat etwas Derartiges beobachtet. Deshalb gehe ich davon aus, dass sie in der Nacht verschwand. Es wäre übrigens gut, wenn Sie sich bei der Befragung der Nachbarn ebenso diskret verhalten könnten. Es wäre mir nämlich nicht recht, wenn plötzlich wilde Gerüchte darüber in Umlauf geraten, was mit Antonia geschehen sein könnte.«

Die Polizistin zuckte mit den Schultern. »Wenn ich herausfinden will, was mit Ihrer Frau geschehen und wohin sie verschwunden ist, kann ich darauf leider keine Rücksicht nehmen. Und falls Antonia weiterhin verschwunden bleibt, werden Ihre Nachbarn früher oder später auch von selbst drauf kommen, dass sie nicht auf Kur ist.«

Magnus nickte mit verkniffenem Gesicht, während er für einen Moment ins Leere starrte. Dann sah er sie wieder an und fragte: »Was werden Sie jetzt alles tun, um Antonia zu finden?«

»Zunächst werde ich eine Gefahreneinschätzung vornehmen, denn wie Ihnen der Kollege von der Polizeiinspektion sicherlich schon mitgeteilt hat, muss bei einem vermissten Erwachsenen im Gegensatz zu vermissten Jugendlichen und Kindern eine Gesundheits- oder Lebensgefahr gegeben sein, um eine groß angelegte Suchaktion einleiten zu können. Dabei kommt es vor allem auf die Umstände an, unter denen jemand verschwunden ist. Unter Berücksichtigung all dessen, was Sie mir über das Verschwinden Ihrer Frau erzählt haben, muss ich abwägen, wie groß die Gefahr für Antonia ist.«

»Und wie groß ist die Gefahr Ihrer Meinung nach?«

Die Beamtin wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster in den Garten hinter dem Haus, während sie nachdachte. Nach einer halben Minute sah sie Magnus wieder an und befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge, bevor sie ihm antwortete: »Meiner Meinung nach ist die Gefahr für Ihre Frau nicht sehr groß, denn alle Umstände deuten darauf hin, dass sie freiwillig von hier fortgegangen ist und ihr Verschwinden von langer Hand geplant hat. Dafür sprechen folgende Gesichtspunkte.« Sie ließ Notizbuch und Kugelschreiber auf ihrem Schoß liegen und hob die Hände, um an den Fingern die einzelnen Punkte abzuzählen. »Erstens hat sie zwei Koffer voller Kleidung, ihren Schmuck und das Bargeld aus dem Tresor mitgenommen, was meines Erachtens ein sehr deutliches Anzeichen dafür ist, dass sie eine längere Abwesenheit geplant hat. Zweitens ist sie mit dem eigenen Auto weggefahren. Drittens hat sie für ihr Vorhaben Ihre Lesereise genutzt, wodurch sie länger Zeit hatte, ihr Verschwinden vorzubereiten. Viertens gibt es keinen Abschiedsbrief, weswegen wir auch nicht unbedingt davon ausgehen müssen, dass eine akute Selbsttötungsabsicht besteht. Abgesehen davon hat sie, wie Sie selbst sagten, nie die Absicht geäußert, sich das Leben zu nehmen. Fünftens gab es im ganzen Haus weder Einbruchs- noch Kampfspuren, die darauf hindeuten, dass Ihre Frau Opfer eines Verbrechens und gegen ihren Willen weggebracht wurde. Und sechstens hat sich bislang auch kein Erpresser bei Ihnen gemeldet, um für die Freilassung Ihrer Frau Lösegeld zu fordern. Sie sehen also, Herr Nachtmann, es gibt momentan absolut keinen Grund, sich übermäßige Sorgen um das Wohlergehen Ihrer Frau zu machen.«

»Ich hoffe, dass Sie recht haben, Frau Spangenberg. Aber was bedeutet Ihre Gefahreneinschätzung nun konkret für die Suche nach meiner Frau?«

»Da nach dem aktuellen Kenntnisstand keine Gesundheits- oder Lebensgefahr für Ihre Frau besteht, können wir leider keine groß angelegten Maßnahmen durchführen. Das heißt, wir werden beispielsweise nicht öffentlich nach Antonia fahnden. Schließlich besteht die sehr naheliegende Möglichkeit, dass Ihre Frau absichtlich verschwunden ist und überhaupt nicht gefunden werden will. Diesen Wunsch müssen wir – sowohl Sie als auch ich – akzeptieren. Allerdings kann ich eine Reihe von, nennen wir es diskreteren Maßnahmen ergreifen, um den Aufenthaltsort Ihrer Frau zu ermitteln und herauszufinden, warum sie verschwunden ist, da es gleichwohl auch möglich ist – wenngleich meiner Meinung nach die Wahrscheinlich dafür äußerst gering ist –, dass ein freiwilliges Verschwinden, wie Sie bereits sagten, nur vorgetäuscht wurde.«

»Und welche Maßnahmen sind das nun konkret?«

»Hauptsächlich die Befragung von Verwandten, Freunden, Kollegen und allen anderen Personen im Umfeld Ihrer Frau. Aber auch die Überwachung der Konten und Handyverbindungen auf aktive Lebenszeichen. Denn regelmäßige Kontobewegungen oder die weitere Nutzung des Handys deuten in der Regel darauf hin, dass die vermisste Person freiwillig verschwunden und einfach irgendwo untergetaucht ist. Außerdem überprüfen wir Einträge und Kommentare in sozialen Netzwerken und lesen das Tagebuch der Vermissten, sofern sie ein solches geführt und nicht mitgenommen hat. Wissen Sie zufällig, ob Ihre Frau ein Tagebuch geführt hat, Herr Nachtmann?«

»Nein.«

»Nein, Sie wissen es nicht, oder nein, sie hat kein Tagebuch geführt?«

Magnus seufzte und sagte dann lauter und gereizter als beabsichtigt: »Nein, Antonia hat kein Tagebuch geführt.« Er senkte den Blick und sah auf seine Hände, die er ineinander verschränkt hatte. »Entschuldigen Sie.«

Anja Spangenberg schüttelte nur den Kopf, ging ansonsten aber nicht darauf ein. Sie machte sich eine kurze Notiz, dann blickte sie wieder auf. »Und wie sieht es mit sozialen Netzwerken aus?«

Magnus nickte, hob den Kopf und erwiderte ihren Blick. »Antonia ist bei Facebook. Ich habe ihre Profilseite in den letzten Tagen mehrmals besucht. Allerdings haben nur ein paar Freunde und Bekannte Nachrichten hinterlassen, ansonsten hat sich aber nichts getan.«

»Ich werde die Profilseite ebenfalls regelmäßig überprüfen. Was ist mit dem Handy Ihrer Frau? Hat sie das ebenfalls mitgenommen?«

»Ja. Ich habe auch schon mehrmals angerufen, aber immer nur die Meldung bekommen, dass der Anrufer nicht erreichbar sei.«

»Schreiben Sie mir nachher bitte die Nummer auf. Vielleicht gelingt es den Kollegen, das Handy zu orten.«

Er nickte.

»Haben Sie und Ihre Frau ein gemeinsames Konto?«

Wieder nickte er. »Jeder von uns hat aber auch ein eigenes Konto. Ich weiß allerdings nicht, ob es auf Antonias Konto in den letzten Tagen Bewegungen gab, da ich keinen Zugriff darauf habe.«

»Schreiben Sie die Kontonummer ebenfalls auf. Ich werde es überprüfen.«

»Was brauchen Sie sonst noch von mir?«

»Ein gutes Foto, nicht älter als sechs Monate, wäre hilfreich. Haben Sie so etwas?«

»Natürlich. Brunnmayer sagte mir bereits, dass Sie für die Fahndung ein aktuelles Foto benötigen, deshalb habe ich es schon bereitgelegt. Wenn Sie mich für einen Augenblick entschuldigen, dann hole ich es rasch.«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Herr Nachtmann.«

»Es dauert nur einen Moment«, sagte Magnus und stand auf. Er ging zu einer Kommode, auf der das Telefon und mehrere gerahmte Bilder standen, unter anderem ihr Hochzeitsfoto, öffnete eine Schublade und holte eine Aufnahme heraus.

»Bitte sehr«, sagte er, nachdem er wieder Platz genommen hatte, und reichte ihr über den Tisch hinweg das Bild.

Die Polizistin nahm es und studierte es dann aufmerksam, als wollte sie sich jedes einzelne Detail einprägen.

Obwohl Magnus die Aufnahme von seiner Position aus nicht sehen konnte, hatte er sie dennoch deutlich vor Augen. Sie war vier Monate alt und stammte aus ihrem letzten Sommerurlaub, den sie, wie immer, in ihrem Ferienhaus an dem namenlosen kleinen See westlich von München verbracht hatten. Antonia stand am Ufer des Sees und wandte dem Wasser den Rücken zu. Allerdings sah sie nicht in die Kamera, weil irgendetwas sie im Augenblick der Aufnahme abgelenkt hatte. Trotzdem war es seiner Ansicht nach eine gelungene Aufnahme, die seine Frau so zeigte, wie sie wirklich war, und er hatte sie in den letzten Tagen immer wieder zur Hand genommen und angesehen.

Auf der Fotografie trug Antonia ein kurzärmliges, lilafarbenes Shirt – ihre Lieblingsfarbe –, unter dem sich ihre großen Brüste deutlich abzeichneten, und eine dünne, weiße Hose. Ihr langes, rotblondes Haar hatte sie an diesem Nachmittag zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre grünen Augen schienen im Licht der untergehenden Sonne geradezu zu leuchten, als würde dahinter ein inneres Feuer brennen.

Magnus seufzte und bemerkte erst, dass er die Augen geschlossen hatte, als Anja Spangenberg ihn ansprach.

»Ihre Frau ist wunderschön.«

Er öffnete ruckartig die Augen und bemerkte, dass sie ihn ansah. Er nickte nur, ohne etwas zu sagen, denn wieso sollte er etwas bestätigen, was derart offensichtlich war.

»Wie alt ist sie?«

Er räusperte sich, um den Kloß loszuwerden, den er im Hals spürte. »Siebenunddreißig, zwei Jahre jünger als ich.« Nicht, dass Letzteres für die Fahndung eine Rolle gespielt hätte.

»Größe?«

»Ein Meter fünfundsiebzig.«

Sie notierte alles gewissenhaft.

»Trägt sie eine Brille?«

Er schüttelte den Kopf.

»Besondere Merkmale? Muttermale zum Beispiel.«

»Ein Muttermal auf der rechten Schulter.« Er hob die linke Hand und legte den Zeigefinger auf die exakte Stelle seiner eigenen Schulter. »Es hat in etwa die Form eines schmalen Katzenkopfs. Aber wozu brauchen Sie das? Für die Suche nach Antonia dürfte das doch kaum von Nutzen sein.«