Zahltag in der Mortuary Bar - Eberhard Weidner - E-Book

Zahltag in der Mortuary Bar E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Nur die Aussicht auf ein Bombengeschäft lässt den schwerreichen, skrupellosen Geschäftsmann Max Ackermann die Bar in der verkommensten Gegend der Stadt aufsuchen. Doch heute Nacht erwartet ihn dort etwas ganz anderes, denn es ist Zahltag in der Mortuary Bar ... Der Friedhof ist der liebste Spielplatz der beiden Freunde Kevin und Peter. Als Kevin seinen besten Freund an diesem Tag fragt, warum er nicht in der Schule war, erhält er erste Hinweise auf PETERS GEHEIMNIS ... DER ALTE MANN UND DAS MÄDCHEN: Frank Farnburg hasst die Diskothek, seit er sie betreten hat. Aber er ist nicht zum Spaß da, sondern auf der Jagd nach einem jungen, hübschen Mädchen. Als er Lea sieht, ist er sofort von ihr hingerissen, und er weiß, dass sie genau die Richtige für seine Zwecke ist ... Christian Herbolt ist DER MANN, DER LOVECRAFT SAMMELTE. Als er den skurrilen alten Händler in Providence, Rhode Island, aufsucht, kann er kaum glauben, welche Schätze seines Lieblingsautors sich in dem heruntergekommenen Haus verbergen. Und jäh erwacht mörderische Gier in seinem Herzen zum Leben und bestimmt sein Handeln ... Diese und acht weitere Horrorgeschichten.

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INHALTSVERZEICHNIS

 

COVER

TITEL

ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR

PETERS GEHEIMNIS

MOVIETOWN

ERSATZTEILE

DER ALTE MANN UND DAS MÄDCHEN

DER ULTIMATIVE KICK

SCHÄTZE DER FRUCHTBARKEIT

DER MANN, DER LOVECRAFT SAMMELTE

NACHBARSCHAFTSHILFE

UNTER DIE HAUT

DIE GRABBEIGABE

DIE EKSTASE DES TODES

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

IMPRESSUM

ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR

 

Max Ackermann, der eigentlich Maximilian hieß, seinen Vornamen aber am liebsten auf amerikanische Art mit einem langen ä in der Mitte aussprach und bei seinem Nachnamen bisweilen das zweite n wegließ, um nicht so kleinbürgerlich deutsch, sondern weltmännischer zu klingen, brachte den schwarzen Porsche Carrera GT in der finsteren Seitenstraße so abrupt zum Stehen, dass die Reifen laut protestierten, ließ den Motor verstummen und löschte die Scheinwerfer. Augenblicklich legte sich wieder wie ein finsteres Leichentuch die Schwärze der Nacht über die gesamte Umgebung, aus der sie die Lichter des Wagens gerade eben gerissen hatten.

Eigentlich müsste ich hier richtig sein.

Max ließ den Blick suchend in alle Richtungen schweifen und starrte angestrengt in die Finsternis, die den Wagen wie ein durchscheinendes, schwarzes Seidentuch von allen Seiten einhüllte. Er konnte jedoch nichts entdecken, das darauf hindeutete, dass sich hier tatsächlich eine Bar befand.

Stattdessen sah alles wie ausgestorben aus. Keine Menschenseele war zu sehen. Und soweit Max es in der Düsternis erkennen konnte, wirkten die umliegenden Mietshäuser allesamt, als würden sie jeden Augenblick einstürzen, sobald jemand in ihrer Nähe nur niesen musste. Wohin er auch blickte, er sah überall nur leere oder vernagelte Fensterhöhlen, kaputte Scheiben und alte Backsteinmauern, von denen längst der größte Teil des schmutzig grauen Verputzes abgebröckelt war. Dieser Ort war entweder schon lange mausetot oder er lag in seinen letzten Zügen und hing am Tropf staatlicher Unterstützungsleistungen, die das Einzige waren, das ihn noch halbwegs am Leben erhielt.

In der Regel also kein Ort, an dem Max seine bevorzugte Klientel fand. Und falls wirklich irgendein Idiot so verrückt gewesen sein sollte, in dieser abgefuckten Gegend eine Bar zu eröffnen, dann hätte er sein Geld genauso gut im Ofen verheizen können. Diese Alternative hatte in Max’ Augen drei entscheidende Vorteile: Sie ging schneller von der Hand, machte deutlich weniger Arbeit und sorgte darüber hinaus für angenehme Wärme.

Er sah jedoch weit und breit keine Bar, und das hieß, dass er hier falsch war. Der erfolgreiche Allround-Unternehmer fluchte leise vor sich hin und klopfte aus Verärgerung wie auch aus Ungeduld mit den Fingern aufs Lenkrad. Es ärgerte ihn über alle Maßen, dass er mit der Fahrt hierher vermutlich nur seine Zeit vergeudete.

Dabei hatte der Anrufer, der ihn an diesen Ort bestellt und mit heiserer Stimme von einem Bombengeschäft gesprochen hatte, in Max’ Ohren noch so überzeugend geklungen. Und wenn Max sich nicht spontan dazu entschlossen hätte, hierher zu kommen, hätte er sich wahrscheinlich ständig gefragt, ob er nicht eine Riesenchance verpasste, und die nächsten drei oder vier Tage sicherlich keine ruhige Minute gehabt.

Denn Geschäfte, vor allem Bombengeschäfte, waren Max’ Lebensinhalt, solange sie sein ohnehin schon beachtliches Vermögen mehrten. Wenn es um Geld ging – vorzugsweise um das Geld anderer Leute –, dann war er skrupellos. Dass seine Geschäftspartner dabei des Öfteren auf der Strecke blieben und alles verloren, was sie besaßen, störte ihn dabei nicht im Mindesten. Im Gegenteil, es war das Salz in der Suppe und erhöhte nur den Reiz für ihn. Denn seiner Meinung nach gehörte das zum Business. Wo gehobelt wurde, da fielen bekanntlich Späne. Deshalb lautete seine Devise im Geschäftsleben auch: Fressen oder gefressen werden! Und Max gehörte von Natur aus zu denjenigen, die in geschäftlichen Dingen besonders gefräßig waren und das größte Maul und die schärfsten Zähne hatten.

Dabei hatte Max im Grunde schon alles, was man sich nur wünschen konnte: eine eigene Insel in der Karibik, mehrere prachtvolle Villen, u.a. in Palm Springs, Kapstadt, an der Côte d’Azur und am Genfer See, luxuriöse Eigentumswohnungen in Monte Carlo, New York, London und Paris, eine 49,9 Meter lange Megayacht von Benetti, eine Cessna Citation XLS+ und mehr Nobelkarossen, als er an den Fingern und Zehen all seiner Gliedmaßen abzählen konnte. Darüber hinaus besaß er dicke Aktienpakete diverser internationaler Konzerne, kostbare Kunstsammlungen und Goldreserven in seinen Bankschließfächern sowie unzählige prall gefüllte Bankkonten, vorwiegend in Steueroasen, von denen die Finanzbehörden dieser Welt zum größten Teil keinen blassen Schimmer hatten.

Doch trotz seines immensen Reichtums, der für mehrere ausschweifende Lebensspannen gereicht hätte, war er noch immer nicht satt und ständig auf der Suche nach vielversprechenden Geschäften und neuen Herausforderungen. Denn im Grunde seines herzlosen Wesens war Max unersättlich. Außerdem liebte er den besonderen Kick, sobald es ihm wieder einmal gelungen war, einen vermeintlichen Geschäftspartner über den Tisch zu ziehen. Ohne das befriedigende Gefühl, im finanziellen Dingen seine Überlegenheit über alle anderen zu demonstrieren, wäre Max’ Leben nämlich leer und öde gewesen. Er könnte seinen Reichtum und die schönen Dinge, die er sich damit leistete, vermutlich gar nicht richtig würdigen und genießen, wenn er sich nicht ständig vergegenwärtigte und immer wieder unter Beweis stellte, auf welche Art und Weise er sich sein Vermögen im wahrsten Sinne des Wortes verdient hatte.

Und genau aus diesen Gründen war auch in der heutigen Nacht wieder der Jagdinstinkt in ihm erwacht und hatte ihn dazu gebracht, sich trotz der fortgeschrittenen Stunde ins Auto zu setzen und in diese trostlose Gegend zu fahren. Doch diesmal schien er ausnahmsweise kein Glück zu haben. Wenn er sich umsah, dann erwartete ihn hier nur Not und Elend, aber vermutlich kein Bombengeschäft. Nicht in dieser heruntergekommenen Gegend, die seiner Meinung nach die ideale Kulisse für einen Endzeitfilm wäre und nicht einmal dann erfolgreich wiederbelebt werden könnte, wenn man zig Millionen Euro an Steuergeldern hineinpumpen würde. Was in seinen Augen allerdings eine riesige Fehlinvestition wäre. Abreißen wäre die bessere Alternative. Dabei würde wenigstens einer etwas verdienen, und zwar der Abrissunternehmer.

Angesichts der allmählich verfallenden Häuser ringsum erschien es ihm immer wahrscheinlicher, dass sich jemand einen bösen Scherz mit ihm erlaubt hatte. Neider, die ihm seine geschäftlichen Erfolge missgönnten, und Trottel, die er in den finanziellen Ruin getrieben hatte, gab es mittlerweile wie Sand am Meer. Max fragte sich nur, wie der Anrufer an seine geheime Privatnummer gekommen war.

Sei’s drum! Er beschloss, nicht noch mehr Zeit sinnlos zu vergeuden, sondern so schnell wie möglich wieder von hier zu verschwinden und stattdessen in eine der momentan angesagten Diskotheken oder Szenekneipen in der Innenstadt zu gehen, die er in einer Nacht wie dieser ohnehin bevorzugte. Irgendwo würde er schon zwei oder zur Abwechslung vielleicht auch mal drei willige blutjunge Frauen finden, die er mit seiner prall gefüllten Brieftasche und seinem guten Aussehen – das er nicht nur seinen Genen, sondern auch den geschickten Händen der weltweit besten und teuersten Schönheitschirurgen zu verdanken hatte – beeindrucken konnte und die ihn anschließend im Schlafzimmer als Gegenleistung für die spendierten Drinks die vertane Zeit vergessen lassen würden.

Er griff bereits nach dem Zündschlüssel und wollte den Motor starten, als urplötzlich in der Finsternis links von ihm ein blendend rotes Licht zum Leben erwachte. Max wandte erschrocken den Kopf und sah an der Fassade eines baufälligen dreistöckigen Hauses einen roten Neonbuchstaben leuchten. Es handelte sich um ein großes M. Nach fünf Sekunden erlosch das Neon-M, und ein zweiter Buchstabe rechts daneben leuchtete stattdessen auf. Diesmal war es ein o, das ebenso zügig von einem r abgelöst wurde. So ging es munter weiter, bis schließlich der elfte und letzte Buchstabe, ebenfalls wieder ein r, aufschien und verblasste. Nach einer kurzen Phase der Finsternis leuchteten dann alle Buchstaben gleichzeitig auf und bildeten zwei Worte.

»Mortuary Bar«, las Max leise den roten Neon-Schriftzug und runzelte die Stirn. Soweit er wusste, bedeutete Mortuary übersetzt Leichenhalle. Was für ein bescheuerter Name für ein Nachtlokal? Aber wenigstens handelte es sich eindeutig um eine Bar. Und da Max keine zweite entdecken konnte oder auch nur insgeheim in dieser gottverlassenen Gegend vermutete, musste es sich um exakt die Lokalität handeln, in die der geheimnisvolle Anrufer ihn bestellt hatte, der ausdrücklich von einem Bombengeschäft gesprochen hatte.

Die Hand noch immer am Zündschlüssel überlegte Max, ob er nicht doch besser wieder wegfahren sollte. Die heruntergekommene, menschenleere Gegend und der makabre Name der Bar verhießen nichts Gutes. Wer nannte seine Bar schon Leichenhalle? Und wer zum Teufel verkehrte eigentlich freiwillig in einem Nachtlokal, das so hieß?

Andererseits passte der Name in dieses Viertel wie das Tüpfelchen aufs i. Und Max hatte in seiner Laufbahn schon an den ungewöhnlichsten und unwahrscheinlichsten Orten wahre Geldadern aufgespürt. Außerdem, was hatte er schon zu verlieren? Die Sache war doch denkbar einfach: Er marschierte in die Bar, redete ein paar Takte Klartext mit demjenigen, der ihn herbestellt hatte, und stellte so rasch fest, was wirklich hinter dem vermeintlichen Bombengeschäft steckte, denn dafür hatte Max einen Riecher und dabei machte ihm niemand so leicht etwas vor. Wenn es sich nur um die Hirngespinste eines Großmauls oder Träumers handelte, stieg er einfach wieder in seinen Wagen und ließ dieses Ruinenviertel so schnell wie möglich hinter sich, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen und je wieder einen Fuß hineinzusetzen. Alles in allem würde ihn die ganze Aktion einschließlich An- und Abfahrt höchstens eine Stunde seiner kostbaren Zeit kosten.

Wenn sich andererseits tatsächlich ein richtig gutes Geschäft dahinter verbarg und er nun einfach wegfuhr … Max wagte den Gedanken nicht einmal zu Ende zu denken, denn der Ärger über eine verpasste Gelegenheit, seine geschäftliche Überlegenheit zu demonstrieren und seinen Reichtum zu mehren, wäre um ein Vielfaches größer als die Verschwendung einer einzigen Stunde seiner Zeit.

Damit war die Entscheidung gefällt.

Max zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Nach dem Absperren überprüfte er noch einmal, ob die Türen des Porsche tatsächlich verriegelt waren. In dieser Gegend war Vorsicht besser als Nachsicht, auch wenn er den Eindruck hatte, dass sogar die Autodiebe dieses Viertel mieden und an besseren Orten auf Beutezug gingen. Anschließend näherte er sich mit vorsichtigen Schritten der Neonbeleuchtung an der Wand. Glasscherben knirschten unter den Sohlen seiner Schuhe. Er sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, konnte jedoch noch immer niemanden entdecken.

Unmittelbar unter dem Schriftzug aus leuchtenden Neonröhren führten mehrere steinerne Stufen in die Tiefe. Sie wurden vom blutroten Schein der Leuchtbuchstaben erhellt und wirkten dadurch wie der Zugang zur Unterwelt. Am Ende der Treppe befand sich eine schartige dunkle Holztür.

Max war nicht der Typ, der sich von vermeintlichen Omen beeindrucken ließ oder in allen Dingen düstere Vorzeichen sah. Es fröstelte ihn zwar leicht, doch er zuckte nur mit den Schultern und schüttelte damit das leichte Unbehagen, das ihn bei dem unheimlichen Anblick befallen hatte, mühelos ab.

Dann machte er sich vorsichtig an den Abstieg. Das rote Licht ließ die Konturen der Stufen vor seinen Augen verschwimmen und undeutlich werden. Er wollte jedoch keinen Fehltritt tun und die Stufen hinunterfallen und ging langsam. Noch immer knirschte Glas unter seinen Schuhen. Ein Sturz würde ihm nicht nur Prellungen, sondern vermutlich auch Schnittwunden einbringen, von einer möglichen Blutvergiftung gar nicht zu sprechen.

Auf dem Weg nach unten konnte Max bereits leise Musik hören, die durch die geschlossene Tür gedämpft wurde. Als er sie erreicht hatte, zögerte er keinen weiteren Augenblick, sondern legte die Hand auf die Türklinke und zog die erbärmlich in ihren Angeln quietschende Tür entschlossen auf. Schwacher gelber Lichtschein fiel nach draußen, und sofort wurde auch die Musik ein bisschen lauter.

Max betrat den dämmrigen Raum, der voller Schatten war, während die Tür hinter ihm laut krachend ins Schloss fiel.

 

Unbemerkt von menschlichen Augen gab das leuchtende Neon-O über der Treppe in diesem Moment zischende Geräusche von sich. Funken sprühten in alle Richtungen, dann zersprang die runde Leuchtröhre mit einem klirrenden Laut. Die Scherben regneten zu Boden und fielen zu den anderen in der Gasse und auf den Stufen.

Einen Augenblick später erloschen auch die übrigen Buchstaben, die den Schriftzug Mortuary Bar gebildet hatten. Die Gasse und der verlassene Sportwagen versanken in noch tieferer Finsternis als zuvor. Und nichts deutete nun noch darauf hin, dass in der schmutzigen Seitenstraße eine Bar existierte.

 

Nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, blieb Max eine gute Minute reglos stehen und musterte aufmerksam das Innere der Bar, in der er gelandet war.

Die Musik war hier drinnen nur unwesentlich lauter als draußen vor der geschlossenen Tür und überstieg damit nicht den Pegel, bei dem man sich noch problemlos unterhalten konnte, ohne schreien zu müssen. Der Raum war sogar für ein Nachtlokal extrem düster und wurde von entschieden zu wenig verborgenen Lichtquellen nur unzureichend erhellt. In der schummrigen Beleuchtung, die mehr schattige Bereiche als helle Lichtoasen erschuf, konnte Max in der Mitte des Raumes eine ringförmige Theke erkennen, die von hohen Barhockern umzingelt und belagert wurde wie eine Wagenburg von einer Horde angreifender Indianer. Drei Hocker waren belegt. Aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse konnte Max die anwesenden Gäste allerdings nur schemenhaft erkennen und keine Einzelheiten ausmachen. Er konnte nicht einmal sagen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Rechts und links vor den Seitenwänden des rechteckigen Raumes reihten sich mehrere Sitznischen aneinander, die aus zwei gegenüberliegenden Bänken und einem Tisch in ihrer Mitte bestanden. In mehreren Nischen konnte Max weitere schattenhafte, reglose Gestalten ausmachen.

Max hatte keine Ahnung, ob der anonyme Anrufer schon da war und sich unter den Gästen befand. Er wusste ja nicht einmal, wie er ihn erkennen sollte. Er ging aber davon aus, dass sein potentieller Geschäftspartner wusste, wie Max aussah, und ihn früher oder später ansprechen würde.

Er zuckte mit den Schultern und marschierte, da ihm nichts Besseres einfiel, zum Tresen. Nachdem er die Sitzfläche mit dem Ärmel seines Jacketts sauber gewischt hatte, erklomm er den Hocker und platzierte beide Ellbogen auf der Theke.

Als wäre sie aus einem Raumschiff geradewegs hierher teleportiert worden, materialisierte sich schon im nächsten Augenblick eine Gestalt in einer finsteren Ecke jenseits des Tresens, bei der es sich um den Barmann handeln musste. Geradezu bedächtig schlurfte er aus den Schatten heraus und auf den neuen Gast zu. Erst als sie nur noch die Breite der Theke voneinander trennte, konnte Max ihn deutlicher erkennen und schrak unwillkürlich zurück, denn der Mann bestand fast nur aus Haut und Knochen. Die unnatürlich bleiche Gesichtshaut spannte sich so straff über den Schädelknochen, als müsste sie jeden Moment zerreißen. Die wässrigen, fiebrig glänzenden Augen lagen so tief in den Höhlen, dass sie kaum zu erkennen waren, und der ganze Schädel war vollkommen haarlos und von unzähligen dunklen Pigmentflecken übersät. Auf den dürren unbedeckten Armen befanden sich zahllose Tätowierungen in den unterschiedlichsten Größen, bei denen es sich allesamt entweder um Totenschädel oder um erstaunlich gut getroffene Selbstporträts des Mannes handelte. Der Barkeeper ließ die Musterung teilnahmslos über sich ergehen, fragte nicht, was Max trinken wollte, sondern wartete stumm auf die Bestellung des neuen Gastes. Nachdem Max sich vom ersten Schock des makabren Anblicks erholt hatte, orderte er einen Whisky mit Eis, worauf sich das Klappergestell wortlos abwandte, ebenso gemächlich wieder davonschlurfte und in die Schatten eintauchte.

Kaum war der Mann verschwunden, konnte Max das Grinsen nicht länger zurückhalten. Er strich mit der rechten Hand durch sein kurzes braunes Haar und schüttelte verwundert den Kopf. Nun endlich machte der Name der Bar für ihn einen Sinn, denn dieser Barkeeper passte zu einer Leichenhalle wie die berühmte Faust aufs Auge. Hätte sich die Bar in einer geringfügig zivilisierteren und vorzeigbareren Gegend dieses Planeten befunden, wäre sie möglicherweise sogar eine Goldgrube gewesen, denn die Nachtschwärmer waren ständig auf der Suche nach neuen Kicks und liebten bizarre und ausgefallene Ideen.

Der Barkeeper kehrte schon bald wieder zurück und stellte den Whisky ohne ein Wort vor Max ab. Max nickte ihm zum Dank knapp zu und nahm das Glas, auf dem sich ein Kondensfilm gebildet hatte. Die Eiswürfel schlugen klirrend gegeneinander und an das Innere des Glases, als er es an seine Lippen hob und einen kleinen vorsichtigen Schluck nahm. Augenblicklich verzog er angewidert das Gesicht und stellte das Glas schnell wieder auf den Tresen.

Was zum Teufel ist denn das?

Was immer der Barkeeper ihm da vorgesetzt hatte, es hatte nicht das Geringste mit einem anständigen Whisky gemeinsam. Stattdessen schmeckte das Zeug wie etwas, das schon längere Zeit tot war und seitdem in einer vergessenen Ecke vor sich hin gefault hatte. Max konnte nun auch einen stechenden, geradezu widerwärtigen Geruch wahrnehmen, der vom bräunlich trüben Inhalt des Glases ausging und ihm die Tränen in die Augen trieb. Sogar die Eiswürfel, die darin schwammen, sahen merkwürdig aus. Sie hatten eine ungewöhnliche hellrote Färbung und schienen dunkle schmeißfliegengroße Objekte zu enthalten, die aber zum Glück nur schemenhaft zu erkennen waren.

Max schob das Glas so weit von sich, wie es ihm möglich war, und spuckte die Flüssigkeit, die er zum Glück nicht heruntergeschluckt hatte, auf den Boden neben seinen Barhocker. Es hätte ihn gar nicht verwundert, wenn das eklige Zeug gedampft, gezischt und ein Loch in den Fußboden gebrannt hätte. Er holte sein Taschentuch heraus, um sich den Mund abzuwischen, und rieb mit dem rauen Stoff sogar mehrmals über seine Zunge. Anschließend sammelte er Speichel im Mund und spuckte noch einmal aus, um auch noch den letzten Überrest des widerlichen Geschmacks loszuwerden. Es blieb jedoch auch weiterhin ein leicht unangenehmer Nachgeschmack zurück. Er überlegte, ob er die Toilette aufsuchen und den Mund ausspülen sollte, nur um ganz sicher zu gehen. Vielleicht war das Zeug ja gesundheitsgefährdend. Und vielleicht sollte Max dem Barmann einen guten Rat geben, bevor er ging, denn was immer der Kerl benutzte, um den Whisky zu strecken, er sollte es das nächste Mal mit einem geruchs- und geschmacksneutraleren Mittel versuchen.

»Na, Hübscher, spendierst du mir einen Drink?«

Die raue Stimme, die ihn so überraschend ansprach, riss ihn aus seinen Überlegungen. Er fuhr erschrocken hoch und sah in die Richtung, aus der sie gekommen war. Auf dem Barhocker links neben ihm hatte sich eine Frau mit langen dunklen Haaren niedergelassen. Er wusste nicht, ob sie aus einem anderen Teil der Bar oder von draußen hereingekommen war, da er die letzten Minuten viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war, um auf seine Umgebung zu achten. Nun hockte sie auf alle Fälle neben ihm und sah ihn aus dem schattigen Bereich, in dem sie saß, heraus an.

Max grunzte zur Erwiderung nur etwas Unverständliches. Er hatte noch nie zu den Leuten gehört, die gern und freigiebig Geschenke verteilten. In der Regel erwartete er für alles eine Gegenleistung. Aber wenn die Unbekannte gut aussah und bereit war, sich entsprechend ihrer von Mutter Natur verliehenen Möglichkeiten zu revanchieren, würde er mit Vergnügen ein paar billige Drinks investieren. Wenn sie hingegen zur gleichen Kategorie wie der Barkeeper, also zur Rasse der Vogelscheuchen, gehörte, dann würde sie entweder ihre Drinks selbst bezahlen oder durstig unter den Stein zurückkriechen müssen, unter dem sie erst vor Kurzem hervorgekrochen sein musste. Im Augenblick konnte sich Max darüber allerdings noch kein abschließendes Urteil bilden, da er außer den langen dunklen Haaren keine Einzelheiten erkennen konnte.

Als hätte die Frau seine Gedanken gelesen, beugte sie sich in seine Richtung, bis ihr Gesicht in den dämmrigen Schein einer der verborgenen Lichtquellen geriet.

Max zuckte vor Schreck noch heftiger zurück als zuvor beim Barmann, sodass er sogar Mühe hatte, auf dem hohen Hocker sein Gleichgewicht zu bewahren und nicht herunterzufallen.

Die papierdünne Haut der Frau hatte eine wächserne, leicht gelbliche Färbung wie altes Fett, war von ungesund aussehenden dunklen Flecken übersät und spannte sich über den Wangenknochen, als wäre sie an einer verborgenen Stelle an die Kopfhaut getackert und anschließend mit hohem Kraftaufwand gestrafft worden. Die Augen lagen so tief in ihren finsteren Höhlen, dass sie vollständig im Schatten verborgen waren, und die strähnigen Haare waren fettig und ungekämmt. Außerdem sah es so aus, als würden zahlreiche winzige Tierchen darin herumkrabbeln, doch so genau konnte und wollte Max es dann doch nicht wissen. Als die Frau das Gesicht zu einer Grimasse verzog, die sie möglicherweise für ein verführerisches Lächeln hielt, und den Mund öffnete, konnte er zwei Reihen brauner Zahnstümpfe entdecken. Ein fauliger, übelkeitserregender Geruch mischte sich unter den leichten Verwesungsgestank, den sie ausdünstete und der Max erst in diesem Moment mit voller Wucht erreichte.

Wie heißt dein Parfüm, Teuerste? Leichenduft N° 5? Zumindest passt es in die Mortuary Bar!, dachte Max, obwohl er höchst angewidert war, in einem Anflug von Galgenhumor und wandte rasch sowohl den Blick als auch seine empfindliche Nase von der Frau ab. Er befürchtete nämlich ernsthaft, sich übergeben zu müssen, sollte er die Gesichtsbaracke neben sich auch nur eine Sekunde länger ansehen und ihren Gestank einatmen müssen.

Was war das nur für ein merkwürdiger Ort, an dem er in dieser Nacht so unvermittelt gelandet war? Der Vorraum zur Hölle? Der Name der Bar schien auf jeden Fall Programm zu sein. Der Barmann und die Frau neben ihm sahen nämlich tatsächlich so aus, als warteten sie auf den Tod, der jeden Moment zur Tür hereingekommen, seine Sense schwingen und sie holen könnte, oder als gehörten sie längst in eine Leichenhalle und nicht in eine öffentliche Bar, die nur diesen makabren Namen trug. Was er zunächst noch für einen müden Gag gehalten hatte, entpuppte sich nun beinahe als zutreffend. Aber was wollte man in dieser Gegend anderes erwarten. Die Menschen, die hier lebten, mussten genauso kaputt sein wie die Häuser, in denen sie hausten – oder wohl eher dahinvegetierten.

Max war auf alle Fälle nicht daran interessiert, auch noch die anderen Gäste näher in Augenschein zu nehmen oder besser kennenzulernen. Stattdessen war er dankbar für die schlechte Beleuchtung, die die meisten Details seiner Umgebung und die anderen Gäste gnädigerweise vor seinen Blicken verbarg.

»Na, wie steht’s jetzt mit dem Drink, Hübscher?«, rief sich die Vogelscheuche neben ihm in Erinnerung.

Verdammte Scheiße!, fluchte Max still in sich hinein. Gevatter Tods hässliche Schwester lässt einfach nicht locker!

Die verfluchte Alte würde wahrscheinlich erst dann Ruhe geben, wenn sie ihren verdammten Gratis-Drink bekam. Also beschloss Max widerwillig, das erste Mal seit langer Zeit etwas herzugeben, ohne dafür eine angemessene Gegenleistung zu verlangen. Aber wenn die Frau ihn dann nicht länger mit ihrem grässlichen Aussehen und ihrem infernalischen Gestank belästigte, war ihm das ausnahmsweise Lohn genug. Außerdem wollte er ohnehin nur noch allerhöchstens zehn weitere Minuten auf seine Verabredung warten. Wenn der Armleuchter bis dann immer noch nicht aufgetaucht war, würde Max diesen schrecklichen Ort schneller hinter sich lassen, als der knochendürre Barmann »Beehren Sie uns bald wieder!« nuscheln konnte. Vorausgesetzt, der Kerl war überhaupt in der Lage, sich verständlich zu artikulieren. Max befürchtete nämlich ernsthaft, die Vogelscheuche neben ihm könnte ansonsten auf den wahnwitzigen Gedanken kommen, sie müsste sich für den spendierten Drink in irgendeiner in seinen Augen eher perversen Art und Weise bei ihm erkenntlich zeigen. Dabei hatte Max schon Albträume, wenn er nur daran dachte, sie und er könnten … Brrr, da bekam er ja gleich Schüttelfrost!

Er hob die Hand, um den klapprigen Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen, zeigte auf die Frau neben sich und machte die in allen Bars dieser Welt verständliche Geste des Trinkens. Auch wenn der Barkeeper nicht gerade der kommunikativste Vertreter seiner Zunft war, kapierte er dennoch sofort, was Max wollte, und machte sich an die Arbeit. Außerdem schien er genau zu wissen, welchen Drink die Frau bevorzugte, denn er fragte nicht einmal nach. Nach ihrem grässlichen Aussehen zu urteilen, gehörte sie ohnehin zum Inventar der Mortuary Bar.

»Das ist wirklich ausgesprochen freundlich von dir«, bedankte sie sich umgehend und zog sich zu Max’ grenzenloser Erleichterung wieder etwas mehr ins Halbdunkel zurück, in dem sie saß und das ihre verunstalteten Züge unsichtbar werden ließ.

Max atmete erleichtert auf, als der widerliche Geruch sogleich weniger intensiv wurde. Er warf einen Blick auf seine Uhr, eine Patek Philippe Sky Moon Tourbillon aus Platin, von der pro Jahr nur zwei Exemplare hergestellt wurden und die beinahe eine Million Schweizer Franken gekostet hatte. Von dem Geld hätte er vermutlich das ganze Stadtviertel mit all seinen Bewohnern kaufen können. Wo, zum Teufel, blieb nur der verdammte Kerl, dem er diesen Trip in den Abort der menschlichen Zivilisation zu verdanken hatte?

Der Barkeeper materialisierte wie ein Geist im Dämmerlicht hinter der Theke, stellte, gesprächig wie immer, ein Glas vor die Frau und verschwand lautlos. Max wollte lieber gar nicht wissen, wie das eitergelb gefärbte Gesöff hieß, schmeckte oder roch. Aber vielleicht bekamen die Stammgäste ja Besseres kredenzt. Oder sie hatten sich an die ekelhafte Brühe, die hier ausgeschenkt wurde, längst gewöhnt und ihre Speiseröhren und Mägen durch jahrelanges intensives Training gestählt und abgehärtet.

Die Frau hob das Glas vom Tresen und nahm einen großen Schluck. Es schien ihr zu schmecken. »Ich heiße übrigens Anna«, stellte sie sich vor, nachdem sie das Glas wieder abgesetzt hatte.

Das blöde Miststück gibt einfach keine Ruhe!, dachte Max verärgert. Die Alte will wohl unbedingt mit mir quatschen. Aber warum eigentlich nicht? Im Augenblick hatte er nichts Besseres zu tun. Außerdem würde er, so wie es aussah, in wenigen Minuten ohnehin den Abflug machen und keine dieser erbärmlichen Gestalten jemals wiedersehen.

»Hallo, Anna. Ich heiße Max.«

»Max«, wiederholte Anna nachdenklich, als würde sie sich den Namen wie eine Speise auf der Zunge zergehen lassen, um zu prüfen, ob sie ihr schmeckte oder nicht. »Freut mich echt, dich hier zu treffen, Max.«

Max hütete sich davor, etwas Ähnliches zu äußern. Eher hätte er sich die Zunge abgebissen. Stattdessen stieß er ein unverbindliches Brummen aus, das man so oder so deuten konnte. Außerdem würde er sich vermutlich erst dann wirklich freuen können, wenn er wieder in seinem Wagen saß und die Gegenwart dieser Schreckschraube nicht länger ertragen musste.

»Eins musst du wissen, Max: Ich hab früher mal echt toll ausgesehen«, sagte Anna unvermittelt.

Ja, ja, dachte Max gelangweilt und unterdrückte ein Gähnen, wer’s glaubt, wird selig.Das muss aber schon ein paar Jahrhunderte her sein! Wenigstens war ihr bewusst, dass sie mittlerweile alles andere als echt toll aussah. »Ach ja?«

»Ja. Außerdem war ich damals auch beruflich noch erfolgreich.«

Nun, sieht ganz danach aus, als seien die fetten Jahre jetzt vorbei!, dachte Max und verkniff sich nur mit Mühe ein Lachen über sein gedankliches Wortspiel. Laut fragte er: »Und was machst du jetzt so, Anna?«

»Na ja, momentan hänge ich eher so herum«, antwortete Anna und gackerte lauthals los, als hätte sie soeben einen köstlichen Witz erzählt, obwohl Max beim besten Willen nichts Komisches an ihrer Äußerung entdecken konnte. Ein paar der anderen Gäste lachten ebenfalls, während der Barkeeper seine ausdruckslose Miene beibehielt, als wäre er nicht nur stumm, sondern auch taub, und weiter Gläser abtrocknete.

Verdammt! Können diese Arschlöcher sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, anstatt fremde Gespräche zu belauschen?, dachte Max verärgert.

»Ich hatte damals ein eigenes Geschäft«, fuhr Anna, nun wieder ernsthaft, fort. »Nichts Großartiges, nur eine kleine Modeboutique, aber es reichte und verschaffte mir ein gutes Auskommen. Außerdem blieb jeden Monat noch etwas Geld übrig, das ich auf die hohe Kante legen konnte, um meine Altersversorgung zu sichern.«

Verdammt, jetzt erzählt sie mir auch noch ihre gottverdammte Lebensgeschichte. Max warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr. Allerhöchstens noch fünf Minuten, dann bin ich unwiderruflich weg. Länger ertrage ich ihr Gewäsch sowieso nicht mehr.

»Irgendwann wollte ich mir mit meinen Ersparnissen ein kleines Häuschen auf dem Land kaufen. Das war schon immer mein Traum gewesen.«

Max beobachtete die schattenhafte Gestalt auf dem Barhocker neben ihm aus den Augenwinkeln, während sie sprach. Nun hatte sie es doch noch geschafft, sein Interesse zu wecken, denn er war selbst ein paar Jahre in der Baubranche tätig gewesen. Das hatte ihm ein paar leicht verdiente Millionen eingebracht. Er dachte immer wieder gern an diese Zeit und an die zahlreichen Träumer zurück, die ihm ihr Geld und ihr Vertrauen geschenkt hatten. Dummköpfe! Er hatte sie um beides betrogen und sie am Ende in ihren halb fertiggestellten Bauruinen zurückgelassen. Max lächelte verträumt, als er an die damaligen Bombengeschäfte zurückdachte. Damals war für ihn fast jeden Tag Zahltag gewesen, er hatte das Geld gar nicht so schnell zählen können, wie es in seine Taschen geflossen war.

»Ich wandte mich damals an einen Bauträger, der mir versprach, ein wunderschönes Einfamilienhaus ganz nach meinen Vorstellungen zu bauen. Und das zu einem verhältnismäßig günstigen Preis. Meine Ersparnisse reichten dafür nicht, also musste ich einen großen Teil finanzieren. Aber mit der Boutique im Rücken war es kein Problem, einen Kredit zu bekommen.«

Interessiert hörte Max zu. Er konnte sich schon jetzt lebhaft vorstellen, wie diese für einen weniger herzlosen Menschen gewiss rührende Geschichte ausgegangen war.

»Die Firma begann mit dem Bau, doch schon kurz nach Errichtung des Rohbaus wurden die Arbeiten von einem Tag auf den anderen eingestellt. Alles, was ich besaß, war eine Bauruine. Außerdem waren all meine Ersparnisse weg, und den Kredit musste ich auch zurückbezahlen. Ich war nicht das einzige Opfer, Hunderten war es ähnlich ergangen. Alle waren um ihr Geld betrogen worden und saßen nicht nur in unbewohnbaren Rohbauten, sondern auch auf einem Berg von Schulden. Rechtlich war nichts zu machen, denn der vermeintliche Geschäftsführer der Bauträgerfirma war nur ein Strohmann, der von den miesen Machenschaften des wahren Eigentümers nichts gewusst hatte und selbst um seinen Lohn betrogen worden war. Er hatte kein Geld und litt darüber hinaus an einer unheilbaren Krankheit, die ihn an den Rollstuhl fesselte. Ihn zu verklagen, wäre sinnlos gewesen.«

Leukämie!, dachte Max und grinste selbstzufrieden über seinen eigenen Einfallsreichtum, wenn es darum ging, die Geldströme von den Konten anderer Leute elegant in die eigene Tasche umzuleiten.

»Mein Geld war natürlich mitsamt dem Betrüger spurlos verschwunden«, fuhr Anna mit tonloser Stimme fort. »Die monatliche Belastung durch die Kredittilgung und die ständig wachsenden Zinsbeträge wurde irgendwann zu viel. Ich musste mein Geschäft verkaufen, um wenigstens einen Teil meiner Schulden ausgleichen zu können. Anschließend stand ich beruflich vor dem Nichts.«

»Schlimme Sache«, heuchelte Max Mitgefühl, das ihm wesensfremd war, während er über die Dummheit dieser Frau hinter vorgehaltener Hand heimlich grinste.

»Am Ende sah ich keinen anderen Ausweg mehr«, fuhr Anna fort. »Von meinem letzten Bargeld kaufte ich im Baumarkt einen robusten Strick und erhängte mich im Badezimmer!«

Ihre letzten Worte wischten das Grinsen aus Max’ Gesicht. Irritiert schreckte er hoch. Moment mal, was erzählt die Alte bloß für einen Mist? Da sie hier neben ihm hockte, konnte die Sache mit dem Erhängen ja nicht geklappt haben! Konnte diese Versagerin eigentlich gar nichts richtig machen?

»Ganz im Gegenteil, Max. Diesmal hab ich alles richtig gemacht«, widersprach Anna, beugte sich nach vorn, bis ihr Gesicht wieder ins Licht geriet, und starrte ihn aus ihren tief in den Höhlen liegenden Augen anklagend an. »Fast eine ganze Woche hing ich an dem verdammten Seil, bis ich endlich gefunden wurde. Es war der Gerichtsvollzieher, der gekommen war, um mich aus meiner Wohnung zu werfen, weil ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Und das alles nur wegen dir und deiner verfluchten Skrupellosigkeit. Du hast mich auf dem Gewissen, Max Ackermann!«

Erschrocken wich Max zurück, so weit es ihm der Barhocker gestattete. Die Alte war ja komplett wahnsinnig! Es war gut möglich, dass er sie vor einigen Jahren tatsächlich um ihr Geld gebracht hatte. Es waren damals so viele gewesen, dass er sich nicht mehr an jeden Einzelnen erinnern konnte. Aber er hatte doch nur ihr Geld genommen und nicht ihr … ihr Leben.

»Mein Tod geht auch auf dein Konto, Max Ackermann!«, ertönte in diesem Moment eine neue Stimme unmittelbar hinter ihm.

Max wirbelte auf dem Hocker um die eigene Achse und sah sich nach dem Sprecher um.

Die übrigen Gäste in der Bar hatten ihre Plätze verlassen. Während seiner Unterhaltung mit Anna waren sie lautlos und unbemerkt aus ihren Nischen geschlüpft und näher herangekommen. In einem engen Halbkreis standen sie nun vor ihm im trüben Lichtschein und präsentierten sich in all ihrer Schönheit. Und einer sah schlimmer aus als der andere.

»Bei mir lief die Sache nahezu identisch ab«, sagte ein Mann. »Ich hab mich allerdings nicht aufgehängt, sondern mir eine Kugel in den Kopf gejagt. Das ging schneller.« Er bohrte seinen Zeigefinger in das schwarz verkrustete Einschussloch in seiner rechten Schläfe, bis die vorderen beiden Fingerglieder komplett darin verschwunden waren.

»Mich hast du auch über den Tisch gezogen, Max Ackermann«, meldete sich ein weiterer Mann zu Wort, dessen verzerrte Gesichtszüge Max sogar vage vertraut vorkamen. »Du hast mir meine Firma gestohlen! Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als meine ganze Familie mit in den Tod zu nehmen, um ihnen ein Leben in Armut und Schande zu ersparen.«

Die Frau an seiner Seite nickte heftig. Man konnte noch immer sehen, dass sie einmal sehr schön gewesen sein musste. Doch jetzt sah ihr Schädel aus, als wäre er von einem brutalen Axthieb in zwei ungleichmäßige Hälften gespalten worden. Auch die Körper und Köpfe der beiden kleinen Kinder, die in ihren mit Comicfiguren bedruckten Schlafanzügen vor dem Paar standen und Max aus großen leblosen Augen finster anstierten, sahen schrecklich deformiert und verunstaltet aus.

»Du hast meine gesamten Ersparnisse gestohlen, die ich dir für Anlagezwecke anvertraut hatte!«, rief eine Frau aus dem Hintergrund. Sie hob ihre Arme und präsentierte ihm ihre blutleeren aufgeschlitzten Handgelenke, als wären es grauenerregende Trophäen.

»Meine auch, du Betrüger!«

»Ackermann, du hast uns ruiniert!«

»Gemeiner Dieb!«

»Wir haben alles verloren!«

Nachdem so ziemlich jeder der Anwesenden mit Ausnahme des Barmanns seinem Unmut lautstark Luft gemacht hatte, kehrte zunächst wieder Ruhe ein. Sogar die Hintergrundmusik war mittlerweile verstummt.

Max war während der anklagenden Worte unwillkürlich auf der Sitzfläche des Hockers immer weiter nach hinten gerutscht, bis er mit dem Rücken gegen die Bar stieß und nicht mehr weiter zurückweichen konnte.

»Was auch immer du jedem Einzelnen von uns angetan hast, Max Ackermann«, meldete sich da wieder Anna zu Wort, »heute ist endlich der lang ersehnte Zahltag gekommen. Denn heute Nacht wirst du für deine Untaten bezahlen – mit deinem Leben, mit deinem Blut und mit deinem Fleisch!«

Max wandte rasch den Kopf, obwohl er am liebsten alle Anwesenden gleichzeitig im Auge behalten hätte. Die Frau, die sich ihm mit dem Namen Anna vorgestellt hatte, stand nun unmittelbar neben ihm im düsteren Licht. Er konnte die schwarzen Wundmale an ihrem Hals erkennen, wo sich der Strick tief in ihr nachgiebiges Fleisch gegraben hatte.

Max räusperte sich und setzte zum Sprechen an. Er wollte die Menge mit den beruhigenden Worten des geborenen Verführers, der er war und ihm bisher so viel Erfolg beschert hatte, zur Vernunft bringen. Zur Not würde er ihnen sogar versprechen, das Geld mit Zins und Zinseszins zurückzuerstatten.

Doch die gierige Meute vor ihm kannte nun kein Halten mehr. Als wären Annas Worte der Startschuss gewesen, stürzten sich alle gleichzeitig schreiend und heulend auf den Mann in ihrer Mitte, den sie zuvor bereits mit Worten zu der Strafe verurteilt hatten, die sie nun eigenhändig vollstrecken wollten.

Max schrie gellend, als zahlreiche eisig kalte Klauen gleichzeitig nach ihm griffen und an seinen Armen und Beinen zerrten. Zähne gruben sich an mehreren Stellen durch seine Kleidung und tief in sein Fleisch. Ein besonders gieriges Maul schloss sich um sein rechtes Ohr und riss es ihm mit einem einzigen extrem schmerzhaften Ruck vom Kopf. Etwas Spitzes bohrte sich in sein rechtes Auge und hebelte den Augapfel aus seiner Höhle. Dann wühlten sich gekrümmte Klauenfinger in seinen Hals und rissen ihm den Kehlkopf heraus.

Max Ackermanns qualvoller Schrei endete wie abgeschnitten. Im Hintergrund setzte wieder leise Barmusik ein, als der Barmann den CD-Spieler anmachte, und begleitete das Reißen nachgebenden Fleisches und das Krachen berstender Knochen. Nach einer Weile wurden diese Geräusche jedoch leiser und durch lautes Schlürfen und genießerisches Schmatzen ersetzt. Gelegentlich rülpste sogar jemand laut.

 

Nachdem die erbarmungslose, rachsüchtige Meute ihr grausiges Mahl vollendet hatte, wandte sie sich stumm von den Überresten ab und verschwand wie eine Prozession von Geistern einer nach dem anderen geräuschlos durch eine im Schatten liegende Tür im hinteren Teil der Bar.

Der schweigsame Barkeeper nahm einen Lappen und einen Eimer mit Wasser und wischte die dunklen Flecken auf, die von Max Ackermann übrig geblieben waren. Er sammelte auch die zerfetzten, bluttriefenden Reste der ehemaligen Designerkleidung, eine teure Armbanduhr, ein Schlüsselbund, eine dicke Brieftasche und ein paar zerbrochene, ausgelutschte Knochenstücke ein, ehe er hinter den Tresen zurückkehrte und begann, die Gläser abzuräumen.

Während er die Gläser spülte, öffnete sich die hintere Tür ein weiteres Mal und entließ einen Schwung merkwürdiger, schweigsamer Gestalten. Die neuen Gäste kamen ebenso wortlos und diszipliniert, wie die alten zuvor das Feld geräumt hatten, in die Bar und verteilten sich anschließend an der Theke und auf die Sitznischen.

Trotz der leisen Hintergrundmusik hörte der Barmann schon bald darauf, wie draußen ein Wagen in die Gasse fuhr und neben dem Porsche des kürzlich verstorbenen Multimillionärs Max Ackermann anhielt, dann verstummte der Motor. Der Barkeeper wartete noch eine halbe Minute, ehe er auf einen unter dem Tresen verborgenen Knopf drückte, wodurch die Neonbeleuchtung über dem Eingang – mit Ausnahme des ausgefallenen o in Mortuary – wieder zu leuchtendem Leben erweckt wurde.

Kurz darauf hörte man, wie eine Autotür zuschlug und zaghafte Schritte die steinernen Stufen vor der Tür herunterkamen.

Die unheimlichen Gestalten in den Schatten und der Barkeeper warteten stumm und reglos auf den nächsten Gast, der in dieser besonderen Nacht hierher bestellt worden war und gleich durch die Tür in die Bar kommen würde.

Da sollte noch mal einer behaupten, das Geschäft in dieser Gegend liefe schlecht. Genau das Gegenteil war der Fall. Schließlich war heute Zahltag in der Mortuary Bar!

PETERS GEHEIMNIS

 

Kevin ließ seinen aufmerksamen Blick über den Teil des Friedhofs gleiten, den er von seinem Versteck aus einsehen konnte, entdeckte seinen Freund aber nirgends. Wo steckte Peter bloß? Vorsichtig ließ Kevin die Äste der Büsche, die er mit den Händen geteilt hatte, an ihren Platz zurückgleiten, lehnte sich dann mit dem Rücken gegen die Friedhofsmauer und dachte nach, was er tun sollte.

Natürlich konnte er nicht einfach über den Friedhof spazieren, um nach Peter zu suchen, denn viele Besucher – in seinen Augen größtenteils uralte Leute, die bald für immer hier wohnen würden – mochten es nicht, wenn Kinder an diesem Ort der Trauer spielten, herumtobten und Lärm machten. Und der Friedhofsarbeiter, den sie wegen seines merkwürdigen Aussehens und seines humpelnden Gangs Quasimodo getauft hatten, jagte sie mit seinem Gehstock, sobald er sie entdeckte. Peter hatte ihm erzählt, der Mann würde alle Kinder, die er erwischte, in kleine Särge stecken, die er in seinem Häuschen neben dem Friedhof selbst anfertigte, und heimlich vergraben. Nachts könnte man manchmal ihre gedämpften Schreie hören, sofern man überhaupt den Mut hatte, zu dieser Zeit über den Friedhof zu gehen.

Kevin hatte es bei der Geschichte ziemlich gegruselt, obwohl er nicht sagen konnte, ob er wirklich daran glaubte. Peter erzählte ständig solche Geschichten. Aber wenn sie wirklich stimmte, hätte man Quasimodo doch längst ins Gefängnis gesteckt, oder? Andererseits sah der Mann ganz so aus, als wäre er zu derartigen Dingen in der Lage. Kevin erschauerte bei dem Gedanken unwillkürlich und sah sich furchtsam um, ob Quasimodo sich nicht heimlich angeschlichen hatte und in diesem Moment seine krummen Finger, an denen in der Regel noch die Erde eines frisch ausgehobenen Grabes klebte, nach ihm ausstreckte. Zu seiner Erleichterung war jedoch niemand in der Nähe.

Kevin verstand ohnehin nicht, warum die Erwachsenen nicht wollten, dass sie hier waren. Sie machten schließlich nichts kaputt. Und außerdem konnte man hier prima spielen. Besser als auf dem Spielplatz, wo einen die größeren Jungs ärgerten, der Sandkasten voller Hundescheiße war und die meisten Spielgeräte seit Langem kaputt waren. Hier wuchsen entlang der Mauer, die den ganzen Friedhof umgab, so viele Büsche und Bäume, dass es mindestens zwanzig, wenn nicht sogar hundert gute Verstecke gab.

Kevin hatte nur ganz selten richtig Angst, wenn er hier war. Nur manchmal, wenn sie in ihrem Lieblingsversteck saßen, während es schon dunkel wurde, und Peter eine seiner Gruselgeschichten erzählte, dann hatte er schon ein bisschen Angst. Aber eigentlich nur ganz wenig, nicht mal halb so viel wie beim Zahnarzt.

Natürlich, unser Lieblingsversteck!, dachte Kevin und lächelte. Warum bin ich Hirni nicht gleich darauf gekommen? Er klatschte sich mit der Handfläche gegen die Stirn, stieß sich von der Mauer ab und spähte durch eine Lücke in den Büschen nach draußen. Im Moment war niemand zu sehen, weder ein Besucher noch der fiese Quasimodo, der Kinder jagte, um sie nachts heimlich zu verscharren.

Kevin schlüpfte vorsichtig aus dem Versteck und rannte dann geduckt über das Gräberfeld, so wie sie es in den Soldatenfilmen machten, wenn sich die Kompanie an feindliche Linien anschlich. Sein Ziel war die gegenüberliegende Seite des Friedhofs, wo sich ihr bestes und liebstes Versteck befand. Zwei Bäume waren dort schief gegeneinander gewachsen und bildeten so ein natürliches Dach, unter dem die beiden Freunde bequem Platz und bei schlechtem Wetter sogar Schutz vor den Elementen fanden. Außerdem wurde die Stelle durch mehrere Büsche vor den Blicken anderer Leute abgeschirmt und bot so den idealen Unterschlupf.

Kevin stoppte auf halber Strecke hinter einem schwarzen polierten Grabstein aus Granit und spähte daran vorbei. Ein gutes Stück entfernt kauerte eine dunkel gekleidete, schon ziemlich alte Frau vor einem Grab und goss die Pflanzen aus einer grünen Plastikgießkanne. Kevin glaubte nicht, dass sie ihn hören konnte, denn dazu war sie viel zu weit weg. Außerdem war sie höchstwahrscheinlich schon genauso schwerhörig wie Oma Gertrud.

Er rannte weiter und kam in den neueren Teil des Friedhofs. Er spurtete an einem frischen Grab vorbei, das mit welkenden, intensiv riechenden Blumen und zahlreichen Kränzen übersät war und noch keinen Grabstein, sondern nur ein schlichtes hellbraunes Holzkreuz besaß, auf dem lediglich der Vorname der Person stand, die hier begraben lag. Auf einer Schleife, die im leichten Wind flatterte, konnte er im Vorbeilaufen die Worte »Unser geliebter Sohn« lesen, dann war er aber schon vorbei und sauste zu den Büschen. Er teilte sie gekonnt mit den Armen, ohne mit der Kleidung irgendwo hängen zu bleiben oder sich wehzutun, und schob sich dann hindurch, als würde er im Sommer mit einem Hechtsprung ins Schwimmbecken des Freibads eintauchen.

»Na, endlich lässt du dich auch mal blicken«, begrüßte ihn Peter. »Wo warst du denn so lange?«

Kevin ließ sich vor seinem besten Freund auf die Knie fallen und atmete schwer. Peter lag auf der Seite, hatte den Kopf lässig in eine Hand gestützt und schaute betont cool auf seine Lego-Armbanduhr, um die Kevin ihn insgeheim beneidete.

»Ich musste erst noch Schularbeiten machen«, antwortete Kevin, als er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war. »Und dann war ich erst im falschen Versteck, bevor mir einfiel, dass du vermutlich hier bist.«

»Schularbeiten?«, fragte Peter und verzog dabei angewidert das Gesicht, als wäre von etwas furchtbar Ekligem die Rede, beispielsweise von Eukalyptusbonbons, die Kevin immer lutschen musste, wenn er erkältet war, oder Spinat, den er mehr als alles andere verabscheute.

»Ja, Schularbeiten!«, wiederholte Kevin und streckte seinem Freund die Zunge heraus. »Und wieso warst du heute eigentlich nicht in der Schule? Bist du etwa krank?«

Peter zuckte mit den Schultern. »Nö! Ich hatte keine Lust. Wieso, hat jemand nach mir gefragt?«

Kevin überlegte, zuckte dann mit den Schultern und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Nö.«

»Siehst du. Die trotteligen Lehrer bemerken es noch nicht mal, wenn ich nicht da bin.«

»Und wo warst du dann?«

Peter sah sich um, als befürchtete er, jemand könnte ihr Gespräch belauschen. Aber sie waren noch immer unter sich. »Ich war an einem geheimen Ort«, flüsterte er dann in einem verschwörerischen Tonfall.

Kevin kicherte. »Mensch, Peter! Du spinnst doch nur wieder und erzählst Geschichten.«

Peter stieß sich mit den Händen vom Boden ab und brachte sich in eine sitzende Position. Dann beugte er sich vor und flüsterte: »Es stimmt aber, Kev, ehrlich! Ich kann es sogar beschwören!« Er hob die linke Hand und spreizte Daumen, Zeige- und Mittelfinger ab, während er die andere Hand auf die Brust legte, dorthin, wo sein Herz war. »Ich schwöre es!«

»Echt?« Kevin machte große Augen. Peters ernsthaftes Verhalten überzeugte ihn, dass dieser ausnahmsweise nicht flunkerte. Immerhin hatte er richtig geschworen, und damit machten die beiden Jungs keine Späße. Ein Schwur war eine ernste Sache. Kevin wurde ganz aufgeregt und konnte nur mit Mühe ruhig hocken bleiben, denn wenn es etwas gab, das ihn mehr als alles andere faszinierte, dann waren es Geheimnisse aller Art, zum Beispiel Geheimverstecke, Geheimagenten, geheime Piratenschätze und natürlich geheime Orte. »Und wo ist dieser geheime Ort?«

Peter hob bedauernd die Schultern. »Tut mir leid, Kev, aber wenn ich dir das sage, muss ich dich anschließend töten!«

»Was?«

»War nur ein Scherz, Kevin«, sagte Peter und lachte leise. »Aber im Ernst, ich kann es dir nicht verraten.«

»Hey, das ist jetzt aber voll gemein«, rief Kevin zutiefst entrüstet, dämpfte aber sofort wieder seine Stimme, als er sich an die anderen Friedhofsbesucher und vor allem an Quasimodo und dessen selbst gefertigte Kindersärge erinnerte. »Du kennst es doch auch. Warum darf ich es dann nicht wissen?«

»Eben darum.«

»Eben darum?«, wiederholte Kevin ungläubig. »Eben darum ist überhaupt kein richtiger Grund. Eben darum ist blöd! Das ist so gemein von dir, Peter!« Er verschränkte die Arme vor der Brust und wandte den Blick ab, als ihm Tränen in die Augen traten, die sein Freund nicht sehen sollte. Er fühlte sich von Peter verraten, der einen geheimen Ort kannte und ihm nichts verraten wollte. »Und dabei dachte ich, wir wären die besten Freunde«, sagte er leise und zutiefst enttäuscht.

»Na gut«, lenkte Peter da ein und seufzte. »Ich zeig dir den Ort.«

Kevin hätte vor Freude beinahe laut gejubelt, beherrschte sich jedoch gerade noch. Stattdessen kicherte er nur leise, riss die Arme nach oben und wischte sich mit den Ärmeln verstohlen die Tränen vom Gesicht. »Wann? Jetzt gleich?«

Peter schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt geht das nicht.«

»Was? Wann denn dann? Jetzt sag schon!«

»Heute Nacht.«

»In der Nacht?«, fragte Kevin verblüfft. »Spinnst du? Da muss ich doch schlafen!«

»So ist aber die Regel. Wenn du den geheimen Ort sehen willst, dann geht das nur in der Nacht! Also, kommst du jetzt oder kommst du nicht?«

Kevin überlegte. Im Grunde war es für ihn überhaupt kein Problem, heimlich aus dem Fenster seines Zimmers in den Garten zu steigen, wenn seine Mutter ihn zu Bett gebracht hatte. Nachdem Peter ihm den geheimen Ort gezeigt hatte, konnte er dann ebenso problemlos wieder ins Haus zurück. Niemand würde bemerken, dass er überhaupt weg gewesen war. »Okay, ich bin dabei!«

»Dann ist es abgemacht! Aber es gibt noch eine Regel.«

»Welche?«

»Du darfst keiner Menschenseele davon erzählen. Nicht einmal deiner Mama oder deinem Papa.«

»Mach ich schon nicht. Was glaubst du denn? Es ist schließlich unser Geheimnis, Peter.«

»Dann schwöre es!«

Kevin hob die linke Hand und spreizte wie zuvor sein Freund drei Finger. Die andere Hand presste er gegen die Brust. »Ich schwöre, dass ich keiner Menschenseele, nicht einmal meiner Mama oder meinem Papa, ein Sterbenswörtchen von Peters Geheimnis erzählen werde!«

Peter nickte zufrieden. »Okay.«

»Erzählst du mir jetzt schon was über den geheimen Ort, Peter?«

»Das geht nicht. Aber du wirst es ja heute Nacht selbst sehen.«

Kevin wurde noch aufgeregter. Das musste ja ein super-obergeheimer Ort sein, wenn ihm sein Freund nicht mal ein klitzekleines bisschen darüber erzählen durfte. Er konnte es nicht lassen, eine weitere Frage zu stellen. »Aber sag mir wenigstens, wie es denn so an dem geheimen Ort ist?«

Peter hob den Blick, lächelte versonnen und starrte verträumt ins Leere. »Da ist es voll … cool. Es wird dir dort bestimmt gefallen, Kev. Das verspreche ich dir.«

Kevin grinste. »Super. Ich wünschte nur, es wäre schon so weit. Ich kann es kaum erwarten.«

»Ach, bevor ich es vergesse, ich hab noch was für dich«, sagte Peter und griff in die Tasche seiner Jeans, an der noch Friedhofserde klebte. Er brachte einen kleinen, mattweiß schimmernden Gegenstand zum Vorschein und legte ihn in Kevins Handfläche. »Hier, das schenk ich dir.«

»Was ist das denn?«, fragte Kevin und betrachtete das seltsame Ding aufmerksam von allen Seiten. So etwas hatte er noch nie gesehen.

»Das stammt von dem geheimen Ort. Da gibt es noch viel mehr davon.«

»Echt? Das ist ja voll endgeil!«, sagte Kevin begeistert. Vielleicht war das Ding sogar wertvoll, auch wenn es momentan nicht danach aussah. Unter Umständen war es Teil eines geheimen Schatzes. Kevin stellte sich vor, wie er nach Hause kam, mit Gold, Juwelen und jeder Menge toller Spielsachen beladen. Seine Eltern würden jubeln, ihm auf die Schulter klopfen und sagen: »Gut, dass du nachts heimlich aus dem Fenster geklettert und zu diesem geheimen Ort gegangen bist, Kevin! Jetzt sind wir endlich steinreich, und du musst nie wieder Spinat und Eukalyptusbonbons essen!«

»Du darfst es aber niemandem zeigen«, ermahnte ihn Peter und riss ihn dadurch aus seinen Träumereien. »Das ist die dritte Regel. Nicht einmal der doofen Katharina.«

Kevin schüttelte heftig den Kopf und schloss rasch die Hand um sein Souvenir von dem geheimen Ort. Seiner Schwester, Eingeweihten auch als doofe Katharina bekannt, würde er nie im Leben ein Geheimnis verraten oder diesen Gegenstand zeigen. Die würde nämlich nur zu den Eltern rennen und ihn verpetzen. Das machte sie immer! Er schob das Ding rasch in die Hosentasche, damit er es nicht verlor, und sah auf seine Uhr. Nachdem er an den Fingern abgezählt hatte, wie viele Stunden er noch warten musste, bis er den geheimen Ort sah, stöhnte er leise. Sie mussten unbedingt etwas tun, damit die Zeit schneller verstrich. »Lass uns Geheimagenten spielen, Peter!«, schlug er vor.

»Einverstanden, Kev!«

 

Als Kevin pünktlich um halb sechs nach Hause kam, bereitete seine Mutter in der Küche bereits das Abendessen vor.

»Na, wo hast du dich denn heute wieder herumgetrieben?«, fragte sie.

»Och, ich war nur spielen.«

»So? Warst du etwa ganz allein unterwegs?«

»Nö, natürlich nicht! Ich war doch mit Peter zusammen.«

Seine Mutter sah ihn mit traurigem Blick an und schüttelte sorgenvoll den Kopf. »O Kevin!«, seufzte sie. Dann bemühte sie sich jedoch wieder um ein Lächeln. »Jetzt aber ab ins Badezimmer mit dir! Wasch dir bitte die Hände, gleich gibt es Abendessen.«

Hinterher durften Kevin und seine Schwester noch ein bisschen fernsehen. Nach dem Sandmännchen wurde Katharina ins Bett gebracht, die zwei Jahre jünger als Kevin war. Sie protestierte und schrie, als würde man sie zum Schafott führen, so wie sie es jeden Abend tat, fügte sich dann aber, nachdem ihr Vater ihr einen tadelnden Blick zugeworfen hatte. Schmollend und mit zornesfinsterer Miene zog sie ab und ging ins Bad, um sich zu waschen und Zähne zu putzen.

Kevin genoss das Privileg, länger als seine Schwester aufbleiben zu dürfen, doch dann war auch seine Zeit abgelaufen. Obwohl auch er sonst heftig, wenngleich chancenlos um ein paar zusätzliche Minuten feilschte, ließ er es für heute bleiben. Der Vater warf der Mutter einen fragenden Blick zu, als Kevin anstandslos aufstand und davonstapfte, doch diese hob nur ratlos die Schultern.

Als Kevin im Bett lag, kämpfte er gegen die Müdigkeit, die ihn zu überwältigen drohte. Aber er durfte nicht einschlafen. Er hörte, wie seine Mutter zurück ins Wohnzimmer ging. Nun musste er nur noch warten, bis etwas Ruhe eingekehrt war. Da der Fernseher lief, würden seine Eltern nicht hören, wie er das Fenster öffnete und hinauskletterte. Und die doofe Katharina, deren Zimmer nebenan lag, schlief sicher schon tief und fest.

Kevin hatte den Gegenstand, den Peter ihm gegeben hatte, vor dem Ausziehen heimlich unter sein Kopfkissen gesteckt. Nun holte er ihn hervor und rieb unter der Bettdecke mit den Fingern daran herum, als wäre es Aladins Wunderlampe und könnte Wünsche erfüllen.

Er hörte, dass sich seine Eltern im Wohnzimmer unterhielten. Er konnte allerdings nichts verstehen, und es interessierte ihn auch nicht, worüber sie sprachen. Erwachsenensachen wahrscheinlich. Er ließ den geheimnisvollen Gegenstand durch seine Finger gleiten, ertastete seine merkwürdige, aber dennoch irgendwie vertraut wirkende Form und fuhr über die dicken Rundungen an beiden Enden und den dünnen, glatten Mittelteil.

Bald würde es so weit sein. Er lächelte voller Vorfreude, als er sich vorstellte, dass er noch in dieser Nacht Peters Geheimnis kennenlernen würde.

 

»Sag mal, was ist eigentlich mit Kevin los?«, fragte Stephan Bauer, als seine Frau ins Wohnzimmer zurückkam. »Kein Theater, kein Gejammer. Ist der Junge etwa krank?«

Rita Bauer ließ sich seufzend auf die Couch sinken. »Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist.«

Durch den Tonfall seiner Frau alarmiert, wandte er den Blick von der Mattscheibe und sah sie fragend an. »Was ist passiert? Hat es wieder etwas mit … mit seinem Freund zu tun?«

»Du meinst Peter?«, fragte Rita und zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte schon.«

»Er kommt wohl immer noch nicht darüber hinweg, oder?«

»Ich glaube eher, dass er noch gar nicht realisiert hat, was geschehen ist«, widersprach sie.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Als ich ihn fragte, wo er heute war, sagte er vollkommen überzeugt, er sei spielen gewesen. Aber nicht allein, sondern natürlich mit … mit Peter.« Sie wischte sich rasch eine Träne weg, die ihr aus dem rechten Auge und übers Gesicht gelaufen war. »O Gott, was ist bloß mit unserem Jungen los?«

Stephan rückte näher und legte ihr mitfühlend und Trost spendend einen Arm um die Schultern. »Ich glaube, seine Reaktion ist in diesem Alter ganz normal. Er verdrängt einfach, was passiert ist. So ist es für ihn leichter zu ertragen.«

»Aber er war doch selbst dabei, als es passierte!«, wandte Rita schluchzend ein. »Er hat doch alles mit eigenen Augen gesehen …!«

 

In grausamer Deutlichkeit konnte sich Rita Bauer noch immer an den exakten Ablauf der Ereignisse erinnern, die erst vor vier Tagen ihr Leben erschüttert hatten. Zunächst hatte sie die Sirenen gehört. Wie jedes Mal beim Klang der Martinshörner war in ihr die Sorge um ihren Sohn erwacht, der mit seinem besten Freund draußen beim Spielen war. Doch zu ihrer Erleichterung kam Kevin schon kurze Zeit später wohlbehalten nach Hause.

»Nanu, was machst du denn schon hier, Kevin?«, fragte Rita. Einerseits war sie erleichtert, dass es ihrem Sohn gut ging. Andererseits kam er sonst nie vor dem vereinbarten Zeitpunkt nach Hause, sondern nutzte jede freie Minute, um mit Peter in der Umgebung herumzustromern und zu spielen.

»Peter musste … Er ist nach Hause gegangen.«

»Wieso das denn? Gab es etwa Ärger oder so?«

»Keine Ahnung«, meinte Kevin und schenkte sich ein Glas Apfelsaftschorle ein.

Erst anderthalb Stunden später, als die Polizei vor ihrer Tür stand, erfuhr sie, was an diesem Nachmittag tatsächlich geschehen war.

Die beiden Jungen hatten trotz mehrfachen ausdrücklichen Verbots beider Elternpaare an der Bahnstrecke gespielt. Sie hatten Ein- und Zwei-Cent-Münzen auf die Schienen gelegt, damit die Räder der vorbeifahrenden Züge sie platt walzten. Und dabei war das schreckliche Unglück geschehen. Aufgrund bisher ungeklärter, höchst tragischer Umstände war der siebenjährige Peter von einem Interregio-Express erfasst und förmlich in Stücke gerissen worden.

Kevin musste direkt danebengestanden und das Unglück mitangesehen haben, konnte sich allerdings an nichts erinnern. Vehement und nach Ritas Ansicht sehr überzeugend bestritt er, überhaupt in der Nähe der Bahnstrecke gewesen zu sein. Stattdessen erklärte er immer wieder, Peter sei nach Hause gegangen. Sie bedrängten den Jungen schließlich nicht weiter, da er standhaft bei seiner Geschichte blieb, sondern schickten ihn zu Bett.

Nachdem die Kinder im Bett und die Polizisten wieder gegangen waren, brachte Rita noch rasch die Wäsche in den Keller, um sie in die Maschine zu stecken. Sie war noch zu aufgewühlt, um sich vor den Fernseher setzen und auf das Geschehen auf dem Bildschirm konzentrieren zu können. Stattdessen musste sie sich bewegen und etwas tun. Als sie die Wäschestücke sortierte, stellte sie voller Entsetzen fest, dass die Flecken auf Kevins T-Shirt und Jeans, die sie auf den ersten Blick für Dreckspritzer gehalten hatte, unzählige kleine Blutstropfen waren, die die Kleidungstücke an der Vorderseite von oben bis unten bedeckten. Peters Blut!, hatte sie angewidert gedacht. Sie hatte die Sachen gar nicht mehr gewaschen, sondern umgehend in die Mülltonne vor dem Haus gesteckt.

 

»Vielleicht hätten wir ihn doch mit zur Beerdigung nehmen sollen«, meinte Rita nun.

»Ich glaube immer noch, dass es so für ihn besser war«, widersprach ihr Mann. »Die Beisetzung seines besten Freundes hätte ihn vermutlich nur verwirrt und zu sehr aufgewühlt.«

»Vermutlich hast du ja recht. Aber er hat sich heute Abend so merkwürdig benommen.«

»Das legt sich mit der Zeit wieder. Wirst schon sehen.«

Rita schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich hab schon die ganze Zeit so ein komisches Gefühl.« Sie straffte sich und erhob sich von der Couch. »Ich sehe besser noch mal nach dem Jungen. Vorher finde ich einfach keine Ruhe.«

»Wenn es dich beruhigt, dann tu das. Wirst schon sehen, dass alles in Ordnung ist.«

Rita verließ das Wohnzimmer und ging über den Flur zum hinteren Teil des Hauses, in dem die Schlafzimmer der Familie lagen. Vor dem Zimmer ihrer Tochter blieb sie stehen, öffnete die Tür und spähte hinein. Im Schein des Nachtlichts sah sie, dass Katharina im Bett lag, ihren Teddy fest umklammert hielt und schlief.

---ENDE DER LESEPROBE---