Die 5. Wächterin - Eberhard Weidner - E-Book

Die 5. Wächterin E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Als der Journalist Max Wolf nach Weilersberg kommt, erwartet ihn bereits am Ortseingang die tote Frau, die tags zuvor in einem Waldstück gefunden wurde. Doch obwohl Wolf die unheimliche Fähigkeit besitzt, die Geister der Toten zu sehen, kann er nicht mit ihnen kommunizieren. Dabei ist er dringend auf ihre Hilfe angewiesen, wenn er ihren Mörder finden und daran hindern will, weiter zu morden. Denn schon bald muss er feststellen, dass die gefundene Frauenleiche beileibe nicht das einzige Opfer des Killers ist. Der leitende Ermittler der Kriminalpolizei ist hingegen weiterhin felsenfest davon überzeugt, es mit einer Einzeltat zu tun zu haben und den Mörder rasch zu finden, sobald die Identität der Toten geklärt wurde. Doch es sieht eher so aus, als sei der der »Brautmörder«, wie der Täter von der Boulevardpresse mittlerweile genannt wird, der Polizei stets einen Schritt voraus. Max Wolf ist allerdings nicht der Einzige, der herausfindet, dass in Weilersberg ein Serienkiller sein Unwesen treibt, denn Camille St. Germain, ein Medium, das mit den Toten kommunizieren kann, wurde von ihrem Geistführer, dem Grafen von Saint Germain, nach Weilersberg gesandt. Außerdem ist auch Alexa Schöninger vor Ort. Die junge Reporterin soll für ihren Sender von der Pressekonferenz und über den Fall berichten. Doch da sie den bisherigen Opfern sehr ähnlich sieht, gerät sie rasch ins Visier des Serienmörders. Denn nachdem man sein letztes Opfer gefunden, ausgegraben und von ihrem Begräbnisort entfernt hat, benötigt der »Brautmörder« dringend einen Ersatz für Die 5. Wächterin ...

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INHALTSVERZEICHNIS

 

COVER

TITEL

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NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

IMPRESSUM

1

 

Die tote Frau stand neben dem Ortsschild am Straßenrand und sah dem Wagen entgegen, als würde sie auf ihn warten.

Und obwohl es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war, wusste Max Wolf dennoch, dass es tatsächlich so war.

Er wandte den Blick von der reglosen, weiß gekleideten Gestalt und sah in den Rückspiegel. Hinter ihm war kein weiteres Fahrzeug, deshalb verringerte er die Geschwindigkeit abrupt und lenkte den Wagen dann auf den Grasstreifen neben der Fahrbahn. Fünf Meter vor dem Ortsschild brachte er ihn zum Stehen. Er verharrte mehrere Augenblicke regungslos hinter dem Lenkrad, als müsste er erst darüber nachdenken, was nach dem Anhalten des Wagens zu tun war, ehe er schließlich den Zündschlüssel drehte, sodass der Motor erstarb. Von einem Moment zum anderen kehrte geradezu gespenstische Stille ein. Nicht einmal von draußen war ein Laut zu hören.

Erst jetzt hob er den Blick und sah erneut zu der Toten, die sich noch immer nicht gerührt hatte. Nur das weiße Hochzeitskleid, das sie trug, bewegte und bauschte sich, obwohl es absolut windstill war.

Er ließ den Schlüssel stecken und stieg aus dem Wagen. Nachdem er die Tür zugeschlagen und der dumpfe Laut verhallt war, fiel ihm erneut die unnatürliche Stille auf. Er hörte nicht einmal das Gezwitscher von Vögeln oder das Zirpen von Grillen, als hielte die Natur die Luft an oder als wären alle Tiere in weitem Umkreis geflohen, weil der Tod an diesen Ort gekommen war und sich in ihrer Mitte manifestiert hatte.

Auf dem gelben Ortsschild stand der Name Weilersberg. Aus diesem Grund hätte er selbst dann gewusst, dass er am Ziel seiner Reise angekommen war, wenn die tote Frau nicht hier auf ihn gewartet hätte. Der Ort begann fünfzig Meter jenseits der Ortstafel, doch hinter den Fenstern der Häuser und auf der Straße, die hineinführte, war kein Mensch zu sehen. Nicht nur deswegen, sondern auch aufgrund der Stille erweckte es den Eindruck, als sei die Kleinstadt ausgestorben.

Eine Geisterstadt.

Der Gedanke war natürlich Blödsinn, dennoch war er ihm ganz automatisch und ungewollt in den Sinn gekommen. Dabei wusste er genau, dass der einzige Geist weit und breit direkt vor ihm stand.

Beinahe widerwillig nahm er den Blick von den Häusern im Hintergrund und richtete ihn auf die Frau. Bisher hatte er es bewusst vermieden, Einzelheiten ihrer Erscheinung allzu genau zur Kenntnis zu nehmen, doch nun, aus direkter Nähe, konnte er nicht mehr umhin, es nachzuholen.

Mit einem zischenden Geräusch, das der einzige Laut in der Grabesstille dieses Ortes war und ihn selbst erschreckte, sog er die Luft zwischen den aufeinandergepressten Zähnen ein, als er in ihre leeren, blutgeränderten Augenhöhlen blickte. Und obwohl sie keine Augäpfel mehr besaß, hatte er dennoch das deutliche Gefühl, sie würde seinen Blick erwidern und ihn anklagend anstarren. Er konnte diesen Nicht-Blick geradezu körperlich spüren und wäre beinahe instinktiv zurückgewichen, konnte es jedoch mit purer Willenskraft im letzten Moment verhindern. Schließlich war er nicht hier, um vor dem Grauen zurückzuweichen, sondern um es genau zu beobachten, zu studieren und nach Möglichkeit auch zu verstehen. Nur so war er vielleicht in der Lage, der Toten zu helfen.

Nicht verhindern konnte er allerdings, dass er betreten und deutlich hörbar schlucken musste, als er seine Musterung widerwillig fortsetzte. Dabei hatte er das Gefühl, er müsste etwas Widerwärtiges herunterschlucken, das ihm bitter und heiß die Kehle hinunterlief und sie verätzte. Gleichzeitig nahm er, als hätte derselbe Geisterwind, der den Stoff ihres Kleids bewegte, ihren Duft in seine Richtung geweht, den Gestank nach Fäulnis und Verwesung wahr. Er verzog das Gesicht und atmete durch den Mund. Ansonsten ließ er sich jedoch nichts anmerken. Schließlich kannte er mittlerweile den Geruch, den menschliche Leichen in den verschiedenen Stadien des Zerfalls ausströmten. Und auch wenn er sich noch immer nicht daran gewöhnt hatte, hatte er wenigstens damit umzugehen gelernt.

Er stellte fest, dass die ausgestochenen Augen nicht die einzige Verletzung der Frau und vermutlich auch nicht diejenige war, die letztlich zu ihrem Tod geführt hatte. Blut war aus den gewaltsam geleerten Höhlen in alle Richtungen über ihr vormals vermutlich ausgesprochen hübsches Gesicht gelaufen, was ihn zu der Schlussfolgerung führte, dass sie zu dem Zeitpunkt, als der Mörder ihr das Augenlicht geraubt hatte, noch gelebt und den Kopf in ihrer Agonie wild hin und her geworfen hatte. Dabei hatte es sich mit dem Blut aus den anderen Schnittwunden vermischt, die sich wie ein dichtes Geflecht kreuz und quer über ihr Gesicht zogen. Fast schien es, als hätte der Mörder ihr Antlitz mit diesen Schnitten ausradieren wollen, so wie jemand das Konterfei eines verhassten Menschen auf einem Foto mit wütenden Kugelschreiberstrichen überkritzelte, um es unkenntlich zu machen.

Allein aufgrund dieser Verletzungen konnte Max die enorme Wut und den wahnsinnigen Zerstörungswillen erahnen, die den Mörder bei der Tat erfüllt haben mussten. Doch das war noch nicht einmal das Schrecklichste, was ihm in dieser Sekunde bewusst wurde. Das Furchtbarste war vielmehr, dass die Frau noch am Leben gewesen sein musste, als ihr diese unzähligen Schnittwunden zugefügt worden waren. Sie musste bewusst miterlebt haben, wie der Mörder ihr nicht nur wehtat, sondern ihr auch noch das Gesicht nahm.

War ihr zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass sie sterben würde?, fragte er sich unwillkürlich. Und hat sie sich da vielleicht sogar gewünscht, sie würde sterben?

Die Antwort hätte ihm nur die Tote selbst geben können, doch sie schwieg weiterhin hartnäckig.

Er senkte den Blick, dankbar, nicht länger ihr zerstörtes Gesicht ansehen zu müssen. Doch der Anblick ihrer Kehle war nicht viel besser, denn die lange Wunde, die ihren Hals aufgeschlitzt hatte, musste nicht nur unweigerlich zu ihrem Tod geführt haben, sondern ließ das blutleere Fleisch auch noch auseinanderklaffen wie einen zusätzlichen Mund, der zu einem niemals hörbaren Schrei geöffnet war.

Rasch ließ er den Blick weiter nach unten wandern.

Das schulterfreie Hochzeitskleid aus Satin, Tüll und Spitze war nicht mehr makellos weiß, sondern verdreckt und größtenteils schmutzig grau. Es verbarg allerdings gnädig die übrigen Verletzungen, die der Mörder der Frau zugefügt hatte. Er musste es ihr nach ihrem Tod angezogen haben. Lediglich dort, wo er ihre Brüste aufgeschlitzt und ihren Schambereich zerstört hatte, war der Stoff des Kleids rotbraun verfärbt, weil er das Blut aufgesaugt hatte.

Obwohl das Blut längst getrocknet war, glaubte Max dennoch, über dem Verwesungsgeruch, der die Leiche umhüllte wie ein Kokon, den metallischen Geruch frisch vergossenen Blutes wahrzunehmen.

Zuletzt fiel sein Blick auf ihre Füße, die nackt, schmutzig und von Kratzern übersät waren, weil der Mörder sie allem Anschein nach durch dichtes Gestrüpp getragen oder geschleift hatte.

Froh, dass er seine Pflicht getan und ihren schrecklichen Zustand zur Kenntnis genommen hatte, ohne davor zurückzuschrecken, hob er den Blick, um nach den Details ihrer Erscheinung Ausschau zu halten, die sich hinter den Verletzungen verbargen.

Die Tote war wachsbleich und hatte langes und gelocktes blondes Haar, das verdreckt und blutverkrustet war. Teilweise hingen Erdklumpen zwischen den verfilzten Strähnen, weil sie mehrere Tage in der Erde vergraben gewesen war, bevor man sie gefunden hatte. Sie war gerade mal einen knappen Fingerbreit kleiner als er, also ungefähr eins achtundsiebzig, außerdem schlank und zierlich. Soweit er sehen konnte, trug sie keinen Schmuck, nicht einmal einen Ring am Finger oder am Ohr. Und trotz der Schnittwunden, die ihre Gesichtszüge nahezu unkenntlich machten, war er davon überzeugt, dass sie sehr hübsch gewesen sein musste, bevor der Mörder sie in seine dreckigen Finger bekommen hatte.

Sie wirkte ganz und gar nicht wie eine Geistererscheinung, wie man sie aus dem Fernsehen oder dem Kino kannte. Sie war weder durchscheinend, noch schwebte sie wie ein gasgefüllter Ballon ein Stück über dem Erdboden. Wie auch Max selbst schien sie mit ihren beiden nackten Füßen fest auf dem Gras zu stehen. Dennoch wusste er, dass sie nur eine Erscheinung war und keine feste Substanz besaß. Sogar der Geruch, den er wahrzunehmen glaubte, war nicht wirklich. Denn ihr Körper lag mehrere Kilometer von hier entfernt auf einem Seziertisch aus Edelstahl und wurde möglicherweise in diesem Augenblick auseinandergenommen und gerichtsmedizinisch untersucht.

Sie war nicht wirklich hier, und außer ihm konnte sie auch niemand sehen. Und sollte er plötzlich das Verlangen verspüren, sie zu berühren, würde seine Hand ohne jeglichen Widerstand in sie eindringen. Alles, was er dabei empfinden würde, wäre eine unnatürliche Kälte – die Kälte des Todes möglicherweise –, als würde der Geist ihm alle Körperwärme entziehen wollen, um sich selbst zu wärmen. Das wusste er, weil er es vor vielen Jahren schon einmal ausprobiert hatte. Und dieses eine Mal hatte ihm gereicht.

Er erschauderte unwillkürlich, als er sich daran erinnerte.

Doch er wagte es noch aus einem ganz anderen Grund nicht, den Geist anzufassen. Denn schon jetzt, auf die Entfernung von zwei Metern, die sie voneinander trennte, konnte er den leichten Sog spüren, der von der Erscheinung ausging und an seinem tiefsten Innersten zerrte, als wollte sie seine Seele aus dem Körper saugen und mit in die lichtlose Finsternis des Todes zerren.

Ohne dass es ihm bewusst wurde, trat er nun doch einen kleinen Schritt zurück.

Den Sog, der von allen Geistern ausgegangen war, denen er bislang begegnet war, hatte er in diesem speziellen Fall zum ersten Mal heute früh verspürt, als er in der Zeitung über den Leichenfund in Weilersberg gelesen hatte.

Demnach hatten zwei achtjährige Jungen, die am frühen Nachmittag im Wald auf Schatzsuche gegangen waren, an einer besonders unzugänglichen Stelle inmitten eines Dickichts eine menschliche Hand entdeckt, die wie ein seltsames, totenbleiches Gewächs aus dem Boden geragt hatte. Nachdem die Jungen in kopfloser Panik nach Hause gerannt waren und ihre Eltern die Polizei informiert hatten, war der Leichnam einer jungen Frau ausgegraben worden, die vermutlich erst vor wenigen Tagen ermordet worden war und ein Brautkleid trug.

Eben jene Frau, deren Geist jetzt vor ihm stand.

Max seufzte lautlos. Er wusste nicht, wohin er den Blick nun, nachdem er seine Bestandaufnahme beendet hatte, richten sollte, schließlich konnte er ihr nicht einmal in die Augen sehen. Und in ihre leeren, blutumrandeten Augenhöhlen zu starren, war ihm dann doch entschieden zu unheimlich und ließ ihn erschaudern.

»Was willst du von mir?«, fragte er und fixierte die Spitze ihres Kinns, eine der wenigen Stellen in ihrem Gesicht, die unverletzt waren.

»Soll ich dabei helfen, dass dein Mörder gefunden wird und seine gerechte Strafe erhält?«, setzte er nach, nachdem sie auf seine erste Frage nicht reagiert hatte.

Er seufzte noch einmal. Natürlich redeten die Toten nie mit ihm. Aber das hatte er auch gar nicht von ihr erwartet. Es wäre allerdings schon hilfreich gewesen, wenn sie auf andere Art und Weise reagiert und mit ihm kommuniziert hätte. Mit einem Nicken, einem Kopfschütteln, oder auch einfach nur, indem sie ihn wortlos aufgefordert hätte, ihm zu folgen. Das war in der Vergangenheit schon mehrmals geschehen.

Doch die tote Frau tat nichts von alldem. Stattdessen erbebte plötzlich ihr ganzer Körper, als würde er von einem heftigen, lautlosen Schluchzen durchgeschüttelt. Als sie den Mund öffnete, hob Max automatisch den Blick und sah, dass sämtliche Zähne abgebrochen oder herausgeschlagen worden waren und ihre Zunge nur noch ein blutiger Stumpf war. Obwohl sie längst tot war und das Bild, das sie ihm zeigte, dem augenblicklichen Zustand ihres Körpers entsprach, rollten plötzlich blutige Tränen aus ihren leeren Augenhöhlen. Sie senkte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht, als wollte sie nicht, dass er sie noch länger ansah. Ihre Schultern bebten, während sie lautlos weinte. Und gerade diese Lautlosigkeit ließ Max trotz der Wärme des Tages frösteln, als hätte ihn eine Bö des eisigen Totenwinds aus dem Jenseits gestreift, der den Geist begleitete und beständig seine Haare und Kleider bewegte.

Er wusste nicht, was er machen und wie er sich verhalten sollte. Schließlich war es unmöglich, einer Toten Trost zu spenden. Alles, was er noch für sie tun konnte, bestand darin, den Behörden dabei zu helfen, ihren Mörder zu finden. Erst dann würde sie vermutlich ihren Frieden finden. Und erst dann würde auch der Sog enden, der an ihm zerrte und ihn wie eine geisterhafte Nabelschnur mit ihr verband.

Er vermutete, dass der Geist der Frau durch den gewaltsamen Tod noch immer viel zu paralysiert war, um sich auf nonverbale Weise mit ihm verständigen zu können. Das hatte er in der Vergangenheit nicht nur bei den furchtbarsten Mordfällen, sondern auch bei Selbstmorden schon mehrmals erlebt. Vor allem, wenn die Opfer vor ihrem Tod über einen längeren Zeitraum sehr intensive Schmerzen hatten erleiden müssen.

Die tote Frau schüttelte den Kopf, als könnte sie noch immer nicht glauben, was ihr widerfahren war und dass sie tatsächlich ihr junges Leben verloren hatte.

Max ahnte, dass dieser Fall nicht einfach werden würde. Denn ohne die Unterstützung des Opfers würde es selbst für ihn äußerst schwer werden, ihren Mörder zu finden. Es war zwar auch in anderen Fällen nicht so gewesen, dass die Toten ihn einfach zu ihren Mördern geführt hatten. Sie hatten ihm allerdings stumme Hinweise gegeben, die ihn von Fall zu Fall auf die richtige Spur geführt hatten. Doch wenn das Opfer nicht einmal dazu in der Lage war, würde er ebenso im Dunkeln tappen wie die Kriminalbeamten, die seit gestern in diesem Fall ermittelten.

Plötzlich nahm die Frau die Hände vom Gesicht und hob den Kopf. Sie richtete ihre leeren Augenhöhlen jedoch nicht auf ihn, sondern an ihm vorbei auf etwas, das sich hinter ihm befand.

Erst als Max den Kopf wandte, hörte er das Brummen eines Motors, der allerdings schon im nächsten Moment verstummte. Anscheinend war er so vertieft in die Begegnung mit dem Geist der toten Frau gewesen, dass er das Näherkommen des anderen Fahrzeugs nicht gehört hatte. Nun sah er, dass ein Streifenwagen hinter seinem Audi A3 angehalten hatte.

Er spürte, dass der Sog, der ihn mit der Geistererscheinung verband, schwächer wurde. Er ahnte daher schon, dass die tote Frau verschwunden war, bevor er den Blick wieder nach vorne richtete und nichts als leere Luft vor sich sah. Außerdem waren von einer Sekunde zur anderen die Geräusche der Natur – zwitschernde Vögel, summende Bienen und zirpende Grillen – wieder zu hören, als hätte jemand den Lautstärkeregler höher gedreht.

Max zuckte mit den Schultern und wandte sich um. Es war nicht so tragisch, dass der Geist der ermordeten Frau verschwunden war, da sie allem Anschein nach ohnehin unfähig war, ihm zu helfen. Er ärgerte sich nur, dass er so unaufmerksam gewesen war und das näher kommende Polizeiauto erst in dem Moment bemerkt hatte, als der Geist darauf reagiert hatte.

Die Fahrertür öffnete sich und der größte Polizist, den Max je gesehen hatte, faltete sich aus dem Wagen, als handelte es sich dabei um ein Spielzeugauto, aus dem er mit der Zeit herausgewachsen war. Der Beamte setzte seine Schirmmütze auf, schloss die Tür des Wagens und kam gemächlich auf Max zu.

Da der Polizist es anscheinend nicht sehr eilig hatte, hatte Max alle Zeit der Welt, ihn ausgiebig zu mustern. Es fiel ihm schwer, die Größe des Mannes exakt einzuschätzen, der ihn so deutlich überragte, obwohl er mit seinen eins achtzig auch nicht unbedingt zu den Kleinsten gehörte. Er kam jedoch zu dem Ergebnis, dass der andere mindestens zwei Meter fünf groß sein musste. Darüber hinaus hatte er breite Schultern und riesige Füße – seine Schuhe sahen aus wie kleine Lederkoffer – und machte einen muskulösen und durchtrainierten Eindruck, als würde er in seiner Freizeit am liebsten und mit Leichtigkeit tonnenschwere Gewichte stemmen. Sein blondes Haar war so hell, dass es auf den ersten Blick aussah, als wäre es schneeweiß, und nicht allzu kurz geschnitten. Er war schätzungsweise Mitte bis Ende dreißig und hatte das markante, kantige Gesicht eines Comicsuperhelden und dazu blasse, hellblaue Augen.

Zwei Meter vor Max blieb er stehen und ließ seinen aufmerksamen Blick erst nach unten zu Max’ Schuhen und anschließend wieder zurück in sein Gesicht wandern. Die rechte Hand lag zwar nicht auf dem Griff seiner Dienstwaffe, die in einem Holster an seinem Gürtel steckte, war jedoch nicht allzu weit davon entfernt, während er den Daumen der linken lässig hinter der Gürtelschnalle eingehakt hatte.

»Sie können hier nicht einfach parken«, sagte der Polizist anstelle einer Begrüßung. »An dieser Stelle ist Ihr Wagen ein Hindernis und eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer.«

Max sah zu seinem Fahrzeug, das zum größten Teil auf dem Gras neben der Fahrbahn stand und weniger als einen halben Meter auf die leere Straße ragte. Von einem Hindernis und einer Gefahr für andere konnte daher seiner Meinung nach nicht ernsthaft die Rede sein. Dennoch hatte er nicht vor, mit dem Polizisten zu streiten, da er dabei letzten Endes vermutlich ohnehin den Kürzeren ziehen würde. Allerdings ärgerte er sich über die Unhöflichkeit des Mannes. »Ihnen auch einen schönen guten Tag«, sagte er deshalb.

Der uniformierte Beamte kniff daraufhin die Augen zusammen, als wollte er sich Max’ Gesicht besonders gut einprägen. »Guten Tag. Zeigen Sie mir bitte Ihren Führerschein und Ihren Fahrzeugschein.«

»Schon gut. Ich fahre ja sofort weiter.«

»Nicht, bevor ich einen Blick auf Ihre Papiere geworfen habe.«

Max seufzte. »Die sind im Wagen.«

»Dann holen Sie sie bitte.«

»Kein Problem«, sagte Max und nickte, ehe er zur Beifahrertür des Audi ging, um die verlangten Papiere zu holen.

»Warum haben Sie überhaupt hier angehalten?«, fragte der Polizist. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Max schüttelte den Kopf, während er die Autotür öffnete. Als ihm einfiel, dass der Mann hinter ihm stand und es vermutlich nicht gesehen hatte, fügte er hinzu: »Nein. Ich wollte nur ein Gefühl für diesen Ort und die Atmosphäre bekommen, bevor ich weiterfahre.« Es war eine Lüge. Etwas Besseres fiel ihm aber auf die Schnelle nicht ein. Schließlich konnte er dem Beamten nicht erzählen, dass an dieser Stelle eine tote Frau auf ihn gewartet hatte, ohne sich absolut lächerlich zu machen und wie ein durchgeknallter Irrer zu wirken.

»Ein Gefühl für den Ort und die Atmosphäre? Wieso das denn?«

Max beugte sich in den Wagen und holte ein braunes Mäppchen mit dem Fahrzeugschein aus dem Handschuhfach. Anschließend entnahm er dem dunkelblauen Blouson, der auf dem Beifahrersitz lag, seine Brieftasche, in der auch sein Führerschein steckte.

»Ich bin Journalist«, sagte er, als er sich umwandte. Er holte seinen Presseausweis aus der Brieftasche, ging zu dem Beamten und reichte ihm das Dokument.

Der Polizist nahm es mit den Fingerspitzen seiner linken Hand behutsam entgegen und las den Namen darauf laut vor: »Maximilian Wolf.«

»Das bin ich«, sagte Max überflüssigerweise, während er seinen Führerschein herausholte. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« Er hatte das deutliche Gefühl, dass der riesige Mann sich ein wenig entspannt hatte, sobald er ihm den Presseausweis gereicht hatte. Vermutlich wäre ich als Streifenbeamter nach dem gestrigen Leichenfund genauso angespannt und misstrauisch, wenn ich einem Fremden begegnen würde, der sich so merkwürdig verhält, dachte er und hatte plötzlich Verständnis für das Verhalten des Mannes. Und für jeden anderen musste es nun einmal überaus merkwürdig ausgesehen haben, wie er neben dem Ortsschild gestanden, in die leere Luft gestarrt und scheinbar mit sich selbst geredet hatte.

»Polizeiobermeister Patrick Schroff«, stellte sich der Beamte nun seinerseits vor. Vor wenigen Augenblicken hätte der Nachname noch wie die Faust aufs Auge zum Gesichtsausdruck des Mannes gepasst, doch dieser war inzwischen deutlich milder geworden und überhaupt nicht mehr abweisend und misstrauisch. Er wandte den Blick von dem Bild auf dem Presseausweis zu Max’ Gesicht und kniff erneut die Augen zusammen, als wollte er beides besonders gründlich miteinander vergleichen. Dabei war die Aufnahme noch gar nicht so alt, und Max hatte sich seitdem kaum verändert, sodass die Ähnlichkeit jedem sofort ins Auge stechen musste. »Sie kamen mir gleich bekannt vor, Herr Wolf. Ich nehme an, Sie sind wegen der toten Frau hier.«

Max nickte lächelnd und fühlte sich sogar ein bisschen geschmeichelt, weil der Polizist wusste, wer er war. »Sie haben recht, Herr Polizeiobermeister. Ich las heute früh einen Zeitungsartikel über den Leichenfund. Der Fall ist äußerst rätselhaft, und deshalb interessiert er mich. Ich habe vor, an der Pressekonferenz teilzunehmen, die für 18 Uhr angesetzt wurde. Ich hoffe, sie wurde nicht verschoben oder vorverlegt.«

Schroff schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, gab es keine Verlegung des Termins. Allerdings sind Sie nicht der einzige Pressevertreter, der heute nach Weilersberg gekommen ist. Sie sollten daher frühzeitig genug dort sein, um noch einen Sitzplatz zu bekommen. Die Pressekonferenz findet übrigens im Sitzungssaal des Rathauses statt. Das finden Sie am Marktplatz im Zentrum der historischen Altstadt. Folgen Sie einfach weiter der Straße, dann kommen Sie direkt dorthin.«

»Danke.«

Der Polizist nickte nur und warf noch einen letzten Blick auf den Presseausweis, bevor er ihn Max zurückgab. »Hier, Ihr Ausweis.«

Max nahm ihn entgegen. »Möchten Sie immer noch meinen Führerschein und den Fahrzeugschein sehen?«

»Nicht nötig«, sagte Schroff und schüttelte den Kopf. »Ich weiß ja jetzt, wer Sie sind und was Sie hier wollen.«

»Danke«, wiederholte Max und steckte Presseausweis und Führerschein zurück in seine Brieftasche.

»Zwei meiner Kollegen haben übrigens eine Wette abgeschlossen, ob Sie hier auftauchen oder nicht.«

Max riss überrascht die Augen auf. »Eine Wette?«

»Ja.«

»Haben Sie auch gewettet?«

Der Polizist schüttelte den Kopf. »Ich wette nie. Aber falls ich es doch getan hätte, hätte ich darauf gewettet, dass sie nicht kommen.«

»Und wieso, wenn ich fragen darf?«

»Ich hätte einfach nicht gedacht, dass Sie sich wegen eines einzelnen Mordopfers die Mühe machen, hierher zu kommen?« Er schüttelte noch einmal den Kopf, als könnte er noch immer nicht glauben, dass er sich geirrt hatte. »Trotzdem sind Sie jetzt hier. Was macht diesen Fall also für Sie so besonders, dass Sie den weiten Weg von München hierher auf sich genommen haben?«

Max zuckte mit den Schultern, während er über die Frage nachdachte. Schließlich konnte er dem Mann schlecht erzählen, dass ihn nur der Sog einer toten Frau hierher geführt und er im Grunde keinen Einfluss darauf gehabt hatte. Die Sogwirkung war stark genug gewesen, um ihn zweihundert Kilometer entfernt von hier zu erreichen und dazu zu veranlassen, alles andere stehen und liegen zu lassen, seine Reisetasche zu packen und sich ins Auto zu setzen. Also musste es an diesem Mord etwas Besonderes geben, das ihn von den anderen Fällen unterschied, die sich tagtäglich überall im Land ereigneten. Er hatte allerdings selbst noch keine Ahnung, was die Besonderheit dieses Falles war.

»Vermutlich ist es das Brautkleid der Toten, das diesen Fall so einzigartig macht«, improvisierte er, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen. »Schließlich wird nicht jeden Tag eine ermordete Braut vergraben im Wald gefunden.«

Schroff wiegte den Kopf hin und her, als hätte er Zweifel an dieser Theorie. »Mag sein, dass Sie recht haben. Allerdings wissen bislang nicht einmal die Kollegen von der Kripo, ob es sich um eine echte Braut handelt oder ihr Mörder sie nur so ausstaffiert hat, nachdem er sie umgebracht hatte.«

Max nickte. »Dennoch ergibt sich aus diesem Umstand zunächst einmal eine schöne und griffige Schlagzeile: Tote Braut im Wald gefunden!«

»Die Boulevardpresse hat sogar schon einen Namen für den Mörder.«

»Tatsächlich?«, sagte Max, dem das neu war. »Und wie nennen sie ihn?«

»Den Brautmörder.«

»Wie originell. Da hätte ich auch selbst draufkommen können.«

Der Polizist schmunzelte. »Dennoch ist es meiner Meinung nach nur ein einzelner, nicht einmal besonders spektakulärer Mord, der allein wegen des Brautkleids ein so großes Interesse bei den Medien erregt. Ganz anders als der Rosenblütenmörderfall, bei dem Sie vor zweieinhalb Jahren den Ermittlern den entscheidenden Hinweis auf den Täter lieferten und über den Sie dann einen Bestseller schrieben, der Sie berühmt machte.«

Max nickte. »Sie haben recht. Die beiden Fälle sind überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sich auch hinter diesem Fall mehr verbirgt, als wir bislang erkennen können. Was wir momentan sehen, ist vermutlich nur die Spitze des Eisbergs, und das ist bekanntlich nur ein Siebtel seiner gesamten Masse. Warten wir also ab, was die bisherigen Ermittlungen und die Untersuchung der Leiche ergeben haben.«

»Sind Sie jetzt etwa auch noch unter die Hellseher gegangen, Herr Wolf?«

Max lächelte und schüttelte den Kopf. »Hellsehen kann ich leider nicht. Es handelt sich nur um ein Gefühl, das ich habe, seit ich von dem Fall las.« Vermutlich hätte ihn Schroff für übergeschnappt gehalten, wenn er ihm von den Geistern der Verstorbenen erzählt hätte, die er sehen konnte. »Aber jetzt sollte ich vermutlich weiterfahren, um im Hotel einzuchecken und mir einen guten Platz bei der Pressekonferenz zu sichern. Außerdem ist mein Wagen dann auch nicht länger ein Hindernis und eine Gefahr für die Allgemeinheit.«

»So schlimm ist es gar nicht«, sagte Schroff mit einem Lächeln. »Mir kam es nur merkwürdig vor, dass jemand kurz vor dem Ortsschild anhält, aussteigt und dann eine Weile dasteht und nur ins Leere starrt. Deshalb habe ich angehalten und mir einen Grund ausgedacht, um Sie zu überprüfen. Nach dem gestrigen Leichenfund kann man schließlich nicht vorsichtig genug sein. Immerhin läuft der Mörder noch immer frei herum. Vielleicht ist er heute ebenfalls unterwegs und sieht sich an, was er mit seiner furchtbaren Tat ausgelöst hat.«

»Das wäre möglich. Na dann.«

»Ich will Sie zwar nicht länger als nötig aufhalten, Herr Wolf, aber eine Frage hätte ich doch noch an Sie.«

»Kein Problem. Fragen Sie ruhig.«

»Ich habe Ihr Buch über den Rosenblütenmörder sehr aufmerksam gelesen. Allerdings haben Sie auch darin nicht verraten, woher Sie den entscheidenden Hinweis auf die Identität des Täters hatten, der es den Kriminalbeamten schließlich ermöglichte, ihn zu verhaften.«

»Und jetzt wollen Sie, dass ich Ihnen das Geheimnis verrate?«

Schroff nickte nur.

»Tut mir leid«, sagte Max und schüttelte den Kopf. »Aber ich kann Ihnen kein Geheimnis verraten, wo es gar keins zu enthüllen gibt. Alles, was ich damals getan habe, bestand darin, allen Spuren und Hinweisen auf den Täter nachzugehen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Der Rest war eine Mischung aus Intuition, Kombinationsvermögen und purem Glück. Außerdem hatte ich irgendwann eine vage Ahnung, wer der Täter sein könnte.«

»Eine Ahnung wie die, die Sie auch in diesem Fall haben?«

Max nickte. »Ja. Ein ganz ähnliches Gefühl habe ich jetzt auch. Es weist zwar noch nicht in die Richtung einer konkreten Person, sagt mir aber, dass dieser Fall bedeutender und komplexer ist, als es momentan noch den Anschein hat.«

»Dann bin ich ja mal gespannt, ob Ihr Gefühl auch in diesem Fall ins Schwarze trifft. Sagen Sie mir Bescheid, wenn ich Ihnen in irgendeiner Form behilflich sein kann.«

2

 

Es krachte und splitterte laut, als der große Übertragungswagen eines Privatsenders zu weit zurücksetzte und die vordere rechte Ecke des Hyundai Santa Fe rammte, der hinter ihm stand. Der Fahrer des Ü-Wagens trat nach einer Schrecksekunde sofort erschrocken auf die Bremse, doch seine Reaktion kam natürlich viel zu spät. Also verzog er das Gesicht, als würde er die Beschädigungen an den beiden Fahrzeugen am eigenen Leib verspüren, und schüttelte dann den Kopf über den dummen Fehler, den er begangen hatte. Er fuhr wieder ein Stück nach vorn, machte den Motor aus und stieg aus, um den Schaden zu begutachten, den er angerichtet hatte, und sich auf die Suche nach dem Fahrer des anderen Wagens zu machen. Schnell bildete sich eine Traube neugieriger Passanten. Ein paar von ihnen gaben lautstark und ungefragt ihre Ansichten über den Schaden, den Unfallhergang und darüber, wie man ihn hätte vermeiden können, zum Besten, während andere leise mit ihren Nebenleuten diskutierten. Der Unfallverursacher achtete allerdings nicht auf die Wortmeldungen und Ratschläge, die ihm unverlangt erteilt wurden, ging in die Hocke und begutachtete den angerichteten Schaden, wobei er noch immer den Kopf schüttelte, als könnte er gar nicht mehr damit aufhören.

Camille St. Germain hatte einen ausgezeichneten Blick auf das ganze Geschehen, da sie am Tisch eines Straßencafés ganz in der Nähe saß. Sie beobachtete die Menschen, fasste immer wieder Einzelpersonen ins Auge und behielt sie ein paar Sekunden im Blick, um ihre Verhaltensweisen zu studieren, bevor sie sich der nächsten Person zuwandte. Das tat sie nicht aus purer Neugier oder aus beruflichem Interesse, sondern weil sie sehen wollte, wie unterschiedlich die Menschen auf bestimmte Situationen reagierten. Außerdem wollte sie überprüfen, ob sie die Leute von vornherein richtig eingeschätzt hätte und ihr jeweiliges Verhalten hätte vorhersagen können. Und in den meisten Fällen hätten ihre Prognosen auch ins Schwarze getroffen. Das lag aber nicht daran, dass Camille St. Germain ein Medium war, sondern vor allem daran, dass sie über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis und ein besonderes Einfühlungsvermögen verfügte, unerlässlich für einen medial begabten Menschen.

Nachdem sie über ein Dutzend Leute studiert und sich davon überzeugt hatte, dass ihre Einfühlungsgabe noch immer hervorragend funktionierte – nicht, dass sie daran auch nur gezweifelt hätte –, wandte sie, als wäre sie von dem Geschehen plötzlich gelangweilt, den Blick ab und nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino.

Der Unfall und das, was sich daraus für die unmittelbar daran Beteiligten entwickelte, interessierte sie nicht länger. So wie der Straßenverkehr und Autos prinzipiell für sie ohnehin kaum von Interesse waren. Sie war froh, dass sie keinen Führerschein besaß und deshalb auch nicht gezwungen war, am täglichen Kampf auf den Straßen dieser Welt teilnehmen zu müssen, der ihrer Meinung nach immer härter wurde und viel zu viele Opfer forderte. Und das alles nur, um immer schneller und bequemer von einem Ort zum anderen zu gelangen. Von den daraus resultierenden Schäden für die Umwelt und die Natur erst gar nicht zu reden. Als Medium hatte sie es oft genug im Auftrag der Angehörigen mit den Geistern von Verstorbenen zu tun, die bei tragischen Verkehrsunfällen ihr Leben verloren hatten. Darüber hinaus hatte sie vor annähernd einem Jahrzehnt in einem Traum auf drastische Weise miterleben müssen, wie sie nach einem Unfall in einem brennenden Fahrzeugwrack gefangen war. Sie wusste zwar nicht, ob, wann und wo der Traum Wirklichkeit werden würde, dennoch fuhr sie seitdem nicht mehr in Pkws mit, sondern verließ sich bei ihren Reisen vor allem auf den Schienen- und den Flugverkehr. Gelegentlich fuhr sie zwar auch mit dem Bus, aber wenn die Strecke nicht zu weit war, ging sie am liebsten zu Fuß.

Camille ließ den Blick über den Marktplatz von Weilersberg schweifen, konzentrierte sich dabei aber nicht länger auf einzelne Personen, sondern nahm stattdessen die Struktur und die Atmosphäre des Platzes in sich auf.

Der Markplatz im Herzen der historischen Altstadt hatte die Form eines schmalen, in die Länge gezogenen Hufeisens. Das offene Ende lag im Osten und wurde von der Hauptstraße und der dahinter aufragenden St.-Marien-Kirche begrenzt. An den Längsseiten und dem halbkreisförmigen Westteil des Hufeisens standen vorwiegend drei- bis vierstöckige giebelständige Barockgebäude mit Mansarddächern und großzügigen Dachgauben. In den Erdgeschossen der Häuser befanden sich hauptsächlich Geschäfte, unter anderem eine Metzgerei, ein Bäcker, mehrere kleinere Boutiquen, zwei Büchergeschäfte, ein Reformhaus, ein Drogeriemarkt und zwei Cafés. Das größte Gebäude nach der Kirche war das historische Rathaus an der südlichen Längsseite. Ihm gegenüber lagen das Heimatmuseum und die Postfiliale. Außerdem gab es im westlichen Halbkreis, der im Erdgeschoss aus einem Arkadengang bestand, die örtliche Polizeiinspektion. Sowohl vor den Häusern an den Längsseiten, als auch in der Mitte des Platzes zu beiden Seiten des Marktbrunnens, der das Zentrum darstellte, befanden sich Parkplätze.

Schon an normalen Tagen musste es schwierig sein, hier einen der vermutlich heißbegehrten Kurzzeitparkplätze zu ergattern, doch am heutigen Tag war ein solches Unterfangen nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Denn obwohl bis zur Pressekonferenz im Rathaus noch über anderthalb Stunden Zeit blieb, war der Platz schon jetzt vollgestopft mit Fahrzeugen. Dabei waren nicht nur alle offiziellen Parkplätze belegt, sondern auch die Hauptstraße, die anderen Zufahrtswege und die kleinen Seitengassen überfüllt. Momentan ging es für die Autofahrer weder vorwärts noch rückwärts. Dabei nahmen vor allem die großen Übertragungswagen der Fernsehsender viel Platz weg und blockierten das Durchkommen für die anderen. Kein Wunder also, dass es soeben den ersten Blechschaden gegeben hatte. Im Grunde war es nämlich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es bei diesem Verkehrschaos ordentlich krachte.

Camille seufzte. Nicht wegen des Verkehrs, der ihr als leidenschaftliche Fußgängerin im Prinzip egal war, sondern wegen der Atmosphäre, die ihr zu aufgeheizt und angespannt vorkam. Die überwiegende Zahl der Leute auf dem Platz war nur wegen der Pressekonferenz und dem Fund der sogenannten Brautleiche hierhergekommen. Die größte Boulevardzeitung des Landes hatte dem Täter den wenig originellen Namen Brautmörder verpasst, wofür sicherlich mindestens drei Redakteure ihre spärlichen grauen Zellen über Gebühr hatten beanspruchen müssen, und in riesigen Schlagzeilen über den Leichenfund berichtet. Und das hatte natürlich nicht nur das Interesse der Bevölkerung, sondern auch das der anderen Medien erst so richtig angeheizt.

Camille hatte allerdings nicht erst heute früh aus der Zeitung, sondern bereits letzte Nacht durch ihren Geistführer, den legendären Grafen von Saint Germain, von dem Leichenfund erfahren. Saint Germain, selbst der Geist eines Verstorbenen im Jenseits, begleitete sie bei ihren medialen Ausflügen in die Welt der Toten und unterstützte sie dabei, den Kontakt zu anderen Verblichenen herzustellen.

Camille St. Germain war natürlich nicht ihr richtiger Name. Und sie war auch keine Französin, wie ihr Pseudonym auf den ersten Blick vermuten ließ. In Wahrheit war sie vor 32 Jahren in einem Dorf in der Nähe von Würzburg als Angelika Moser zur Welt gekommen. Den Namen Camille St. Germain hatte sie nicht nur angenommen, weil er viel interessanter, mondäner und geheimnisvoller klang als ihr wahrer Name, vor allem für ein Medium, sondern auch, um dem Grafen, ihrem geistigen Führer im Jenseits, eine Freude zu machen, denn er war für sie, auch wenn er tot war, längst zu einem väterlichen Freund geworden.

Bei dem Grafen von Saint Germain handelt es sich um eine der rätselhaftesten und sagenumwobensten Persönlichkeiten des achtzehnten Jahrhunderts. Sowohl seine Herkunft und Abstammung als auch seine wahre Identität sind bis heute unbekannt. Er bereiste unter einer großen Anzahl höchst unterschiedlicher Namen die feineren Zirkel sowie die Fürsten- und Königshäuser in ganz Europa und galt dabei vielen als Universalgenie, da er Abenteurer, Geheimdiplomat, angesehener Alchemist, Komponist, Geigen- und Klaviervirtuose, Literat, Maler, Unternehmer, Metallurge, Pharmakologe, Gemäldesammler und sogar Schiffseigner war.

Camille war ihm zum ersten Mal als Teenager in einem Klartraum begegnet, als ihre Fähigkeiten, mit den Toten in Kontakt zu treten, noch völlig neu und erschreckend für sie waren. Der Graf hatte ihre damalige Hilflosigkeit und Verwirrung erkannt und geahnt, dass sie an dieser neuen, unheimlichen Fähigkeit leicht scheitern und zerbrechen konnte. Deshalb hatte er sie von da an gewissermaßen unter seine Fittiche genommen und war ihr Lehrmeister und Geistführer geworden. Camille war überzeugt, dass sie heute nicht hier säße, sondern im besten Falle in einer Nervenklinik dahinvegetieren würde, wenn sie nicht zufällig den Geist von Saint Germain getroffen hätte. Falls ihr nicht sogar viel Schlimmeres widerfahren wäre. Aus diesem Grund, und um ihm ihre Dankbarkeit zu demonstrieren, hatte sie mit seiner Erlaubnis den Namen angenommen, der auch in seinem Fall nicht sein wahrer Name war, unter dem er aber nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt bekannt geworden war.

Inzwischen hatte Camille dank der Hilfe ihres Mentors nicht nur gelernt, ihre Fähigkeit zu akzeptieren und zu kontrollieren, sondern auch, sie gewinnbringend einzusetzen. Sie arbeitete bereits seit mehreren Jahren als professionelles Medium, indem sie im Auftrag ihrer Kunden als Brückenglied zur jenseitigen Welt fungierte und mittels verschiedenartiger Beschwörungstechniken, die sie beherrschte, Kontakt mit verstorbenen Angehörigen aufnahm. Da es zahlreiche Menschen gab, die an eine Fortexistenz der menschlichen Seele auf einer anderen Bewusstseinsebene glaubten, nachdem diese mit dem Tod ihre irdische Hülle abgestreift hatte, konnte Camille auch ganz gut davon leben. Außerdem schrieb sie nebenbei Artikel für die Zeitschrift »Das Medium«. Sie hatte zwar nicht vor, einen Artikel über den Mord zu schreiben, da der Fall keinen übersinnlichen Hintergrund hatte, wollte jedoch ihren Presseausweis benutzen, um an der Pressekonferenz teilzunehmen. Schließlich musste es einen Grund geben, warum der Graf von Saint Germain sie ausgerechnet auf diesen speziellen Leichenfund aufmerksam gemacht hatte, den er ihr bislang aber noch nicht verraten hatte. Und damit die Zugfahrt nach Weilersberg sich auch in finanzieller Hinsicht auszahlte und kein reines Verlustgeschäft wurde, hatte sie über ihre Homepage für heute Abend einen Termin mit einer neuen Kundin vereinbart, die hier im Ort wohnte.

Camille runzelte die Stirn, hob die rechte Hand und rieb damit über ihren Nacken, auf dem sich eine kribbelnde Gänsehaut gebildet hatte. Sie hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, besonders aufmerksam beobachtet, ja geradezu angestarrt zu werden. Sie drehte den Kopf zuerst nach links und dann nach rechts und hielt Ausschau nach der Person, die sie so intensiv ansah, konnte allerdings niemanden entdecken, der sich speziell für sie zu interessieren schien. Camille fröstelte und rieb über ihre bloßen Unterarme, auf denen sich jetzt ebenfalls Gänsehaut gebildet hatte. Sie hatte noch immer das Gefühl, jemand wäre soeben über ihr Grab spaziert, und ließ den Blick hektisch über den Marktplatz huschen, auf dem sich an diesem Tag allerdings entschieden zu viele Menschen tummelten, um sie alle zu erfassen und im Auge zu behalten. Es war wie bei einem Wimmelsuchbild, bei dem man eine bestimmte Kleinigkeit entdecken musste. Entweder stach es einem sofort ins Auge, oder man konnte eine Ewigkeit danach suchen, ohne es zu finden.

Sie sah mehrere Reporter und Kameramänner, die an verschiedenen Stellen des Platzes Filmaufnahmen machten, Kommentare abgaben oder Leute interviewten. Außerdem bemerkte sie zahlreiche Passanten, die mit ihren digitalen Fotoapparaten Bilder schossen und nicht ausschließlich gewöhnliche Touristen, sondern vermutlich auch Schaulustige waren, die ihre morbide Neugierde befriedigen und den Ort sehen und kennenlernen wollten, in dessen Nähe die tote Frau im Brautkleid vergraben gewesen war. Außerdem registrierte sie eine große Zahl uniformierter Polizisten, die nicht nur Ordnung im Verkehrschaos herstellen, sondern auch dafür Sorge tragen sollten, dass die bevorstehende Pressekonferenz nicht aus dem Ruder lief.

Das Medium achtete allerdings nicht auf all diese Leute, solange sie nicht in ihre Richtung sahen, sondern war auf der Suche nach der Person, die sie anstarrte. Sie hatte bereits vier Fünftel des Platzes abgesucht und war überzeugt, dass sie gleich fündig werden musste, als das unangenehme Gefühl genauso schnell und plötzlich wieder verschwand, wie es zuvor entstanden war.

Beinahe hätte sie vor Enttäuschung laut gestöhnt, beherrschte sich jedoch gerade noch. Sie scannte rasch den Rest des Platzes mit ihrem aufmerksamen Blick, doch es war vergebens. Wer immer sie so lange und intensiv angestarrt hatte, dass sie es bemerkt hatte, hatte entweder das Interesse verloren oder befürchtet, ertappt zu werden, und deshalb seine Augen abgewandt.

Camille fröstelte erneut so stark, dass ihr ganzer Körper erzitterte. Sie beschloss, zu bezahlen und das Straßencafé zu verlassen, weil sie sich hier nicht mehr wohlfühlte. Sie hatte zwar noch mehr als ausreichend Zeit, bis die Pressekonferenz begann, wollte aber einmal über den ganzen Platz spazieren und sich dann einen vorderen Platz in der Schlange sichern, die sich demnächst bestimmt bilden würde. Deshalb nahm sie ihre Tasse und trank ihren Cappuccino aus, der ohnehin nur noch lauwarm war.

Als sie die Tasse wieder absetzte, fiel ihr Blick zufällig auf einen Mann, der in diesem Augenblick auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes aus einer schmalen Gasse trat, die ihres Wissens zu einem großen Parkplatz knapp außerhalb der historischen Altstadt führte.

Der Mann war schätzungsweise ein Meter achtzig groß und hatte kurzes, hellbraunes Haar, das in der Mitte gescheitelt und leicht gewellt war. Er war unrasiert, als hätte er es heute Morgen eilig gehabt und wäre nicht mehr dazu gekommen, und trug eine Sonnenbrille, die seine Augen verbarg. Seine Kleidung bestand aus einer hellblauen Jeans, einem dunkelblauen Poloshirt und weißen Turnschuhen. In der linken Hand trug er eine Reisetasche. Nachdem er den Platz betreten hatte, sah er sich suchend um und wandte sich dann nach links. Obwohl Camille ein Medium und keine Hellseherin war, was manche Leute gelegentlich miteinander verwechselten, hätte sie darauf wetten können, dass das Hotel Weilersberger Hof, das lediglich durch eine schmale Gasse vom angrenzenden Heimatmuseum getrennt wurde, sein Ziel war. Im selben Hotel hatte auch sie sich ein Zimmer genommen.

Zuerst wusste sie nicht, warum das Auftauchen des Mannes überhaupt ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, doch je länger sie ihn beobachtete, desto überzeugter war sie, ihn von irgendwoher zu kennen. Sie runzelte verwirrt die Stirn und zermarterte sich den Kopf, woher sie ihn kannte, während sie zusah, wie er sich dem Hotel näherte. Doch erst, als er das Hotel betreten hatte und aus ihrem Blickfeld verschwunden war, fiel es ihr siedend heiß ein.

Ich habe letzte Nacht von ihm geträumt!

Bis zu diesem Moment hatte sie sich an diesen Traum von letzter Nacht nicht einmal erinnern können, obwohl sie darin geschult war, Klarträume oder luzide Träume zu erkennen und sich nach dem Aufwachen stets an sie zu erinnern. Sie hatte nicht nur Techniken erlernt, Klarträume von normalen Träumen zu unterscheiden und dadurch eine gewisse Kontrolle auf sie auszuüben, sondern führte auch ein Traumtagebuch, in dem sie nach dem Aufwachen jeden ihrer Träume notierte.

Dennoch wurde ihr der Traum, in dem der Fremde, den sie gerade gesehen hatte, eine Rolle gespielt hatte, erst jetzt bewusst und lief, als hätte er nur auf den richtigen Moment oder Auslöser gewartet, vor ihrem geistigen Auge ab, sodass sie nicht länger auf ihre Umgebung achtete und das Gefühl hatte, den luziden Traum noch einmal zu erleben.

 

In ihrem Traum steht sie im hellen Tageslicht neben einer Landstraße und kann das Gras unter ihren nackten Füßen spüren. Und obwohl sie kein einziges Mal den Kopf zur Seite wendet, sondern immer nur stur geradeaus starrt, als habe sie Angst, andernfalls etwas zu verpassen, weiß sie dennoch, dass sich links neben ihr ein Ortsschild befindet und hinter ihr der dazugehörige Ort liegt, der auch das Ziel des Mannes ist, auf den sie hier wartet.

Sie stellt fest, dass mit ihren Augen irgendetwas nicht stimmt, denn sie sieht alles nur verschwommen und wie durch einen roten Schleier oder eine Fensterscheibe, die mit Farbe oder Blut beschmiert wurde.

Doch bevor sie länger über diesen irritierenden Effekt nachdenken kann, erregt eine Bewegung auf der Straße vor ihr ihre Aufmerksamkeit. Ein Auto nähert sich, wird dann abrupt langsamer und hält wenige Meter vor ihr am Straßenrand. Dann geschieht erst einmal ein paar Augenblicke gar nichts, ehe sich die Fahrertür öffnet und der Mann aussteigt, den sie vor wenigen Augenblicken auf dem Weilersberger Marktplatz gesehen hat.

Erst jetzt fällt ihr die unheimliche, unnatürliche Stille auf, die an diesem Ort herrscht und zuvor nur vom Geräusch des Fahrzeugmotors und jetzt von den Schritten des Mannes im Gras durchbrochen wird.

Der Mann bleibt zwei Meter vor ihr stehen, sieht sie jedoch nicht an, sondern an ihr vorbei zur Stadt hinter ihr. Sie wartet geduldig und ohne sich zu rühren, bis er den Blick schließlich doch noch auf sie richtet. In der Stille kann sie deutlich hören, wie er zischend die Luft einsaugt, als er ihr Gesicht mustert. Sein eigenes Gesicht verzerrt sich, als habe er leichte Schmerzen, und zeigt einen gequälten und mitleidvollen Ausdruck.

Was ist mit mir passiert, dass er so reagiert?, fragt sie sich, ist aber außerstande, der Sache auf den Grund zu gehen. Obwohl sie gewöhnlich in einem Klartraum das Traumgeschehen beeinflussen und in geringem Umfang sogar lenken kann, ist ihr das in diesem Fall erstaunlicherweise nicht möglich. Sie kann nicht einmal ihre Arme heben oder sonst eine Bewegung machen. Allerdings weiß sie ohnehin nicht, wie sie ihr Aussehen ohne eine geeignete spiegelnde Fläche in ihrer unmittelbaren Umgebung überprüfen könnte. Daher ist sie gezwungen, die ausgiebige Musterung des Mannes schweigend und reglos über sich ergehen zu lassen und darauf zu warten, was als Nächstes geschieht.

Er lässt den Blick an ihrem Körper nach unten und wieder zu ihrem Gesicht zurückwandern, bei dessen erneutem Anblick er erschaudert, ehe er einen Schritt zurücktritt und lautlos seufzt.

»Was willst du von mir?«, fragt er, sieht ihr dabei jedoch nicht in die Augen, sondern auf eine Stelle ein paar Zentimeter darunter. »Soll ich dabei helfen, dass dein Mörder gefunden wird und seine gerechte Strafe erhält?«

Wäre dies kein Traum und hätte sie die volle Kontrolle über diesen Körper, wäre sie über seine Worte vermutlich entsetzt. Doch so nimmt sie diese nur zur Kenntnis, als sei die Tatsache, dass sie ein Mordopfer ist, für sie nichts Neues. Allerdings wundert sie sich, dass in diesem Fall sie der Geist zu sein scheint, nachdem sie sonst diejenige ist, die in Trance oder mittels luzider Träume mit den Geistern der Verstorbenen Kontakt aufnimmt. Außerdem fragt sie sich, ob der Traum womöglich ihre Zukunft zeigt und sie das Opfer eines Verbrechens werden wird.

Er seufzt erneut.

Sie antwortet nicht auf seine Fragen, spürt aber plötzlich, wie ihr ganzer Körper von einem tiefen Schluchzen erschüttert wird. Sie schluchzt lautlos, und die Tränen trüben ihre Sicht noch mehr. Als schäme sie sich ihrer Tränen, senkt sie den Blick und schlägt die Hände vors Gesicht, während sie weint, ohne einen einzigen Laut von sich zu geben. Dabei schüttelt sie fortwährend in stummer Verneinung den Kopf.

Dann hört sie, dass sich ein weiteres Fahrzeug nähert. Sie nimmt die Hände vom Gesicht, hebt den Kopf und richtet ihren verschwommenen Blick auf den Streifenwagen, der sich nähert und hinter dem Audi am Straßenrand hält.

Schon als der Mann vor ihr den Kopf abwendet, um nachzusehen, was ihre Aufmerksamkeit erregt hat, beginnt ihre Umgebung zu verblassen, als löse sich alles um sie herum in Luft auf. Doch sie ahnt, dass in Wahrheit sie es ist, die von diesem Ort verschwindet. Noch ehe der Mann sich wieder ihr zuwendet, ist alles um sie herum strahlend weiß geworden. Dann endet der Traum ebenso abrupt, wie er begonnen hat.

 

Camille blinzelte, als sie sich in der Gegenwart, der Wirklichkeit und ihrem eigenen lebenden und atmenden Körper wiederfand. Und erst jetzt, im Nachhinein und im direkten Vergleich, wurde ihr bewusst, dass ihr Traumkörper weder geatmet noch einen Puls- oder Herzschlag besessen hatte.

Sie erschauderte und hatte das Gefühl, eisig kalte Wassertropfen würden über ihren Rücken nach unten rinnen und dabei ihre Haut versengen. Ihr Blick war noch immer auf den Eingang des Hotels auf der anderen Seite des Marktplatzes gerichtet, den sie in den letzten Augenblicken allerdings gar nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte und in dem der Mann aus ihrem Traum verschwunden war.

Ihr wurde klar, dass sie ihn unbedingt kennenlernen und mit ihm sprechen musste, denn ihre unheimliche Begegnung in ihrem luziden Traum von letzter Nacht hatte ihr gezeigt, dass er ein Teil des Rätsels sein musste, das den Fund der Frauenleiche an diesem Ort und den Grund ihres eigenen Aufenthalts in Weilersberg noch immer umgab. Vielleicht konnte sie mit seiner Hilfe herausfinden, weswegen Saint Germain sie auf die tote Frau im Brautkleid aufmerksam gemacht hatte, und erfuhr auf diesem Weg, warum sie hier war und was eigentlich von ihr erwartet wurde.

3

 

Er schob den Kopf ein Stück weiter nach vorn, damit er um die Ecke sehen konnte, hinter der er sich verborgen hielt, und beobachtete heimlich die Frau, die an einem Tisch des Straßencafés saß und in diesem Moment die Bedienung auf sich aufmerksam machte.

Als er wenige Minuten zuvor um die Hausecke gebogen und sein Blick eher zufällig auf sie gefallen war, hatte er nichts anderes tun können, als wie vom Blitz getroffen stehen zu bleiben und sie anzustarren.

Dabei konnte er nicht einmal sagen, warum sie überhaupt seine Aufmerksamkeit erregt hatte und seinen Blick nun nicht mehr losließ, denn sie war weder eine außergewöhnliche Schönheit, noch entsprach sie auch nur ansatzweise dem Frauentypus, dem er normalerweise mehr als einen oberflächlichen Blick schenkte.

Obwohl sie saß, sah er sofort, dass sie kaum größer als ein Meter sechzig sein konnte. Sie verfügte über ein jungenhaftes Aussehen und eine knabenhafte Figur, da sie sehr schlank und grazil war. Ihre Haut war milchfarben, als würde sie nach Möglichkeit jedes direkte Sonnenlicht vermeiden, und sie hatte langes, rotes Haar, das ihr glatt bis über die Schultern fiel. Und obwohl er es auf diese Entfernung natürlich nicht erkennen konnte, war er dennoch davon überzeugt, dass sie unzählige Sommersprossen hatte. Sie trug ein Wickelkleid mit Blumenmuster, kurzen Ärmeln und V-Ausschnitt und braune Sandaletten an den Füßen. Ihr Gesicht war ansprechend, aber nicht klassisch schön, weil die Stupsnase ein bisschen zu groß und der Mund eine Winzigkeit zu breit war. Außerdem war sie für seinen Geschmack zu sehr geschminkt, denn sie hatte unter anderem einen leuchtend rosafarbenen Lippenstift und lilafarbenen Lidschatten aufgetragen.

Obwohl sie also überhaupt nicht seinem Schönheitsideal entsprach, starrte er sie dennoch eine Weile an, ohne die Augen von ihr lösen zu können. Sie musste die Intensität seines Blickes gespürt haben, denn plötzlich sah sie sich suchend um und ließ ihren Blick über den Marktplatz schweifen, als suchte sie nach demjenigen, der sie anstarrte. Erst als sie den Halbkreis beinahe vollendet hatte, und unmittelbar bevor sie in seine Richtung sah und ihn entdeckte, gelang es ihm endlich, seine Augen von ihr zu lösen, rasch einen Schritt zurückzutreten und wieder hinter der Hausecke zu verschwinden, die ihn vor ihrem suchenden Blick verbarg.

Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und schloss die Augen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er schneller atmete, als hätte er einen kurzen Sprint hinter sich, und dass ihm am ganzen Körper der Schweiß ausgebrochen war. Er wischte mit der linken Hand die Schweißtropfen von der Stirn, bevor sie ihm in die Augen laufen konnten. Dann öffnete er die Augen wieder und spähte vorsichtig um die Ecke.

Nachdem sie auf dem ganzen Platz niemanden entdeckt hatte, der sie anstarrte, hatte die kleine Frau ihre Suche aufgegeben und sich abgewandt. Stattdessen schien nun irgendetwas auf der anderen Seite des Platzes ihre Aufmerksamkeit erregt zu haben, denn sie sah eine Weile dorthin. Er versuchte zu erkennen, wen sie beobachtete, sah jedoch gleich mehrere Leute, die dafür infrage kamen. Vier Minuten später kam wieder Leben in sie, als wäre sie aus einem Tagtraum erwacht, und sie machte die Bedienung auf sich aufmerksam, um zu bezahlen.

Während er die Frau weiterhin verstohlen beobachtete, griff er in die Hosentasche und holte ein Stofftaschentuch heraus, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen, der ihm noch immer aus allen Poren trat, als wäre es über 40 Grad heiß.

Noch immer rätselte er, warum er auf den Anblick der Frau so extrem reagiert hatte. An ihrem Aussehen konnte es nicht liegen. Woran aber dann?

Sollte Sie etwa sein nächstes Opfer sein, um den Platz derjenigen einzunehmen, die man gestern gefunden hatte? Er glaubte es nicht, denn sie entsprach überhaupt nicht seinem üblichen Beuteschema. Allerdings benötigte er tatsächlich dringend Ersatz für die fünfte Wächterin, nachdem man sie ausgegraben und von ihrer Position entfernt hatte.

Schon allein der Gedanke, dass sie gefunden und weggebracht worden war, machte ihn erneut furchtbar wütend, denn dadurch war der Schutzkreis geschwächt und er selbst wieder angreifbar geworden. Anscheinend war er nachlässig gewesen und hatte sie weder gut genug versteckt noch tief genug vergraben. Aber wieso mussten diese Rotzlöffel sich auch ausgerechnet dort herumtreiben? Er war überzeugt gewesen, dass sie in dem dichten Gestrüpp nie entdeckt werden würde. Nur deshalb hatte er sich nicht so viel Mühe gegeben und sie nicht so tief wie die anderen vergraben. Doch er hatte sich geirrt. Man hatte sie ausgegraben und weggeschafft. Und deshalb war der Kreis jetzt vermutlich nicht mehr stark genug, um den rachsüchtigen Geist, der ihn verfolgte, auf Dauer aus dieser Stadt und von ihm fernzuhalten. Also musste er schnellstmöglich für Ersatz sorgen. Am liebsten hätte er erst die beiden Jungen umgebracht, die den Leichnam aufgestöbert hatten und damit auch für die vielen Menschen und Polizisten verantwortlich waren, die den Ort seit heute bevölkerten. Es wäre die gerechte Strafe für diese Rotznasen gewesen. Allerdings konnte er mit den Leichen von Kindern nichts anfangen. Was er stattdessen dringend brauchte, war eine fünfte Wächterin.

Soll ich sie nehmen?, fragte er sich und war noch immer unsicher, ob sie deshalb seine Aufmerksamkeit erregt hatte, so als hätte das Schicksal ihm einen Wink gegeben.

Er sah zu, wie sie bezahlte und sich dann erhob. Als sie langsam in Richtung Rathaus ging, wo in knapp anderthalb Stunden die Pressekonferenz stattfinden würde, kam er hinter der Hausecke hervor und sah ihr hinterher. Er war noch immer unschlüssig, was er von dieser Begegnung halten und mit der Frau anfangen sollte, als plötzlich eine andere Frau in seiner Nähe seine Aufmerksamkeit erregte.

Sie schien das genaue Gegenteil der ersten Frau zu sein, denn sie war nicht nur großgewachsen und bildschön, sondern hatte auch große Brüste, langes und lockiges, weizenblondes Haar und die ebenmäßigen Gesichtszüge eines Fotomodels. Neben einer hellblauen Jeans, einer Bluse mit korallenfarbenen Längsstreifen und einer ebenfalls korallenfarbenen Lederjacke trug sie braune Sandaletten mit hohen Absätzen und jede Menge Schmuck, darunter große silberne Creolen, eine Silberkette, an der ein herzförmiger Anhänger hing, der mit zahlreichen Steinen besetzt war, außerdem Armketten und mehrere Ringe an den Fingern. Sie war so dezent geschminkt, dass es kaum auffiel, und hatte die Sonnenbrille nach oben in ihr Haar geschoben, um der Kamera, die auf sie gerichtet war, ihre strahlenden, hellblauen Augen zu zeigen. In der rechten Hand hielt sie ein Mikrofon mit dem Logo eines großen Privatsenders, in das sie sprach, während sie mit der linken Hand zuerst auf den Markplatz und dann auf das Rathaus im Hintergrund deutete.

Über den Lärm, den die anderen Leute auf dem Platz und die Fahrzeuge verursachten, konnte er nicht hören, was sie sagte, da sie mindestens fünfundzwanzig Meter von ihm entfernt neben dem Marktbrunnen stand. Er hätte allerdings auch ohne den Kameramann und das Mikro in ihrer Hand gewusst, dass sie Fernsehreporterin war und für einen privaten Sender arbeitete, denn er hatte ihr Gesicht schon einmal in einer Nachrichtensendung gesehen. Allerdings fielen ihm momentan weder ihr Name noch der des Senders ein. Doch beides interessierte ihn ohnehin nicht. Wichtiger war für ihn ihr Aussehen, denn das stimmte beinahe haargenau mit den Vorstellungen überein, die er von dem Ersatz für die fünfte Wächterin hatte, die er gestern verloren hatte.

Die andere Frau, die er zuvor gesehen hatte, hatte er schon fast wieder vergessen. Er lächelte zufrieden, während er auf die Reporterin zuging, um sie nicht mehr aus den Augen zu lassen, bis er hoffentlich bald die Chance bekam, irgendwo allein und ungestört mit ihr zu sein.

4

 

»Das war Alexa Schöninger live aus Weilersberg. Und damit zurück zu Paul Knüppel ins Nachrichtenstudio.«

Alexa ließ das Mikrofon sinken und atmete einmal tief durch, während ihr Kameramann seine Kamera ausschaltete und von der Schulter nahm.

»Lass uns eine Viertelstunde Pause machen, bevor wir zur Pressekonferenz gehen, Chris.«

Christian Kramer nickte dankbar und verstaute die Kamera in der Kameratasche. Er war mit seinen 30 Jahren nur zwei Jahre älter als Alexa und hatte ungefähr dieselbe Körpergröße. Doch damit endeten die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen auch schon, denn im Gegensatz zu ihr war er rundlich und stark übergewichtig. Sein Körper und sämtliche Gliedmaßen waren fleischig und füllten die Kleidung so vollständig aus, dass er aussah wie eine Presswurst auf Beinen. Sein Gesicht bildete einen nahezu perfekten Kreis und erinnerte auch wegen der unzähligen Krater in Gestalt von Pockennarben an den Vollmond. Vor allem, wenn er lächelte, was er oft tat, weil er im Grunde ein fröhlicher, lebensbejahender Mensch war. Er hatte langes, mittelbraunes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, haselnussbraune Augen und einen Kinnbart, den er im Stil von Jack Sparrow zu zwei kleinen Zöpfchen geflochten hatte. Er trug eine beige Baumwollhose, ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo einer Heavy-Metal-Band, von der Alexa noch nie gehört hatte, und riesigen Schweißflecken unter den Armen und dazu braune Slipper.

»Okay. Dann geh ich mal zum Metzger dort drüben und hol mir ein paar Wurstsemmeln. Soll ich dir was mitbringen?«

Alexa schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich hab keinen Hunger.«

Christian zuckte mit den Schultern, denn mittlerweile wusste er, dass seine Kollegin während der Arbeit kaum etwas aß. »Wie du willst. Ich bin in ein paar Minuten wieder da. Pass bitte so lange auf unsere Ausrüstung auf.«

Alexa nickte nur und holte eine Wasserflasche aus ihrer Umhängetasche, die neben dem Marktbrunnen auf dem Boden stand. Sie sah dem Kameramann kurz hinterher, als er davonging und mit einer Entschlossenheit auf die Metzgerei zustapfte, als zöge er in einen Krieg, bevor sie die Flasche an die Lippen setzte, sich abwandte und ihren Blick über den Platz schweifen ließ.

Vermutlich nahm Christian an, dass sie so wenig aß, weil sie ständig auf ihre Linie achten musste. Aber so war es nicht. Mit ihrer Figur hatte die 28-Jährige noch nie Probleme gehabt. Sie konnte im Grunde essen, was sie wollte, und wurde trotzdem nicht dick. Dass sie nichts essen wollte, hatte einen ganz anderen Grund. Sie hatte nämlich tatsächlich, so wie sie gesagt hatte, keinen Hunger. Und darüber hinaus war ihr auch noch kotzübel. Aber so erging es ihr jedes Mal, wenn eine Kamera lief und auf sie gerichtet war. Äußerlich merkte man ihr dann zwar überhaupt nichts an, tief in ihrem Inneren fühlte sie sich jedoch so, als würde sie entweder jeden Moment sterben oder als müsste sie sich zumindest übergeben, weil ihr Magen Achterbahn und dabei durch einen Looping nach dem anderen fuhr.

Seitdem keine laufende Kamera mehr auf sie gerichtet war, ging es ihr schon wieder erheblich besser, sodass sie wenigstens nicht befürchten musste, den Schluck Wasser, den sie zu sich genommen hatte, sofort wieder von sich geben zu müssen. Doch da sie an diesem Tag noch mindestens einmal über den Leichenfund und die bevorstehende Pressekonferenz berichten musste, würde auch die Übelkeit wiederkehren. Deshalb war es besser, wenn sie auch zwischen den Übertragungen nichts aß. Sie hatte schon den ganzen Tag nichts zu sich genommen außer einer Tasse Kamillentee am Morgen und mehreren Schlucken Wasser, sodass ihr Magen, sofern er sich nicht gerade schmerzhaft verkrampfte, immer öfter lautstark knurrte.

Entscheide dich endlich mal!, dachte Alexa verärgert und rieb sich mit der linken Hand über den Bauch, den Adressaten ihrer zornigen Gedanken. Entweder Nahrung aufnehmen oder wieder von dir geben. Aber beides gleichzeitig oder im ständigen Wechsel geht halt nicht.

Als wollte er ihr antworten, knurrte ihr Magen erneut laut. Was er ihr damit mitteilen wollte, blieb für sie allerdings unverständlich.

Sie schüttelte den Kopf und seufzte laut, bevor sie ihre Wasserflasche zuschraubte und wieder in ihrer Tasche verstaute.

Sie hasste zwar ihr heftiges Lampenfieber bei jeder Reportage, das sich vor allem in Form eines hypernervösen Magens äußerte, allerdings gab es Schlimmeres. Denn dass ihr jedes Mal speiübel war, sobald sie in eine Kamera sprach, und sie sich am liebsten übergeben hätte, um sich wenigstens kurzfristig Erleichterung zu verschaffen, sah man ihr wenigstens nicht an. Viel schlimmer wäre es, wenn sie dabei keinen vernünftigen Ton herausbringen, sich ständig verhaspeln, stottern oder übermäßig schwitzen würde, denn in dem Fall hätte sie ihren Job als Fernsehreporterin gleich an den Nagel hängen können. Aber das wollte sie auf keinen Fall, da sie ihre Arbeit liebte. Nur auf die Nervosität hätte sie liebend gern verzichten können.

Ein Windstoß wehte ihr die langen Haare ins Gesicht. Sie wandte sich um, lehnte sich mit dem Rücken an den Brunnen und strich sie mit beiden Händen zurück. Als ihre Sicht wieder frei war, stellte sie fest, dass ein Unbekannter zwei Meter von ihr entfernt stand, die Unterarme auf den Brunnenrand gelegt hatte und ins Wasser starrte.

Sie nahm an, dass er sie im Fernsehen gesehen hatte. Und nur, weil sie regelmäßig auf der Mattscheibe in seinem Wohnzimmer auftauchte, glaubte er vermutlich, er würde sie kennen, und wollte sie nun anmachen. Sie beschloss, ihn kurzerhand zu ignorieren. Doch als sie sich schon abwenden und ihm den Rücken zukehren wollte, begann er bereits zu sprechen. Aus dem Mundwinkel, und ohne sie dabei anzusehen, sagte er leise: »Sie arbeiten fürs Fernsehen, nicht wahr?«

Alexa überlegte, ob sie den aufdringlichen Kerl, nachdem er sie bereits angesprochen hatte, weiterhin ignorieren konnte und einfach warten sollte, bis Christian vom Metzger zurückkam und sie gewissermaßen rettete. Dass er sie nicht ansah und so tat, als dürfte niemand mitbekommen, wie er mit ihr sprach, machte sie misstrauisch. Gleichzeitig wurde dadurch aber auch ihre Neugier geweckt, denn schließlich musste es einen guten Grund geben, warum er sich so verhielt.