Der verflixte 6. Fall - Eberhard Weidner - E-Book

Der verflixte 6. Fall E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Es ist kurz nach sechs Uhr morgens, und Peter Schramm ist auf dem Weg zur Arbeit. Doch plötzlich, in einem Waldstück, steht dieses kleine Mädchen mitten auf der Straße, das um diese Uhrzeit an diesem Ort mit Sicherheit nichts verloren hat. Nur mit einem Schlafanzug bekleidet, barfuß und mit einem Teddybären im Arm, steht es unbeweglich da und blickt in das Scheinwerferlicht des Wagens. Wegen der Bäume kann Peter nicht ausweichen. Er kann nur das Bremspedal bis zum Anschlag durchtreten, das Lenkrad fest umklammern und … beten. Dennoch glaubt er nicht wirklich, dass der Wagen noch rechtzeitig zum Stehen kommt … Zwei Stunden später betritt ein sichtlich nervöser, schwitzender Mann nur ein paar Kilometer entfernt eine Sparkassenfiliale, zieht eine Pistole und verlangt stotternd und stammelnd Geld. Der Filialleiter kann noch den Alarmknopf drücken, bevor er die Hände hebt, sodass die Polizei eintrifft, ehe der Bankräuber das Gebäude mit dem Geld verlassen kann. Der Bankraub wird damit zur Geiselnahme und zur Nervenprobe für alle Beteiligten … Für Kriminalhauptkommissar Franz Schäringer beginnt sein sechster Fall ausnahmsweise nicht mit einer Leiche, sondern »nur« mit einem blutigen Handabdruck. Allerdings befindet sich der Abdruck auf dem Wohnzimmerteppich eines Hauses, dessen Bewohner, eine fünfköpfige Familie, scheinbar über Nacht spurlos verschwunden sind. Doch was Schäringer bei der ganzen Sache am meisten zu schaffen macht, ist der Umstand, dass der blutige Handabdruck nicht von einem Erwachsenen, sondern höchstwahrscheinlich von der jüngsten Tochter, der fünfjährigen Hannah, hinterlassen wurde. Zunächst ist der Fall für Schäringer ein einziges großes Fragezeichen, denn es gibt weder Spuren noch Zeugen, die Licht ins Dunkel bringen können. Er weiß noch nicht einmal, wo er mit seinen Ermittlungen und der Suche nach der spurlos verschwundenen Familie ansetzen soll. Doch da erfährt er von dem kleinen Mädchen, das am frühen Morgen mutterseelenallein mitten auf der Straße stand, und schlussfolgert, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden rätselhaften Ereignissen geben muss …

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INHALTSVERZEICHNIS

 

COVER

TITEL

Erster Teil: 6:03 - 10:28 Uhr

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

Zweiter Teil: 10:29 - 12:54 Uhr

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

Dritter Teil: 19:42 - 21:33 Uhr

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ANMERKUNGEN DES AUTORS

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

IMPRESSUM

 

 

 

 

Erster Teil

6:03 - 10:28 Uhr

EINS

Bundesstraße 2 zwischen Althegnenberg und Hattenhofen

6:03 Uhr

 

Peter Schramm gähnte laut und langanhaltend. Zum Glück war das Straßenstück vor ihm schnurgerade, sodass die Gefahr, von der Straße abzukommen und frontal gegen einen der zahlreichen Bäume des Waldes zu prallen, durch den er gerade fuhr, eher gering war. Dennoch war er froh, als das Gähnen endete und er die Augen wieder öffnen konnte. Wegen der Tränen, die ihm in die Augen geschossen waren, sah er zwar noch immer alles verschwommen, dennoch konnte er wenigstens erkennen, dass weder ein unerwartetes Hindernis vor seinem Wagen aufgetaucht war, noch ihm ein anderes Fahrzeug auf seiner Spur entgegenkam. Aber um diese Uhrzeit begegnete er auf diesem Teil der Strecke ohnehin kaum jemandem.

Er warf einen Blick auf die Uhr und nickte zufrieden. Es war kurz nach sechs und er lag gut im Zeitplan.

Seit er vor zwei Monaten den Arbeitgeber gewechselt hatte, weil er in seinem neuen Job erheblich mehr verdiente, musste er jeden Morgen anderthalb Stunden bis zu seiner neuen Arbeitsstätte fahren. Er war zwar auf der Suche nach einer Wohnung in der Nähe des Betriebs, hatte bis jetzt aber noch nichts Passendes gefunden. Deshalb war er momentan gezwungen, zu pendeln und jeden Morgen früher aufzustehen, als er es gewohnt und ihm lieb war. Denn im Grunde war er ein Nachtmensch und es war ihm noch nicht gelungen, sich daran zu gewöhnen. Aus diesem Grund war er morgens immer todmüde und musste kämpfen, um nicht am Steuer einzuschlafen.

Peter bremste leicht, bevor er in eine Kehre fuhr. Er wusste, dass die Straße ab hier kurviger wurde. Deshalb war es umso wichtiger, dass er hellwach und aufmerksam blieb und nicht ständig gähnen musste.

Um sich wachzuhalten, drehte er das Radio lauter und ließ das Fahrerfenster ein Stück herunter, damit ihm frische Luft ins Gesicht wehte. Außerdem setzte er sich aufrechter hin. Und tatsächlich schienen die Maßnahmen seine Lebensgeister anzuheizen. Aber vielleicht lag es ja auch eher an den drei großen Bechern Kaffee, die er vor dem Losfahren getrunken hatte. Der erhöhte Kaffeekonsum half ihm zwar dabei, auf der langen Fahrt zur Arbeit nicht einzuschlafen, sorgte aber auch dafür, dass er öfter anhalten musste, um die viele Flüssigkeit nach einer Weile wieder loszuwerden. Auch jetzt spürte er schon, wie der Druck in seiner Blase beständig wuchs, dabei war er vor gerade mal einer halben Stunde von zu Hause losgefahren und davor noch einmal auf dem Klo gewesen. Dennoch gab er dem Bedürfnis nach einem Pinkelstopp noch nicht nach, denn eine volle Blase half ihm ebenfalls dabei, nicht einzuschlafen. Außerdem kannte er inzwischen alle geeigneten Stellen auf der Strecke, und bis zur nächsten waren es noch etwa fünfzehn Minuten. Erfahrungsgemäß hielt er es bis zu dieser Stelle aus, auch wenn der Druck auf den letzten Kilometern beinahe schmerzhaft wurde.

Peter bemerkte, dass er bei all seinen Überlegungen wieder unaufmerksam geworden war und das letzte Stück automatisch zurückgelegt hatte, ohne dass er sich bewusst daran erinnern konnte. Das war zwar nicht schlimm, weil nichts passiert war, aber er befürchtete, dass dieses automatische Fahren die Vorstufe zum Sekundenschlaf sein könnte. Und der Sekundenschlaf konnte, auch wenn er tatsächlich nur Sekunden währte, tödlich enden, vor allem in diesem Waldstück, in dem die Bäume sehr dicht standen und bis nahe an die Straße heranreichten. Unter Umständen erwachte man nie mehr, und der vermeintliche Sekundenschlaf währte eine ganze Ewigkeit.

Er schüttelte Kopf und öffnete die Augen ganz weit, bevor er in die nächste Kurve einfuhr. Erneut spürte er den Zwang, zu gähnen, kämpfte jedoch erfolgreich dagegen an.

Wegen der vielen Bäume sah Peter das kleine Mädchen erst, nachdem der Wagen den Scheitelpunkt der scharfen Linkskurve passiert hatte. Er glaubte zuerst, nun doch eingeschlafen zu sein und zu träumen, denn wie sollte ein so kleines Kind sonst um diese Zeit an diesen Ort kommen. Er fürchtete, der Sekundenschlaf habe ihn trotz all seiner Vorsichtsmaßnahmen übermannt und er würde jeden Moment vom heftigen Aufprall und Lärm geweckt werden, mit dem sein Wagen frontal mit einem Baum kollidierte. Falls er überhaupt noch aufwachte und nicht nahtlos vom Schlaf in den Tod hinüberwechselte.

Deshalb verschwendete er wertvolle Zeit mit der Frage, ob er träumte oder wachte, bevor er endlich reagierte und mit aller Kraft auf das Bremspedal trat. Das Antiblockiersystem verhinderte, dass die Reifen blockierten und auf dem trockenen Asphalt quietschten. Der Wagen wurde abrupt abgebremst. Dennoch glaubte Peter nicht, dass er rechtzeitig zum Stehen kommen würde. Der Weg, der die Frontpartie des Autos noch von dem Mädchen trennte, war einfach zu kurz. Der Wagen würde das Kind frontal erfassen und überfahren. Und da es mitten auf der schmalen Straße stand und die Bäume fast an den Straßenrand reichten, konnte Peter den Wagen auch nicht einfach um es herumlenken, ohne mit einem Baumstamm zu kollidieren. Er konnte nur weiterhin das Bremspedal mit dem rechten Fuß bis zum Anschlag durchtreten, das Lenkrad so fest umklammern, dass seine Fingerknöchel ganz weiß und durchscheinend wurden, und … beten.

Er hatte seit Jahren nicht mehr gebetet, weil er den Glauben an einen fürsorglichen Gott, der die Gebete seiner Schäfchen nicht nur anhörte, sondern darüber hinaus auch erhörte, schon als Jugendlicher verloren hatte. Doch in diesem Augenblick begann er, als habe er nie damit aufgehört, unwillkürlich damit, ein Gebet zu sprechen.

Die Sekunden dehnten sich in seiner Wahrnehmung wie zäher Kaugummi zu Minuten, während die Distanz zwischen dem Wagen und dem Mädchen beständig kleiner wurde. Und während seine Lippen sich ohne sein bewusstes Zutun bewegten und ein Gebet sprachen, das er als Kind auswendig gelernt und trotz der langen Pause nicht verlernt hatte, nahm er das Kind auf der Straße wie durch eine Lupe in allen Einzelheiten wahr.

Seiner Schätzung nach musste das Mädchen fünf oder sechs Jahre alt sein. Es hatte langes, dunkelbraunes Haar, das zerzaust war, als wäre es eben erst aus dem Schlaf erwacht und aus dem Bett gestiegen. Dazu passend trug es einen zweiteiligen Schlafanzug, bestehend aus einer roten Hose und einem rot-weiß gestreiften Oberteil. Das Kind war barfuß und hatte einen Teddybären im Arm, den es so fest umklammerte, dass ein echtes Tier unweigerlich erstickt wäre. Doch der Teddy erduldete die unsanfte Behandlung mit der Geduld eines erfahrenen Stofftierveteranen. Die Augen des Mädchens waren weit aufgerissen und starrten den Scheinwerfern des näher kommenden Wagens entgegen, die aus seiner Perspektive wie die Augen eines fauchenden Drachen erscheinen mussten. Es stand starr und bewegte sich nicht von der Stelle, als würde es wie ein Kaninchen durch das Scheinwerferpaar an Ort und Stelle gebannt werden. Aber es schrie nicht. Stattdessen bildeten seine Lippen einen kleinen Kreis, als wäre es vom Auftauchen des Autos lediglich etwas überrascht worden.

An seiner Stelle schrie Peter, nachdem er sein inbrünstiges Gebet beendet hatte, und schloss die Augen, um wenigstens nicht mitansehen zu müssen, wie das Kind von seinem Wagen erfasst und überrollt wurde. Und während das Fahrzeug die letzten Meter zurücklegte, wartete er mit bangem Herzen auf den Zusammenprall, der unweigerlich kommen musste.

ZWEI

 

Hattenhofen, Valesistraße

8:01 Uhr

 

Die Filiale der Sparkasse Fürstenfeldbruck in der kleinen Gemeinde Hattenhofen hatte an diesem Morgen gerade einmal seit einer Minute geöffnet, da betrat auch schon der erste und letzte Kunde dieses Tages die Bank. Er stellte damit, ohne es zu wissen oder zu wollen, einen neuen Rekord auf, denn noch nie hatte ein Kunde die kleine Filiale früher am Tag betreten.

Der Filialleiter Josef Aumüller und seine Mitarbeiterin Silvia Nollmann wandten synchron die Köpfe, um einen Blick auf den Eintretenden zu werfen. Sie sahen sofort, dass es keiner ihrer Stammkunden aus dem Dorf war. Soweit sie wussten, war der Mann noch nie hier gewesen. Dennoch erschien ihnen sein Auftauchen im ersten Moment keineswegs verdächtig, denn er sah ganz und gar nicht so aus, wie sie sich den potenziellen Bankräuber vorstellten, der gekommen war, um ihre Filiale auszurauben. Ganz im Gegenteil, der Mann sah eigentlich völlig normal und harmlos aus.

Silvia Nollmann, die bereits am Schalter stand, als hätte sie mit so früher Kundschaft gerechnet, schätzte ihn auf Mitte dreißig und kam damit der Wahrheit sehr nahe, denn der Mann war sechsunddreißig Jahre alt. Er hatte kurz geschnittenes und volles dunkelbraunes Haar, das allerdings an den Schläfen schon stark zurückgewichen war und ausgeprägte Geheimratsecken offenbarte, ein deutliches Zeichen für eine beginnende altersbedingte Glatzenbildung. Gleichwohl war er nach Ansicht der einunddreißigjährigen Sparkassenangestellten durchaus gutaussehend. Vor allem seine markanten maskulinen Gesichtszüge und der Dreitagebart gefielen ihr. Er war schlank, schätzungsweise eins achtzig groß und trug dunkelblaue Jeans, ein weißes T-Shirt und Turnschuhe.

Der Filialleiter, der im Hintergrund des kleinen Schalterraums an seinem Schreibtisch saß, achtete im Gegensatz zu seiner Mitarbeiterin weniger auf das Äußere des Mannes, sondern beobachtete aus dem Augenwinkel aufmerksam, wie er sich verhielt und bewegte.

Kaum hatte er die Bankfiliale betreten, blieb er abrupt stehen und sah sich aufmerksam um, als suchte er nach jemandem. Er schien extrem nervös zu sein und mit sich selbst zu sprechen, denn seine Lippen bewegten sich fortwährend. Allerdings gab er dabei keinen Laut von sich. Der Schweiß stand ihm nicht nur auf der Stirn, sondern hatte auch sein T-Shirt im Bereich der Brust und vor allem unter den Armen durchnässt, obwohl es an diesem Morgen Ende Juli noch bewölkt und gar nicht so warm war. Erst im Laufe des Vormittags sollte es richtig heiß werden.

Als beruhigte ihn die Tatsache, dass mit Ausnahme der beiden Sparkassenangestellten niemand da war, stellte der Mann sein lautloses Selbstgespräch ein und setzte sich ruckartig wie eine Aufziehpuppe in Bewegung.

Silvia Nollmann sah ihm lächelnd entgegen, als er auf sie zukam, und überlegte sich automatisch, so wie sie es bei jedem Kunden tat, was er hier wollte, um sich hinterher zu freuen, wenn sie richtig geraten hatte.

Sie war nur ein Meter sechzig groß und von schlanker, knabenhafter Statur, von Mutter Natur allerdings zum Ausgleich mit einer enorm großen Oberweite ausgestattet worden, die sie durch die Wahl der richtigen Kleidung auch nachhaltig in Szene zu setzen und zu ihrem Vorteil zu nutzen verstand. An diesem Tag trug sie eine langärmlige, von Haus aus schon tief ausgeschnittene weiße Bluse, deren oberste drei Knöpfe sie zusätzlich geöffnet hatte, eine schwarze Jeans-Leggins und hochhackige Plateaustiefeletten aus schwarzem Leder, die sie zehn Zentimeter größer machten. Sie legte sehr viel Wert aufs Schminken, sodass manch einer ihrer Kunden sie ungeschminkt vermutlich nicht einmal erkannt hätte. Außerdem hatte sie ihr kurzes, von Natur aus braunes Haar weißblond gefärbt.

Während der Neuankömmling die letzten Meter zurücklegte, um zu ihrem Schalter zu gelangen, intensivierte sie ihr freundliches Lächeln um ein paar Grad, richtete sich auf, sodass ihre Oberweite noch mehr zur Geltung kam, und leckte sich über ihre knallrot angemalten Lippen, damit sie glänzten.

Der Filialleiter Josef Aumüller hingegen beobachtete den Mann weniger freundlich, sondern beäugte ihn weiterhin argwöhnisch aus zusammengekniffenen Augen, während er seine linke Hand unauffällig in der Nähe des Alarmknopfes positionierte, der an einer verborgenen Stelle seines Schreibtisches angebracht war. Der Mann sah zwar auf den ersten Blick durchaus harmlos aus, dennoch irritierte den Filialleiter sein Verhalten und dabei vor allem seine starke Nervosität, für die es seiner Meinung nach keinen erkennbaren Grund gab. Außer natürlich, der Mann war in die Sparkassenfiliale gekommen, um etwas Ungesetzliches zu tun, und deshalb so aufgeregt.

Aumüller war Anfang fünfzig, eins vierundachtzig groß und hatte mit Ausnahme eines kahlen Flecks in der Größe eines Tischtennisballs an seinem Hinterkopf noch immer volles Haar, das allerdings schon komplett grau geworden war. Er war hager, hatte ein langes, schmales an ein abgemagertes Maultier erinnerndes Gesicht und trug eine Brille mit dünnem, silbernem Rahmen. Er wählte nicht nur konservativ, sondern kleidete sich auch so, denn er trug einen dunkelgrauen Businessanzug, ein tadellos gebügeltes weißes Hemd und – um seine Verbundenheit mit seinem Arbeitgeber zu demonstrieren – eine sparkassenrote Krawatte.

Der Mann erreichte den Schalter und blieb stehen. Er sah die Sparkassenangestellte an, ohne etwas zu sagen oder ihr erwartungsvolles Lächeln zu erwidern. Im Gegenteil, aus der Nähe betrachtet, sah er eher ängstlich und leidend aus, als hätte er großen Kummer.

Silvia Nollmann ließ sich davon allerdings nicht beirren. »Einen wunderschönen guten Morgen«, sagte sie und erhöhte die Intensität ihres Lächelns sogar noch um eine weitere Stufe, als könnte der Kummer des Mannes gegen die Strahlkraft ihres Lächelns nicht lange bestehen und würde sich in Wohlgefallen auflösen. »Was kann ich für Sie tun?«

Doch der Mann reagierte weder auf Worte noch auf ihr Lächeln oder ihre Oberweite, wie es Männer sonst in der Regel taten, sondern starrte sie weiterhin stumm an, was nicht nur ihr Lächeln allmählich verblassen, sondern darüber hinaus ein irritiertes Stirnrunzeln auf ihrer ansonsten makellosen Stirn entstehen ließ.

Der Filialleiter beobachtete dies alles noch immer voller Argwohn, während sein zitternder Zeigefinger allenfalls Millimeter vom Alarmknopf entfernt verharrte. Er wünschte sich, dass der Mann endlich etwas sagte und sich als der harmlose Kunde entpuppte, der er vermutlich auch war, sodass Aumüller sich endlich entspannen und wieder auf den Kreditantrag auf seinem Schreibtisch konzentrieren konnte, den er vermutlich ablehnen würde.

Doch der Mann erhörte seinen unausgesprochenen Wunsch nicht, sondern blieb weiterhin stumm. Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse, als litte er unter Höllenqualen oder fechte einen Kampf mit sich selbst oder seinen inneren Dämonen aus. Dann schüttelte er den Kopf und ließ die Schultern nach unten sacken, als hätte er den Kampf verloren und sich, wem auch immer, ergeben.

»Es … es tut mir wirklich leid, aber … aber ich kann nicht anders handeln«, sagte er und sah erst Silvia Nollmann und dann Josef Aumüller voller Bedauern an.

Die Sparkassenangestellte hinter dem Schalter wollte etwas Tröstliches sagen, etwas wie »Was immer es auch ist, es wird schon nicht so schlimm sein.«, doch noch ehe sie dazu kam, langte der Mann mit der rechten Hand hinter seinen Rücken, zog eine Pistole aus dem Hosenbund und richtete sie auf die Frau.

»D…d…das ist ein Ü…ü…überfall«, sagte er, während die Schusswaffe in der Hand mindestens ebenso zitterte wie seine Stimme. »G…g…geben Sie mir das g…g…ganze Geld.«

Während seine junge Kollegin beim Anblick der Waffe einen erschrockenen Aufschrei von sich gab, drückte der Filialleiter reflexartig auf den Alarmknopf, bevor er in vorauseilendem Gehorsam beide Hände nach oben streckte.

DREI

 

Fürstenfeldbruck, Stadtteil Neulindach, Föhrenstraße

8:10 Uhr

 

Sabrina Schnitzlein zwang ihr Gesicht, sich zu einem freundlichen Lächeln zu verziehen, und winkte der neugierigen Frau Eder von gegenüber zu, die wie immer so tat, als arbeitete sie in ihrem Vorgarten, obwohl sie in Wahrheit nur die Straße im Auge behielt, damit ihr auch ja nichts von dem entging, was hier passierte. Dann öffnete sie das Gartentürchen des Nachbarhauses und marschierte durch den Vorgarten zur Haustür. Sie klingelte und war sich dabei des stechenden Blicks von Frau Eder bewusst, der dafür sorgte, dass sich ihre Nackenhärchen aufstellten und es zwischen ihren Schulterblättern unangenehm kribbelte.

Was hat die Schnitzlein denn um diese Uhrzeit bei den Baumgartners zu suchen?, fragte sich die alte Hexe jetzt bestimmt. Doch das störte Sabrina nicht, schließlich war sie aus gutem Grund hier und hatte nichts zu verbergen. Nicht einmal vor einer neugierigen Ziege wie der Eder.

Die zweiunddreißigjährige Sabrina Schnitzlein war geschieden und kinderlos. Sie hatte haselnussbraunes Haar, das ihr glatt bis über die Schultern fiel, war ein Meter dreiundsiebzig groß und schlank. Wie ihr schon von verschiedenen Seiten und dabei vor allem von diversen Männern versichert worden war, hatte sie ein natürlich schönes Gesicht und eine tolle Figur. Dabei waren die Männer vorzugsweise von ihrer eindrucksvollen Oberweite, ihrem strammen, wohlgeformten Hintern und ihren langen, schlanken Beinen beeindruckt.

Sie wartete eine Weile, bevor sie noch einmal klingelte. Doch erneut rührte sich im Haus nichts. Es sah ganz danach aus, als wäre niemand zu Hause.

Sabrina runzelte sichtlich irritiert die Stirn und sah sich dann nach Frau Eder um. Die alte Frau hatte ihre Arbeit eingestellt und Sabrina inzwischen ganz ungeniert beobachtet. Doch jetzt senkte sie schuldbewusst den Blick und tat wieder so, als erforderte ihre momentane gärtnerische Tätigkeit, worin auch immer diese bestand, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

Sabrina überlegte, ob sie noch einmal klingeln sollte, sah jedoch wenig Sinn darin. Wenn bei den Baumgartners jemand zu Hause wäre, dann hätte der- oder diejenige auf ihr Klingeln längst reagieren müssen. Deshalb zuckte sie ratlos mit den Schultern und seufzte laut, bevor sie das Grundstück verließ und über die Straße zu Frau Eder ging, die noch immer so tat, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als ihren Vorgarten.

»Guten Morgen, Frau Eder«, grüßte Sabrina laut, nachdem sie am Gartenzaun stehen geblieben war, und beobachtete die alte Frau, die so tat, als suchte sie in den Blumenbeeten nach Unkraut, das sie jäten konnte, obwohl ihr Vorgarten schon jetzt makellos aussah.

Patricia Eder war zweiundsiebzig Jahre alt, hatte halblanges weißes Haar und ein runzliges, wettergegerbtes Gesicht, das davon Zeugnis ablegte, dass sie viel Zeit im Freien verbrachte. Sie war einen halben Kopf kleiner als Sabrina und etwas übergewichtig. Sie trug Gummistiefel, eine grasfleckige hellblaue Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber ein kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln.

Nachdem sie von Sabrina angesprochen worden war, zuckte sie zusammen, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden, und sah mit hochrotem Gesicht auf. »Ach, Sie sind das, Frau Schnitzlein«, sagte sie, als sähe sie Sabrina an diesem Vormittag zum ersten Mal, und verzog ihr faltiges Gesicht zu einer Grimasse, die nur mit viel Wohlwollen als freundliches Lächeln durchging, aber durchaus auch geeignet zu sein schien, kleine Kinder zu erschrecken, sodass sie heulend und zitternd die Flucht ergriffen. »Auch Ihnen einen wunderschönen guten Morgen.« Am liebsten hätte sie vermutlich gefragt, warum Sabrina bei den Baumgartners geklingelt hatte. Die Neugierde stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Doch sie hielt sich zurück, wollte wahrscheinlich nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und wenigstens ein Mindestmaß an Höflichkeit demonstrieren. Außerdem musste sie ihre langjährige Erfahrung, wie man den Nachbarn hinterherspionierte, gelehrt haben, dass sie früher oder später auch so alles erfuhr, was sie wissen wollte, ohne explizit danach fragen zu müssen.

»Ich hab gerade bei den Baumgartners geklingelt, aber anscheinend ist niemand da.« Sabrina tat so, als wüsste die alte Frau das alles nicht schon längst.

»Was Sie nicht sagen, Frau Schnitzlein«, sagte Patricia Eder und riss überrascht die Augen auf, als hätte sie es nicht mit eigenen Augen gesehen.

»Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie einen von den Baumgartners heute früh schon gesehen haben.«

Patricia Eder runzelte ihre ohnehin schon faltenübersäte Stirn, um den Eindruck zu erwecken, als würde sie intensiv über die Frage der erheblich jüngeren Nachbarin nachdenken, dann schüttelte sie langsam, aber nachdrücklich den Kopf.

»Wie lange … arbeiten Sie denn schon im Garten?«, fragte Sabrina und hoffte, dass die Alte ihr Zögern nicht bemerkt hatte, denn beinahe wäre ihr etwas anderes herausgerutscht.

Die alte Frau zuckte mit den Schultern, dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr, die ihr zeigte, dass es Viertel nach acht war. »Ungefähr eine Stunde. Wieso fragen Sie?«

»Dann müssten Sie doch eigentlich jemanden von der Familie aus dem Haus kommen gesehen haben«, sagte Sabrina. »Stefan muss in die Arbeit, Saskia und Simon haben heute Schule, und die kleine Hannah wird jeden Morgen von Birgit in den Kindergarten gebracht. Sonst sehen Sie sie doch auch, oder?«

Die Ernsthaftigkeit, in der Sabrina Schnitzlein mit ihr sprach, schien der alten Frau endlich klarzumachen, dass es möglicherweise tatsächlich einen Grund gab, sich Sorgen zu machen. Sie überlegte und sprach ihre Gedanken dabei laut aus, wie sie es sich ganz allmählich angewöhnt hatte, seit ihr Mann Gerhard vor zwölf Jahren von ihr gegangen war. »Sie haben recht, Frau Schnitzlein. Normalerweise sehe ich, wie Herr Baumgartner aus dem Haus kommt und wegfährt. Kurze Zeit später kommen dann die beiden größeren Kinder, um zur Schule zu gehen. Und ganz zum Schluss machen sich Frau Baumgartner und das kleine Mädchen auf den Weg. Außer natürlich, es sind gerade Ferien. Aber momentan sind keine Ferien, nicht wahr?«

Sabrina schüttelte den Kopf.

»Also müssten zumindest die größeren Kinder in die Schule gegangen sein. Trotzdem habe ich heute früh niemanden aus dem Haus kommen sehen. Komisch, dass mir das gar nicht aufgefallen ist. Denn sonst merke ich es immer sofort, wenn in der Straße etwas nicht so ist, wie es sein soll.«

Sabrina ersparte es sich, die letzte Aussage der alten Frau zu bestätigen oder zu kommentieren. »Das ist aber merkwürdig, nicht wahr?«, fragte sie stattdessen und legte sich die rechte Hand aufs Herz, als müsste sie aus gegebenem Anlass überprüfen, ob es noch regelmäßig schlug. »Dass heute noch keiner aus dem Haus gekommen ist und auch niemand auf mein Klingeln reagiert hat.«

Patricia Eder hob den Blick und sah die jüngere Frau fragend an. »Wieso haben Sie eigentlich so früh am Tag bei den Baumgartners geklingelt?«

Sabrina machte eine wegwerfende Handbewegung, als wäre das jetzt nicht so wichtig. Dennoch beantwortete sie die Frage, auch wenn sie sich gleichzeitig ärgerte, dass die Nachbarin nicht einmal jetzt ihre krankhafte Neugierde ablegen konnte: »Birgit und ich waren verabredet. Eigentlich sollte sie längst vom Kindergarten zurück sein. Wir wollten gemeinsam in die Innenstadt fahren, um ein bisschen durch die Modegeschäfte zu bummeln und in ein Café zu gehen.«

»Ach was!«, sagte Frau Eder und hob überrascht die Augenbrauen. Dann, als fiele es ihr soeben erst ein: »Vielleicht sind ja alle krank geworden. Kinder bringen doch alle naselang irgendwelche Krankheiten mit nach Hause, und dann steckt sich ruckzuck die ganze Familie an. Und jetzt liegen vermutlich alle krank im Bett, und niemand kann an die Tür kommen, um Ihnen aufzumachen.«

»Glauben Sie wirklich, Frau Eder?«

»Es ist zumindest eine glaubwürdige Erklärung. Man muss ja nicht immer gleich vom Schlimmsten ausgehen. Obwohl man natürlich heutzutage alles Mögliche in der Zeitung liest. Dass Väter ihre ganze Familie mit in den Tod nehmen, weil die Frauen sich von ihnen scheiden lassen und ihnen die Kinder wegnehmen wollen.« Sie schien das Erschrecken in Sabrinas Gesicht zu bemerken, das ihre Worte dort ausgelöst hatten, denn sie beeilte sich sofort, ihre unbesonnene Äußerung zu relativieren: »Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Herr Baumgartner so etwas tun würde.«

»Ich auch nicht«, sagte Sabrina, drehte sich zur Seite und sah zu dem Haus auf der anderen Straßenseite, das noch immer einen völlig verlassenen Eindruck erweckte. »Aber selbst wenn Sie recht haben und alle krank sind, dann brauchen sie vielleicht trotzdem Hilfe. Deshalb sollten wir unbedingt nachsehen.«

»Und wie? Haben Sie etwa einen Schlüssel für das Haus?« Patricia Eder sah so aus, als bezweifelte sie das ernsthaft.

Sabrina wandte sich wieder der alten Frau zu und schüttelte den Kopf, sodass ihre langen Haare flogen. »Sie vermutlich auch nicht, oder?«, fragte sie im Gegenzug, da sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand der neugierigen Frau freiwillig seine Hausschlüssel aushändigen würde. Denn dann könnte sie ja noch mehr herumschnüffeln, als sie das ohnehin schon tat, und würde früher oder später sämtliche Geheimnisse aller Nachbarn kennen.

»Nein, ich auch nicht. Deshalb sollten wir meiner Meinung nach die Polizei rufen.« Die Aussicht auf die Aufregung, die daraufhin in der ruhigen Straße herrschen würde, und all die Dinge, die es dann zu sehen gäbe, ließ ihre Augen erwartungsvoll glitzern.

Doch Sabrina schüttelte ablehnend den Kopf. »Und wenn es für alles doch eine vernünftige Erklärung gibt? Dann haben wir ganz umsonst die Pferde scheu gemacht. Haben Sie denn eine Ahnung, wie viel so ein Polizeieinsatz kostet?«

Patricia Eder riss erschrocken die Augen auf und schüttelte vehement den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie sich ausgerechnet, wie viel von ihrer Witwenrente übrigbleiben würde, wenn sie die Kosten eines Polizeieinsatzes abstottern müsste.

»Lassen Sie uns also erst einmal selbst nachsehen, ob es überhaupt Grund zur Beunruhigung und nicht vielleicht eine vernünftige Erklärung für alles gibt«, sagte Sabrina.

»Aber welche vernünftige Erklärung kann es denn Ihrer Meinung nach geben, dass heute früh niemand aus dem Haus kam?«

Sabrina zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es ja auch nicht. Vielleicht …« Sie dachte nach. »Vielleicht gab es in der Nacht einen Notfall. Eins der Kinder wurde möglicherweise krank, und Stefan und Birgit mussten es ins Klinikum bringen.«

»Und was geschah mit den anderen Kindern?«

»Sind vielleicht mit im Klinikum oder wurden wahrscheinlich eher zu Birgits Eltern gebracht. Schließlich wohnen die nur ein paar Kilometer entfernt.«

Die alte Frau dachte über Sabrinas Worte nach. »Das ist tatsächlich eine Möglichkeit. Daher sollten wir vorerst wirklich davon absehen, die Polizei zu rufen, solange es noch keinen Grund dafür gibt.«

»Dann begleiten Sie mich doch bitte nach drüben, um nachzusehen, ob etwas passiert ist.«

»Was wollen Sie denn tun? Wir kommen doch gar nicht ins Haus.«

»Wir können zumindest einmal ums Haus gehen und durch die Fenster einen Blick nach drinnen werfen. Und vielleicht steht ja eins der Fenster oder die Terrassentür offen. Oder die Kellertür ist unverschlossen.«

Noch bevor Sabrina zu Ende gesprochen hatte, hatte Patricia Eder langsam zu nicken begonnen. Die Aussicht, ausnahmsweise sogar auf dem Grundstück eines ihrer Nachbarn herumzuschnüffeln und durch die Fenster zu schauen, um zu erfahren, wie es drinnen aussah, schien sie zu erfreuen, denn sie zeigte trotz der ernsten Situation die Andeutung eines Lächelns. »Na gut, ich begleite Sie. Ich hole nur schnell meinen Schlüssel.«

Die alte Frau drehte sich um und ging ins Haus. Trotz ihres Alters war sie noch immer sehr agil und rüstig, was möglicherweise an der frischen Luft lag, die sie jeden Tag im Überfluss bekam, weil sie beinahe mehr Zeit in ihrem Vorgarten als im Haus verbrachte. Zumindest, solange Jahreszeit und Wetter es zuließen. Deshalb überraschte es Sabrina auch nicht, als Frau Eder im Nullkommanichts wieder mit einem Schlüsselbund in der Hand aus dem Haus kam und die Tür gewissenhaft hinter sich verschloss.

»Jetzt können wir gehen«, sagte sie und durchquerte entschlossenen Schrittes und mit einem Gesichtsausdruck, als wäre sie auf dem Weg in ein unvergessliches Abenteuer, ihren tadellosen Vorgarten.

Die beiden Frauen überquerten nebeneinander die Straße, auf der nur wenig Verkehr herrschte, weil sie inmitten eines reinen Wohngebiets lag. Erneut öffnete Sabrina das hüfthohe Türchen zum Vorgarten, woraufhin die unterschiedlichen Frauen das Grundstück ihrer Nachbarn betraten.

»Ich klingle am besten noch einmal«, schlug Sabrina vor. »Vielleicht reagiert ja jetzt jemand darauf.«

»Tun Sie das«, sagte Patricia Eder und sah sich aufmerksam um. Die Andeutung eines missbilligenden Ausdrucks war auf ihrem faltigen Gesicht zu sehen, denn natürlich entsprach der Vorgarten nicht den strengen Anforderungen, die sie an einen solchen stellte. Andererseits hatte Birgit Baumgartner drei Kinder und schon allein deshalb nicht so viel Zeit, sich um ihren Garten zu kümmern, wie die verwitwete Rentnerin, deren Ehe, ebenso wie die ihrer jungen Begleiterin, kinderlos geblieben war.

Sabrina zuckte mit den Schultern, überließ die alte Frau sich selbst und drückte auf den Klingelknopf, über dem ein Schild aus glasiertem Ton an der Wand hing, das wahrscheinlich von einem der Kinder im Kunstunterricht gefertigt worden war und sowohl den Nachnamen als auch die fünf Vornamen aller Familienmitglieder trug.

Nachdem der Klingelton, der bis nach draußen zu hören war und geeignet erschien, Tote aufzuwecken, verhallt war, warteten die beiden Frauen schweigend auf eine Reaktion aus dem Innern des Hauses. Doch eine solche erfolgte nicht. Keine Schritte, die sich der Tür näherten. Und auch kein Ruf nach Hilfe von einer möglicherweise hilflosen, bettlägerigen Person aus dem Obergeschoss. Stattdessen blieb weiterhin alles geradezu verdächtig ruhig.

»Sehen Sie?«, sagte Sabrina, obwohl es eben nichts zu sehen gab, und hatte ihre Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern gesenkt.

Patricia Eder nickte. »Und was jetzt?« Sie flüsterte ebenfalls.

»Wir gehen einmal ums Haus und sehen uns dabei um.«

Sie wandten sich nach rechts und gingen bis zum ersten Fenster, hinter dem die Küche lag. Sabrina legte die Hände seitlich an den Kopf, um das Sonnenlicht abzuschirmen, und spähte durch die Scheibe ins Innere.

»Und?«, fragte die alte Frau an ihrer Seite, die ebenfalls versuchte, durch die Scheibe zu blicken, außer ihrem eigenen Spiegelbild aber nichts erkennen konnte. »Sehen Sie was?«

»Nur die leere Küche.«

»Irgendetwas … Verdächtiges?«

Sabrina trat zurück, nahm die Hände herunter und schüttelte den Kopf. »Sieht alles ganz normal aus. Kommen Sie! Lassen Sie uns weitergehen.«

Sie bogen um die Ecke des Hauses, ließen das nächste Fenster aber unbeachtet, da es ebenfalls zur Küche gehörte. Erst beim ersten Fenster des Wohnzimmers blieben sie erneut stehen und spähten hindurch.

»Sieht ebenfalls alles ganz normal aus«, sagte Patricia Eder, die nun endlich etwas erkennen konnte, weil die Sonne durch das andere Wohnzimmerfenster und die Terrassentür in den Raum schien, und musterte abschätzig die Einrichtung, die ihr nicht besonders zu gefallen schien.

»Mmh«, machte Sabrina, als wäre sie enttäuscht, und trat zurück. »Vermutlich können wir durch die Terrassentür mehr erkennen. Kommen Sie!«

Die alte Frau folgte ihr um die nächste Hausecke zur Terrasse und sah sich um, während Sabrina erneut das Licht abschirmte und ins Wohnzimmer spähte. Doch dann gab die jüngere Frau plötzlich einen erschrockenen Laut von sich, trat zurück und sah Patricia Eder mit großen Augen an.

»Was ist?«, fragte die ältere Nachbarin. Nun war es an ihr, die rechte Hand auf ihre linke Brust zu legen, weil ihr Herz so rasch wie schon lange nicht mehr und so heftig schlug, dass es ein bisschen wehtat, was in ihr die traurige Erinnerung an den überraschenden Herzinfarkt ihres Mannes weckte. »Was haben Sie gesehen?« Ihrer entsetzten Mimik war förmlich anzusehen, dass sie sich soeben das furchtbarste Schreckensszenario ausmalte, das Sabrina im Wohnzimmer gesehen haben könnte und das vermutlich fünf massakrierte Leichen und jede Menge Blut beinhaltete.

Sabrina musste schlucken, bevor sie antworten konnte: »Da ist Blut!«

»Blut?«, wiederholte die alte Frau wie ein gealtertes Echo und seufzte erleichtert, weil sich das vermutlich nicht einmal halb so schlimm anhörte wie die Dinge, die ihr durch den Kopf gegangen waren. »Lassen Sie mich mal sehen!«

Sie trat neben die junge Frau an die Terrassentür und blickte durch das Glas, konnte jedoch nirgends das erwähnte Blut entdecken. Das Wohnzimmer sah genauso aus wie durch das andere Fenster, nur eben aus einer anderen Perspektive. Und wenn die Gardine vorgezogen wäre, hätten sie überhaupt nicht hineinsehen können. »Ich sehe kein Blut.«

»Sie müssen nach unten schauen!«, sagte Sabrina. »Sehen Sie doch nur, da auf dem Teppich, gerade mal zwei Meter von der Terrassentür entfernt.«

Patricia Eder senkte den Blick, bis sie endlich den roten Fleck auf dem Teppich sah, der die Form einer menschlichen Hand hatte. »Sieht aus wie Ketchup«, sagte sie und klang dabei, als wäre sie ein bisschen enttäuscht.

»Das ist kein Ketchup!«, widersprach Sabrina entschieden. »Denn wie sollte ein Handabdruck aus Ketchup in die Nähe der Terrassentür kommen?«

»Das weiß ich auch nicht.«

»Eben. Das ist ein blutiger Handabdruck.«

»Dann … dann sollten wir jetzt wohl doch besser die Polizei informieren«, sagte Patricia Eder mit zitternder Stimme.

Sabrina nickte mit ernster Miene und holte bereits ihr Smartphone aus der Gesäßtasche ihrer Jeans.

VIER

 

Hattenhofen, Valesistraße

8:21 Uhr

 

»Warum dauert das denn so lange?«, fragte der Bankräuber, der noch immer stark schwitzte und die beiden Sparkassenangestellten mit der Pistole bedrohte, die mit zitterndem Lauf zwischen ihnen hin- und herpendelte.

Seit der Mann die Waffe gezogen und damit seine wahren Absichten offenbart hatte, waren bereits zwanzig Minuten vergangen. Nachdem er ihnen stotternd mitgeteilt hatte, dass dies ein Überfall wäre, und das ganze Geld verlangt hatte, erklärte ihm Josef Aumüller, dass sie ihm sofort 5.000 Euro geben könnten, jeder höhere Betrag aber einen längeren Zeitraum erfordere, weil die Ausgabe hoher Geldsummen aus Sicherheitsgründen nur zeitverzögert erfolgte. Doch der Bankräuber wollte sich nicht mit 5.000 Euro zufriedengeben.

»Ich brauche aber viel mehr«, sagte er schon beinahe verzweifelt.

Josef Aumüller und Silvia Nollmann waren über das richtige Verhalten bei einem Banküberfall geschult worden, obwohl sie natürlich stets gehofft hatten, der Ernstfall würde nie eintreten. Aber da kleinere Zweigstellen auf dem Land ein beliebtes Ausflugsziel von Bankräubern waren, war es natürlich nur eine Frage der Zeit gewesen, dass es nun auch ihre Filiale traf.

Dennoch war der Filialleiter noch immer vergleichsweise entspannt und versuchte, wie er es gelernt hatte, beruhigend auf den nervösen Räuber einzuwirken, um seine Mitarbeiterin und sich nicht unnötig in Gefahr zu bringen.

Und auch die Sparkassenangestellte machte nach ihrer ersten erschrockenen Reaktion auf den Anblick der Pistole mittlerweile wieder einen gefassteren Eindruck, was vor allem daran lag, dass der Täter so ein Nervenbündel war. Wäre er kaltblütiger und entschlossener aufgetreten, dann hätte die junge Frau vermutlich viel ängstlicher reagiert. Aber die Tatsache, dass der Mann durch den Überfall restlos überfordert wirkte, schien eher an ihr Mitgefühl zu appellieren.

Am aufgeregtesten von allen dreien war ausgerechnet der Mann mit der Schusswaffe in der Hand, was natürlich ein erhöhtes Gefahrenpotential beinhaltete, da er jederzeit überreagieren oder aus Versehen abdrücken konnte. Vor allem deshalb bemühte sich Josef Aumüller darum, Ruhe auszustrahlen und den Mann bloß nicht zu einer Kurzschlusshandlung zu verleiten.

»Ich sagte Ihnen doch schon, dass die Ausgabe größerer Geldmengen nur zeitverzögert erfolgt«, erklärte er dem Mann nun ein weiteres Mal geduldig und sprach dabei in einem Tonfall, als würde er einem begriffsstutzigen Kunden das für einen Laien unverständliche Kleingedruckte in einem Kreditvertrag erläutern. »Sie sollten stattdessen lieber die 5.000 Euro nehmen und verschwinden, bevor die Polizei kommt.«

»Das kann ich nicht!«, sagte der Mann jedoch mit leicht weinerlicher Stimme und schüttelte den Kopf. »Ich brauche mehr Geld, sonst …« Er verstummte und presste die Lippen aufeinander, als hätte er bereits zu viel gesagt.

»Sonst …?«, fragte Silvia Nollmann mitfühlend.

»Das geht Sie nichts an!«, beschied sie der Mann barsch und schüttelte so heftig den Kopf, dass Schweißtropfen von seiner Stirn in alle Richtungen geschleudert wurden. »Und wieso sollte die Polizei so schnell kommen? Hat einer von Ihnen etwa den Alarmknopf gedrückt?«

»Ich nicht!«, sagte Silvia Nollmann sofort, schüttelte den Kopf und sah dann ihren Vorgesetzten fragend an.

Dieser zuckte verlegen mit den Schultern. »Das musste ich tun!«, rechtfertigte er sich.

Der Bankräuber sah ihn so wütend an, dass Aumüller dachte, er würde gleich erschossen werden. Doch dann schüttelte der Mann den Kopf. »Was soll’s? Sie machen hier ja auch nur Ihren Job. Tut mir wirklich leid, dass ich ausgerechnet Ihnen derartige Unannehmlichkeiten bereiten muss. Aber ich konnte es mir auch nicht aussuchen!« Er verzog das Gesicht, als würde er jeden Moment losheulen.

»Schon gut«, sagte Silvia Nollmann und sah aus, als würde sie mitheulen, sollte der Mann tatsächlich damit anfangen, während Josef Aumüller den Moment dazu nutzte, um darüber nachzudenken, dem Mann die Waffe zu entreißen, die dieser ganz vergessen zu haben schien und deren Lauf mittlerweile nach unten auf den Boden gerichtet war. Doch er verwarf den Gedanken sogleich wieder, weil er erstens nicht in der Lage war, vorherzusagen, wie der Mann darauf reagieren würde, und er zweitens bedauerlicherweise alles andere als ein Held war.

»Können Sie die Zeitverzögerung denn nicht irgendwie umgehen?«, fragte der Bankräuber, nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hatte.

Aumüller schüttelte bedauernd den Kopf. »Die Zeitverzögerung kann nur mit dem Administratorencode deaktiviert werden, und den haben wir natürlich nicht. Sonst hätte diese Sicherheitsmaßnahme auch keinen Sinn. Mit unseren einfachen Benutzercodes können wir lediglich Geldauszahlungen veranlassen.« Er seufzte schwer. Ihm wäre es auch entschieden lieber gewesen, der Mann hätte die Filiale verlassen, bevor die Polizei eintraf, denn dann wären Silvia Nollmann und er nicht länger in Gefahr gewesen. Die Aussicht, zusammen mit der jüngeren Kollegin als Geisel genommen zu werden, behagte ihm nämlich ganz und gar nicht. Aber darauf schien inzwischen alles hinauszulaufen, weil der Täter sich partout nicht mit dem kleineren Geldbetrag zufriedengeben wollte und Aumüller den Alarmknopf gedrückt hatte. Aber daran konnte er jetzt auch nichts mehr ändern, so gern er das auch getan hätte. Denn erstens hatte er aus einem Reflex heraus gehandelt, und zweitens war es Vorschrift, den Knopf zu drücken.

Er wandte den Kopf und sah in Richtung Eingangstür, die sie auf Veranlassung des Bankräubers abgesperrt hatten, damit kein Kunde die Bank betrat und sie störte. Seiner Meinung nach musste jetzt jeden Moment die Polizei eintreffen, doch draußen vor der Bank war noch nichts davon zu sehen. Er sah stattdessen die beiden Kolleginnen von der VR Bank, die sich nebenan im selben Gebäude befand, draußen stehen. Sie befanden sich ein paar Meter vom Eingang entfernt, sprachen in ihre Mobiltelefone und sahen in ihre Richtung. Zweifellos hatten sie den Überfall bemerkt, sich in Sicherheit gebracht und standen nun möglicherweise sogar mit der Polizei in direktem Kontakt.

Der Bankräuber hatte seinen Blick bemerkt, wandte den Kopf und sah die beiden Frauen draußen stehen. »Was ist denn da los?«, fragte er. Doch bevor einer der beiden Sparkassenangestellten ihm eine Antwort geben konnte, hörte man draußen mehrere Fahrzeuge vorfahren und mit quietschenden Reifen vor dem Gebäude anhalten. »Scheiße!«, sagte er und sah erneut so aus, als würde er jeden Moment losheulen. Er wandte den Kopf und sah die beiden Sparkassenangestellten nacheinander an.

Aumüller befürchtete nun doch ernsthaft, der Mann würde ihn gleich erschießen, weil er ihn durch das Drücken des Alarmknopfes in diese ausweglose Lage gebracht hatte. Doch dann schien er sich wieder zu fangen. Er hob die Waffe, sodass die zitternde Mündung wieder zwischen Aumüller und seiner Kollegin hin und her pendelte. Dann wies er mit der Pistole auf den Schreibtisch, an dem der Filialleiter bei seiner Ankunft gesessen hatte, und sagte zu diesem: »Setzen Sie sich wieder auf Ihren Platz und begehen Sie bloß nicht noch einmal eine derartige Dummheit! Ich bin in einer verzweifelten Situation und deshalb auch durchaus bereit, verzweifelte Maßnahmen zu ergreifen, um mein Ziel zu erreichen. Haben Sie mich verstanden?«

Aumüller nickte. »Ich habe Sie verstanden. Ich verspreche Ihnen, keine Dummheiten mehr zu machen. Aber was ist mit meiner Kollegin?«

»Die kommt mit mir zur Tür! Ich muss nachsehen, was da draußen los ist. Keine Angst, ihr passiert schon nichts, solange Sie beide vernünftig sind. Ich habe nämlich nicht vor, Ihnen etwas anzutun. Außer natürlich, ich werde in die Enge getrieben und dazu gezwungen. Und jetzt setzen Sie sich schon hin!«

Aumüller beeilte sich, der Anweisung des Mannes Folge zu leisten, und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Er hatte nicht gelogen und tatsächlich nicht vor, irgendwelche Dummheiten zu machen. Was hätte er auch tun können? Alles, was in seiner Macht stand, hatte er schon getan, indem er den Alarmknopf gedrückt hatte. Und für Heldentaten – beispielsweise dem Bankräuber die Waffe zu entreißen oder ihn niederzuschlagen – war er nicht der richtige Mann. Daher legte er beide Hände auf die Schreibtischplatte, sodass der andere Mann sie sehen konnte, und beobachtete dann, was weiter geschah.

Der Bankräuber wischte sich den Schweiß von der Stirn, da er ihm sonst in die Augen gelaufen wäre, und wandte sich dann an Silvia Nollmann, die nun doch etwas verängstigt wirkte, weil sie nicht genau wusste, was er vorhatte. »Los, kommen Sie! Lassen Sie uns zur Tür gehen. Sie gehen vor mir her und ich schaue über Ihre Schulter.« Und als die junge Frau nicht gleich reagierte, fügte er hinzu: »Ihnen passiert schon nichts. Wir sehen nur kurz nach, was da draußen los ist.«

Sie nickte zögerlich, wandte sich dann nach einem letzten Blick zu ihrem Vorgesetzten um und ging langsam zur Tür. Der Bankräuber folgte ihr leicht gebückt und in so geringem Abstand, dass sie sich beinahe berührten. Dabei achtete er darauf, dass sie sich immer zwischen ihm und der Tür befand.

Kurz vor der Tür legte er ihr die linke Hand auf die Schulter, damit sie stehenblieb, und sah über ihre rechte Schulter nach draußen. Was er dort sah, schien ihm nicht im Mindesten zu gefallen, denn er schüttelte den Kopf und sagte in weinerlichem Tonfall: »Scheiße, Scheiße, Scheiße aber auch! Was soll ich denn jetzt bloß tun?«

Aumüller konnte von seinem Platz aus nicht sehen, was draußen los war, vermutete jedoch, dass längst mehrere Streifenwagen vor der Tür standen und die Beamten vermutlich auch den Hinterausgang überwachten, sodass der Bankräuber in der Falle saß. Aus dem Banküberfall war damit eine Geiselnahme geworden. Und momentan wusste niemand, wie sich die Situation weiterentwickeln und die Geschichte ausgehen würde.

Nachdem der Bewaffnete sich ein Bild von der Lage auf dem Parkplatz vor dem Gebäude gemacht hatte, ließ er Silvia Nollmann langsam rückwärtsgehen, um sie weiter als Deckung benutzen zu können. Erst als sie von draußen nicht mehr gesehen werden konnten, nahm er seine Hand von ihrer Schulter und deutete mit der Pistole auf einen der beiden Besucherstühle vor Aumüllers Schreibtisch. »Setzen Sie sich da hin!«

Sie nahm rasch Platz und faltete die Hände im Schoß, als wollte sie beten.

»Polizei?«, fragte Aumüller.

Der Geiselnehmer wandte ruckartig den Kopf und sah ihn mit feucht glänzenden Augen an. »Natürlich die Polizei! Was dachten Sie denn, wer das ist? Der Paketbote mit einem Päckchen von Amazon etwa?«

Aumüller schüttelte den Kopf, wollte sich von dem Mann aber nicht einschüchtern lassen. Der Kerl war kein Profi, das sah man sofort, sondern ein blutiger Anfänger. Also konnte er ihn vielleicht dazu bringen, dass er jetzt, nachdem sein Plan, mit dem Geld zu entkommen, ohnehin gescheitert war, aufgab und sich der Polizei stellte, bevor noch jemand zu Schaden kam. »Was jetzt?«

»Was jetzt?«, wiederholte der Bankräuber, als hätte er nicht verstanden, was Aumüller von ihm wollte. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Er seufzte tief. »So war das nämlich nicht geplant.«

»Tut mir leid!«, sagte der Filialleiter und meinte es ernst. Es wäre für sie alle besser gewesen, wenn er nicht reflexartig den Alarmknopf gedrückt hätte. Und das Geld war ohnehin versichert.

Der Mann seufzte noch einmal, als täte es ihm ebenfalls leid. »Ist ja nicht Ihre Schuld. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass … dass die ganze Sache so lange dauert und so kompliziert wird.«

»Immerhin steht Ihnen das Geld jetzt zur Verfügung, wenn Sie es noch haben wollen«, sagte Aumüller und zeigte auf die Geldscheine, die mittlerweile von der Zeitschaltung freigegeben worden waren. »Aber vielleicht sollten Sie besser aufgeben, Ihre Waffe weglegen und sich der Polizei ergeben.«

Der Mann sah erst das Geld und dann Aumüller an. Dabei nickte er, als wäre auch ihm längst klar geworden, wie aussichtslos seine Lage war. »Es ist ohnehin nicht genug Geld. Ich brauche viel mehr, wenn ich …« Er verstummte und presste die Lippen aufeinander. Dann seufzte er wieder, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich habe versagt. Im Grunde wäre es tatsächlich besser, ich würde aufgeben, aber … aber das kann ich nicht. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel. Sie haben ja keine Ahnung, was ich gerade durchmache! Ich …« Eine gedämpfte Melodie, die Aumüller nicht erkannte, unterbrach den Bankräuber. Sie hatte ihren Ursprung in seiner linken Hosentasche. Er langte in die Tasche, holte sein Handy heraus und warf einen Blick auf das Display. Was er sah, schien ihn zu erschrecken, denn er riss die Augen auf und musste so laut schlucken, dass sogar die beiden Geiseln es hören konnten. »Verdammt, das sind sie!«, sagte er. Ein ängstlicher Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Er sah die beiden Bankangestellten an. »Ich muss telefonieren. Machen Sie mir bloß keinen Ärger!«

Der Filialleiter und seine Mitarbeiterin nickten gleichzeitig. Silvia Nollmann mit einem fragenden und Josef Aumüller mit einem nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht.

Aumüller fragte sich, wer der Anrufer war. Und wer waren die geheimnisvollen sie, von denen der Mann gerade gesprochen hatte? Warum schien er Angst vor ihnen zu haben? Und was hatten all seine kryptischen Bemerkungen zu bedeuten?

Der Bankräuber nahm den Anruf entgegen, drehte sich um und entfernte sich ein paar Schritte, bevor er sich mit zitternder Stimme meldete. »Ja?«

Er flüsterte zwar, dennoch konnte Aumüller wegen der besonderen Akustik des Schalterraums seine Beiträge zu dem Telefonat verstehen, zwischen denen er immer wieder pausierte und seinem Gesprächspartner aufmerksam zuhörte.

»Ich hab’s gesehen. Aber ich schwöre Ihnen, ich kann nichts dafür.«

Pause.

»Es dauerte so lange, bis das Geld verfügbar war. Es ist nicht meine Schuld. Das müssen Sie mir glauben!«

Pause.

»Bitte, Sie dürfen ihnen nichts antun.«

Pause.

»Was?«

Pause.

»Ja, ich tue alles, was Sie wollen. Nur tun Sie Ihnen nicht weh.«

Pause.

»Zwei Millionen und ein Fluchtwagen?«

Pause.

»Was sagten Sie gerade? Ich habe es leider nicht verstanden.«

Pause.

»Ich soll die …« Er drehte den Oberkörper und warf einen Blick auf die beiden Sparkassenangestellten, bevor er sich rasch und, wie es Aumüller erschien, mit einem entsetzten Gesichtsausdruck wieder abwandte.

»Ich weiß nicht, ob ich das …«

Pause.

»Nein, bitte nicht. Lassen Sie sie in Ruhe. Natürlich tue ich alles, was Sie sagen.«

Pause.

»Ja, natürlich. Aber vorher möchte ich mit meiner Frau …« Er verstummte, nahm das Handy vom Ohr und starrte es an. Dann steckte er es wieder ein und hob die Hand, als würde er sich Tränen aus dem Gesicht wischen. Nach einer Weile seufzte er laut hörbar und richtete sich auf, als hätte er sich innerlich einen Ruck gegeben. Anschließend wandte er sich um und kam zu seinen beiden Geiseln zurück.

Aumüller beobachtete ihn aufmerksam. Der Blick, den er ihnen während des Telefonats zugeworfen hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Außerdem die Versicherung des Mannes gegenüber seinem unbekannten Gesprächspartner, er würde alles tun, was dieser verlangte. Ihm schwante Übles. Am liebsten hätte er den Mann gefragt, mit wem er gesprochen hatte. Wer die Person war, die ihm am Telefon während eines laufenden Bankraubs, der sich inzwischen zu einer Geiselnahme entwickelt hatte, Anweisungen geben konnte und scheinbar ein Druckmittel gegen ihn in der Hand hatte. Doch vermutlich würde er ohnehin keine Antwort bekommen. Also wiederholte er stattdessen seine frühere Frage: »Was jetzt?«

Der Geiselnehmer erwiderte seinen Blick aus geröteten Augen. »Jetzt warten wir darauf, dass sich die Polizei bei uns meldet.«

»Könnte ich vielleicht vorher noch schnell auf die Toilette gehen?«, fragte Silvia Nollmann. »Ich muss wirklich ganz dringend.«

FÜNF

 

Fürstenfeldbruck, Stadtteil Neulindach, Föhrenstraße

9:20 Uhr

 

Bedauerlicherweise hatte er es nur allzu oft mit dem unerfreulichen und meist auch unappetitlichen Anblick eines Leichnams zu tun, wenn er an einen Tatort gerufen wurde. Deshalb war es für Hauptkommissar Franz Schäringer von der Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck eine erfreuliche Ausnahme von der Regel, dass es dieses Mal nur ein roter Handabdruck auf dem Wohnzimmerteppich war, der sein Erscheinen an diesem Ort notwendig hatte werden lassen. Gleichwohl war ihm natürlich bewusst, dass diese Geschichte ebenfalls todernst sein und am Ende mit dem Fund einer Leiche enden konnte. Doch noch klammerte sich Schäringer an die beständig schwindende Hoffnung, dass der rote Abdruck, der die Größe einer Kinderhand hatte, eine ganz harmlose Erklärung hatte und es sich gar nicht um Blut, sondern nur um Ketchup oder Marmelade handelte, obwohl weder der Geruch noch das Aussehen diese Hoffnung nährte.

»Und?«, fragte er und beugte sich ein Stück weiter nach vorn, um den Handabdruck noch genauer in Augenschein nehmen zu können. »Handelt es sich um Blut? Und wenn ja, ist es auch menschliches Blut?«

Der Adressat seiner Fragen seufzte tief und schüttelte den Kopf. Christian Krautmann, der Leiter der Abteilung Spurensicherung und -auswertung, hob den Kopf und sah Schäringer tadelnd an, wobei die Gläser seiner randlosen Brille seine funkelnden Augen enorm vergrößerten. »Ein bisschen Geduld musst du schon haben, Franz. Erstens ist ein alter Mann wie ich kein D-Zug, und zweitens benötigt der Test ein paar Minuten Zeit, um ein korrektes Ergebnis zu liefern.«

Krautmann übertrieb, denn mit seinen 55 Jahren war er nicht nur zwei Jahre jünger als sein Kollege und Freund Schäringer, sondern nach heutigen Maßstäben noch lange kein alter Mann. Er hatte einen runden Kopf, der in der Mitte seiner Schädeldecke mittlerweile so spärlich mit dunklem Haar bewachsen war, dass er täglich immer mehr Aufwand betreiben musste, um die sich ausbreitende Kahlstelle durch erstaunlich kreative Kämmtechniken notdürftig zu verdecken.

»Und ich dachte, dein toller Test liefert uns ruckzuck das Ergebnis«, sagte Schäringer und deutete auf den Teststab in Krautmanns Hand, der ihn eher an das Utensil für einen Schwangerschaftstest erinnerte.

Allerdings ging es hier nicht um die Feststellung einer Schwangerschaft, sondern darum, die rote Substanz auf dem Teppich, die die Form und Größe einer Kinderhand hatte, daraufhin zu überprüfen, ob es sich um menschliches Blut handelte. Dazu hatte Krautmann ein paar Flocken der getrockneten Substanz in destilliertem Wasser aufgelöst, anschließend in einem Röhrchen gesammelt und tröpfchenweise auf den Teststab gegeben. Nun warteten sie auf das Ergebnis.

»Von ruckzuck war nie die Rede«, sagte Krautmann, der in seinem partikeldichten und flusenfreien Schutzanzug, der verhindern sollte, dass er den Tatort kontaminierte, vor Schäringer kauerte, der wiederum weiße Einweg-Überschuhe trug. »Ich sagte nur, dass wir in ein paar Minuten ein Ergebnis haben. Und diese Zeitspanne ist noch nicht um. Wieso bist du eigentlich so ungeduldig? Hast du heute etwa noch etwas Wichtigeres vor?«

Schäringer schüttelte den Kopf. Er wusste selbst nicht, woher seine Ungeduld kam, die für ihn eher untypisch war. Aber vermutlich lag es daran, dass er einfach nur Gewissheit darüber haben wollte, ob sie es hier tatsächlich mit menschlichem Blut und damit wahrscheinlich auch mit einem Gewaltverbrechen zu tun hatten. Dabei machte ihm vor allem die Größe des Handabdrucks zu schaffen, denn Verbrechen an Kindern waren seiner Meinung nach das Furchtbarste, mit dem man als Kriminalbeamter konfrontiert werden konnte. Am liebsten wäre es ihm daher, wenn der Test ergab, dass es sich nicht um menschliches Blut handelte, denn dann müsste er sich um das Kind, das den Abdruck hinterlassen hatte, auch keine Sorgen machen. Allerdings sagte ihm sein Bauchgefühl, das sich in diesen Dingen nur selten irrte, dass diese Hoffnung vermutlich vergebens war.

Der Kriminalhauptkommissar richtete sich auf, weil es wenig Sinn hatte, weiterhin auf den Handabdruck zu starren, der ihm sein Geheimnis ohnehin erst offenbaren würde, sobald Krautmanns Test abgeschlossen war. Als er wieder aufrecht stand, überragte er den kauernden Kollegen wie ein Leuchtturm, denn er war ein Meter neunzig groß. Er hatte dichtes, aschblondes Haar, das kaum graue Stellen aufwies, und trug einen mittelgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte mit schmalen grauen und hellblauen Querstreifen.

»Okay«, sagte Krautmann, nachdem er erneut einen Blick auf den Teststab geworfen hatte, und richtete sich dann ächzend auf. »Wir haben ein Ergebnis.«

»Und?«

»Schau selbst!« Krautmann zeigte Schäringer die Vorderseite des Teststabs.

Der Kriminalhauptkommissar sah zwei Vertiefungen. In einer davon waren zwei blaue Linien zu sehen. Er runzelte die Stirn und sah seinen Freund fragend an. »Und was bedeutet das jetzt?«

»Es ist so, wie du vermutlich schon befürchtet hast«, sagte Krautmann und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Es handelt sich nämlich eindeutig um menschliches Blut.«

Schäringer seufzte und senkte den Blick, bis er wieder den Handabdruck sah. Auch wenn das Ergebnis des Bluttests nicht so ausgefallen war, wie er es sich erhofft hatte, hatten sie jetzt wenigstens Gewissheit und konnten sich an die Arbeit machen, um aufzuklären, was auch immer an diesem Ort passiert war und in letzter Instanz dazu geführt hatte, dass der blutige Handabdruck eines Kindes auf dem Teppich gelandet war.

»Habt ihr im Haus noch andere Blutspuren entdeckt?«

Krautmann schüttelte den Kopf. »Bislang noch nicht. Zumindest keine sichtbaren. Aber sobald wir die Sicherung aller Spuren abgeschlossen haben, werden wir das ganze Haus mit Luminol einsprühen, um nach verborgenen Blutspuren zu suchen.«

Auch wenn Schäringer in spurentechnischer Hinsicht ein Laie war, wusste er immerhin, dass Luminol bei der Spurensuche verwendet wurde, um sogar kleinste, sonst schwer nachweisbare Blutspuren sichtbar machen zu können. Dazu wurden die zu untersuchenden Flächen mit einer Mischung aus Luminol und Wasserstoffperoxid eingesprüht. War Blut vorhanden, reagierte der Blutfarbstoff Hämoglobin mit der Luminol-Lösung, worauf ein bläuliches Leuchten, eine sogenannte Chemolumineszenz, auftrat, das im Dunkeln und vor allem bei Verwendung einer forensischen Lichtquelle sichtbar wurde.

Schäringer nickte. »Sag mir bitte Bescheid, wenn ihr noch etwas findet.«

»Selbstverständlich. Und was hast du jetzt vor?«

»Ich seh mich mal ein bisschen um, damit ich ein Gefühl für diesen Ort bekomme. Vielleicht hilft es mir ja, endlich zu verstehen, was hier passiert ist.«

»Gut. Wir sind sowieso fast fertig mit der Spurensuche. Wo steckt eigentlich Baum? Hat der etwa wieder mal verschlafen?«

Kriminalkommissar Lutz Baum war Schäringers Mitarbeiter, der Schwierigkeiten hatte, zeitig aus den Federn zu kommen, und deshalb regelmäßig später als alle anderen am Tatort eintraf. Doch ausnahmsweise musste Schäringer seinen jüngeren Kollegen in Schutz nehmen.

»Lutz befragt gerade die Nachbarn. Vielleicht hat ja jemand letzte Nacht eine Beobachtung gemacht, die endlich Licht ins Dunkel bringt.«

»Schon eine Idee, was hier passiert sein könnte?«

Schäringer schüttelte mit betrübter Miene den Kopf und verzichtete darauf, erneut den roten Handabdruck anzusehen, der eine stumme Mahnung war, dass möglicherweise mehrere Menschenleben in Gefahr waren, darunter das von drei Kindern, und die Zeit drängte. Aber ohne konkrete Ansatzpunkte konnten sie momentan nichts anderes tun, als die wenigen Spuren zu sichern und auszuwerten. Und ohne einen Augenzeugen dessen, was geschehen war, hatten sie nicht einmal eine Vorstellung davon, ob hier überhaupt ein Gewaltdelikt vorlag oder es nicht doch eine völlig harmlose Erklärung für alles gab.

»Bislang wissen wir nur, dass die komplette Familie Baumgartner von gestern auf heute spurlos verschwunden ist. Der Vater ist nicht in der Arbeit erschienen, die beiden älteren Kinder sind nicht zur Schule gegangen, und das kleine Mädchen wurde nicht in den Kindergarten gebracht. Außerdem hatte die Mutter heute Vormittag eine Verabredung mit einer Freundin. Als sie nicht aufmachte und es der Freundin zusammen mit einer Nachbarin komisch vorkam, dass heute früh niemand aus dem Haus gekommen war, überprüften sie das Haus und entdeckten den Abdruck.« Schäringer wies auf den fünffingrigen Blutfleck, ohne ihn noch einmal anzusehen. »Hier im Haus sieht alles nach einem überstürzten, ungeplanten Aufbruch aus. Die Portmonees der beiden Erwachsenen mit ihren Ausweisen sind noch da, ebenso die Schlüssel für das Auto, das im Übrigen in der Garage steht. Die Betten sind ungemacht und zerwühlt, als wären alle im Schlaf überrascht worden. Außerdem wurde die Kellertür von außen aufgebrochen. Es sieht also momentan ganz danach aus, als sei jemand mitten in der Nacht ins Haus eingebrochen, habe alle aufgeweckt und sie dazu gebracht, das Haus zu verlassen. Aber wie genau und aus welchem Grund er das tat, ist noch immer ein Rätsel. Ebenso wie die Frage, wo die Familie sich jetzt aufhält.«

»Und ob überhaupt noch alle am Leben sind«, ergänzte Krautmann.

Doch Schäringer schüttelte den Kopf. »Wieso sollte der oder vermutlich eher sollten die Entführer die Leute erst in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von hier wegbringen, um sie dann zu töten? Wenn es das Ziel gewesen wäre, sie umzubringen, dann hätte man das auch mit wesentlich geringerem Aufwand hier tun können. Deshalb gehe ich momentan davon aus, dass die Baumgartners noch leben.«

»Und der Handabdruck? Der Größe nach stammt er von einem kleinen Kind.«

Schäringer sah den Abdruck nun doch wieder an und nickte. »Das stimmt. Aber ich habe beim besten Willen keine Erklärung, was er zu bedeuten hat und aus welchem Grund er hier hinterlassen wurde.«

»Dann sieh dich mal ein bisschen um. Vielleicht entdeckst du ja etwas, das dir weiterhilft. Ich bin mir sicher, dass du früher oder später schon herausfindest, was hier geschehen ist.«

»Früher wäre besser«, sagte Schäringer, der noch immer auf den Blutfleck starrte.

»Du schaffst das schon, Franz!«, machte ihm Krautmann Mut. »Meine Leute und ich suchen inzwischen weiter. Vielleicht finden wir ja noch etwas, das endlich Licht ins Dunkel bringt.«

»Was ist mit Fingerabdrücken an der aufgebrochenen Kellertür?«

Krautmann schüttelte den Kopf. »Sieht so aus, als wäre alles gründlich abgewischt worden. Im restlichen Haus fanden wir zwar unzählige Abdrücke, aber ich gehe mal davon aus, dass die Entführer keine hinterlassen haben und die gefundenen daher allesamt von den Bewohnern stammen.«

»Wäre ja auch zu schön gewesen«, sagte Schäringer, hob den Blick und zuckte mit den Schultern. »Ich lass dich dann mal allein und seh mich um.«

Krautmann hob zum Abschied die Hand und drehte sich dann weg, um die Utensilien für den Bluttest in seinem Spurensicherungskoffer zu verstauen, den er vor der Terrassentür abgestellt hatte.

Schäringer wandte sich ebenfalls ab und verließ das Wohnzimmer, in dem er sich bereits ausgiebig umgesehen hatte, ohne dass ihm etwas aufgefallen wäre.

Während er ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse, die sich im Wesentlichen auf das beschränkten, was er soeben mit Krautmann besprochen hatte, im Kopf hin und her wendete und neu anordnete, um daraus unter Umständen neue Erkenntnisse zu gewinnen und vor allem die Frage zu klären, was sich letzte Nacht in diesem Haus abgespielt und zum spurlosen Verschwinden einer ganzen Familie geführt hatte, sah er sich die Fotos an, die im Flur an der Wand hingen.

Die Aufnahmen, die alle dasselbe Format aufwiesen und in identischen Rahmen steckten, waren so aufgehängt worden, dass sie eine Bilderserie ergaben. Erst allmählich begriff Schäringer, dass die Fotos die Entwicklung von einem jungen Hochzeitspaar hin zu einer fünfköpfigen Familie zeigten. Jedes Jahr war ein neues Foto hinzugekommen. Auf der ersten Aufnahme – nach der Anzahl der seitdem hinzugekommenen Bilder musste es vor dreizehn Jahren entstanden sein – war nur das junge Paar zu sehen, die Frau im weißen Hochzeitskleid und der Mann im schwarzen Anzug. Auf dem Bild vom nächsten Jahr trug die Frau bereits ein Baby auf dem Arm, das auf den folgenden zwei Fotos zu einem kleinen Mädchen heranwuchs und dann einen Bruder bekam. In den kommenden drei Aufnahmen wurden beide Kinder rasch größer, während die Eltern lediglich alterten. Dann, vor fünf Jahren, tauchte erneut ein Baby als Neuankömmling auf dem Foto auf und komplettierte die Familie.

Als Schäringer zum letzten Foto kam, machte er einen Schritt nach vorn, um es ganz aus der Nähe betrachten zu können. Die Aufnahme war vermutlich erst wenige Wochen oder Monate alt. Alle lächelten in die Kamera und erweckten den Eindruck einer rundum glücklichen Familie. Doch war das tatsächlich so? Oder gab es vielleicht dunkle Geheimnisse, die unter der glatten Oberfläche verborgen waren? Geheimnisse, die etwas mit dem jetzigen Verschwinden der Familie zu tun hatten? Schließlich musste es einen Anlass dafür gegeben haben, denn Familien verschwanden nicht einfach so von heute auf morgen, wenn es dafür nicht einen triftigen Grund gab.

Schäringer seufzte und schüttelte den Kopf, denn sosehr er sich auch den Kopf zermarterte, er kam der Lösung keinen Schritt näher. Allerdings war das auch kein Wunder, denn dafür wusste er momentan einfach noch zu wenig über die verschwundenen Leute. Bislang sah es nämlich ganz danach aus, als handelte es sich um eine durchschnittliche Familie ohne größere Sorgen und Probleme. So gab es allem Anschein nach weder finanzielle Not noch größere innerfamiliäre Streitigkeiten, die ein Grund für das Verschwinden gewesen sein könnten. Umso mysteriöser erschien es ihm. Aber vielleicht brachte Lutz Baums Befragung der Nachbarn erste Erkenntnisse, dass sie hier alles andere als die sprichwörtliche Bilderbuchfamilie vor sich hatten.

Der Kriminalbeamte nahm die letzte Aufnahme von der Wand und holte das Foto aus dem Rahmen. Er legte den Rahmen auf die Kommode, auf der auch das schnurlose Telefon stand, und betrachtete das Bild noch einmal. Dabei sah er sich vor allem die drei Kinder an. Die Größe des Handabdrucks im Wohnzimmer ließ ihn vermuten, dass er von dem Nesthäkchen der Familie namens Hannah stammte. Aber was war geschehen, dass er überhaupt entstanden war? Vor allem vor dem Hintergrund, dass es keine anderen sichtbaren Blutspuren gab. Stammte das Blut von dem kleinen Mädchen? Und falls ja, was war mit ihm geschehen? Wie schwer war es verletzt? Und ging es ihm gut? Oder war es etwa nur sein Handabdruck, aber das Blut eines der beiden Erwachsenen oder der Geschwister?

Erneut hatte Schäringer das unbestimmte Gefühl, als würde ihm die Zeit unter den Nägeln brennen. Doch momentan konnte er nichts dagegen tun. Und blinder Aktionismus ohne Sinn und Verstand würde in dieser frühen Phase der Ermittlungsarbeit, in der gewöhnlich die Weichen für den Erfolg oder Misserfolg gestellt wurden, mehr schaden als nützen. Außerdem war es noch nicht einmal hundertprozentig sicher, ob die Mordkommission für diesen Fall überhaupt zuständig war. Doch als die Besatzung des Streifenwagens nach dem Anruf der Nachbarin in das Haus eingedrungen war und die Bewohner weder lebend noch tot vorgefunden, dafür aber den blutigen Handabdruck entdeckt hatte, waren automatisch Baum und er informiert worden, so als wären alle wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sich hier ein Gewaltverbrechen zugetragen hatte, das zum Tod mindestens eines Menschen, wenn nicht sogar einer ganzen Familie geführt hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---