Totengesicht - Eberhard Weidner - E-Book

Totengesicht E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Der 35-jährige Richard »Rex« König ist Comiczeichner und besitzt eine unheimliche Gabe. Seit einem Unfall kann er die Totengesichter anderer sehen, sobald er sie berührt. Somit weiß er, dass sie binnen 72 Stunden sterben werden. Anfangs konnte er nicht glauben, dass er diese Fähigkeit besitzt, die er eher als Fluch ansieht, denn das Wissen um den Tod der Menschen belastet ihn sehr. Doch nachdem es immer öfter vorkam, muss er seine Gabe schließlich akzeptieren. Allerdings kann er sich nicht damit abfinden, dass er das Schicksal der todgeweihten Menschen nicht doch verändern und ihr Leben retten kann. Deshalb verfolgt er sie, sobald er das Antlitz des Todes in ihren Gesichtern gesehen hat. Allerdings gelang es ihm bisher kein einziges Mal, dem Schicksal Knüppel zwischen die Beine zu werfen und den Tod zu überlisten. Als Rex eines Tages in der U-Bahn von einer jungen Frau berührt wird und ihr Totengesicht sieht, folgt er auch ihr wider besseres Wissen bis zu ihrer Wohnung. Und als er ihren Namen vom Türschild ablesen will, um später noch einmal wiederzukommen, bemerkt er, dass die Tür einen Spaltbreit offen steht. Er stößt die Tür an und entdeckt einen Mann mit einer schallgedämpften Waffe, der hinter der Biegung des Gangs verschwindet und offenbar Böses im Sinn hat. Ohne groß zu überlegen, betritt Rex die Wohnung, um den Mann irgendwie zu überwältigen und das Leben der Frau zu retten. Er ahnt nicht, dass er mit diesem Schritt unwiderruflich in eine abenteuerliche und tödliche Geschichte gerät und sein Leben mehr als einmal am sprichwörtlichen seidenen Faden hängt ...

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Inhaltsverzeichnis

 

COVER

TITEL

PROLOG

1

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3

4

5

6

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8

9

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EPILOG

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

IMPRESSUM

PROLOG

 

Ich wusste, dass der Mann, den ich verfolgte, demnächst sterben würde, denn ich hatte das Antlitz des Todes in seinem Gesicht gesehen.

Dabei war ich ihm erst vor wenigen Minuten in der U-Bahn zum ersten Mal begegnet, als sich unsere Hände im dichten Gedränge zufällig berührten. Ich zog sofort erschrocken meine Hand zurück und wandte den Kopf in seine Richtung. Doch es war zu spät. Die Berührung, die lediglich den Bruchteil eines Augenblicks gewährt hatte, reichte aus, um mir zu zeigen, was ich eigentlich gar nicht sehen und wissen wollte.

Der Mann war dem Tode geweiht!

Er sah mich ebenfalls an, doch den Ausdruck in seinem Gesicht konnte ich nicht erkennen, da mich stattdessen ein Totengesicht anstarrte. Ich erschauderte unwillkürlich am ganzen Körper und schloss die Augen, als könnte ich das Bild auf diese Weise zum Erlöschen bringen. Doch als ich sie wieder öffnete und ihn erneut ansah, war die Erscheinung – oder worum auch immer es sich dabei handelte – noch immer da.

Es sah aus, als würde ich mit dem rechten und dem linken Auge zwei unterschiedliche Bilder sehen, die in meinem Kopf übereinander projiziert wurden. Ich erkannte zwar die Gestalt des Mannes und die Umrisse seines Kopfes. Doch anstelle seines Gesichts sah ich einen düsteren Fleck in der Form eines Totenschädels, der es ausfüllte und die natürlichen Gesichtszüge unkenntlich machte. Ich hatte so etwas in den letzten anderthalb Jahren schon öfter gesehen, als mir lieb sein konnte. Doch es war jedes Mal wieder aufs Neue erschreckend und furchtbar.

Nach ein paar Sekunden verblasste der schattenartige Totenkopf, der sich wie eine düstere Unheilwolke über seine Gesichtszüge gelegt hatte, allmählich wieder, und sein normales Gesicht kam zum Vorschein. Er sah mich zornig und gleichzeitig irritiert an. Vermutlich war er ratlos und wütend, weil ich ihn so erschrocken angestarrt hatte. Wir wandten gleichzeitig betreten den Blick ab und sahen in verschiedene Richtungen.

Dennoch konnte ich nicht ungeschehen machen oder vergessen, was ich gesehen hatte.

Denn es bedeutete, dass er sterben würde!

Noch wusste ich zu wenig über die Gabe, die mir allerdings eher wie ein Fluch erschien und die ich erst seit etwa 18 Monaten besaß. Eines wusste ich jedoch mit Sicherheit: Diejenigen, in deren Gesichtern ich das Antlitz des Todes sah, hatten allerhöchstens noch 72 Stunden zu leben.

Als die U-Bahn langsamer wurde, weil sie sich der nächsten Station näherte, überlegte ich fieberhaft, was ich tun sollte. Ich wusste, dass jeder Versuch, den Mann vor seinem Schicksal bewahren zu wollen, zum Scheitern verurteilt war. Zumindest hatte es in all den vorherigen Fällen, in denen ich es versucht hatte, nicht funktioniert. Ich ging daher davon aus, dass sein Tod schon jetzt vorherbestimmt war und von niemandem verhindert werden konnte. Aber vielleicht war es ja dieses Mal anders. Vielleicht konnte ich es dieses Mal schaffen.

Ich seufzte, als die U-Bahn mit einem Ruck anhielt, der mich einen halben Schritt nach vorn taumeln ließ. Ich hatte es nämlich nicht mehr gewagt, mich irgendwo festzuhalten. Ich hatte Angst, ich könnte noch einmal versehentlich direkten Körperkontakt zu jemandem bekommen, der zufälligerweise innerhalb der nächsten drei Tage sterben würde. Denn nur dann war ich in der Lage, das Totengesicht der betreffenden Person zu sehen. Zum Glück war das Gedränge so groß, dass ich nicht umfallen konnte. Allerdings stieß der Mann vor mir, den ich anrempelte, ein ärgerliches Grunzen aus.

Ich behielt meine bloßen Hände dicht am Körper, als ich in der Menge wie in einem Fischschwarm aus der U-Bahn und auf den Bahnsteig geschwemmt wurde. Vielleicht war es doch langsam an der Zeit, dass ich mir auch im Sommer dünne Handschuhe anzog, um mich vor unliebsamen Berührungen und dem Anblick der Totengesichter zu schützen. Auch wenn meine Hände darin schwitzen würden und ich damit vermutlich wie der letzte Idiot aussah. Aber ich wollte nicht wissen, ob die Menschen, denen ich begegnete, demnächst sterben mussten, da dieses Wissen mich stets vor die alles entscheidende Frage stellte, was ich damit anfangen sollte. Sollte ich dem Schicksal, das ich anscheinend ohnehin nicht verändern konnte, einfach seinen Lauf lassen und untätig bleiben? Oder sollte ich die dem Tode geweihte Person verfolgen, weil ich die Hoffnung trotz aller Fehlschläge in der Vergangenheit noch immer nicht völlig aufgegeben hatte? Denn wozu sollte meine Gabe – oder der Fluch – denn sonst gut sein, wenn ich gar nicht in der Lage war, etwas zu verändern?

Ohne dass es mir sofort bewusst geworden war, hatte ich mich an den Rand der Menschenmasse schwemmen lassen, die wie eine Herde Schafe zur Rolltreppe strömte. Ich blieb vor der gekachelten Wand der U-Bahnstation stehen, wandte mich um und ließ meinen Blick über die Menge schweifen. Es sah so aus, als hätte ich meine Entscheidung, was ich tun sollte, längst gefällt, völlig intuitiv und ohne bewusst darüber nachzudenken.

Zuerst dachte ich, der Mann, dessen Totengesicht ich gesehen hatte, wäre längst weg oder in der U-Bahn geblieben, denn die Menge vor mir lichtete sich merklich. Doch dann entdeckte ich ihn. Er hatte sich etwas zurückfallen lassen, um dem dichtesten Gedränge zu entgehen, und gehörte zu den Nachzüglern, die sich in Richtung Rolltreppe bewegten.

Obwohl ich ihn nur von hinten sah, erkannte ich ihn dennoch sofort wieder. Er trug einen schwarzen, für meine Begriffe sehr teuer wirkenden zweiteiligen Businessanzug und schwarze Budapester. Sein kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar war schon leicht ergraut und auf der linken Seite seines Kopfes gescheitelt. Der Scheitel war schnurgerade und sah aus, als wäre er mit einer Axt gezogen worden. Außerdem trug er eine Brille, deren Bügel ich hinter seinen zu groß geratenen, leicht abstehenden Ohren erkennen konnte. Ich wusste auch, dass er eine dunkelbraune Aktentasche bei sich hatte, obwohl ich sie von hinten nicht sehen konnte, denn er trug sie mit beiden Händen umklammert vor der Brust, als hätte er Angst, jemand könnte sie ihm entreißen. Die Tasche und die Art, wie er sie hielt, waren mir beiläufig aufgefallen, als ich ihn in der U-Bahn von vorn gesehen hatte, unmittelbar nachdem wir uns zufällig berührt hatten.

Ich fragte mich natürlich, was er bei sich hatte, dass er so besorgt darüber zu sein schien, es könnte ihm gestohlen werden. Es musste etwas Wichtiges sein. Andererseits konnte man im dichten Gedränge der U-Bahn, in der Taschendiebe leichtes Spiel hatten, nicht vorsichtig genug sein.

Bevor der Mann die Rolltreppe erreichte, setzte ich mich ebenfalls in Bewegung. Ich sah auf die Uhr, die über dem Bahnsteig hing. Es war kurz vor fünf Uhr am Nachmittag, doch ich hatte noch genügend Zeit, bevor ich mich in einem Café ganz in der Nähe mit einem Bekannten treffen wollte.

Im Gegensatz zu mir schien es der Todgeweihte jetzt allerdings doch eilig zu haben, denn er ging die Stufen der Rolltreppe hinauf, um schneller oben zu sein. Ich folgte seinem Beispiel und passierte all die anderen Leute, die es gemächlicher angingen und sich nach oben tragen ließen.

Die Rolltreppe brachte uns ins Freie und zurück ins helle Tageslicht. Zum Glück regnete es nicht, obwohl der Himmel dicht bewölkt und düster war, denn ich hatte keinen Schirm dabei. Einen längeren Spaziergang im Freien hatte ich schließlich nicht eingeplant gehabt, als ich von zu Hause losgegangen war.

Nachdem der Mann von der Rolltreppe auf den Bürgersteig getreten war, blieb er kurz stehen und sah sich um, als müsste er sich orientieren. Vielleicht war er in diesem Teil von München noch nie zuvor gewesen. Ich blieb auf der Stufe der Rolltreppe, auf der ich mich gerade befand, stehen und ließ mich den Rest der Strecke nach oben tragen, denn ich wollte ihn nicht einholen.

Zum Glück hatte er sich schon alsbald orientiert und setzte sich in Bewegung, bevor ich oben ankam. Er wandte sich nach rechts und marschierte zügig auf die nächste Straßenkreuzung zu. Zweifellos wollte er eine der Straßen überqueren, die sich dort trafen. Ich folgte ihm im selben Tempo, um ihn nicht zu verlieren. Als er am Straßenrand anhielt, weil die Fußgängerampel Rot zeigte, ging ich langsamer. Nachdem die Ampel auf Grün geschaltet hatte, eilte er weiter und überquerte die Straße. Auch ich erhöhte mein Tempo wieder und bemühte mich, mit ihm Schritt zu halten.

So ging es die nächsten 20 Minuten. Allerdings wunderte ich mich schon bald, wohin der andere wollte, denn er schien kein festes Ziel zu haben. Stattdessen marschierte er kreuz und quer durch die Straßen. Immer wieder änderte er scheinbar willkürlich die Richtung. Ich kannte mich in dieser Gegend ein wenig aus, da ich schon öfter in der Nähe zu tun gehabt hatte, dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, wohin der Mann unterwegs war. Schon nach wenigen Minuten erschien es mir beinahe so, als wollte der Todgeweihte durch sein unvorhersehbares Verhalten und seine überraschenden Richtungsänderungen etwaige Verfolger abhängen. Andererseits sah er sich kein einziges Mal um, ob er tatsächlich verfolgt wurde. So bestand auch nie die Gefahr, dass er mich entdecken könnte. Dann kam mir der Gedanke, dass er möglicherweise eine Verabredung hatte, zu früh dran war und nun die Zeit totschlug, indem er scheinbar ziellos durch die Gegend wanderte und sich seinem Ziel nicht direkt, sondern über Umwege näherte.

Ich fragte mich aber auch, ob sein merkwürdiges Verhalten etwas mit dem Inhalt der Aktentasche zu tun hatte, die er die ganze Zeit über, selbst nachdem er aus dem dichten Gedränge der U-Bahn heraus war, fest an seine Brust presste und mit beiden Armen umklammert hielt. Und vielleicht hatte all das ja auch etwas mit seinem Tod zu tun, der ihn demnächst unweigerlich ereilen würde. Denn obwohl ich in seinem Gesicht das Antlitz des Todes gesehen hatte, wusste ich natürlich nicht, wie und woran er sterben würde. Die Totengesichter zeigten mir nur, dass jemand starb, jedoch nicht die Ursache seines Todes. In den letzten Monaten war ich diversen Todgeweihten gefolgt, die innerhalb der nächsten 72 Stunden aus den unterschiedlichsten Gründen verstorben waren: Krankheit, Unfall oder Selbstmord. Der Tod selbst kam dabei für mich im Gegensatz zu den Todgeweihten selbst nicht überraschend, nur der exakte Zeitpunkt und die Ursache waren mir unbekannt.

Nach 20 Minuten scheinbarem Umherirren betrat der Mann schließlich ein Parkhaus.

Ich runzelte irritiert die Stirn, während ich nachdachte. Denn wenn der andere dort seinen Wagen geparkt hatte, einstieg und wegfuhr, konnte ich ihm nicht länger folgen. Was sollte ich also tun? Ein Taxi rufen und mich an der Ausfahrt des Parkhauses postieren, um ihn abzufangen, wenn er herausfuhr? Wenn ich in dieser Gegend überhaupt so schnell ein Taxi bekam. Andererseits, argumentierte die rationalere Hälfte meines Verstandes, wäre es auch kein Beinbruch, wenn ich den Mann nicht weiter verfolgen könnte. Denn ihn retten und sein vorherbestimmtes Schicksal verhindern konnte ich wohl ohnehin nicht.

Allerdings hatte ich die Hoffnung, irgendwann doch einmal etwas bewirken zu können, noch immer nicht aufgegeben. Nur deshalb folgte ich ihm bis ins Parkhaus und hoffte, dass ich schon irgendeine Möglichkeit finden würde, um ihm weiterhin auf den Fersen zu bleiben.

Ich hatte damit gerechnet, dass er am Ende der kurzen Schlange vor den Kassenautomaten stehen bleiben würde, um zu bezahlen, und mich bereits nach einer günstigen Stelle umgesehen, an der ich ihn weiterhin im Auge behalten und darauf warten konnte, dass er weiterging. Doch er marschierte schnurstracks an der Schlange vor dem Automaten vorbei zur Treppe.

Wenn er nicht bezahlte, dann konnte er das Parkhaus auch nicht mit dem Wagen verlassen. Demnach hatte er allem Anschein nach gar nicht vor, sein Auto abzuholen. Was hatte er aber dann in einem Parkhaus zu suchen? Während ich selbst die Warteschlange passierte, fiel mir die Aktentasche wieder ein. Entweder wollte er sie im Auto deponieren und einschließen, oder er hatte vor, etwas aus seinem Wagen zu holen.

Ich nahm ebenfalls die Treppe und lief nach oben. Die Stufen und Absätze bestanden aus Stahlgittern und vibrierten lautstark unter meinen Schritten, obwohl ich möglichst leise auftrat. Allerdings konnte ich dadurch auch die Schritte des anderen hören und ihn durch die Lücken in den Gittern undeutlich erkennen, wenn ich nach oben sah. Auf diese Weise bekam ich auch genau mit, wann und wo er das Treppenhaus verließ und welche Parkebene er betrat.

Ebene 3 stand auf der grauen Stahltür, durch die er gegangen war. Ich wartete noch ein paar Sekunden, um ihm genügend Zeit zu geben, sich von der Tür zu entfernen, und mir gleichzeitig eine kurze Verschnaufpause zu gönnen, damit ich nach dem Treppensteigen wieder zu Atem kam. Erst dann öffnete ich die Tür vorsichtig einen Spaltbreit und spähte durch diesen auf die Parkebene.

Ich entdeckte den anderen Mann sofort, denn er entfernte sich, ohne sich umzusehen, mit großen Schritten von der Tür. Beruhigt, dass er schon weit genug weg war und mir nicht auflauerte, weil er unter Umständen bemerkt hatte, dass ich ihn verfolgte, öffnete ich die Tür so weit, dass ich durch den Spalt auf das Parkdeck schlüpfen konnte. Zum Glück knarrte die Tür beim Öffnen nicht, denn dann hätte er sich gewiss umgedreht. Und sobald er mich zu Gesicht bekäme, würde er mich sicher auch erkennen, weil ich ihn in der U-Bahn so entgeistert angestarrt hatte. Einer direkten Konfrontation wollte ich allerdings nach Möglichkeit so lange wie möglich aus dem Weg gehen, denn wie hätte ich ihm erklären können, warum ich ihm folgte, ohne dass er mich für einen durchgeknallten Irren hielt. Außerdem hatte ich festgestellt, dass andere Menschen es einem mitunter sehr übelnahmen, wenn man ihnen ins Gesicht sagte, dass sie spätestens in drei Tagen tot sein würden. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken, denn wer will schon wissen, dass er demnächst stirbt. Noch dazu, wenn man daran, so wie es bislang aussah, nicht das Geringste ändern konnte.

Ich ließ die Tür leise hinter mir ins Schloss gleiten, damit sie nicht zufiel, bevor ich meinen Weg fortsetzte. Allerdings ging ich nicht, so wie der andere es tat, auf der Fahrspur zwischen den geparkten Fahrzeugen, sondern benutzte die auf der rechten Seite abgestellten Autos als Deckung und bewegte mich zwischen ihnen und der Seitenwand entlang. So konnte ich mich jederzeit hinter ein Fahrzeug ducken, falls sich der andere doch plötzlich umsah, auch wenn er das bislang kein einziges Mal getan hatte.

Wie gut ich daran tat, zeigte sich keine zwanzig Sekunden später, denn urplötzlich blieb der Mann stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Barriere gerannt. Er schien angestrengt zu einem bestimmten Parkplatz zu starren. Dann holte er mit der freien Hand einen Zettel aus der Innentasche seines Jacketts und sah zuerst darauf und dann wieder zum Parkplatz, auf dem ein schwarzer BMW X6 stand. Mir kam es vor, als würde er die Nummer des Parkplatzes oder des Wagens mit der vergleichen, die auf dem Zettel stand. Schließlich nickte er und sagte etwas, das ich auf diese Distanz – uns trennten mindestens zehn Meter – allerdings nicht verstehen konnte.

Ich musste vorausgeahnt haben, was er als Nächstes tat, denn ich tauchte bereits ab und ging hinter dem Toyota in Deckung, noch ehe er begann, sich umzuwenden und in alle Richtungen zu sehen, als wollte er sichergehen, dass wirklich niemand in der Nähe und er vollkommen allein auf der Parkebene war. Nach zehn Sekunden, die ich in Gedanken abzählte, hob ich den Kopf wieder vorsichtig und spähte über das Autodach hinweg. Ich erschrak, als ich ihn nicht mehr sah, und richtete mich vollständig auf. Doch im selben Moment richtete auch er sich vor dem geparkten X6 auf, wandte sich rasch ab und entfernte sich mit eiligen Schritten.

Ich war verwirrt, daher ließ ich einige Momente verstreichen, ehe ich ihm folgte, und dachte nach. Da ich in Deckung gegangen war, um nicht entdeckt zu werden, hatte ich nicht gesehen, was der Mann in dieser Zeit getan hatte. Aber wenn er den Kofferraum, vor dem er gestanden hatte, geöffnet hätte, dann hätte ich das mit Sicherheit hören müssen. Was hatte er aber dann dort gemacht?

Da ich allein durch Nachdenken diese Frage nicht beantworten konnte, schüttelte ich kurzerhand den Kopf und beeilte mich, dem todgeweihten Mann zu folgen, der inzwischen das Treppenhaus auf der anderen Seite des Parkdecks erreicht hatte und soeben die Tür öffnete. Sobald er außer Sicht und die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, lief ich los, um nicht den Anschluss zu verlieren. Ich erreichte die Tür, auf der Ausgang Nord stand, nur wenige Sekunden, nachdem er verschwunden war, verschnaufte kurz und öffnete die Tür dann langsam. Ich lauschte und konnte seine Schritte auf den Gitterstufen der Treppe unterhalb meines Standorts hören.

Ich huschte ins Treppenhaus und schloss die Tür zum Parkdeck leise hinter mir. Dann ging ich ebenfalls die Stufen nach unten. Da ich nicht verhindern konnte, dass die Stahlgitterkonstruktion unter meinen Schritten erbebte und Lärm verursachte, bemühte ich mich, meine Schritte im Gleichklang mit denen des Mannes zu setzen, dem ich folgte. Allerdings waren auch noch andere Leute im Treppenhaus, kamen von den anderen Parkebenen oder waren zu diesen unterwegs, sodass ich nicht auffiel und nur einer unter vielen war.

Nachdem wir wieder unter anderen Menschen waren, fiel es mir leichter, ihm unauffällig zu folgen. Außerdem musste ich nicht mehr so großen Abstand halten, da ich mich in der Menge verstecken konnte. Als wir im Erdgeschoss ankamen, ignorierte der andere erneut die Kassenautomaten und ging in Richtung Ausgang. Ich schwamm erneut mit dem Strom, als ich ihm folgte, denn alle wollten rasch das Parkhaus verlassen.

Der Todgeweihte trat auf den Bürgersteig vor dem Gebäude. Wegen der anderen Menschen zwischen uns verlor ich ihn für einen Moment aus den Augen, doch dann konnte ich zwischen den Köpfen der anderen hindurch erkennen, dass er nach links und rechts sah, bevor er auf die Straße trat.

Erneut wurde mir die Sicht versperrt, als ein Zeitgenosse, der mich um mindestens einen halben Kopf überragte, sich vor mir einreihte. Doch das störte mich nicht, denn der andere Mann war nur wenige Meter vor mir und überquerte gerade die Straße, sodass ich ihn kaum verlieren würde.

In diesem Moment brüllte ein Motor wie ein wildes Raubtier ohrenbetäubend laut auf, dann kreischten Reifen auf dem Asphalt, als ein Auto vehement beschleunigt wurde. Ich hörte einen dumpfen Schlag, dem sich ein kurzer Augenblick atemberaubender Stille anschloss, als hielte für den Bruchteil einer Sekunde die ganze Welt den Atem an. Zahlreiche Menschen in meiner Umgebung schrien gleichzeitig, riefen unverständliche Worte oder stöhnten kollektiv auf, während das Gebrüll des Motors stetig leiser wurde, weil sich der Wagen mit hoher Geschwindigkeit sehr rasch entfernte. Dann war noch einmal das Lärmen seiner Reifen zu hören, als er in der Ferne zu schnell um eine Ecke bog.

Im ersten Moment wusste ich nicht, was geschehen war, da mir die Sicht zur Straße noch immer verwehrt war. Doch wie bei einem Puzzle, das ausschließlich aus Geräuschen bestand, setzte mein Verstand das Gehörte in eine furchtbare Ahnung um, die mir den Atem verschlug. Und das, obwohl ich schon vorher gewusst hatte, dass der Mann sterben würde, weil ich das Antlitz des Todes auf seinem Gesicht gesehen hatte. Aber dass es so schnell passieren würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

Ganz plötzlich, nachdem für kurze Zeit jede Bewegung in meiner unmittelbaren Umgebung erstarrt gewesen war, drängte alles nach vorn in Richtung Straße, um einen Blick auf das Unglück zu erhaschen, das sich dort abgespielt hatte. Auch ich schob mich rücksichtslos durch die Menschenmenge, achtete allerdings dennoch darauf, dass ich niemanden mit den bloßen Händen berührte. Ein Totengesicht und die Gewissheit, dass ich es auch dieses Mal nicht hatte verhindern können, reichten mir für einen Tag vollkommen.

Indem ich mich durch schmale Lücken zwängte und, wenn es sein musste, auch meine Ellbogen einsetzte, um mir Platz zu verschaffen, gelangte ich zum Rand des Bürgersteigs vor dem Zugang zum Parkhaus. Er schien eine unsichtbare Barriere für die Schaulustigen zu bilden, denn keiner wagte es, die Straße zu betreten, so als hätten alle Angst davor, ihnen könnte dasselbe widerfahren wie dem Mann im zweiteiligen schwarzen Businessanzug, der in absolut unnatürlicher und ungesunder Körperhaltung mitten auf der Straße lag.

Ich blieb ebenfalls an der Gehsteigkante stehen und starrte entsetzt auf den Mann, dem ich seit mindestens einer halben Stunde von der vollen U-Bahn bis hierher gefolgt war. Ich musste gar nicht näher heran, um zu erkennen, dass er tot war. Er lag auf dem Rücken. Sein linker Arm und der rechte Fuß waren so verdreht, wie es keiner lebenden Person, nicht einmal dem talentiertesten Schlangenmenschen, möglich gewesen wäre, ohne bleibende Schäden davonzutragen. Außerdem wurde die Blutlache, die sich um seinen zerschmetterten Schädel herum wie ein roter Heiligenschein auf dem Asphalt gebildet hatte, mit jeder Sekunde größer. Obwohl auch sein Gesicht deformiert und blutüberströmt war, hatte ich keine Zweifel, dass es der Mann war, dessen Totengesicht ich gesehen hatte. Als ich bemerkte, dass er keine Brille trug, überkamen mich zwar dennoch leichte Zweifel, doch als ich den Blick über die Straße schweifen ließ, entdeckte ich das verbogene, glaslose Gestell fünf Meter von der Leiche entfernt.

Dann fiel mir auf, dass seine Hände leer waren und er die Aktentasche nicht mehr bei sich hatte. Ich suchte erneut die Straße ab, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Und dass er auf der Tasche lag und sein Körper sie vor meinen Blicken verbarg, war eher unwahrscheinlich, denn so, wie der Tote dalag, hätte man zumindest einen Teil der Tasche sehen müssen. Wo war sie also geblieben?

Ich konzentrierte mich wieder auf das Gesicht des toten Mannes, als wollte ich es mir trotz seiner Verletzungen und des vielen Bluts einprägen. Da der Kopf zur Seite und sein Gesicht in meine Richtung gewandt waren, konnte ich seine Augen sehen, die offen, aber absolut leblos waren.

Ich erschauderte, denn es erschien mir fast, als sähe mich der Leichnam vorwurfsvoll an, obwohl das natürlich unmöglich war. Dennoch hatte ich unwillkürlich ein schlechtes Gewissen, weil es mir wieder einmal nicht gelungen war, den Tod eines Menschen zu verhindern, obwohl ich ihn vorausgesehen hatte.

Als ich den anklagenden Blick schließlich keine Sekunde länger ertragen konnte, wandte ich mich fröstelnd ab, drängte mich durch die Mauer der Schaulustigen hinter mir und ging eilig davon.

1

 

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als mich jemand an der Schulter anrempelte. Ich zuckte wie immer sofort automatisch zurück und presste meine Hände eng an den Körper, bevor mir einfiel, dass ich dieses Mal Handschuhe trug, um mich vor unwillkommenen körperlichen Kontakten zu schützen.

Der Mann, der sich mit einem riesigen Trolley an meinem Sitzplatz vorbei durch den Gang gezwängt und mich dabei angestoßen hatte, ging ohne ein Wort der Entschuldigung weiter und rempelte den nächsten Fahrgast an.

Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, wo ich mich befand, nachdem ich so tief in meinen Erinnerungen versunken gewesen war, die mir so intensiv und lebhaft erschienen waren, als hätte ich sie soeben noch einmal durchlebt.

Ich saß wieder einmal in einem U-Bahn-Waggon, da öffentliche Verkehrsmittel in einer Großstadt wie München immer noch die beste und einfachste Art waren, rasch von einem Ort zum anderen zu gelangen. Ausnahmsweise musste ich allerdings nicht stehen, sondern hatte einen Sitzplatz ergattert. Ich entspannte mich wieder und sah mich um, ob einer der anderen Fahrgäste meine instinktive und übertriebene Reaktion auf den Rempler bemerkt hatte. Doch die anderen Leute beachteten mich gar nicht und waren in ihre Tageszeitungen, Bücher, Smartphones und E-Book-Reader vertieft. Ich hob den Blick und musterte die Menschen, die im Gang und vor den Türen standen. Aber mit Ausnahme einer jungen, dunkelhaarigen Frau, die jedoch nur ungefähr in meine Richtung sah, bevor sie ihren in die Ferne gerichteten, verträumten Blick weiterschweifen ließ, sah niemand her.

Ich überprüfte, ob die dünnen, naturfarbenen Baumwollhandschuhe noch richtig saßen, bevor ich die Arme vor der Brust verschränkte und die Hände in meine Achselhöhlen schob, um sie vor neugierigen Blicken zu verbergen. Es wäre nicht das erste Mal, dass mich jemand schief oder argwöhnisch ansah, weil ich schon im Frühherbst Handschuhe trug. Vermutlich dachten die meisten Menschen dabei unwillkürlich an etwas Ansteckendes, denn in der Regel zuckten sie zurück und machten, sofern es möglich war, einen oder zwei Schritte zurück. Aber obwohl ich die Handschuhe bei meinen Fahrten in der U-Bahn wegen des dichten Gedränges, das in den Waggons herrschte, bereits seit dem Vorfall vor anderthalb Wochen trug, an den ich mich vorhin so lebhaft erinnert hatte, hatte ich mich noch immer nicht an die Blicke und Reaktionen meiner lieben Mitmenschen gewöhnt.

Als die U-Bahn in die nächste Station einfuhr und langsamer wurde, warf ich rasch einen Blick durch das Fenster nach draußen, um festzustellen, wo wir uns befanden. Ich befürchtete zunächst, ich wäre zu lang in meinen Erinnerungen versunken gewesen und hätte meine Station verpasst, doch zum Glück war es nicht so. Ich war gerade noch rechtzeitig in die Gegenwart zurückgekehrt, denn hier musste ich raus. Im Grunde musste ich dem rücksichtslosen Rüpel, der mich angerempelt hatte, sogar noch dankbar sein.

Ich klemmte mir die Mappe mit dem Storyboard für einen Zeichentrick-Werbespot unter den linken Arm, stand auf und hielt mich an einer Haltestange fest, während die U-Bahn abbremste und dann mit einem Ruck zum Stehen kam, der mich einen halben Schritt nach vorn taumeln ließ.

Ich bin gelernter Grafik-Designer und arbeite freiberuflich als Illustrator, Comiczeichner und -texter. Meine Comics veröffentliche ich unter dem Künstlerpseudonym Rex. Das ist allerdings kein Zeichen von Überheblichkeit und bedeutet nicht, dass ich mich für den König der Comic-Künstler halte, sondern ist lediglich die lateinische Übersetzung meines Nachnamens, denn mit bürgerlichem Namen heiße ich Richard König. Rex war ich schon von meinen Klassenkameraden genannt worden, nachdem wir in der siebten Klasse im Lateinunterricht zum ersten Mal auf das Wort gestoßen waren, obwohl einer meiner Schulfreunde, mit denen ich auch heute noch Kontakt habe, steif und fest behauptet, mein Spitzname komme von Tyrannosaurus Rex, weil ich meine Freunde schon seit frühester Jugend mit meinen selbstgezeichneten Comics tyrannisiert hätte. Das stimmt nicht! Aber egal, woher mein Spitzname nun tatsächlich stammte, war es naheliegend, ihn zu benutzen, als ich nach einem Künstlerpseudonym suchte. Am liebsten zeichne und texte ich Bildgeschichten für Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsverlage. Unter anderem erscheinen meine Comics regelmäßig im Kindermagazin einer großen Bank. Daneben arbeite ich aber auch für Werbe- und PR-Agenturen und fertige Animationsfilme für Musikvideos oder Werbespots. Davon kann man nicht unbedingt reich werden, aber wenn man fleißig, nicht sehr anspruchsvoll und darüber hinaus genügsam ist, kommt man damit gut über die Runden. Um mir daneben ein kleines Zubrot zu verdienen, gebe ich gelegentlich auch Kurse und veranstalte Workshops.

Auch an diesem Tag war ich beruflich unterwegs. In der Mappe unter meinem Arm befand sich die Arbeit der letzten drei Tage. Es handelte sich um das Storyboard für einen Zeichentrick-Werbespot, den ich bei der Werbeagentur vorbeibringen wollte, die mich damit beauftragt hatte. Ich hatte schon öfter mit der Agentur zusammengearbeitet und war zuversichtlich, dass den Verantwortlichen mein Entwurf für den Spot, den ich nach ihren Rahmenvorgaben erstellt hatte, gefallen und ich den Auftrag für den Trickfilm bekommen würde. Ich hatte gestern noch bis spät in die Nacht daran gefeilt und war daher auch ziemlich müde.

Schon der Gedanke genügte, um mich sofort gähnen zu lassen. Ich hielt mir die rechte Hand vor den Mund, während sich die Türen öffneten und die ersten Fahrgäste in Bewegung setzten, um die U-Bahn zu verlassen. Die Frau an meiner rechten Seite bemerkte, dass ich Handschuhe trug, und warf mir einen argwöhnischen Blick zu, als wäre ich hauptberuflich ein Serienkiller, der auch in seiner Freizeit keine Fingerabdrücke hinterlassen wollte. Ich sah sie an und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Sie riss vor Entsetzen Mund und Augen gleichzeitig auf und hatte es plötzlich sehr eilig, von mir weg und aus dem Waggon zu kommen.

Ich grinste, doch das Grinsen verging mir sofort wieder, als ich einen stechenden Schmerz hinter meiner Stirn verspürte. Diese verdammten Kopfschmerzen! Manchmal kündigten sie sich lange vorher an, sodass ich mich darauf vorbereiten konnte. An anderen Tagen überfielen sie mich aus heiterem Himmel mit einer Intensität, die Übelkeit erregend war. Heute war unglücklicherweise Letzteres der Fall. Ich unterdrückte ein Stöhnen, das mir im Gedränge mit Sicherheit noch mehr unliebsame Aufmerksamkeit der anderen Fahrgäste eingebracht hätte.

Die Kopfschmerzen traten zum Glück nur gelegentlich auf. Ich hatte sie seit meinem Unfall, so wie ich seit dem Erwachen aus dem Koma bei direktem Körperkontakt auch die Totengesichter der Menschen sehen konnte, die in Kürze starben. Ich wusste nicht, was ich mehr verabscheute. Meistens meine merkwürdige Fähigkeit, denn dabei war ich ohnehin nur ein hilfloser Zuschauer und konnte nicht das Geringste ausrichten. Außerdem jagte mir diese Gabe noch immer eine Heidenangst ein, weil ich nicht verstand, wie so etwas überhaupt möglich war und warum ausgerechnet ich damit gestraft worden war. Nur wenn die Kopfschmerzen besonders stark waren, war es mir lieber, das Antlitz des Todes auf den Gesichtern eines Todgeweihten zu sehen, denn das war wenigstens nicht mit Schmerzen verbunden.

Als ich aus der U-Bahn auf den Bahnsteig trat, spürte ich bereits, dass die Schmerzen, die gerade eben mit einem kräftigen Pochen gegen die Tür meines Verstands ihren Besuch angekündigt hatten, heftig werden würden. Daher beschloss ich, auf der Stelle ein paar Schmerztabletten zu nehmen, um sie so früh wie möglich zu bekämpfen. Ich hatte zwar noch mehr als genug Zeit bis zu meinem Termin in der Werbeagentur, weil ich ohnehin vorgehabt hatte, vorher noch in einem Café in aller Ruhe einen Cappuccino zu trinken, doch da der Auftrag lukrativ und wichtig war, wollte ich bis dahin wieder in einer möglichst präsentablen Verfassung sein.

2

 

Auf dem vollen U-Bahnsteig suchte ich mir einen freien Platz vor der Wand, stellte die Mappe zwischen meinen Füßen hochkant auf den Boden, und holte die Tablettenschachtel, die ich in weiser Voraussicht immer bei mir trug, aus der linken Brusttasche meiner schwarzen Lederjacke. Ich versuchte, die Schachtel zu öffnen, doch mit den Handschuhen war das gar nicht so einfach, auch wenn sie nur aus dünner Baumwolle bestanden. Vermutlich hätte ich es sogar geschafft, doch die einzelnen Tabletten anschließend aus der Durchdrückpackung zu entfernen, ohne sie fallen zu lassen, wäre noch viel schwieriger geworden. Also zog ich kurzerhand den rechten Handschuh aus und steckte ihn in die Seitentasche meiner Jacke. Als ich die Schachtel öffnete und hineinfasste, drückte ich versehentlich einen der Tablettenstreifen gegen die untere Lasche, die schon etwas eingerissen war und sich daraufhin öffnete.

»Mist!«, fluchte ich leise, als ein Blisterstreifen aus der Packung rutschte und vor meinen Füßen auf den Boden fiel. Ich ging sofort in die Hocke und griff mit der freien Hand danach, als gleichzeitig eine andere Hand von der Seite danach fasste und sich unsere Finger unweigerlich berührten, noch ehe ich es verhindern konnte.

Es gab keinen elektrischen Funken, der von einer Hand zur anderen übersprang, trotzdem riss ich meine Hand zurück, als hätte ich eine heiße Herdplatte angefasst. Ich richtete mich ruckartig auf und sah auf die Finger meiner Hand, mit denen ich fremde Haut berührt hatte, als trügen sie die Schuld an dem unabsichtlichen Körperkontakt.

»Hier, Ihre Tabletten«, sagte jemand zu mir.

Ich hob erschrocken den Blick, sah zuerst die in meine Richtung gestreckte Hand mit der Durchdrückpackung zwischen den Fingern und dann das Gesicht der Person, die ich berührt hatte, weil wir im selben Augenblick nach meinen Tabletten gegriffen hatten.

Bis zu diesem Moment hatte ich noch gehofft, ich hätte niemanden vor mir, der innerhalb der nächsten 72 Stunden sterben würde, schließlich war nicht jeder automatisch ein Todgeweihter, nur weil ich ihn berührte. Bei den meisten Körperkontakten seit meinem Erwachen aus dem Koma war auch nichts geschehen. Ich hatte die Menschen angesehen, und kein totenkopfförmiger Schatten hatte ihre Gesichter überlagert. Deshalb hatte ich meine furchtbare neue Fähigkeit am Anfang auch eine Zeitlang gar nicht bemerkt.

Doch als ich nun in das Gesicht der hilfsbereiten Person vor mir blickte, war davon kaum etwas zu sehen, weil ein Schatten darauf lag und ihre Gesichtszüge vor mir verbarg. Ich erschauderte und wich unwillkürlich einen Schritt zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß.

»Alles in Ordnung mit Ihnen«, fragte mein Gegenüber in besorgtem Tonfall. Es war unheimlich, dass das Totengesicht mit mir sprach, denn durch die Finsternis konnte ich nur undeutlich erkennen, wie sich die Lippen der Person bewegten. Außerdem klang ihre Stimme völlig normal, und ich erkannte zum ersten Mal, dass es sich um eine Frau handelte. »Was ist los? Geht es Ihnen nicht gut?«

Ich schluckte und wandte rasch den Blick ab. »Es … es geht schon wieder«, sagte ich, bückte mich und griff nach meiner Arbeitsmappe. Dann wandte ich mich ohne ein weiteres Wort ab und ging eilig davon.

»Warten Sie, Ihre Tabletten!«, rief mir die Frau hinterher, doch ich reagierte nicht darauf, sondern zog stattdessen den Kopf ein und schlängelte mich durch die Menge, die auf die nächste U-Bahn wartete. Erst nach zwanzig bis fünfundzwanzig Schritten legte sich der Schock darüber, dass ich schon wieder das Antlitz des Todes im Gesicht eines lebenden Menschen gesehen hatte, ein wenig, und ich kam wieder zur Besinnung. Ich blieb stehen, wandte mich um und reckte mich, um über die Köpfe der Leute einen Blick auf die Frau zu werfen, die mir nur hatte helfen wollen und die ich dennoch so brüsk und undankbar behandelt hatte. Natürlich wusste ich genau, warum ich so reagiert hatte. Im ersten Augenblick hatte ich nämlich ihr die Schuld an unserem Körperkontakt gegeben. Dabei konnte sie gar nichts dafür, schließlich wusste sie nichts von meiner Fähigkeit und hatte nur hilfsbereit sein wollen. Wenn jemand schuld war, dann nur ich selbst, weil ich den Handschuh ausgezogen hatte.

Nur weil ich das getan hatte, wusste ich jetzt, dass die Frau nicht mehr lange zu leben hatte. Und dieses ungewollte Wissen lastete wieder einmal schwer auf mir. Denn wie schon all die Male zuvor und trotz der Erkenntnis, dass ich ihr Schicksal nicht verhindern konnte, war ich dennoch nicht in der Lage, ihr einfach den Rücken zuzukehren und meines Weges zu gehen, als wäre nichts geschehen. Das Wissen um ihren baldigen Tod, das ich als einzige Person auf dieser Welt besaß, war eine schwere Bürde, denn jetzt fühlte ich mich unweigerlich für sie verantwortlich. Und weil ich die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben hatte, nur weil bisher jeder Rettungsversuch gescheitert war, konnte ich sie nicht einfach sich selbst überlassen.

Die Frau stand noch immer an derselben Stelle, an der ich sie zurückgelassen hatte, sah allerdings nicht in meine Richtung. Stattdessen starrte sie auf die Tablettenpackung in ihrer Hand, als könnte sie dort die Erklärung für mein Verhalten ablesen. Dann schüttelte sie jedoch ungläubig den Kopf und steckte die Tabletten in die Tasche ihrer blauen Jeansjacke, die sie neben einer weißen Bluse, einer engen Bluejeans und hellbraunen Slippern trug. Da der düstere Schatten über ihrem Gesicht schon wieder verblasst war, konnte ich zum ersten Mal ihr Gesicht deutlicher sehen. Ihre Augenfarbe konnte ich zwar nicht erkennen, dennoch sah ich auch aus dieser Entfernung, dass sie ausgesprochen gut aussehend war. Sie hatte ein schmales ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem spitzen Kinn. Ihre Nase war dünn und gerade und der Mund ziemlich schmal. Ihre in einem dunklen Pink geschminkten Lippen waren voll, aber nicht wulstig. Sie war schätzungsweise Ende zwanzig, Anfang dreißig, also vermutlich nur ein paar Jahre jünger als ich. Ihr Haar war auffallend dunkel und fiel ihr in leichten Wellen bis über die Schultern.

Erst jetzt bemerkte ich, dass sie mir schon in der U-Bahn aufgefallen war, weil sie als Einzige in meine Richtung geblickt, mich allerdings nicht direkt angesehen hatte. Sie musste als eine der letzten Fahrgäste ausgestiegen sein oder war vielleicht aus anderen Gründen aufgehalten worden und deswegen genau in dem Moment an mir vorbeigegangen, als mir die Tablettenpackung heruntergefallen war.

Und jetzt wusste ich, dass sie demnächst sterben würde!

Ich seufzte schwer, als sie sich abwandte und in die andere Richtung in Bewegung setzte. Ich warf einen raschen Blick auf die Uhr, die über dem U-Bahnsteig hing, aber ich hatte noch immer genügend Zeit bis zu meinem Termin in der Werbeagentur. Also beschloss ich, ihr eine Weile zu folgen. Vielleicht erfuhr ich ja, wohin sie ging oder wo sie wohnte, bevor ich umkehren und zur Agentur gehen musste. Und wenn nicht, dann konnte ich auch nichts daran ändern. Dann würde mir die Verantwortung für ihr Schicksal gewissermaßen aus der Hand genommen werden.

Ich steckte die Tablettenschachtel ein, die ich noch immer in der Hand gehalten hatte. Dann zog ich auch den linken Handschuh aus, da ich die Handschuhe in der Regel nur im dichtesten Gedränge in der U-Bahn trug, und schob ihn zu seinem Kameraden in die Jackentasche, ehe ich mich ebenfalls in Bewegung setzte und beeilte, zu der Frau aufzuschließen, damit ich sie unter all diesen Menschen nicht verlor. Falls sie sich umsah und bemerkte, dass ich ihr folgte, konnte ich ja immer noch behaupten, ich hätte vorgehabt, mir meine Tabletten zurückzuholen.

Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Kopfschmerzen im selben Augenblick verschwunden waren, als wir uns berührt hatten. Ein Gedanke, der mich mit Unbehagen erfüllte und erschaudern ließ.

3

 

Es waren gerade einmal zehn Minuten vergangen, in denen ich der Frau von der U-Bahnstation Münchner Freiheit an der Leopoldstraße zuerst in westliche Richtung in die Herzogstraße, danach nach rechts in die Wilhelmstraße und anschließend nach links in die Clemensstraße gefolgt war, als sie in einem mehrstöckigen Wohngebäude verschwand.

Da die Haustür offen stand, konnte ich das Haus ebenfalls ungehindert betreten. Auf dem untersten Treppenabsatz verharrte ich und lauschte auf ihre Schritte über mir, die schon nach relativ kurzer Zeit verstummten. Dann hörte ich, wie ein Schlüssel ins Schloss geschoben und eine Tür geöffnet wurde. Ich schätzte, dass die Frau in den zweiten Stock gegangen war. Ich überlegte, was ich nun tun sollte. Wenn die Frau tatsächlich hier wohnte – und danach sah es aus –, dann kannte ich jetzt zumindest ihre Adresse und konnte auch nach meinem Termin in der Werbeagentur wiederkommen. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, ich hätte auch ihren Namen gewusst. Das Klingelbrett an der Haustür war mir dabei keine große Hilfe, da ich nicht wusste, welcher Name zu welcher Wohnung gehörte. Wenn ich den Namen der todgeweihten Frau erfahren wollte, musste ich also nach oben gehen, um ihn von der Klingel an ihrer Wohnungstür abzulesen.

Ich seufzte und schüttelte den Kopf über all die Dinge, die ich tat, seit ich mir meiner unheimlichen Fähigkeit bewusst geworden war. Ich verfolgte Menschen, die ich nicht kannte, von denen ich aber wusste, dass sie sterben würden, ohne dass ich bislang etwas daran hatte ändern können, bis zu ihrer Wohnungstür und brachte ihre Namen in Erfahrung. Ich kam mir vor wie ein Voyeur oder Stalker, obwohl ich dabei keinerlei schmutzige Gedanken hegte.

Dennoch erklomm ich nun die Stufen in den zweiten Stock. Nach dem letzten Treppenabsatz vor meinem Ziel bemühte ich mich, besonders leise zu sein, auch wenn mich die Frau in der Wohnung vermutlich ohnehin nicht hören würde. Ich wollte nur einen kurzen Blick auf das Namensschild an der Tür werfen und dann sofort wieder verschwinden. Falls sie ausgerechnet in diesem Moment wieder herauskommen und mich überraschen sollte, konnte ich ihr wenigstens meine Notlüge über die Schmerztabletten erzählen, die sie noch immer besaß.

Als ich auf den Absatz vor den beiden Wohnungstüren rechts und links trat, hoffte ich, dass gerade niemand durch den Spion sah. Nun hatte ich immer noch zwei Alternativen zur Auswahl, denn von unten hatte ich nicht unterscheiden können, welche Wohnungstür geöffnet worden war. Ich wandte mich zuerst nach links und las dort den Namen Wolfgang Kramer, der in kursiver Schrift auf einem glänzenden Messingschild an der Tür stand. Hier war ich vermutlich falsch, schließlich war ich nicht auf der Suche nach einem Mann. Ich wandte mich um und näherte mich der anderen Tür. Auf einem silbernen Metallschild stand in einfachen Druckbuchstaben A. Engel.

Doch es war nicht der Name, der mich abrupt innehalten ließ, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen, sondern die Tatsache, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand.

4

 

Ich spürte, dass mein Herz plötzlich sehr viel schneller schlug und mir der Schweiß ausbrach. Nachdem ich erfahren hatte, was ich wissen wollte und weswegen ich nach oben gekommen war, hätte ich jetzt einfach umkehren und wieder gehen können. Doch die offen stehende Tür beunruhigte mich zu sehr. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass hier irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Allerdings hatte ich außer der Fähigkeit, die Totengesichter der in Kürze Sterbenden zu sehen, bislang keine anderen übersinnlichen Fähigkeiten bei mir festgestellt, sodass mein Gefühl mich auch in die Irre führen und geradewegs in Teufels Küche bringen konnte, wenn ich ihm nachgab.

Doch ich konnte einfach nicht anders. So wie ich auch die Todgeweihten nicht einfach ziehen lassen konnte, ohne zumindest den Versuch zu unternehmen, ihr Schicksal zu ändern, so konnte ich jetzt auch dieser offenen Tür nicht unverrichteter Dinge den Rücken kehren. Es mochte zwar genügend plausible und harmlose Gründe geben, warum jemand, wenn er nach Hause kam, die Tür offen stehen ließ – er muss nur kurz etwas holen oder erledigen und will gleich wieder gehen, oder aber er hat schlichtweg vergessen, die Tür zu schließen –, doch hier und jetzt überzeugte mich kein einziger davon. Das Gefühl, dass hier etwas faul war, nahm sogar mit jeder Sekunde zu, als wollte mich irgendetwas in meinem Inneren dazu drängen, endlich etwas zu unternehmen.

Es erschien mir, als wäre eine Ewigkeit vergangen, bis ich mich wieder in Bewegung setzte, doch anstatt mich umzudrehen, die Treppe nach unten zu nehmen und das Haus zu verlassen, was vernünftig und vermutlich richtig gewesen wäre, näherte ich mich mit zwei raschen Schritten der Tür, schob sie ein Stück weiter auf und spähte in den düsteren Flur, der dahinter lag.

Mein Herzschlag setzte kurzzeitig aus, als ich einen Mann entdeckte, der allerdings nicht in meine Richtung sah und mich daher gar nicht bemerkt zu haben schien, denn er verschwand im gleichen Augenblick am Ende des Wohnungsflurs um die Ecke.

Was mich letztendlich davon überzeugte, dass hier tatsächlich etwas faul war, waren vor allem zwei Dinge. Zum einen sah der Mann so aus, als würde sein Gesicht regelmäßig im Fernsehen auf Fahndungsfotos bei Aktenzeichen XY ungelöst gezeigt werden. Das war allerdings kein wirklich stichhaltiges Argument, denn dafür konnte er vermutlich gar nichts. Was demgegenüber viel schwerer wog und mein Herz nach seinem kleinen Aussetzer augenblicklich um ein Vielfaches schneller schlagen ließ, war die große Automatikpistole mit Schalldämpfer, die der Mann in der Hand gehalten hatte.

5

 

Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, was ich in Anbetracht der dramatisch veränderten Situation tun sollte, betrat ich bereits die Wohnung und schlich lautlos durch den Flur. Der Fußboden war mit einem dünnen, billigen Teppich bedeckt, der das Geräusch meiner Schritte dennoch komplett verschluckte.

Was ich tat, war verrückt, gefährlich und vermutlich hochgradig selbstmörderisch, denn ich wusste noch nicht einmal, was ich überhaupt tun sollte, sobald ich dem Mann mit der Pistole begegnete.

Ganz einfach, Idiot, du wirst erschossen!, sagte eine gehässige Stimme in meinem Verstand, die ich unschwer als die des vernünftigeren Teils meines Ichs identifizierte.

Allerdings konnte ich jetzt auch nicht einfach wieder gehen und so tun, als wäre alles in bester Ordnung, nachdem ich den Mann und vor allem seine schallgedämpfte Waffe gesehen hatte. Zumindest ergab die offene Wohnungstür nun einen Sinn, auch wenn mir dieser nicht gefiel. Der Mann musste im Treppenhaus gewartet haben, bis die Frau nach Hause kam, hatte sich anschließend mit einem Dietrich oder einem Nachschlüssel Zutritt verschafft und die Tür offen gelassen, um schneller flüchten zu können. Aber was hatte er vor?

Was wohl, Blödmann? Er ist natürlich hier, um die Frau zu erschießen.

Aber wieso?

Die Stimme in meinem Kopf, die es mir ersparte, laute Selbstgespräche zu führen, schwieg. Vermutlich zuckte mein mentaler Gesprächspartner stattdessen mit den Achseln. Und er hatte ja auch recht, und zwar mit allem, was er gesagt hatte. Wenn ich nicht aufpasste und mir nicht schleunigst eine Waffe suchte, würde ich vermutlich unmittelbar vor oder nach der Frau erschossen werden. Denn was immer der Mann mit der Waffe vorhatte, es konnte nichts Gutes sein. Es sah sogar danach aus, als befände sich die Frau, der ich gefolgt war, in akuter Lebensgefahr. Schließlich hatte ich ihr Totengesicht gesehen und wusste daher, dass sie bald sterben würde. Und warum der Mann sie töten wollte, war in diesem Augenblick zweitrangig. Wichtiger war die Frage, was ich gegen ihn unternehmen und wie ich den Mord verhindern sollte.

Während ich durch den düsteren Flur schlich, um dorthin zu gelangen, wo er nach rechts abknickte und der Mann verschwunden war, sah ich mich nach einer geeigneten Waffe um. Neben einer Kommode aus hellem Holz stand ein Schirmständer, in dem sich zwei Regenschirme befanden. Allerdings erschienen sie mir als Waffe eher ungeeignet, denn was sollte ich damit tun? Dem anderen ein Auge ausstechen? Keine gute Idee! Schließlich hatte er zwei Augen und konnte mich auch einäugig noch erschießen. Ich hoffte eher darauf, dass ich mich von hinten an ihn heranschleichen konnte und er mich gar nicht erst sah, bevor es für ihn zu spät war, denn ansonsten hätte er mehr als genug Zeit, mir eine Kugel zu verpassen. Und wenn ich versuchen würde, ihm einen Schirm über den Schädel zu ziehen, ginge wohl eher der Schirm als sein Kopf zu Bruch.

Aber was sollte ich dann nehmen? Wie als Antwort auf meine Frage fiel mein Blick auf mehrere afrikanische Masken aus dunkelbraunem Hartholz, die teilweise mit Messing verziert waren und an der Wand hingen. Eine Maske fiel mir dabei besonders ins Auge. Sie war 40 bis 45 Zentimeter hoch und stellte einen Elefantenkopf dar. Der dünne Rüssel war meiner Meinung nach der ideale Griff, an dem ich das Teil packen und notfalls über den Kopf schwingen konnte.

Vor der Wand mit den Masken bückte ich mich und legte meine Mappe lautlos auf den Boden, da sie bei meinem Vorhaben nur hinderlich war. Während ich die Elefantenmaske vorsichtig von der Wand nahm und mich bemühte, dabei so geräuschlos wie möglich zu agieren, horchte ich auf andere Geräusche in der Wohnung. Von dem Mann mit der Pistole hörte ich keinen Ton. Er musste sich ebenso unhörbar bewegen wie ich. Alles, was ich hörte, war das Rauschen fließenden Wassers, das aus dem Bad kommen und von der Frau stammen musste. Entweder nahm sie eine Dusche oder wusch sich am Waschbecken.

Die afrikanische Maske war schwerer, als ich erwartet hatte. Wenn es mir gelang, dem anderen damit eins überzubraten, bevor er auf mich aufmerksam wurde, musste ich mir um die Schusswaffe keine Sorgen mehr machen. Mit der Maske in der Hand fühlte ich mich sofort ein bisschen wohler und besser auf die unvermeidlich bevorstehende Auseinandersetzung vorbereitet als mit der für derartige Situationen völlig nutzlosen Arbeitsmappe.

Ich näherte mich der Biegung des Flurs, verharrte vor der Ecke und schob dann vorsichtig meinen Kopf nach vorn, um mit einem Auge in den abknickenden Teil zu spähen, der sich dahinter erstreckte. Das andere Flurstück war viel kürzer. Drei Türen gingen von ihm ab. Die linke Tür war geschlossen, und dahinter war das Wasserrauschen zu hören. Die Tür geradeaus stand offen, und man konnte eine Toilettenschüssel und ein kleines Waschbecken sehen. Die rechte Tür stand ebenfalls offen, was dahinter lag, war allerdings von meiner Position aus nicht einsehbar. Ich nahm an, dass sie ins Schlafzimmer der Frau führte.

Wichtiger als der Grundriss der Wohnung war jedoch der Mann mit der Waffe, den ich ebenfalls sah. Er wandte mir den Rücken zu und stand neben der geschlossenen Tür zum Badezimmer. Er lehnte mit der linken Schulter lässig an der Wand und wartete vermutlich darauf, dass die Bewohnerin endlich herauskam, damit er sie erschießen konnte. Die Mündung des klobigen schwarzen Schalldämpfers an seiner Schusswaffe aus brüniertem Stahl zeigte momentan zu Boden, doch ich war mir sicher, dass er sie im Bruchteil eines Augenblicks hochreißen und abdrücken konnte. Da im Bad allerdings noch immer das Wasser rauschte und ihm augenscheinlich langweilig war, beschäftigte er sich momentan damit, mit dem kleinen Finger der linken Hand Ohrenschmalz aus dem linken Ohr zu pulen.

Ich verzog das Gesicht vor Ekel. Allerdings wurde mir auch klar, dass es eine einmalige Chance war, mich von hinten an ihn heranzuschleichen, während er abgelenkt war und auf einem Ohr kaum etwas hörte, weil das vollständige erste Glied seines dreckigen Fingers darin steckte.

Also ging ich weiter und umfasste den Rüssel der Elefantenmaske, den ich mit beiden Händen umklammerte, noch fester. Ich betrat den kleineren Flur, der ebenfalls mit Teppich ausgelegt war, was mir nur recht war, denn es verringerte die Gefahr, dass er meine Schritte hörte. Außerdem überdeckte das Rauschen des fließenden Wassers aus dem Bad jedes noch so leise Geräusch, das ich versehentlich verursachte.

Doch als hätte es nur dieses Gedankens bedurft, verstummte in diesem Moment das Wasserrauschen wie abgeschnitten, und atemlose Stille kehrte stattdessen ein. Ich blieb wie erstarrt stehen, das rechte Bein schon zum nächsten Schritt angehoben, wagte es aber nicht, die Bewegung zu Ende zu führen. Der Mann mit der Pistole nahm den Finger aus dem Ohr, sah sich kurz an, was seine Bemühungen zum Vorschein gebracht hatten, und hob gleichzeitig die Hand mit der Pistole.

Er war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und trug einen Rollkragenpullover, eine Jogginghose und Turnschuhe, als käme er gerade vom Joggen. Außerdem hatte er eine Rollmütze auf dem Kopf. Allerdings trug er keine Handschuhe, was ich von einem professionellen Killer eigentlich erwartet hätte. Er hatte sehr dunkles Haar ohne jede Spur von Grau, das kurz geschnitten war und seinen dicken, speckigen Nacken freiließ. Als ich ihn vorhin von der Seite gesehen hatte, war mir außerdem aufgefallen, dass er vermutlich Mitte bis Ende vierzig war und dichte, schwarze Augenbrauen und eine knollenartige, rot geäderte Nase hatte. Der Rest seiner wegen der dicken Backen sehr breiten unteren Gesichtshälfte wurde von einem dichten Fünftagesbart bedeckt. Und als ich nun wie zur Salzsäule erstarrt weniger als zwei Meter hinter ihm stand, sah ich darüber hinaus, dass er in jedem Ohrläppchen einen silbernen Ring trug. Er war breitschultrig und stämmig und wirkte viel kräftiger als ich, sodass mir rasch klar wurde, dass ich mich nicht auf ein Handgemenge mit ihm einlassen durfte. Insgesamt erinnerte er mich an eine fleischgewordene Inkarnation von Kater Carlo, dem Erzgegner von Micky Maus, weshalb ich ihn in Gedanken auf den Namen Carlo taufte.

Ich betete, dass das Rauschen im Bad gleich wieder einsetzen würde, damit ich die restliche Distanz bis zu ihm unbemerkt überwinden und ihm die Elefantenmaske auf den Kopf hauen konnte. Meine Hände, die den Elefantenrüssel umklammerten, als hinge mein Leben davon ab – was vermutlich auch genau so war –, hatte ich bereits gehoben.

In diesem Moment wurden im Bad tatsächlich Geräusche laut. Sie stammten allerdings nicht vom fließenden Wasser, sondern von der Frau, die sich darin befand. Es klapperte, als würde sie etwas aus der Hand legen. Dann waren ihre Schritte zu hören, die sich der Badezimmertür näherten, bevor diese auch schon schwungvoll aufgerissen wurde.

6

 

Ich setzte mich bereits in Bewegung, bevor die Frau aus dem Bad kam, den Mann mit der Schusswaffe sah und einen kurzen, schrillen Schrei ausstieß. Die Zeit der Heimlichtuerei war ohnehin vorbei. Jetzt war Schnelligkeit gefragt und nicht länger Lautlosigkeit. Ich machte zwei Schritte nach vorn, bis ich unmittelbar hinter Carlo stand, und ließ meine Hände mit der Holzmaske herabsausen.

Doch Carlo musste mein Näherkommen gespürt oder gehört haben, denn er stieß sich in ein und derselben fließenden Bewegung von der Wand ab, kreiselte herum und schwang die Hand mit der tödlichen Waffe in meine Richtung. Durch seine abrupte Bewegung verfehlte ich den Punkt auf seinem Kopf, den ich so sorgfältig anvisiert hatte. Die obere Kante der Maske streifte zwar seine Schläfe, krachte dann aber nur auf seine rechte Schulter. Der Hieb reichte nicht aus, ihn das Bewusstsein verlieren zu lassen, schleuderte ihn allerdings wieder gegen die Wand und sorgte darüber hinaus dafür, dass sich die Finger seiner Hand öffneten und die Waffe fallen ließen. Anscheinend hatte ich durch pures Glück einen empfindlichen Punkt an seiner Schulter getroffen.

Er stöhnte laut, sah mich so wütend an wie sonst nur Jürgen Klopp einen Schiedsrichter und sprang auf mich zu, noch ehe ich die Maske zu einem zweiten Schlag heben konnte. Seine Hände legten sich augenblicklich um meinen Hals und schlossen sich dann wie die stählernen Spannarme einer Schraubzwinge. Ein letzter gurgelnder Laut, der selbst für mich unverständlich blieb, kam aus meiner Kehle, bevor die Luftzufuhr schlagartig unterbunden wurde.

Ich ließ die Maske fallen, von der ich mir mehr erhofft hatte, und sah in sein Gesicht. Seine Gesichtszüge waren jedoch nicht länger erkennbar, weil sich ein düsterer Fleck darübergelegt hatte, der in seinen Ausmaßen an einen Totenschädel erinnerte.

Verdammter Mist! Nicht schon wieder!

Ich konnte es nicht fassen, dass ich zum zweiten Mal an ein und demselben Tag einen todgeweihten Menschen berührte. Wo war ich da nur hineingeraten?

Das Schicksal des Mannes konnte mir allerdings herzlich egal sein, da mir mein eigenes naturgemäß viel mehr am Herzen lag. Und momentan sah es danach aus, als würde ich noch vor ihm den Löffel abgeben. Noch war der Luftmangel nicht so bedrohlich, dass ich in Panik geriet und nicht mehr in der Lage war, vernünftig zu handeln. Aber lange würde es vermutlich nicht mehr dauern, bis es dazu kam. Da ich mir wenig von dem Versuch versprach, seine Hände von meinem Hals zu zerren, weil er deutlich breitere Schultern als ich hatte und viel kräftiger war, schlug ich ihm meine zur Faust geballte rechte Hand mit aller Kraft auf seine Knollennase, die ich wieder deutlich genug erkennen konnte, weil der Schatten auf seinem Gesicht sich allmählich wie Nebel in der Mittagssonne auflöste.

Er grunzte und funkelte mich sofort noch zorniger an. Hätten Blicke töten können, hätte er seine Hände gar nicht mehr dazu benutzen müssen. Ansonsten schien mein Hieb allerdings nichts bewirkt zu haben, sodass ich kurz davor stand, zu verzweifeln und jegliche Hoffnung auf ein Überleben aufzugeben.

Doch da wich der Zorn schlagartig aus seinen braunen Augen und machte einem Ausdruck tiefster Verwunderung Platz. Gleichzeitig lockerte sich der Griff seiner Hände um meinen Hals, und er taumelte einen Schritt zur Seite. Ich sog erleichtert frische Atemluft in meine Lunge, befreite mich aus seinem Griff und wich zurück. Er torkelte nach links und prallte gegen die Wand, bevor er auf die Knie sank, den Oberkörper nach vorn beugte und laut stöhnte. Allerdings fiel er nicht um und verlor auch nicht das Bewusstsein.

Ich wandte den Kopf und sah zu der Frau, die den größten Föhn in der Hand hielt, den ich jemals gesehen hatte. Sie sah auf den knienden und laut stöhnenden Attentäter, der in diesem Moment die rechte Hand hob und sich an den Hinterkopf fasste, wo ihn der Schlag mit dem Föhn getroffen hatte. Dann wandte sie den Kopf und sah mich an. Was jetzt?, schien ihr wortloser Blick zu bedeuten.

Ich sah von ihr zu dem Mann, der noch vor wenigen Augenblicken drauf und dran gewesen war, mich zu erwürgen, und fasste mit der linken Hand unwillkürlich an meinen Hals, der noch immer etwas schmerzte. Der andere hob den Kopf und sah erst mich und dann die Frau an. Sein Blick und sein Gesichtsausdruck versprachen uns einen schmerzhaften und keineswegs raschen Tod. Zumindest sahen meine Comicfiguren so aus der Wäsche, wenn sie dies ihren Gegnern wünschten.

»Wir müssen hier weg!«, rief ich, ohne den Blick von ihm zu wenden, und meinte die Frau.

»Aber …«, begann sie, als gäbe es tatsächlich auch nur ein einziges vernünftiges Argument, in der Nähe eines bewaffneten Gewalttäters zu bleiben, den wir gerade eben so richtig wütend gemacht hatten.

»Kein Aber!«, sagte ich entschlossen, während ich gleichzeitig nach der Schusswaffe Ausschau hielt. Ich entdeckte sie rasch, doch zu meinem Leidwesen musste ich feststellen, dass sie sich näher bei ihm als bei einem von uns befand.

Der Mann folgte meinem Blick und sah die Pistole ebenfalls, die nur knapp außerhalb seiner Reichweite lag. Ein bösartiges Grinsen breitete sich daraufhin auf seinem Gesicht aus, das ihn noch mehr wie Kater Carlo aussehen ließ, wenn dieser einen hinterlistigen Plan ausheckte.

Ich ahnte, dass uns nur noch Sekunden blieben. »Los! Kommen Sie schon! Sofort!«

Endlich schien auch sie den tödlichen Ernst unserer Lage erfasst zu haben, denn sie reagierte, ohne noch länger zu zögern. Sie ließ den Föhn fallen, dessen Plastikgehäuse ohnehin schon gesplittert war, und rannte los. Als sie den Mann passierte, der sie töten wollte, kam auch in diesen wieder Bewegung. Er ließ sich einfach in die Richtung fallen, in der seine Pistole lag, und griff danach. Ich wartete nicht ab, bis er sie wieder in der Hand hatte, sondern warf mich herum und rannte ebenfalls los, sobald die Frau an mir vorbei war.

Zwischen meinen Schulterblättern prickelte es, während ich hinter der Frau auf die Ecke des Flurs zusteuerte, um dahinter Schutz vor den Kugeln zu suchen, die der Mann jeden Moment auf uns abfeuern würde.

---ENDE DER LESEPROBE---