DER ABGRUND JENSEITS DES TODES - Eberhard Weidner - E-Book

DER ABGRUND JENSEITS DES TODES E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Als eine seit drei Monaten vermisste Frau tot aufgefunden wird, muss Kriminalhauptkommissarin Anja Spangenberg, die zuständige Ermittlerin der Vermisstenstelle bei der Kripo München, die Tote identifizieren. Zu diesem Zeitpunkt ahnt sie noch nicht, dass ein Serienkiller dahinter steckt und es sich dabei nur um den Auftakt einer beispiellosen Mordserie handelt. Doch dann bekommt sie einen Anruf und die erste Nachricht des Killers, der sich nach dem Autor der biblischen Offenbarung Johannes nennt. Schon bald ist sie davon überzeugt, dass es sich bei ihm um einen irren religiösen Fanatiker handelt, der die Menschheit retten will, indem er vier unschuldige Frauen ermordet und an verschiedenen Stellen der bayerischen Landeshauptstadt als bizarre Reiter der Apokalypse inszeniert. Dann verschwindet auch noch Anjas Cousine. Und schon am nächsten Tag wird Anja von den zuständigen Mordermittlern darüber informiert, dass das nächste Opfer des Apokalypse-Killers gefunden wurde …

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Seitenzahl: 843

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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

PROLOG

DER ERSTE REITER

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

DER ZWEITE REITER

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

DER DRITTE REITER

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

DER VIERTE REITER

KAPITEL 11

KAPITEL 12

EPILOG

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

1. TEIL

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

PROLOG

I

Was ihr von Anfang an besonders an ihm gefiel, war seine sanfte und mitfühlende Art. Deshalb dachte Nadine zunächst auch, er müsste schwul sein. Aber das war ihr egal, denn nach einem Liebesabenteuer stand ihr ohnehin nicht der Sinn.

Nicht nach der furchtbaren Diagnose, die der Arzt ihr soeben mitgeteilt hatte.

Er stand vor dem Eingang der radiologischen Praxis in der Maistraße. Beinahe kam es ihr so vor, als hätte er dort auf sie gewartet.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.

Sie musste blinzeln, weil ihre Augen in Tränen schwammen. Erst dann erkannte sie ihn.

»Sie? Was machen Sie denn hier?«

»Ich habe auf Sie gewartet.«

»Aber … Aber warum?«

»Ich dachte mir, dass Sie jetzt bestimmt jemanden brauchen, der sich um Sie kümmert.« Er deutete auf das Praxisschild, auf dem »RPM – Radiologische Praxis München« und die Öffnungszeiten standen. »Schlimme Neuigkeiten?«

Um das zu erkennen, musste man weder Hellseher noch Gedankenleser sein. Vermutlich genügte ein einziger Blick in Nadines verheultes Gesicht, um die bittere Wahrheit zu erkennen.

Normalerweise hätte sie ihn für aufdringlich gehalten. Sie kannten sich doch kaum! Und dennoch hatte er auf dem Gehsteig vor der Praxis auf sie gewartet. Doch in ihrer gegenwärtigen Gemütslage traten diese Überlegungen und ihr natürliches Misstrauen fremden Männern gegenüber in den Hintergrund. Schließlich hatte er bislang mit allem recht gehabt, was er gesagt hatte. Sie hatte soeben tatsächlich schlimme Neuigkeiten erfahren. Und sie brauchte dringend jemanden, der sich um sie kümmerte. Wieso dann nicht er?

Nadine nickte.

»Möchten Sie gern darüber reden?«

Sie zögerte und sah sich um. Sie standen mitten auf dem Bürgersteig. Passanten machten einen Bogen um sie und hasteten links und rechts an ihnen vorbei. Manche warfen ihnen verärgerte Blicke zu, weil sie im Weg standen. Doch sie beide waren von all der Hektik um sie herum völlig unberührt, als umgäbe sie eine schützende Sphäre.

Nadines erster Impuls bestand darin, ihm eine Abfuhr zu erteilen. Was ging es ihn an, was mit ihr los war? Sie kannte ihn doch kaum! Eher sollte sie mit ihrer besten Freundin Anne oder ihrer Mutter darüber sprechen. Andererseits verspürte sie das drängende Bedürfnis, die furchtbare Diagnose vorerst vor ihren Angehörigen und Freunden geheim zu halten. Auch wenn sie nicht genau sagen konnte, warum sie das tun wollte.

Sie richtete den Blick wieder auf ihn und sah das tiefempfundene Mitgefühl in seinen ausdrucksstarken Augen. Das gab letztendlich den Ausschlag.

»Aber nicht hier!«, sagte sie und sah sich erneut unbehaglich um.

»Ich kenne ein Café ein Stück die Straße hinunter. Lassen Sie uns dort einen Kaffee trinken. Dann können Sie sich alles von der Seele reden.«

Nadine zögerte nicht länger. Obwohl sie ihn kaum kannte, hatte sie sofort das Gefühl, bei ihm in guten Händen zu sein. Er wirkte so sanft und mitfühlend und war bestimmt ein guter Zuhörer. Wieso sollte sie ihm daher nicht ihr Herz ausschütten, wo er gerade zur Hand und darüber hinaus dazu bereit war, ihr zuzuhören?

»Ich heiße übrigens Nadine«, sagte sie und reichte ihm die Hand.

Er nahm sie. Nicht fest und zupackend, wie es manche Männer taten, als wollten sie ihre Männlichkeit durch einen besonders festen Händedruck unter Beweis stellen. Sondern vorsichtig und sanft, als wollte er ihr um keinen Preis auf der Welt wehtun. Auch das gefiel ihr.

»Mein Name ist Johannes.«

Der Name passt zu ihm! Zum ersten Mal seit der Diagnose musste sie unwillkürlich lächeln. Es klang wie ein biblischer Name. Sie wusste allerdings nur wenig über die Bibel und die Geschichten und Gestalten, die darin geschildert wurden. Dennoch löste der Name ein positives Gefühl in ihr aus. Normalerweise ging sie nicht mit fremden Männern mit. Aber als sie an seiner Seite die Straße überquerte und zu dem Café ging, von dem er gesprochen hatte, bereute sie den spontanen Impuls kein bisschen.

»Sind Sie Priester?«

Sie saßen an einem Fenstertisch und konnten auf die Straße hinaussehen. Wenn Nadine sich zur Seite gebeugt hätte, hätte sie das Gebäude sehen können, in dem die radiologische Praxis lag, die sie erst vor Kurzem verlassen hatte. Doch sie hatte kein Bedürfnis danach. Nicht nach dem, was sie dort erfahren hatte.

Nachdem sie Platz genommen hatten, sprachen sie eine Weile nicht miteinander. Es war, als fühlten sie sich mit einem Mal in Gegenwart des anderen befangen. Sie gaben bei der Bedienung ihre Bestellungen auf. Und erst nachdem Johannes seinen Kaffee und Nadine ihren Cappuccino bekommen hatte, brach Nadine schließlich das Schweigen und stellte ihre Frage.

Er schüttelte den Kopf und hob fragend die Augenbrauen. »Nein. Wie kommen Sie darauf?«

»Ihre mitfühlende und sanfte Art erinnert mich an einen Priester.«

Ein wehmütiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Ich hätte liebend gern ein geistliches Amt übernommen.« Er schüttelte erneut den Kopf. »Aber es sollte nicht sein.«

»Warum nicht? Was ist passiert?«

Er senkte den Blick und sah auf die Kaffeetasse, die vor ihm stand und die er noch nicht angerührt hatte. Dann hob er den Blick wieder. Er sah sie lächelnd an und seufzte tief, bevor er antwortete: »Das ist Schnee von gestern und unwichtig. Außerdem sind wir nicht hier, um über mich zu sprechen, sondern über Sie. Wieso erzählen Sie mir nicht, welche Diagnose der Arzt Ihnen mitgeteilt hat?«

»Woher wissen Sie von der Diagnose?« Sie sah ihn misstrauisch an. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, allzu vertrauensvoll einem Fremden gegenüber zu sein.

»Wieso wären Sie sonst in der radiologischen Praxis gewesen, wenn Sie dort nicht untersucht worden sind und eine Diagnose erhalten haben. Und Ihr Zustand, als Sie wieder herauskamen, sprach gelinde gesagt Bände. Man muss daher kein Einstein sein, um eins und eins zusammenzuzählen und auf zwei zu kommen. Also erzählen Sie schon! Sie werden sehen, danach fühlen Sie sich besser.«

Nadine bezweifelte das. Wieso sollte sie sich auch nur einen Deut besser fühlen, sobald sie die niederschmetternde Diagnose in Worte gefasst hatte? Andererseits sah er sie so voller Mitgefühl an, wie sie es sich von dem Arzt in der radiologischen Praxis gewünscht hätte. Doch der war vollkommen emotionslos gewesen. Wie ein Diagnose-Roboter! Er hatte einen eiskalten Eindruck vermittelt, als er ihr das Ergebnis der Untersuchung unter Verwendung möglichst vieler unverständlicher Fachbegriffe mitgeteilt hatte. Es hatte sich für sie eher so angehört, als würde er den Wetterbericht auf Suaheli verlesen. Allerdings mit einer verheerenden Wetterprognose! Deshalb tat es jetzt auch so gut, jemandem wie Johannes gegenüberzusitzen. Er war ein Mensch, der den Eindruck erweckte, als könnte er ihre Angst und ihr Leid nicht nur nachempfinden, sondern sogar teilen. Und vielleicht hatte er ja recht, und sie fühlte sich danach tatsächlich besser.

»Seit ein paar Wochen leide ich unter mörderischen Kopfschmerzen.« Sie beobachtete den Mann aufmerksam, um zu sehen, wie er auf ihre Worte reagierte. »Außerdem war mir oft übel, vor allem bei nüchternem Magen. Und manchmal hatte ich Sehstörungen.«

Johannes verzog das Gesicht, als könnte er ihre Qualen in diesem Moment am eigenen Leib nachempfinden. »Wie furchtbar! Was unternahmen Sie gegen die Beschwerden?«

Sie senkte den Blick und sah auf ihren Cappuccino, der ebenfalls noch unberührt war. Momentan drehte sich ihr schon bei dem Gedanken, etwas zu sich zu nehmen, der Magen um.

»Ich dachte zuerst, es wäre nur eine Phase, die von selbst wieder vorübergeht. Daher nahm ich Schmerztabletten, die ich rezeptfrei in der Apotheke bekam. Doch irgendwann wirkten sie nicht mehr, und die Schmerzen wurden von Tag zu Tag heftiger. Vor allem in der Nacht quälten sie mich, sodass ich kaum noch schlafen konnte. Deshalb ging ich schließlich zu meinem Hausarzt. Der schickte mich zum Neurologen. Und der Neurologe überwies mich, nachdem ich ihm die Symptome geschildert hatte, umgehend zum MRT in die radiologische Praxis. Darüber hinaus verschrieb er mir ein stärkeres Schmerzmittel, mit dem die Schmerzen halbwegs zu ertragen sind.«

»Und was wurde bei der Magnetresonanztomografie festgestellt?« Johannes bewies mit seiner Frage, dass er die von Nadine gebrauchte Abkürzung kannte.

Die Kernspin- oder Magnetresonanztomografie, kurz MRT, ist eine Methode der modernen medizinischen Diagnostik. Mithilfe eines starken Magnetfeldes und ganz ohne Röntgenstrahlen werden dabei detailgenaue Schichtbildaufnahmen des menschlichen Körpers erzeugt.

Nadine hob den Kopf und sah Johannes an. Erneut standen ihr Tränen in den Augen. Sie verschleierten ihren Blick, sodass sie den feinfühligen Mann nur noch verschwommen sah.

»Die Untersuchung hat ergeben, dass sich in meinem Gehirn …« Sie verstummte, weil ihre Stimme versagte. Doch sie atmete einmal tief durch und zwang sich dazu, weiterzusprechen. »… eine große Geschwulst gebildet hat. Ich … Ich habe einen Gehirntumor.«

Johannes sah ebenfalls so aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Das tut mir ja so leid«, sagte er flüsternd und legte seine rechte Hand auf ihre linke.

Normalerweise betrachtete sie es als plumpe Anmache, wenn ein Mann, den sie kaum kannte, sie absichtlich berührte. Doch bei Johannes war es etwas anderes. Sie spürte, dass er es ernst meinte und keine Hintergedanken hatte. Seine Anteilnahme und sein Mitleid waren echt und kamen aus tiefstem Herzen. Deshalb sah sie seine Geste nicht als Versuch, die Situation auszunutzen und sie anzumachen, sondern als das, was sie wirklich war. Er wollte ihr durch die Berührung Trost spenden und ihr demonstrieren, dass sie nicht allein war.

Sein Verhalten rührte sie zu Tränen. Aber sie riss sich zusammen. Sie wollte nicht wieder weinen. Vor allem nicht hier in aller Öffentlichkeit. Wenn sie erst einmal damit anfing, konnte sie wahrscheinlich nicht mehr so leicht damit aufhören. Außerdem hatte sie im Sprechzimmer des Arztroboters, der sie mit seinen Gletschereisaugen die ganze Zeit nur mitleidlos angesehen hatte, schon mehr als genug Tränen vergossen.

Nadine schniefte und schluckte. »Danke.«

Johannes schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich nicht bei mir bedanken. Das ist doch selbstverständlich.«

»Nein, das ist es nicht!«, widersprach sie heftiger, als sie es beabsichtigt hatte. Doch sie war momentan außerstande, ihre Gefühle zu kontrollieren. »Vorhin, vor der Praxis, sind Hunderte von Menschen an mir vorbeimarschiert, ohne überhaupt zu bemerken, dass es mir nicht gut geht. Sie haben es jedoch sofort gesehen und mich gefragt, ob Sie mir helfen können. Das macht Sie zu etwas ganz Besonderem.«

Johannes winkte ab. Es war ihm ersichtlich unangenehm, als etwas Besonderes bezeichnet zu werden. Vermutlich wechselte er deshalb rasch das Thema. »Kann der Tumor entfernt werden?«

Für einen winzigen Augenblick hatte Nadine das Gefühl, sein Blick bekäme bei dieser Frage etwas Lauerndes. Und seine bislang so gefühlvollen Augen erinnerten sie jäh an die kalten Augen eines hungrigen Reptils. Doch nachdem sie überrascht geblinzelt hatte, war dieser Eindruck wieder verschwunden. Daher redete sie sich ein, dass sie sich getäuscht haben musste. Stattdessen machte sie einen Lichtreflex dafür verantwortlich.

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Dann wiederholte sie die Worte des Arztes, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten: »Der Tumor liegt an einer extrem ungünstigen Stelle und ist dort nicht ohne Weiteres zugänglich. Deshalb ist er chirurgisch nicht entfernbar.«

»Wie sieht die Therapie aus?«

»Eine Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie.«

»Und die Erfolgsaussichten?«

Nadine senkte den Blick und schüttelte stumm den Kopf. Sie konnte ihm nicht antworten. Denn jetzt brach sie gegen ihren ausdrücklichen Willen doch wieder in Tränen aus.

Am Abend verließ sie ihre kleine Wohnung und horchte, ob jemand im Treppenhaus war. Erst dann eilte sie die Stufen nach unten. Sie wollte niemandem begegnen. Vor allem hatte sie keine Lust auf ein Gespräch mit einem Nachbarn, bei dem sie so tun müsste, als ginge es ihr gut und als wäre alles in bester Ordnung. Obwohl das Gegenteil der Fall war und ihr Leben seit der Diagnose am Nachmittag buchstäblich in Trümmern lag.

Außerdem hatte Johannes darauf bestanden, dass niemand sah, wie sie das Haus verließ. Er wollte ihr etwas zeigen. Und da es sich um eine Überraschung handelte, die sie auf andere Gedanken bringen sollte, durfte niemand diese Überraschung verderben.

Nadine konnte den Grund für seine Heimlichtuerei nicht nachvollziehen. Aber wenn sie ihm damit einen Gefallen tat, wollte sie seiner Bitte gern nachkommen. Schließlich gab er sich ebenfalls viel Mühe, um ihr eine Überraschung zu bereiten und sie auf andere Gedanken zu bringen.

Als sie das Haus verließ, sah sie sich in alle Richtungen um, doch es war niemand in der Nähe. Sie kam sich vor wie ein Geheimagent in einem schlechten Film. Unwillkürlich musste sie kichern. Ihr wurde bewusst, dass es sich um das erste Zeichen echten Humors handelte, seit sie die Diagnose bekommen hatte. Vermutlich war das der eigentliche Grund, warum Johannes darauf bestanden hatte. Wenn sie sich dabei lächerlich vorkam, musste sie über sich selbst lachen und fühlte sich sofort besser. Er sollte sich diese Behandlungsmethode patentieren lassen. Damit könnte er ein Vermögen verdienen.

Es war bereits dunkel. Auf dem Gehsteig vor dem Haus waren kaum Passanten unterwegs. Nadine hielt dennoch den Kopf gesenkt. Sie kam an ihrem Auto vorbei, das sie am Straßenrand geparkt hatte, ließ es aber stehen. Johannes wollte sie in der Nähe mit seinem Wagen abholen. Bis zur vereinbarten Zeit waren es noch fünfzehn Minuten. Doch es war nicht weit bis zum Treffpunkt. Nadine musste lediglich zweimal abbiegen und insgesamt weniger als einen halben Kilometer laufen. Dann hatte sie den Spielplatz erreicht, der um diese Uhrzeit verlassen war. Sämtliche Kinder, die sonst hier spielten, waren zu Hause und lagen teilweise schon in ihren Bettchen.

Nadine sah auf die Uhr. Sie war zu früh dran. Um nicht gesehen zu werden, stellte sie sich hinter den Stamm eines Kastanienbaums. Von dort behielt sie die Straße im Auge. Sobald ein Scheinwerferpaar auftauchte, beobachtete sie den Wagen erwartungsvoll. Doch jedes Auto fuhr am Spielplatz vorbei, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln.

Nach dem tröstenden Gespräch mit Johannes im Café und der Zusage, ihn am späten Abend hier zu treffen, war Nadine mit der U-Bahn nach Hause gefahren. Sobald sie allein war, kam es ihr so vor, als wäre das Schicksal, zu dem der Gehirntumor sie verdammte, zu schwer, als dass sie es allein ertragen könnte. Sie fühlte sich, als wäre der Tumor in ihrem Kopf zentnerschwer und würde sie niederdrücken. Gleichzeitig hatte sie das Empfinden, er wäre so groß, dass er sogar die Sonne verdunkelte und ihr Leben überschattete. Aber sie wollte nicht ständig an die Geschwulst denken, die sich wie ein Parasit heimtückisch in ihrem Gehirn eingenistet hatte und von ihr nährte. Und auch nicht an die furchtbaren Konsequenzen, die sich daraus für sie ergaben. Deshalb richtete sie ihre Gedanken stattdessen auf Johannes und fühlte sich augenblicklich besser. Sie vergegenwärtigte sich seinen teilnahmsvollen Blick, seine zärtliche, tröstliche Berührung und seine warmen, einfühlsamen Worte. Und sofort hatte der Tumor weniger Macht über sie und ihr Leben.

Obwohl sie keinen Hunger hatte, machte sie sich am Abend einen Salat. Wie ein wählerischer Vogel pickte sie appetitlos mit der Gabel darin herum, während sie im Fernsehen die Nachrichten verfolgte. Die Meldungen von Krieg, Flüchtlingen und Terrorismus waren ihr vor Kurzem noch furchtbar und weltbewegend erschienen. Nun, im Angesicht ihres eigenen Schicksals, kamen sie ihr viel unbedeutender und nichtssagender vor. Deshalb schaltete sie den Fernseher bald wieder aus und warf den größten Teil des Abendessens in den Biomüll.

Kurze Zeit später rief ihre Mutter an und fragte, wie es Nadine gehe. Sie hatte ihrer Mutter von den Kopfschmerzen und der Übelkeit erzählt. Doch die Besuche beim Neurologen und in der radiologischen Praxis hatte sie für sich behalten. Sie hatte ihre Mutter, die bereits einen leichten Herzinfarkt hinter sich hatte, nicht grundlos beunruhigen wollen. Für einen winzigen Moment verspürte sie jetzt das Bedürfnis, ihr alles zu erzählen. So wie sie sich schon als kleines Mädchen alles Belastende von der Seele geredet und sich hinterher besser gefühlt hatte. Aber dann ließ sie es doch bleiben. Ihre Mutter würde sich nur Sorgen machen und sich aufregen. Und das wäre gar nicht gut für sie und ihr angeschlagenes Herz. Außerdem handelte es sich hierbei nicht um kindliche Sorgen und Ängste, die allein dadurch besser wurden, dass man sich Mami oder Papi anvertraute. Der Tumor würde sich davon nicht beeindrucken lassen und auch keinen Millimeter kleiner werden. Im Übrigen hatte Johannes ihr empfohlen, ihrer Mutter, die seit dem Tod ihres Mannes allein lebte, vorerst nichts von der Diagnose zu erzählen. Auch ihn sollte sie fürs Erste unerwähnt lassen, bis der richtige Zeitpunkt gekommen wäre, dass sie einander kennenlernten. Also sagte Nadine ihrer Mutter, dass es ihr gut gehe und die Tabletten, die der Arzt ihr verschrieben hatte, die größten Beschwerden linderten.

Nach dem Gespräch mit der Mutter hatte Nadine das Bedürfnis, mit ihrer besten Freundin Anne zu sprechen. Seit Anne geheiratet und in kurzer Zeit drei Kinder zur Welt gebracht hatte, trafen sie sich nur noch selten. Sie telefonierten allerdings mehrere Male pro Woche miteinander und erzählten sich wie als Teenager weiterhin alles, was sie erlebt hatten und was sie beschäftigte.

Es tat Nadine gut, die Stimme ihrer Freundin zu hören. Sie hörte sich deren Klagen über die Kinder an und tat, als würde es sie interessieren. Aber als Anne auf die Kopfschmerzen und die Übelkeit zu sprechen kam, von denen ihr Nadine erzählt hatte, wiegelte sie ab und sagte, es gehe ihr schon wieder viel besser. Doch Anne kannte sie zu gut, um sich damit zufriedenzugeben.

»Was ist los, Nadine?«

»Wieso? Was soll los sein?«

»Ich kenne dich inzwischen gut genug. Deshalb weiß ich, dass du mich nicht nur angerufen hast, um dir meine Geschichten über die drei kleinen Monster anzuhören, die sich wie meine Kinder verkleidet haben. Also rück schon raus mit der Sprache! Was hast du auf dem Herzen?«

»Nichts. Ich …«

»Lüg mich bitte nicht an! Du weißt doch, dass ich ein menschlicher Lügendetektor bin. Ich kann es fühlen, wenn du mich anlügst. Dann stellen sich sofort die Härchen auf meinen Armen und in meinem Nacken auf. Also erzähl mir endlich die Wahrheit. Geht es etwa um einen Kerl? Du klingst, als wärst du verliebt.«

Nadine atmete erleichtert auf. Wenigstens ahnte Anne nicht, was wirklich in ihr vorging. Und was schadete es schon, wenn sie ihrer besten Freundin gegenüber ein paar Andeutungen machte, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen.

»Verliebt wäre zu viel gesagt.«

»Dann hatte ich also recht? Es geht um einen Mann. Jetzt erzähl schon! Wie heißt der Typ? Wo hast du ihn kennengelernt? Und hat er zufällig einen Zwillingsbruder, der sich gern mit einer dreifachen alleinerziehenden Mutter treffen würde, die allmählich ein bisschen aus dem Leim geht?«

Normalerweise hätte Nadine über Annes scherzhafte Art, mit ihren Problemen umzugehen, gelacht. Sie und ihr Mann hatten sich vor Kurzem getrennt. Außerdem hatte Anne in letzter Zeit tatsächlich zugenommen. Doch der Schmerz in ihrem Kopf, der gegen Abend intensiver wurde, ließ sie stattdessen gequält das Gesicht verziehen. Darüber hinaus kamen ihr Annes Probleme angesichts dessen, was sie heute erfahren hatte, wie Peanuts vor.

Nadine beschloss, unmittelbar nach dem Telefonat mit ihrer Freundin eine der Tabletten zu nehmen, die der Neurologe ihr verschrieben hatte.

»Was soll die Geheimniskrämerei?«, fragte Anne, nachdem ihre Freundin nicht auf ihre Fragen geantwortet hatte, und unterbrach damit Nadines Überlegungen. »Wir sind doch beste Freundinnen und sollten uns daher alles erzählen.«

Nadine seufzte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Anne anzurufen. Außerdem wurde das Stechen in ihrem Schädel so bohrend, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Aber nachdem sie Annes Neugier geweckt hatte, musste sie ihr einen Knochen hinwerfen, auf dem sie herumkauen konnte, um sie zufriedenzustellen. Anne war wie ein Pitbull. Wenn sie sich in etwas verbissen hatte, ließ sie nicht mehr los.

»Er heißt Johannes.« Nadine schloss die Augen. Der Kopfschmerz war dann leichter zu ertragen. Ihr wurde ein bisschen schwindelig. Deshalb war sie froh, dass sie auf der Couch saß. So konnte sie wenigstens nicht umfallen und sich einen Knochen brechen. Das hätte ihr zu ihrem sonstigen Pech heute gerade noch gefehlt und das Fass zum Überlaufen gebracht.

»Ist das alles?«, fragte Anne enttäuscht.

»Ich … Ich kenne ihn kaum. Wir haben uns erst zweimal getroffen und uns ein wenig unterhalten. Mehr war da nicht. Aber … er ist sehr nett.«

»Und? Seht ihr euch wieder?«

Nadine zuckte mit den Schultern. »Mal sehen«, sagte sie unbestimmt, weil sie ihrer Freundin nichts von dem bevorstehenden Treffen erzählen wollte. Schließlich hatte Johannes sie um Geheimhaltung gebeten. Indem sie seinen Namen preisgegeben hatte, hatte sie bereits dagegen verstoßen. Aber was schadete es schon, wenn Anne seinen Vornamen kannte? Sie würden sich ohnehin irgendwann kennenlernen, falls sich aus ihrer Bekanntschaft mit der Zeit Freundschaft und unter Umständen sogar mehr entwickelte.

»Ich muss jetzt Schluss machen, Anne. Meine Mutter wollte mich heute Abend noch anrufen, um sich zu erkundigen, wie es mir geht.«

Die stechenden Schmerzen gaben ihr das Gefühl, ihr Kopf würde jeden Moment explodieren. Dennoch gelang es ihr, die Lüge überzeugend genug zu präsentieren, um Anne, den angeblichen menschlichen Lügendetektor, zu täuschen.

»Dann will ich nicht länger die Leitung blockieren.« Anne schien sich damit zufriedenzugeben, dass sie wenigstens den Namen des Mannes in Erfahrung gebracht hatte. »Meine drei Plagen streiten eh schon wieder. Wird Zeit, dass ich dazwischengehe, bevor wir in diesem Irrenhaus das erste Todesopfer zu beklagen haben. Aber bei unserem nächsten Telefonat musst du mir unbedingt mehr über diesen geheimnisvollen Johannes erzählen! Versprochen?«

»Versprochen. Bis dann, Anne.«

Nadine unterbrach die Verbindung, sobald ihre Freundin ihren Abschiedsgruß erwidert hatte. Sie ließ das Telefon neben sich auf die Couch fallen. Dann hob sie beide Hände und presste die Handballen gegen ihre Schläfen, als wollte sie den Schmerz zerquetschen, der dazwischen tobte. Doch selbstverständlich half das nichts. Dafür war die Qual zu groß. Alles, was ihr jetzt noch Linderung verschaffen konnte, war das Schmerzmittel.

Sie kam ächzend auf die Beine und ging ins Badezimmer. Dabei taumelte sie und musste sich mit der Hand an der Wand abstützen, um nicht hinzufallen. Ihr Gleichgewichtssinn war empfindlich gestört. Dennoch schaffte sie es ins Bad. Ohne ihrem darin gespiegelten, zu einer Fratze der Qual verzerrten Gesicht Beachtung zu schenken, öffnete sie den Spiegelschrank und entnahm ihm die Tablettenschachtel. Sie drückte eine Tablette aus der Blisterverpackung, schob sie mit zitternden Fingern in den Mund und trank Wasser direkt aus dem Hahn, um sie hinunterzuspülen.

Jedes Mal, wenn sie eine Tablette schluckte, dachte sie an die ellenlange Liste mit Nebenwirkungen und Wechselwirkungen auf dem Beipackzettel, den sie sich lieber nicht durchgelesen hatte. Im Gegensatz zu sonst wollte sie das alles gar nicht so genau wissen. Schließlich gab es momentan keine Alternative. Die einzig andere Möglichkeit hätte darin bestanden, den Schmerz zu ertragen. Doch daran wollte sie nicht einmal denken.

Sie ließ die offene Schachtel auf der Ablage des Waschbeckens liegen. Darum konnte sie sich später kümmern, sobald es ihr besser ging. Dann tappte sie auf wackligen Beinen und mit weichen Knien ins Schlafzimmer.

Dort ließ sie den Rollladen herunter und legte sich in völliger Dunkelheit aufs Bett. Anschließend hatte sie darauf gewartet, dass das Mittel seine analgetische Wirkung entfaltete und der Schmerz in ihrem Kopf gedämpft wurde.

Inzwischen wirkte das Analgetikum. Der Schmerz war zu einem erträglichen, beständigen Pochen abgeklungen.

Nadine sah auf ihre Armbanduhr. Es war vier Minuten nach der Zeit, die Johannes ihr genannt hatte. Sie kannte ihn zwar kaum, konnte sich aber nicht vorstellen, dass er sich oft verspätete. Schließlich war Zuspätkommen zutiefst rücksichtslos gegenüber dem Wartenden. Und der mitfühlende Mann, den sie heute ein bisschen näher kennengelernt hatte, würde ihrer Meinung nach nie bewusst rücksichtslos gegenüber einem seiner Mitmenschen handeln. Dazu war er zu gutherzig.

Aber wieso war er dann noch nicht hier? War ihm etwas Wichtigeres dazwischengekommen? Oder hatte er am Ende doch kalte Füße bekommen? Nadine könnte es ihm nicht einmal verübeln. Wieso sollte sich jemand, der seine fünf Sinne beisammenhatte, mit jemandem wie ihr belasten? Mit einem Menschen, der soeben erfahren hatte, dass in seinem Kopf ein inoperabler Tumor zur Untermiete wohnte, und dessen Chancen auf Heilung allenfalls im niedrigen zweistelligen Bereich lagen.

Nadine überlegte, ob sie noch länger warten oder nicht doch besser nach Hause gehen sollte. Wieso sollte sie sich hier die Beine in den Bauch stehen? Schließlich hatte sie Johannes ihre Adresse genannt. Wenn er doch noch kam – woran sie allmählich zu zweifeln begann –, wusste er, wo sie zu finden war.

Sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, als erneut ein Scheinwerferpaar um die Ecke bog und rasch näherkam. Sie beobachtete es aufmerksam und voller neu erwachter Hoffnung. Und tatsächlich, der Wagen wurde langsamer und hielt nur wenige Meter entfernt am Rand der Straße.

Nadine war sich nicht sicher, ob Johannes sie hinter dem Baum überhaupt schon entdeckt hatte. Sie hatte Angst, er könnte wieder wegfahren, wenn er sie nicht sah. Deshalb trat sie rasch nach vorn und ging eilig auf den Wagen zu. Da sie sich ihm von vorn näherte, blendeten sie die Scheinwerfer, sodass sie nicht sehen konnte, wer im Auto saß. Sobald sie neben dem Wagen angelangt war, beugte sie sich hinunter und warf durch das Beifahrerfenster einen Blick ins Innere. Sie lächelte erleichtert, als sie Johannes hinter dem Steuer entdeckte. Er hob die Hand zum Gruß, erwiderte ihr Lächeln und forderte sie auf, endlich einzusteigen. Sie folgte seiner Einladung, nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schlug die Tür zu.

»Du bist also tatsächlich gekommen«, sagte sie, nachdem sie sich begrüßt hatten, und duzte ihn unwillkürlich. Sie freute sich so sehr, ihn zu sehen, dass der stetige dumpfe Schmerz in ihrem Kopf in den Hintergrund trat und sie ihn kaum noch wahrnahm. Die Freude darüber, dass er sie nicht versetzt hatte, war stärker als jedes Schmerzmittel.

»Hast du etwa daran gezweifelt?«, fragte er, als könnte er nicht glauben, dass jemand auch nur auf so einen Gedanken kam.

Sie zuckte mit den Schultern. »Du hast dich ein paar Minuten verspätet. Da kam mir der Gedanke, du könntest es dir anders überlegt haben. Ich könnte es sogar verstehen. Wer will sich schon mit jemandem wie mir belasten? Das bringt doch nur Probleme und Sorgen.«

»Nein!« Er legte ihr die rechte Hand auf den linken Unterarm. »So etwas darfst du nicht einmal denken. Im Gegenteil. Jemand wie du ist wie ein Geschenk des Himmels für mich.«

»Ach, was redest du denn da?« Sie schüttelte den Kopf. Gleichwohl taten ihr seine Worte gut und wärmten ihr Herz.

»Nein, das meine ich völlig ernst.« Er drückte ihren Arm, als wollte er seine Worte bekräftigen. »Ich bin so froh, dass ich dir begegnet bin. Du bist ein Geschenk des Himmels. Und ein Zeichen, dass Gott meine Gebete erhört hat und meine Pläne gutheißt und tatkräftig unterstützt.«

Nadine runzelte verwirrt die Stirn. »Was meinst du damit, Johannes? Welche Pläne?«

Er schüttelte den Kopf. »Das erzähle ich dir später. Es ist alles Teil der Überraschung, die ich für dich vorbereitet habe. Und die will ich dir nicht verderben, indem ich vorher zu viel verrate. Du magst doch Überraschungen, oder?«

»Wer mag die nicht?« In Gedanken setzte sie hinzu: Solange sie positiv sind. Sie sprach es jedoch nicht aus, weil sie ihn nicht verletzen wollte. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass ein Mann wie Johannes jemandem eine böse Überraschung bereiten könnte.

Seine vorherigen Worte fielen ihr wieder ein. Ein Geschenk des Himmels hatte er sie genannt. Damit hatte er natürlich maßlos übertrieben. Aber auf ihn traf das durchaus zu. Für sie war er tatsächlich ein Geschenk des Himmels. Denn er nahm sie so, wie sie war. Schließlich war sie seit heute so etwas wie beschädigte Ware. Dafür sorgte Mr. Tumor, wie sie die Geschwulst getauft hatte. Er hatte sich uneingeladen in ihrem Kopf eingenistet und würde sich immer weiter ausbreiten, wenn man ihm nicht mit Bestrahlung und Chemotherapie zu Leibe rückte und Einhalt gebot. Ob es allerdings letztendlich gelang, ihn zu besiegen, stand momentan noch in den Sternen. Und selbst wenn es gelingen sollte, war es bis dahin ein langer, steiniger und dornenreicher Weg.

Doch nachdem sie Johannes getroffen hatte, hatte Nadine nicht mehr so viel Angst davor, diesen Weg zu gehen. Nicht wie zu dem Zeitpunkt, als sie die Diagnose gehört und wie betäubt dem Getöse gelauscht hatte, mit dem ihre heile Welt in sich zusammengefallen war. Denn nun war sie nicht mehr allein. Jetzt würde sie den Weg gemeinsam mit Johannes gehen. Ihrem Geschenk des Himmels, nachdem der Teufel ihr zuvor eine bösartige Überraschung in Gestalt des Tumors präsentiert hatte.

Nadine wurde bewusst, dass sie inzwischen wieder erheblich mehr Hoffnung auf einen guten Ausgang dieser Geschichte hatte.

Noch ehe die niederschmetternden Worte des Arztes verhallt gewesen waren, hatte sie sich bereits überlegt, ob es überhaupt noch einen Sinn hatte, weiterzuleben und weiterzukämpfen, wenn die Chancen auf einen Sieg so gering, ja beinahe aussichtslos waren. Wieso dem Leid nicht sofort ein Ende bereiten, indem sie sich vor ein Auto oder die U-Bahn warf? Damit ersparte sie sich viel Schmerz und unnötige Qualen.

Doch diese morbiden Gedanken waren längst vergessen. Denn mit jemandem wie Johannes an ihrer Seite lohnte es sich zu kämpfen. Auch wenn der Kampf möglicherweise von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

»Gut«, sagte Johannes und zwinkerte ihr zu. »Dann lass uns losfahren.«

»Wohin fahren wir überhaupt?«

Er schüttelte den Kopf, während er den Motor anließ. »Das erfährst du noch früh genug.«

»Kannst du mir nicht wenigstens einen winzig kleinen Tipp geben?«, bettelte Nadine und schnallte sich an.

Johannes dachte darüber nach, während er einen Blick in den Seitenspiegel warf und losfuhr. »Tut mir leid«, sagte er dann und sah sie mit einem Ausdruck des Bedauerns an. »Aber alles, was ich dir sagen könnte, würde zu viel verraten und die Überraschung verderben. Du musst einfach noch ein bisschen Geduld haben. Nur dreißig Minuten, dann sind wir da.«

»Geduld war noch nie meine Stärke«, sagte Nadine und seufzte. »Als ich ein Kind war, konnte ich es an Weihnachten und an meinem Geburtstag nicht abwarten, bis ich endlich meine Geschenke bekam. Dabei ging es weniger darum, dass ich die Geschenke früher haben wollte, sondern eher darum, endlich zu erfahren, um was es sich handelte. Deshalb machte ich mich immer schon Tage vorher auf die Suche und durchstöberte das ganze Haus, um die verpackten Geschenke zu finden. Anfangs fand ich sie auch meistens. Bis meine Eltern anfingen, sie bei Nachbarn oder Bekannten zu deponieren, und erst im allerletzten Moment ins Haus holten.« Nadine schüttelte den Kopf und schmunzelte bei der schönen Erinnerung.

»Aber damit hast du dir doch jedes Mal die Überraschung verdorben.«

»Nein«, widersprach Nadine. »Denn als ich die Geschenke fand und auspackte, war es auch eine Überraschung. Nur eben zum falschen Zeitpunkt.«

Johannes nickte. »Das stimmt auch wieder. Aber heute wirst du dich ausnahmsweise gedulden müssen. Ich bin in dieser Hinsicht unerbittlich.«

»Na schön. Dann will ich die Überraschung nicht verderben und dich nicht weiter löchern. Nicht dass du dich am Ende aus Versehen doch noch verplapperst.«

»Keine Angst, das wird schon nicht geschehen. Ich kann nämlich, wenn’s drauf ankommt, schweigen wie ein Grab.«

Sie hielt ihr Versprechen und drang nicht weiter in ihren Begleiter. Stattdessen übte sie sich in Geduld, auch wenn ihr das schwerfiel. Während Johannes den Wagen durch die Straßen lenkte, sprachen sie über unzählige belanglose Dinge. Und so verging die Zeit wie im Flug. Sie achtete nicht darauf, wohin sie fuhren. Irgendwann bemerkte Sie allerdings, dass sie die letzten Ausläufer der Großstadt hinter sich ließen und aufs Land fuhren, über das sich wie ein schwarzes Leichentuch die Nacht herabgesenkt hatte.

Nadine verzog das Gesicht. Nicht wegen des Kopfschmerzes, der vom Analgetikum halbwegs im Zaum gehalten wurde. Sondern wegen ihres morbiden Vergleichs. Wieso musste sie die Nacht ausgerechnet mit einem Leichentuch vergleichen? Abgesehen davon gab es keine schwarzen Leichentücher, oder etwa doch? Vermutlich war Mr. Tumor an all diesen morbiden Gedanken schuld. Oder die Nähe des Todes, die sie seit der Diagnose verstärkt zu spüren glaubte. Als würde der Sensenmann bereits hinter ihr stehen, die Klinge seines Arbeitsgeräts schärfen und ihr grinsend über die Schulter blicken. Sie erschauderte.

Aber ganz egal, was auch immer für diese neuartige Morbidität verantwortlich war, Nadine beschloss, in Zukunft derartige Vergleiche zu unterlassen. Auch wenn es nur in Gedanken geschah. Es wurde nämlich Zeit, wieder positiver zu denken und hoffnungsvoller auf die Zeit zu blicken, die noch vor ihr lag. Schließlich hatte sie mit Johannes an ihrer Seite jetzt allen Grund dazu.

»Sind wir bald da?«, fragte sie mit verstellter Stimme, um das nervige Quengeln eines Kindes zu imitieren.

»Nur noch ein paar Minuten«, sagte Johannes, ohne über ihren Scherz zu lachen.

Nadine wandte den Kopf und sah ihn an. Er lächelte nicht einmal, sondern machte einen angespannten und ernsthaften Eindruck. Und obwohl im Auto eine angenehme Temperatur herrschte, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Außerdem leckte er sich immer wieder nervös die Lippen.

Ihre gute Stimmung verflog ebenso rasch, wie sie entstanden war. Nadine hatte das Gefühl, in das finstere Loch aus Angst und Selbstmitleid zurückzufallen, aus dem sie sich erst vor wenigen Minuten mühsam herausgekämpft hatte.

Was war hier los? Warum war Johannes so nervös, wo sie sich allmählich dem Ziel ihrer Fahrt näherten?

Als ahnte Mr. Tumor, dass der Augenblick günstig war, um wieder die Oberhand zu gewinnen, wurde der Schmerz in ihrem Kopf intensiver. Die Wirkung der Tablette, die sie zu Hause geschluckt hatte, ließ allmählich nach. Zum Glück hatte sie in weiser Voraussicht die angebrochene Blisterverpackung mitgenommen, sodass sie im Notfall nachladen konnte.

Als Johannes abbremste, richtete Nadine ihren Blick durch die Windschutzscheibe nach vorn. Sie fuhren auf einer schmalen Landstraße, auf der um diese Zeit außer ihnen niemand unterwegs war. Dann zweigte rechts ein Schotterweg ab. Ohne zu blinken, bog Johannes ab und fuhr auf der unbefestigten Strecke weiter.

»Wir sind gleich da«, sagte er, als spürte er ihre Angst. Er wandte kurz den Blick und schenkte ihr ein Lächeln. Doch es sah nicht echt, sondern erzwungen aus.

Nach mehreren hundert Metern tauchte auf der linken Seite ein einsames Gehöft auf. Es bestand aus einem Bauernhaus, einer windschiefen Scheune und einem dritten Gebäude, das früher möglicherweise als Stall gedient hatte. Allerdings machte alles einen verlassenen Eindruck, als wäre es schon vor Jahrzehnten aufgegeben worden. Und es brannte auch nirgends Licht.

Nadine runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, welche Überraschung an diesem gottverlassenen Ort auf sie warten sollte.

»Lass dich von seinem Äußeren nicht täuschen«, sagte Johannes, der ihre Irritation gespürt haben musste. Doch ihr kam es eher so vor, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und sie erschauderte. »Von innen sieht es ganz anders aus.«

»Und hier wartet die Überraschung auf mich, von der du gesprochen hast?«

»Natürlich. Sonst hätte ich dich doch nicht hierher gebracht.« Er verließ den Weg und fuhr auf den Hof des Anwesens, der ebenfalls gekiest war. In der Nähe des Wohnhauses brachte er den Wagen zum Stehen. Er schaltete den Motor aus und löschte die Scheinwerfer. Sofort wurde es stockdunkel. Dichte Wolken verbargen den Schein des Mondes und der Sterne.

Nadines Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, während die Angst nach ihrem Herzen griff. Hatte sie etwa doch einen schweren Fehler begangen, als sie einem Mann vertraut hatte, den sie kaum kannte? Aber wie hatte sie sich so in ihm täuschen können?

»Warte eine Sekunde. Ich mache Licht.« Johannes schaltete die Innenbeleuchtung an.

Nadine legte die rechte Hand auf ihr Herz, das rasend schnell schlug. Doch die Angst, die sie in der Finsternis kurzzeitig ergriffen hatte, verflog rasch, als sie seinen bedauernden Gesichtsausdruck und die echte Sorge in seinen Augen sah.

»Tut mir leid«, sagte er, sobald er erkannt hatte, dass die Dunkelheit ihr Angst eingejagt hatte.

»Und was passiert jetzt?«, fragte sie mit zitternder Stimme. Die Überraschung musste greifbar nahe sein. Und so erfüllte sie allmählich wieder die Vorfreude auf das, was Johannes für sie vorbereitet hatte.

»Zuerst trinken wir zur Einstimmung ein Glas Sekt.«

»Sekt?« Nadine sah sich suchend im Innern des Wagens um.

»Ich hab die Flasche und die Gläser in einem Korb im Kofferraum, um zu verhindern, dass du sie zu früh entdeckst. Einen Moment, ich bin gleich wieder da.«

Er schnallte sich ab und öffnete die Tür. Dann stieg er aus und schlug die Autotür zu. Nadine beobachtete durch die Scheiben, wie er zum Kofferraum ging. Sie hörte, wie die Heckklappe geöffnet wurde, die ihr anschließend die Sicht auf ihn nahm.

Da sie ihn nicht mehr sehen konnte, lauschte sie auf die Geräusche, die an ihr Ohr drangen. Sie stellte sich dabei vor, was er tat, während sie ebenfalls den Sicherheitsgurt löste und sich bequemer hinsetzte. Sie hörte, wie der Korken aus der Flasche entfernt wurde. Dann ertönte ein Klirren, als die Flasche beim Einschenken gegen einen Glasrand stieß. Anschließend hörte sie eine Weile nichts mehr, während er vermutlich die Gläser füllte und warten musste, bis sich der Schaum legte und er nachfüllen konnte.

Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, tauchte Johannes wieder neben der Fahrertür auf. Er hatte die Kofferraumklappe offen gelassen, weil er in jeder Hand ein gefülltes Sektglas hielt. Eins der Gläser stellte er aufs Dach, um die Tür öffnen zu können. Er beugte sich nach innen und reichte ihr das andere Glas.

»Vorsichtig«, warnte er sie. »Es ist leider etwas zu voll geworden.«

Nadine nahm das Glas, das ganz nass war, weil ein Teil der Flüssigkeit übergelaufen war. Sie hielt es so, dass die Tropfen nicht auf ihrer Hose, sondern auf der Fußmatte landeten.

Johannes holte sein eigenes Glas, das nicht annähernd so voll war, vom Wagendach. Er nahm wieder hinter dem Steuer Platz und schloss die Tür.

»Prost«, sagte er und streckte ihr sein Glas entgegen.

Die Gläser stießen mit einem dumpfen Klirren gegeneinander. Der Sekt in Nadines Glas schwappte über. Die klebrige Flüssigkeit lief über ihre Finger und tropfte auf die Ablage zwischen den Vordersitzen. »Ups!«

»Macht nichts.«

»Worauf trinken wir überhaupt?«

»Darauf, dass sich unsere Wege gekreuzt und unsere Schicksale ineinander verflochten haben. Und auf die Opfer, die wir allesamt zu erbringen bereit sind.«

Welche Opfer?

Doch da setzte Johannes sein Glas an und nahm einen großen Schluck. Nadine behielt die Frage für sich und folgte rasch seinem Beispiel. Sie hatte Durst und leerte das halbe Glas in einem Zug, bevor sie es wieder absetzte. Der Sekt schmeckte erstaunlich gut. Ihrer Meinung nach war es keiner von der billigen Sorte.

»Und jetzt trinken wir auf dich und das, was dich in diesem Leben noch erwartet«, sagte Johannes, ohne ihr eine Pause zu gönnen. Er stieß sein Glas erneut gegen ihres. Wenigstens konnte jetzt nichts mehr überlaufen.

Sie trank aus und spürte bereits, wie ihr der Alkohol zu Kopf stieg. Die unzähligen Bläschen in der Flüssigkeit sorgten dafür, dass er wesentlich rascher in ihrem Blutkreislauf verteilt wurde. Außerdem hatte sie kaum etwas gegessen. Und vermutlich vertrug sich der Sekt auch nicht unbedingt mit dem Schmerzmittel, das seine Wirkung wahrscheinlich noch verstärkte. Wenn sie die Packungsbeilage gelesen hätte, wüsste sie jetzt, wie sich der Konsum von Alkohol auf das Analgetikum auswirkte. Andererseits war es auch nicht so wichtig. Schließlich hatte sie nicht vor, heute noch ein Fahrzeug zu lenken oder irgendwelche Maschinen zu bedienen. Davor wurde in den Beipackzetteln von Medikamenten oft ausdrücklich gewarnt.

Der Schmerz in ihrem Kopf wurde wieder intensiver, als hätte der Sekt den bis dahin schlummernden Mr. Tumor aufgeweckt.

Johannes nahm ihr das leere Glas aus der Hand. Er stellte es zusammen mit seinem eigenen auf die Mittelkonsole.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er.

Erneut hatte Nadine das Gefühl, etwas Lauerndes aus seiner Stimme herauszuhören. Sie richtete ihre Augen auf ihn. Ihre Sicht war verschwommen. Es war, als würde sie ihn durch eine beschlagene Scheibe ansehen. Außerdem schienen sich ihre Augen nicht mehr synchron zueinander zu bewegen, sondern wie bei einem Chamäleon in unterschiedliche Richtungen zu blicken.

»Wasch …?« Ihre Zunge fühlte sich wie ein Fremdkörper in ihrem Mund und übergroß an, sodass sie nicht mehr richtig sprechen konnte.

»Im Sekt war Flunitrazepam«, sagte er unvermittelt.

Sie versuchte angestrengt, ihn deutlicher zu erkennen, und blinzelte, um ihre Sicht zu klären. Doch es wurde eher noch schlechter. Außerdem wurde ihr jetzt auch schwindelig. Sie hatte das Gefühl, der Wagen, in dem sie saßen, würde sich mit rasender Geschwindigkeit im Kreis drehen, als säßen sie in einem bescheuerten Karussell.

»Waschn … Flumi …?«

»Flu…ni…tra…ze…pam«, korrigierte Johannes. Er machte fünf Wörter daraus, indem er es Silbe für Silbe überdeutlich aussprach. »Das ist ein geruch- und geschmackloses Sedativum. Alkohol kann seine Wirkung verstärken. Außerdem kann es zu Gedächtnislücken führen. Aber darüber musst du dir keine Gedanken machen.«

Nadine schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch die zunehmende Benommenheit abschütteln.

Geruch- und geschmacklos? Sedativum? Gedächtnislücken? Was faselte er da nur?

Johannes sah auf die Uhr im Armaturenbrett des Wagens. »Die volle sedative Wirkung des Mittels sollte in spätestens fünfzehn Minuten einsetzen.«

»Wa…rum?« Es kostete Nadine unendlich viel Mühe, auch nur dieses eine Wort halbwegs verständlich auszusprechen.

»Warum?«, wiederholte Johannes in einem ebenso fragenden Tonfall, als wüsste er die Antwort darauf selbst nicht. »Hmm. Lass mich kurz überlegen. Es würde vermutlich zu lange dauern und zu weit führen, dir alle Einzelheiten zu erläutern. Abgesehen davon, dass du es in deinem gegenwärtigen Zustand ohnehin nicht verstehen würdest. Aber so viel kann ich dir zumindest verraten: Du wurdest von Gott auserwählt, ein gewaltiges Opfer zu bringen, um die Menschheit vor der ewigen Verdammnis zu retten. Darauf kannst du stolz sein. Denn indem Gott dafür sorgte, dass sich unsere Wege im richtigen Moment kreuzten, wird dein unvermeidlicher Tod durch den Tumor in deinem Kopf nicht vergebens sein. Stattdessen wird er allen gläubigen Christen dienen.«

Er sprach in Rätseln. Sie verstand nicht, was er ihr damit sagen wollte. Er hatte schon einmal von einem Opfer gesprochen. Aber was meinte er damit?

Johannes seufzte, als hätte er erkannt, dass Nadine ihn nicht verstand oder an ihm und seinen lauteren Absichten zweifelte.

»Es ist auch zu deinem eigenen Besten«, sagte er so eindringlich wie ein Versicherungsvertreter, der eine Unterschrift unter ein überteuertes Rundum-Sorglos-Versicherungspaket haben wollte. »Denkst du vielleicht, mir macht es Spaß, dich zu quälen und zu töten? Natürlich nicht! Aber wir müssen alle ein Opfer bringen. Auch ich! Außerdem würde dich der Tumor ohnehin früher oder später umbringen. Aus diesem Grund bist du das perfekte Opfer. Der Tod, den ich dir schenke, wird dich von deinen Qualen erlösen.«

Töten!

Das Wort hallte wie ein Donnerschlag durch Nadines benebelten Verstand. Alles andere, was er gesagt hatte, hatte sie nicht mehr verstanden. Doch dieses eine Wort war zu ihr durchgedrungen und hatte sie geradezu elektrisiert.

Er will mich töten! Aber warum?

Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte sie noch selbst mit dem Gedanken gespielt, ihrem Leben ein rasches Ende zu bereiten, bevor der Tumor sie langsam und qualvoll umbrachte. Aber jetzt, nachdem sie wieder neue Hoffnung geschöpft hatte, wollte sie nicht mehr sterben. Denn auch wenn die Erfolgsaussichten verschwindend gering waren, bestand immerhin die Chance, dass die Kombination aus Bestrahlung und Chemo dem Tumor den Garaus machte.

Nadine blinzelte und sah wieder etwas klarer. Noch wirkte das Sedativum mit dem unaussprechlichen Namen nicht hundertprozentig, sondern machte sie nur benommen und schwindelig. Doch je länger sie wie ein verängstigter Hase im Scheinwerferlicht verharrte, desto hilfloser würde die Droge sie machen. Bis sie schließlich das Bewusstsein verlor und Johannes mit ihr machen konnte, was er wollte. Also musste sie sofort handeln, wenn sie überhaupt noch eine Chance haben wollte, ihr Leben zu retten.

Neue Energie erfüllte sie, als ihr Körper aufgrund ihrer Panik eine große Menge Adrenalin ausschüttete. Zum Glück war sie nicht mehr angeschnallt, sonst wäre ihre Flucht gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Sie langte nach dem Türgriff, öffnete die Tür und ließ sich kurzerhand aus dem Auto fallen. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, sich im Zeitlupentempo zu bewegen, als befände sie sich unter Wasser oder auf der Oberfläche des Mondes. Deshalb rechnete sie damit, dass Johannes sie mit Leichtigkeit packen und zurück ins Auto zerren würde. Doch das geschah nicht. Vielleicht war es ihr tatsächlich gelungen, ihn mit ihrer Aktion zu überrumpeln.

Nadine landete auf dem Kies, der sich schmerzhaft in ihre rechte Wange bohrte. Aber sie hatte keine Zeit, darüber zu klagen. Außerdem war der Schmerz in ihrem Kopf, den der von der Leine gelassene Mr. Tumor erzeugte, viel heftiger.

Sie rappelte sich auf und kam ächzend und stöhnend auf die Beine, indem sie sich an der offenen Tür festklammerte.

Nadine wandte den Kopf und sah in den Wagen. Johannes beobachtete sie. Allerdings machte er keine Anstalten, ihr zu folgen. Er sah sie voller Mitleid an, als bedauerte er es zutiefst, sie in diesem erbärmlichen Zustand sehen zu müssen.

Sie hasste ihn dafür. Das ungewohnte Gefühl war so stark, dass sie erschauderte. Wie hatte sie ihn nur für gefühlvoll und freundlich halten können? Und wie hatte sie zu ihm ins Auto steigen und es zulassen können, dass er ihr eine Droge verabreichte, obwohl sie ihn kaum kannte? Er war nicht nett und einfühlsam. Trotz all seines scheinheiligen Geredes von Gott und Geschenken des Himmels. Denn in Wahrheit wollte er sie kaltblütig umbringen, auch wenn er diesen Umstand mit beschönigenden Worten zu verschleiern versuchte.

Er ist ein Monster!

Ihr wurde bewusst, dass sie kostbare Zeit verschwendete. Zeit, die sie nicht hatte, weil die Uhr tickte, während das Sedativum sich in ihrem Körper ausbreitete und allmählich seine volle Wirkung entfaltete.

Nadine wandte sich um. Sie löste ihre Hand von der Tür und rannte los. Das war zumindest ihr Plan gewesen. Doch aus dem Rennen wurde schon mal nichts. Sie schaffte es gerade einmal, in langsamem Schritttempo einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dabei schwankte sie hin und her wie ein Seemann auf dem Deck eines Windjammers bei Windstärke 10. Erneut setzte heftiges Schwindelgefühl ein und sorgte dafür, dass die Umgebung sich um sie drehte und der Boden unter ihren Füßen Wellen warf. Beinahe wäre sie gestrauchelt und hingefallen. Doch trotz all dieser Widrigkeiten schaffte sie es irgendwie, auf den Beinen zu bleiben.

Nach ein paar Metern tauchte die Bretterwand der windschiefen Scheune vor ihr auf. Sie presste beide Hände dagegen und blieb schnaufend stehen, um sich zu orientieren. Sie dachte kurz darüber nach, in der Scheune Zuflucht zu suchen und sich dort zu verstecken. Aber ihr wurde klar, dass sie dann in der Falle säße, weil es vermutlich keinen anderen Ausgang gab. Besser, sie umrundete das Gebäude und lief in seinem Sichtschutz auf das dunkle Feld dahinter. Sobald sie in der Dunkelheit untergetaucht wäre, könnte Johannes sie nicht mehr so leicht finden. Selbst wenn sie das Bewusstsein verlor und hinfiel. Denn da es nicht kalt war, bestand zumindest nicht die Gefahr, dass sie beim Schlafen im Freien erfror. Und sobald die Wirkung des Sedativums abebbte und sie wieder zu sich kam, konnte sie zur Straße laufen, wo sie hoffentlich jemanden fand, der sie mitnahm.

Es war kein guter Plan, das wusste sie. Und es gab genügend Details, die schiefgehen konnten. Aber unter den gegenwärtigen Umständen und angesichts ihres stetig schlechter werdenden Zustands war es das Beste, was sie sich in der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung stand, ausdenken konnte.

Als sie ihre Flucht fortsetzte und sich an der Scheunenwand entlang ihren Weg ertastete, hörte sie hinter sich die Fahrertür aufgehen.

Er kommt!

Der Gedanke versetzte sie in Panik. Sie versuchte unwillkürlich, schneller zu laufen, ohne dabei über die eigenen Füße zu stolpern. Die wurden zunehmend unzuverlässiger. Sie taten nicht immer das, was sie wollte, und behinderten sich auch noch gegenseitig.

Johannes hingegen schien keine Eile zu haben. Sie war höchstens zehn Meter von ihm entfernt. Er hätte nur einen kurzen Sprint hinlegen müssen und sie im Nullkommanichts eingeholt. Doch er war sich seiner Sache anscheinend todsicher und ließ sich Zeit.

Das machte sie wütend. Dass er überhaupt nicht damit rechnete, dass sie entkommen könnte. Dass er seelenruhig abwartete, bis die volle Wirkung der Droge einsetzte, um sie dann nur noch einsammeln zu müssen. Denn das bedeutete im Endeffekt, dass ihr Fluchtversuch von Anfang an aussichtslos gewesen war. Genauso gut hätte sie im Auto sitzen bleiben und abwarten können, bis die Lichter ausgingen.

Doch sie gab trotzdem nicht auf!

Beinahe hätte sie darüber gelacht. Hätte sie gewusst, was für eine Kämpferin in ihr steckte, hätte die Krebsdiagnose sie nicht so schockiert und verzweifeln lassen. Vermutlich wäre dann alles ganz anders gekommen, und sie wäre jetzt nicht in dieser beschissenen Lage.

»Du kannst mir nicht entkommen.«

Sie erschrak, als sie seine Stimme hörte. Allerdings klang es nicht so, als wäre er nähergekommen, sondern als stünde er noch immer neben der offenen Fahrertür des Wagens. Außerdem hatte sie keine Schritte auf dem Kies gehört.

Sie reagierte nicht auf seine Worte. Wie auch, wenn sie kaum in der Lage war, verständlich zu sprechen?

Endlich erreichte sie die Ecke der Scheune und verschwand sogleich dahinter. Jetzt konnte er sie wenigstens nicht mehr sehen. Außerdem war es hier stockfinster, weil die Innenbeleuchtung des Autos nicht bis hierher reichte. Vielleicht hatte sie doch noch eine Chance. Nämlich dann, wenn es ihr gelang, in der Dunkelheit unterzutauchen und weit genug zu laufen, sodass er sie nicht fand.

»Die Wirkung des Sedativums wird von Sekunde zu Sekunde stärker. Und je mehr du dich anstrengst und gegen dein unvermeidliches Schicksal ankämpfst, desto schneller wird der Wirkstoff in deinem Körper verteilt.«

Klugscheißer!

Plötzlich hörte sie das Knirschen seiner Schritte auf dem Kies. Er folgte ihr in gemächlichem Tempo.

Es war so dunkel, dass sie kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Die Scheunenwand neben ihr war alles, was ihr zur Orientierung diente. Ansonsten war es, als spielte sie Blindekuh.

Nadine ging taumelnd weiter. Eine Hand streifte über die Holzwand links neben ihr. Die andere hatte sie vor sich ausgestreckt, falls unerwartet ein Hindernis auftauchte.

»Warum gibst du nicht einfach auf und fügst dich in dein unabänderliches Schicksal? Damit würdest du es nicht nur mir, sondern auch dir selbst wesentlich leichter machen. Sieh es einfach so wie ich. Als Dienst an der Menschheit, den Gott von dir verlangt.«

Johannes’ Stimme klang in der Dunkelheit bereits so nahe, als stünde er direkt hinter ihr. Dabei hatte er noch nicht einmal die Ecke der Scheune erreicht.

Plötzlich tauchte tatsächlich ein Hindernis vor ihr auf. Doch es war so niedrig, dass sie es nicht mit der vorgestreckten Hand ertastete, sondern stattdessen mit dem Schienbein dagegen prallte. Sie schrie vor Schmerz, fiel nach vorn und landete im hohen Gras, das neben der Scheune wuchs. Sie wusste nicht, was sie zu Fall gebracht hatte. Aber was auch immer es gewesen war, es hatte ihr Hosenbein aufgerissen und ihr einen blutigen Kratzer am Knie beschert. Sie spürte warmes Blut unter ihren Fingern, als sie danach tastete.

Nadine wollte sofort wieder aufstehen und weitergehen. Doch dazu fehlte ihr die Kraft. Außerdem war das Schwindelgefühl inzwischen so heftig, dass sie kaum noch sagen konnte, wo links und rechts oder oben und unten war. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als auf dem grasbedeckten Boden liegen zu bleiben und nach Luft zu schnappen. Währenddessen vereinten sich die Schmerzen in ihrem Kopf und ihrem Bein zu einer einzigen qualvollen Agonie.

Das Knirschen des Kieses war verstummt. Stattdessen hörte sie jetzt Gras rascheln, als Johannes sich ihr näherte.

»Ich sagte doch, dass du nicht entkommen kannst.« Trotz seiner mörderischen Absichten war seine Stimme sanft. Seine Worte waren auch nicht bösartig gemeint, sondern klangen allenfalls tadelnd. Er hörte sich an wie ein Vater, der seine geliebte Tochter maßregelt, weil sie nicht auf ihn gehört hat und deshalb auf die Nase gefallen ist.

Nadine war zu kraftlos, um ihm zu antworten. Ihr Bewusstsein wurde in einem Strudel herumgewirbelt, als wäre in ihrem Verstand ein Stöpsel entfernt worden. Ihr inneres Ich drohte jeden Moment in den finsteren, bodenlosen Abfluss gerissen zu werden. Sie kämpfte dagegen an. Dabei wusste sie längst, dass sie verloren hatte.

Ich werde sterben!

Nicht durch den Tumor in ihrem Kopf, der ihr bislang wie das größte Unglück erschienen war, das ihr jemals widerfahren war. Sondern ausgerechnet durch den Mann, der ihr eine Zeitlang neue Zuversicht und neuen Lebensmut geschenkt hatte.

Pervers!

»Wehr dich nicht länger dagegen!« Johannes war neben ihr in die Hocke gegangen. Sie spürte seine kühle Hand auf ihrer erhitzten Stirn. Und obwohl er zu ihrem Mörder werden würde, tröstete sie die Berührung durch ein anderes mitfühlendes menschliches Wesen.

Ihre Lider flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings. Es kam ihr allerdings eher so vor, als wären sie tonnenschwer. Deshalb gelang es ihr auch nicht länger, die Augen offenzuhalten.

»Schlaf jetzt!«

Seine sanfte Stimme begleitete sie, als ihr Bewusstsein in den Abgrund sauste und wie eine Kerzenflamme im Wind erlosch.

Nadine hatte damals mit dem Leben abgeschlossen und gedacht, sie würde nicht mehr erwachen. Als sie entgegen ihren Erwartungen dennoch wieder zu sich kam, lag sie in einem Gefängnis, das sie an eine übergroße Holzkiste erinnerte, und war mit Eisenketten an die Wand gefesselt.

Was immer Johannes mit ihr vorhatte, es sollte allem Anschein nach kein rascher Tod werden. Aber was er letztendlich genau plante und wie das Opfer aussah, das sie bringen sollte, hatte er ihr bislang nicht verraten. Stattdessen hüllte er sich hartnäckig in Schweigen, wenn er in ihr Verlies kam, um den Eimer auszuleeren oder ihr regelmäßig Wasser und seltener Zwieback zu bringen. Er erwiderte ihre anfangs fragenden und anklagenden, später resignierenden und hoffnungslosen Blicke mit Augen, die weiterhin sanft und mitfühlend waren. Doch er sprach kaum noch mit ihr. Es erschien ihr beinahe so, als wollte er ihre Beziehung von nun an so unpersönlich wie möglich gestalten, um sie am Ende umso leichter töten zu können.

II

Ihr heutiges Erwachen glich einem Sprung in eiskaltes Wasser, denn es kam jäh und war schmerzhaft.

Es war kein sanftes Hinübergleiten vom Schlaf ins Bewusstsein, wie sie es in ihrem früheren Leben so oft erlebt hatte. Stattdessen handelte es sich, wie immer in letzter Zeit, um eine geradezu schockartige Rückkehr in die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit voller Schmerz und Qual, den infernalischen Zwillingen, die neuerdings ihre ständigen Begleiter waren. Ihnen konnte sie nur während des Schlafens für kurze Zeit entrinnen.

Nadine hob ächzend den Kopf. Sie sah sich blinzelnd und mit sparsamen Bewegungen um. Mittlerweile kostete sogar die kleinste Regung enorme Kraft, die sie kaum noch besaß, und intensivierte zudem die ständigen Schmerzen. Sie sah allerdings auf den ersten Blick, dass sich an ihrer Situation nichts geändert hatte.

Wie auch? Sie war längst davon überzeugt, dass nur noch ein Wunder biblischen Ausmaßes sie retten konnte.

Sie war noch immer in dem winzigen fensterlosen Verschlag gefangen, der einer übergroßen Kiste glich. Sämtliche Wände und der Zugang bestanden aus unbehandelten Holzbrettern. Die einzigen beiden Einrichtungsgegenstände waren eine schmutzige Matratze, die nach Nadines Schweiß und Körperausscheidungen stank, und ein Plastikeimer in der Ecke, in den sie ihre Notdurft verrichten konnte. An den durchdringenden Gestank nach Exkrementen hatte sie sich längst gewöhnt. Sie nahm ihn schon gar nicht mehr bewusst wahr. Allerdings fand sie inzwischen kaum noch die Kraft, die kurze Strecke bis zum Eimer zu überwinden. Dabei stand er nur einen halben Meter von ihrer Schlafstatt entfernt. Mehr Spielraum ließen ihr die Ketten ohnehin nicht, die an metallenen Schellen um ihre Hand- und Fußgelenke befestigt waren. Anfangs waren die Schellen zu eng gewesen und hatten ihre Haut wund gescheuert; doch seit Beginn ihrer Gefangenschaft hatte sie extrem viel Gewicht verloren. Dennoch konnte sie die Fesseln nicht abstreifen. Außerdem hätte es ihr ohnehin nichts genutzt. Der Mann, der sie gefangen hielt, vergaß nie, die Tür zu verriegeln, nachdem er gekommen war, um den Eimer auszuleeren oder ihr Wasser oder ein wenig Zwieback zu bringen. Allerdings musste Johannes den Eimer inzwischen nicht mehr allzu oft leeren, da sie nur noch selten Stuhlgang hatte.

Johannes.

Der Name ihres Peinigers irrlichterte durch ihren Verstand, löste jedoch keine Reaktion aus. Selbst dafür fehlte ihr inzwischen die Kraft. Außerdem hatte sie längst resigniert und aufgegeben. Ihr Lebenswille war buchstäblich erloschen.

Sie wusste, dass er sie töten würde. Das hatte er ihr bereits an jenem ersten Abend im Auto gesagt. Bislang hatte er ihr aber nicht verraten, wie er sie umbringen würde. Eine Zeitlang hatte sie gedacht, er wollte sie verhungern lassen, da er ihr am Anfang nur Wasser gebracht hatte. Doch nach einer Weile hatte es gelegentlich auch ein bisschen Zwieback gegeben. Nie genug, um satt zu werden und das knurrende Loch, in das sich ihr Magen schon nach kurzer Zeit verwandelt hatte, zu stopfen. Aber dennoch ausreichend, damit sie nicht verhungert war. Allerdings war sie im Laufe ihrer Gefangenschaft immer mehr abgemagert. Mittlerweile glich sie eher einem mit dünner Haut überzogenen Skelett als einem lebenden Menschen. Sie hatte keinen Spiegel, um sich darin zu betrachten; und insgeheim war sie froh darüber. Doch was sie von ihrem nackten, ausgemergelten Körper sehen konnte, genügte ihr, um davon auf den Rest zu schließen.

Hinzu kamen die Schmerzen. Anfangs waren es nur die peinigenden Kopfschmerzen gewesen, die sie bereits vor ihrer Bekanntschaft mit Johannes geplagt hatten. Ihr Arzt hatte ihr ein Schmerzmittel verschrieben, mit dem sie die Beschwerden einigermaßen in den Griff bekommen hatte. Doch nachdem sie an diesem Ort gelandet war, hatte Johannes ihr nicht erlaubt, etwas gegen die Schmerzen einzunehmen. Sie kämen von Gott, hatte er behauptet, und deshalb müsste Nadine sie ertragen. Außerdem wären sie ein Teil ihres Leidensweges und würden ihr Opfer nur umso wertvoller machen.

»Welches Opfer?«, hatte Nadine ihn gefragt. Obwohl sie geahnt hatte, dass er damit ihren Tod meinte. Doch er hatte nicht geantwortet, sondern nur milde gelächelt und ohne ein weiteres Wort ihr Verlies verlassen.

Sie wusste nicht viel über Gott, da sie in einem atheistischen Haushalt aufgewachsen war. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass ein Gott, der die Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hatte, seine Schöpfung mit derartig intensiven Schmerzen bestrafen würde. Und wofür wurde sie überhaupt bestraft? Sie hatte doch nichts getan! Und wieso sollte sie sich opfern?

Doch auf all diese Fragen war Johannes ihr bislang eine Antwort schuldig geblieben. Nur am ersten Abend im Auto war er gesprächig gewesen. Danach hatte er sich, sofern er ihr überhaupt geantwortet hatte, auf knappe, einsilbige Aussagen beschränkt.

An die stechenden Kopfschmerzen hatte sie sich allmählich gewöhnt. Und das, obwohl sie von Tag zu Tag intensiver wurden. Kaum zu glauben, woran sich der Mensch gewöhnen konnte, wenn er keine andere Wahl hatte. Aber es blieb nicht bei den Schmerzen im Kopf. Mittlerweile tat ihr ganzer Körper weh und fühlte sich überall wund an. Nach dem Aufwachen hatte sie meistens das Gefühl, sie hätte auf dem Rost eines Grills über glühenden Kohlen geschlafen und wäre dabei auf kleiner Flamme langsam durchgebraten worden. Sämtliche Muskeln schmerzten, auch wenn sie in letzter Zeit kaum noch benutzt wurden. Und wenn sie sich doch einmal bewegte, um eine andere, weniger schmerzhafte Liegeposition zu finden, wurde der stetige Schmerz zu einem intensiven Stechen, als hätte sie einen Muskelkrampf. Deshalb rührte sie sich inzwischen kaum noch. Außerdem hatte sie von Tag zu Tag immer weniger Kraft dafür übrig.

Wenigstens hatte sie keine Hungergefühle mehr. Darunter hatte sie am Anfang am meisten gelitten. Zuerst hatte ihr Magen nur geknurrt. Dann war die Leere in ihm konstant größer geworden, bis er sich verkrampft und sie sich unter heftigen Schmerzen auf der Matratze gekrümmt hatte. Sie hatte das Gefühl gehabt, ihr Magen wäre ein schwarzes Loch, das sich immer weiter ausdehnte und dabei allmählich den Rest ihres Körpers in sich hineinsaugte und verschlang. Aber irgendwann waren diese Schmerzen vergangen. Und seitdem hatte sie auch keinen Hunger mehr.

Obwohl sie gerade erst erwacht war, war Nadine dennoch todmüde. Wie stets war die Schlafperiode zu kurz und wenig erholsam gewesen. Sie konnte sich auch nicht erinnern, ob sie geträumt hatte. Sie hatte ohnehin das Gefühl, schon lange nicht mehr geträumt zu haben. Wovon sollte sie auch träumen? Von einem besseren Leben? Von einem Ende ihrer Gefangenschaft und ihrer Qualen?

Wäre es nicht so kräftezehrend und schmerzhaft gewesen, hätte sie über diese Gedanken gelacht.

Manchmal erwachte sie dennoch in der Hoffnung, dies alles – das kistenartige Verlies, ihr Peiniger und die Schmerzen – wäre nur ein böser Traum. Doch sobald der Schmerz, ihr treuer Begleiter, sich zurückmeldete, zerbrach die Hoffnung wie ein Spiegel in hunderttausend Scherben.