Ein ehrenwertes Haus - Eberhard Weidner - E-Book
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Ein ehrenwertes Haus E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Bislang verlief das Miteinander der Bewohner einer Mehrfamilienvilla im Münchner Stadtteil Harlaching harmonisch und ohne größere Probleme oder Streitigkeiten. Doch hinter der friedlichen Fassade lauern in Wahrheit Abgründe, denn nicht wenige der Hausbewohner hüten teilweise furchtbare Geheimnisse. Geheimnisse, von denen nicht einmal ihre Ehe- oder Lebenspartner etwas ahnen. Doch nun ist ein neuer Mieter in die leer stehende Wohnung im ersten Stock eingezogen. Schon bald kommt es zu ersten, zunächst noch harmlos wirkenden Ereignissen, die den Hausfrieden stören. Als die bislang streng gehüteten Geheimnisse mancher Mitbewohner ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden drohen, werden die Feindseligkeiten und das Misstrauen zwischen den Mietparteien und zum Teil sogar zwischen Ehe- und Lebenspartnern stetig größer. Bis sich die Spannungen eines Abends in einem Ausbruch blutiger Gewalt entladen, der allerdings nur den Auftakt zu einer Reihe weiterer schrecklicher Ereignisse bildet …

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Inhaltsverzeichnis:

 

COVER

TITEL

Prolog: Die Kälte des Todes!

MITTWOCH

Kapitel 1: »Dafür sind Nachbarn doch da.«

Kapitel 2: … die Niederungen menschlichen Verlangens …

Kapitel 3: »Und so dich dein Auge ärgert, reiß es aus und wirf es von dir.«

Kapitel 4: »Ich liebe die Gefahr.«

Kapitel 5: … so sicher wie in einem Grab.

Kapitel 6: »Ein Serienkiller in unserem Haus?«

Kapitel 7: »Was täte ich nur ohne dich?«

Kapitel 8: … mörderische Gedanken …

Kapitel 9: Je größer die Gefahr, desto größer ihre sexuelle Erregung.

Kapitel 10: Was immer nötig ist.

Kapitel 11: Das Leben war ein ungerechtes Arschloch!

Kapitel 12: Wehret den Anfängen!

Kapitel 13: »Zieh dich aus!«

Kapitel 14: … ich krieg dich schon noch!

DONNERSTAG

Kapitel 15: »Wir beginnen das zu begehren, was wir jeden Tag sehen!«

Kapitel 16: … Gespräch mit Gott …

Kapitel 17: Doch woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Kapitel 18: Blödes Arschloch!

Kapitel 19: Ein Liebesbrief!

Kapitel 20: Vielleicht ist sie ja verliebt.

Kapitel 21: Wo steckst du bloß, Minnie?

Kapitel 22: … Schwarz und Rot.

Kapitel 23: »Weinst du etwa?«

Kapitel 24: … mucksmäuschenstill …

Kapitel 25: »Sie muss zum Schweigen gebracht werden! Ganz egal wie!«

Kapitel 26: »Du weißt, dass du es mir sagen kannst, wenn dich etwas bedrückt.«

Kapitel 27: Schlechte Nachrichten?

Kapitel 28: Elendes Miststück!

Kapitel 29: »Na, dann komm mal rein in die gute Stube.«

Kapitel 30: Diese verfluchte Modelleisenbahn!

Kapitel 31: Unnatürlich still.

Kapitel 32: »Wieso willst du auf einmal unbedingt zur Polizei?«

Kapitel 33: … dann gnade ihr Gott!

Kapitel 34: »Verzeihst du mir?«

Kapitel 35: Vermutlich hatte ihr Schweinehund von Liebhaber das Geld …

Kapitel 36: … Trumpf in der Hinterhand …

Kapitel 37: … diese miese kleine Schlampe …

FREITAG

Kapitel 38: Und vielleicht ist ja auch gar nichts passiert.

Kapitel 39: Womöglich war er hier, um die Leiche zu beseitigen.

Kapitel 40: Verdammte Fotze!

Kapitel 41: »Nach allem, was wir momentan über ihn wissen, könnte er auch ein Serienkiller sein.«

Kapitel 42: »Das muss ein Wahnsinniger gewesen sein!«

Kapitel 43: Was zum Teufel will der Schwachkopf denn hier?

Kapitel 44: »Ich hab diesem Dreckskerl von Anfang an nicht über den Weg getraut.«

Kapitel 45: »Auch wenn ich mir anfangs wünschte, ich wäre mit ihnen gestorben.«

Kapitel 46: »Fickst du mit dem Kerl?«

Kapitel 47: »Dafür wird er bezahlen!«

Kapitel 48: Was soll schon schiefgehen?

Kapitel 49: Fingen nicht alle Serienkiller damit an, Tiere zu quälen und zu töten, bevor sie dazu übergingen, Menschen zu ermorden?

Kapitel 50: »Glaubt ihr nicht, dass wir damit ein bisschen zu weit gehen?«

Kapitel 51: »Wo kommt denn das viele Blut her?«

Kapitel 52: »Mitgefangen, mitgehangen.«

Kapitel 53: »Ohne Leiche keine Mordermittlung.«

Kapitel 54: Gott wird uns dafür bestrafen, was wir getan haben!

Kapitel 55: Das wirst du bereuen, Arschloch!

SAMSTAG

Kapitel 56: Ein Laut, der ihr durch Mark und Bein ging.

Kapitel 57: Warte nur, du Dreckskerl, bis ich dich in die Finger kriege!

Kapitel 58: »Wer einmal lügt …«

Kapitel 59: … Blut, Verwesung und Tod!

Kapitel 60: Auge um Auge, Zahn um Zahn!

Kapitel 61: »Wir müssen die Polizei rufen.«

Kapitel 62: »Hau lieber ab, solange du noch kannst.«

Kapitel 63: Hirngespinste.

Kapitel 64: Gerettet!

Kapitel 65: »Sein Name war Toni.«

Kapitel 66: »Ich muss mit dir reden.«

Kapitel 67: »Warum sollte ich ein Alibi brauchen?«

Kapitel 68: »Irgendetwas stimmt da nicht!«

Kapitel 69: Totenglocken!

Kapitel 70: »Das Haus wirkt wie ausgestorben.«

Kapitel 71: … die entsetzliche Wahrheit!

Kapitel 72: Konnte das noch ein Zufall sein?

Kapitel 73: »Es wiederholt sich alles!«

Kapitel 74: »Ich habe eine Pistole!«

Kapitel 75: »Zwing mich bitte nicht, dir wehzutun.«

Kapitel 76: »Du machst mir Angst.«

Kapitel 77: TÖTE, WAS DU LIEBST!

Kapitel 78: »Das war aber nicht nett von dir.«

Kapitel 79: Der Albtraum war endlich vorbei!

Kapitel 80: … vom Regen in die Traufe …

Kapitel 81: … Zeit, Abschied zu nehmen.

Kapitel 82: »Es ist nun einmal der natürliche Lauf der Dinge, dass geliebte Menschen sterben.«

Epilog: … im Herzen der Flammen …

Nachwort

Weitere Titel des Autors

Impressum

Prolog

Die Kälte des Todes!

 

7:13 Uhr

Als die Welt sie nach einem an Bewusstlosigkeit grenzenden Schlaf wieder willkommen hieß, tat sie es auf höchst hinterhältige Weise mit einem stechenden Schmerz hinter den Schläfen, einem miserablen Geschmack im Mund und einem leichten Anflug von Übelkeit.

Lisa stöhnte laut und langanhaltend, bevor sie vorsichtshalber erst einmal nur ein Auge äußerst behutsam öffnete.

Sowohl der Anblick als auch die Perspektive, aus der sie die Welt einäugig betrachtete, waren ungewohnt. Was vor allem daran lag, dass sie definitiv nicht in ihrem Schlafzimmer erwacht war.

Wo bin ich?

Für einen Moment verspürte sie Furcht, doch dann erkannte sie ihre Umgebung wieder und stellte fest, dass sie auf der Couch im Wohnzimmer ihrer kleinen Dachgeschosswohnung lag.

Sie schloss das Auge wieder und dachte erst einmal gründlich darüber nach, wie und weshalb sie letzte Nacht hier gelandet war. Doch alsbald musste sie feststellen, dass sie sich an nichts erinnern konnte.

Haben Toni und ich gestern etwa einen draufgemacht? Und weil ich zu viel getrunken habe, bin ich auf der Couch eingeschlafen.

Lisa durchforstete ihr Gedächtnis, so gut der pulsierende Kopfschmerz es ihr erlaubte, doch trotz ihrer Bemühungen stellte sich kein einziger brauchbarer Erinnerungsfetzen ein. Das Letzte, an das sie sich bewusst erinnerte, war der Moment, als Toni in ihre Wohnung gekommen war. Alles, was danach passiert war, war hingegen von einem gierigen schwarzen Loch verschluckt worden, ohne auf dem Weg durch ihr Gedächtnis die geringsten Spuren zu hinterlassen.

Vermutlich hatten sie tatsächlich getrunken, und Lisa hatte es übertrieben. Anders konnte sie sich ihren Zustand und ihren ungewohnten Schlafplatz nämlich nicht erklären. Sie vertrug nicht viel Alkohol und trank daher nur selten und mäßig. Doch manchmal, vor allem seit sie Toni kennen und lieben gelernt hatte, und wenn es darüber hinaus einen Grund zum Feiern gab, taten sie es dennoch. Gestern Abend musste es einen solchen Grund gegeben haben, auch wenn Lisa sich nicht daran erinnern konnte. Aber sie konnte ja immer noch Toni danach fragen.

Erneut öffnete sie ein Auge, dann das andere, blinzelte ins helle Sonnenlicht, das durch das Dachfenster hereinfiel, und richtete sich vorsichtig und im Zeitlupentempo auf. Ihr wurde sofort schwindelig, aber wenigstens nahmen die Kopfschmerzen nicht zu. Und auch ihre Übelkeit verschlimmerte sich nicht. Sie fühlte sich nur etwas müde und leicht benommen, so als hätte sie entschieden zu wenig Schlaf bekommen.

Sie stellte fest, dass sie noch immer ihre Jeans und das T-Shirt vom Vortag trug, doch das war inzwischen keine Überraschung mehr. Hätte sie die Zeit gefunden, sich vor dem Schlafen bis auf die Unterwäsche auszuziehen, dann hätte sie es wahrscheinlich auch ins Schlafzimmer und in ihr Bett geschafft. Das war wesentlich bequemer als die Couch, und als sie sich nun bewegte, spürte sie, dass sich ihr Nacken versteift hatte und schmerzte, sobald sie den Kopf drehte.

»Nie mehr Alkohol, das schwöre ich hoch und heilig!«, sagte Lisa und erschrak darüber, wie krächzend ihre Stimme klang. Beinahe so, als gehörte sie gar nicht ihr, sondern einer wesentlich älteren Frau. Sie schwang die Beine von der Couch und stellte ihre Füße auf den Boden. Wenigstens trug sie keine Schuhe, sondern bloß geringelte Socken.

Wie sie es insgeheim bereits geahnt hatte, standen auf dem Couchtisch zwei angebrochene Flaschen und ebenso viele Gläser. Eine der Flaschen enthielt Wodka, Tonis Lieblingsgetränk. Bei der zweiten handelte es sich um eine Piccoloflasche mit einem von Lisa bevorzugtem Prosecco. Allerdings fehlte daraus lediglich ein Drittel des Inhalts, eindeutig zu wenig, um ihren miserablen Zustand zu erklären. Lisa konnte sich das nur so zusammenreimen, dass sie vor dieser Flasche bereits mindestens eine oder zwei andere geleert und Toni die leeren Flaschen bereits entsorgt hatte.

Apropos Toni!

Lisa sah sich um und stellte fest, dass sie mutterseelenallein im Wohnzimmer war.

»Toni?«, rief sie mit noch immer leicht krächzender Stimme. Dann räusperte sie sich und versuchte es sogleich ein weiteres Mal. »Toni! Wo steckst du, Schatz?«

Sie wartete und lauschte, doch alles, was ihr antwortete, war die Stille einer leeren Wohnung.

Lisa erschauderte unwillkürlich, auch wenn sie nicht sagen konnte, weshalb.

Als sie sich schließlich aufraffte und von der Couch erhob, fühlte sie sich nicht wie die 29-jährige Biologielaborantin, die sie bis zum Vortag noch gewesen war, sondern mindestens fünfzehn bis zwanzig Jahre älter. Sie ächzte und blieb gebückt stehen. Nicht weil sie Schwierigkeiten hatte, sich ganz aufzurichten, sondern weil sie sich sonst den Kopf an der Dachschräge angestoßen hätte. Das war ihr früher, in den ersten Tagen, Wochen und sogar Monaten nach ihrem Einzug, oft passiert und hatte ihr jedes Mal eine schmerzhafte Beule eingetragen. Aus Schmerz hatte sie gelernt, darauf zu achten, und zog mittlerweile automatisch den Kopf ein. Erst nachdem sie sich ein paar Schritte von der Couch entfernt hatte, konnte sie sich gefahrlos aufrichten.

Sie schlurfte zur Tür und öffnete sie. Dahinter lag ein kurzer dunkler Gang, von dem Türen zum Schlafzimmer, zur Küche, ins Badezimmer und ins Treppenhaus führten. Ihre Wohnung war die einzige im Dachgeschoss des Hauses, denn der dreistöckige Altbau war nicht besonders groß. Ihr geschäftstüchtiger Vermieter hatte das geerbte Wohnhaus seiner Eltern kurzerhand in mehrere Wohnungen unterteilt, die er vermietete. Im Erdgeschoss befand sich eine großzügige Dreizimmerwohnung. Im Obergeschoss waren zwei kleine Wohnungen geschaffen worden, die eine mit einem Raum, die andere mit zwei Zimmern. Außerdem hatte er das Dachgeschoss aus- und den Keller umbauen lassen, damit jede Mietpartei ein eigenes Abteil besaß.

Lisa machte sich auf die Suche nach Toni. Zuerst sah sie im Schlafzimmer nach, doch ihr Bett war ordentlich gemacht und verwaist. Auch in der Küche und im Bad war niemand.

Wo steckst du bloß?, fragte sich Lisa und erschauderte erneut. Und obwohl es keinen Sinn machte, weil es in der Wohnung keinen Ort gab, an dem sie noch nicht nachgesehen hatte, rief sie ein weiteres Mal Tonis Namen. Ihre Stimme verhallte allerdings erneut ungehört und unerwidert. Das überzeugte sie schlussendlich davon, dass ihr Gefühl sie nicht getrogen hatte und sich außer ihr niemand in der Wohnung aufhielt.

In dem Bemühen, das irrationale Gefühl abzuschütteln, dass hier irgendetwas nicht stimmte, zuckte Lisa demonstrativ mit den Schultern. Sicherlich gab es eine gute und logische Erklärung dafür, dass Toni nicht da war. Ihr fielen auf die Schnelle mindestens ein halbes Dutzend ein, vom banalen Brötchenholen, um sie mit einem tollen Frühstück zu überraschen, bis hin zu einem dringenden Termin, den Lisa wie vieles andere vom gestrigen Tag schlichtweg vergessen hatte.

Da sie sich ohnehin im Badezimmer befand, benutzte Lisa die Toilette. Danach wusch sie sich die Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Sie spülte sich den Mund aus, um den ekelhaften Geschmack loszuwerden, was ihr allerdings nur unzureichend gelang, und trank dann gierig ein paar Schlucke Leitungswasser, weil sie durstig und ihre Kehle ausgetrocknet war.

Erst nachdem sie sich das Gesicht abgetrocknet hatte, wagte sie den ersten kritischen Blick des Tages in den Spiegel. »Puh«, entfuhr es ihr erleichtert, denn sie sah nicht halb so schlimm aus, wie sie sich fühlte. Ihr ovales Gesicht mit den asiatischen Zügen, die sie ihrer japanischen Mutter zu verdanken hatte, sah etwas zerknautscht und blass aus, und ihr schwarzes kurzgeschnittenes Haar stand auf einer Seite etwas ab. Doch ansonsten sah sie trotz der Umstände und ihres miserablen Zustands ganz passabel aus.

Sie verließ das Bad mit schlurfenden Schritten und ging in die Küche. Die Uhr an der Wand teilte ihr mit, dass es noch früh am Tag war. Außerdem erinnerte sie sich dunkel daran, dass heute Samstag war. Vielleicht kam ihr Gehirn endlich auf Touren, und die Erinnerungen an den gestrigen Abend kehrten ebenfalls nach und nach zurück.

Trotz der Uhrzeit und des Wochentags war es ihrer Meinung nach ungewöhnlich still im Haus. Normalerweise waren um diese Uhrzeit die meisten anderen Hausbewohner bereits putzmunter. Entweder rumorte in den beiden Wohnungen im Stockwerk unter ihr einer der beiden alten Leute, die dort wohnten. Oder sie hörte sogar den fünfjährigen Leon Stürmer in der Erdgeschosswohnung herumtoben, denn das Haus war extrem hellhörig. Doch jetzt war es nicht nur in ihrer Wohnung, sondern im ganzen Haus geradezu unheimlich still.

Doch da erinnerte sie sich jäh daran, was in den letzten drei Tagen passiert war. Die Erinnerung überkam sie wie die Flutwelle eines Tsunamis, sodass ihre Beine unter ihr nachgaben und sie sich auf einen Küchenstuhl setzen musste.

Zuerst war vor drei Tagen der Hund der betagten Frau Neumann aus dem ersten Stock gestorben. Moritz, wie der Zwergspitz der verwitweten Rentnerin hieß, hatte beim Spazierengehen im Park vermutlich einen Giftköder gefressen. Die Seniorin brachte ihren Liebling zwar noch zum Tierarzt, doch der konnte nichts mehr für das arme Tier tun. Es starb ihm quasi unter den Händen weg und verendete qualvoll und unter Schmerzen.

Als Lisa an jenem Abend nach Hause kam – sie ahnte noch nichts vom Schicksal des Hundes – und wie jeden Tag ihre Fische füttern wollte, stellte sie fest, dass diese allesamt verendet waren und leblos an der Wasseroberfläche trieben. Lisa konnte sich das nicht erklären, denn sie hatte viel Erfahrung und sich immer gut um die Tiere gekümmert. Sie vermutete daher, dass eingeschleppte Parasiten oder Bakterien die Ursache waren, und kümmerte sich um die verendeten Fische.

Am folgenden Tag starb dann Frau Neumann selbst. Die Tochter der 82-Jährigen hatte am frühen Nachmittag versucht, sie telefonisch zu erreichen, um nach dem Tod ihres innig geliebten Haustiers nachzufragen, wie es ihr ginge. Als ihre Mutter nicht abhob, machte sie sich natürlich Sorgen und kam sofort vorbei. Sie fand die alte Frau leblos auf dem Sofa, wo sie sich vermutlich hingelegt hatte, um ihren täglichen Mittagsschlaf zu halten. Der herbeigerufene Hausarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen. Er führte die Leichenschau durch und stellte den Totenschein aus. Dabei kam er zum Ergebnis, dass die alte Dame, die länger an einer Herzschwäche gelitten und Medikamente dagegen eingenommen hatte, an einem Herzinfarkt und damit eines natürlichen Todes gestorben war. Vermutlich hatte der qualvolle Tod ihres Haustiers am Tag zuvor sie sosehr mitgenommen, dass ihr schwaches Herz dem Stress und der Belastung nicht länger standgehalten hatte. Oder wie ihre Tochter es Lisa gegenüber unter Tränen ausdrückte, als sie sich im Treppenhaus trafen: »Meine Mutter hat Moritz’ Tod nicht verwunden und ist an einem gebrochenen Herzen gestorben.«

Lisa ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Serie von Todesfällen im Haus damit noch nicht abgeschlossen war. Denn am frühen Morgen des gestrigen Tages stürzte Herr Pawlak, der direkte Wohnungsnachbar von Frau Neumann, die Treppe hinunter und brach sich dabei das Genick. Der 58-Jährige war früher Schreiner gewesen, aber seit mehreren Jahren arbeitslos. Darüber hinaus war er schwer alkoholkrank, und daher verwunderte es im Grunde niemanden, dass sein Leben auf derart tragische Weise durch einen dummen Unfall endete. Verwundert waren die Leute womöglich allenfalls, dass es derart lange gedauert hatte, bis etwas Derartiges passiert war.

Nun, in der schmalen Küche ihrer Wohnung, erschauderte Lisa, als sie an all diese menschlichen und tierischen Tragödien der letzten drei Tage dachte. Und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum die Todesfälle in ihrem Haus plötzlich so gehäuft aufgetreten waren. Handelte es sich dabei nur um einen makabren Zufall, oder steckte mehr dahinter, ein System möglicherweise? Allerdings war jeder einzelne Todesfall für sich rational erklärbar, und die jeweiligen Umstände ließen ihn natürlich und folgerichtig erscheinen. Dennoch kam ihr die Häufigkeit in einer derart kurzen Zeitspanne merkwürdig, wenn nicht sogar verdächtig vor. Es erschien ihr beinahe so, als läge über ihrem Wohnhaus ein Fluch.

Lisa schauderte erneut. Doch bereits im nächsten Augenblick schüttelte sie die lächerlichen und irrationalen Gedanken ab und wunderte sich über sich selbst. Denn als Kind ihrer Zeit glaubte sie selbstverständlich nicht an etwas so Anachronistisches wie Flüche.

Dennoch war sie beunruhigt. Deshalb konnte sie jetzt auch nicht mehr ruhig dasitzen, sondern musste sich bewegen. Sie stand auf und ging in den Flur. Noch immer fühlte sie sich etwas benommen, so als hätte ihr Körper den genossenen Alkohol noch nicht vollständig abgebaut und als zirkulierte noch immer eine hohe Konzentration durch ihren Blutkreislauf. Auch die leichte Übelkeit und die Kopfschmerzen wollten partout nicht weichen. Normalerweise brauchte sie am Morgen eine große Tasse Kaffee, um überhaupt halbwegs wach zu werden. Doch an diesem Tag war ihr nicht danach. Sie befürchtete, sich ansonsten übergeben zu müssen. Außerdem war sie auch ohne Koffeinschub schon unruhig genug.

Sie wusste nicht, ob es an ihren Überlegungen über die Todesfälle der letzten Tage lag, aber plötzlich machte sie sich Sorgen um die anderen Bewohner des Hauses. Vor allem sorgte sie sich aber um Toni.

Sie ging ins Wohnzimmer, nahm den Hörer des Festnetztelefons ab und hob ihn ans Ohr, um Toni auf ihrem Handy anzurufen. Doch anstelle des Wähltons, der ihr sonst immer signalisierte, dass der Apparat betriebsbereit war, empfing sie nur atemlose Stille. Die Leitung war tot. Sie legte sofort wieder auf und suchte an den Orten, wo sie es gewöhnlich hinlegte, nach ihrem Smartphone, konnte es aber nirgends finden.

Was jetzt?

Lisa fragte sich, ob sie ganz allein im Haus war. Denn noch immer war es im ganzen Gebäude so still wie in einer Gruft.

Der Vergleich gefiel ihr nicht besonders. Er beschwor ungewollt Bilder herauf, die ihr Angst machten und die sie daher sofort wieder verdrängte.

Weil sie allerdings nicht tatenlos in der Wohnung herumhocken und auf Toni warten wollte, schlüpfte sie in ihre Sneaker, öffnete die Wohnungstür und trat ins Treppenhaus hinaus. Sie ließ die Tür offen, denn sie hatte keinen Schlüssel bei sich, und ging zur Treppe. Da es im Haus so still war, bewegte sie sich unwillkürlich ebenfalls möglichst lautlos, als hätte sie Angst, jemand – oder etwas! –, der in den unteren Bereichen des Hauses lauerte, könnte sie hören.

Lisa schüttelte den Kopf über diese unvernünftigen Gedanken. Vermutlich hatte sie in letzter Zeit zu viele Horrorfilme gesehen, denn Toni liebte Horrorfilme über alles. Je blutiger, desto besser!

Als sie bei den Stufen angekommen war, die nach unten führten, lauschte sie aufmerksam. Doch im Haus war nicht der geringste Laut zu hören. Es war so still, als hielte sich außer ihr keine einzige Menschenseele im Gebäude auf. Doch das konnte nicht sein. Nicht an einem Samstagvormittag um diese Uhrzeit.

Dann fiel ihr jäh der Geruch auf, den sie zunächst nur als ungewohnt, im nächsten Augenblick aber auch als unangenehm empfand. Sie benötigte allerdings einen weiteren Moment, bis sie ihn eindeutig identifizieren konnte.

Benzin!

Sofort war Lisa alarmiert, denn in einem Wohnhaus hatte der Geruch nach Benzin ihrer Meinung nach nichts zu suchen und konnte nichts Gutes bedeuten. Ihr war augenblicklich klar, dass sie es nicht einfach dabei bewenden lassen konnte, sondern nach unten gehen und der Sache auf den Grund gehen musste. Das war sie nicht nur ihrer eigenen Sicherheit, sondern auch den anderen Hausbewohnern gegenüber schuldig.

Lisa blickte unschlüssig zu ihrer Wohnungstür zurück und überlegte, ob sie ihren Schlüssel holen sollte. Allerdings war unter Umständen Eile vonnöten, und jede Sekunde, die sie sinnlos vertrödelte, könnte die entscheidende sein, die am Ende fehlte und über Leben und Tod entschied. Außerdem stand die Tür sperrangelweit offen und konnte von allein nicht ins Schloss fallen. Damit war die Entscheidung gefallen, und die zierliche junge Frau machte sich daran, die Treppe nach unten zu steigen.

Mit jeder Stufe, die sie hinter sich ließ, wurde der Benzingeruch intensiver.

Lisa erreichte das Obergeschoss, in dem die Türen zu den Wohnungen von Frau Neumann und Herrn Pawlak direkt nebeneinanderlagen. Sie verhielt unwillkürlich im Schritt und lauschte. Sie konnte allerdings von jenseits der beiden verschlossenen Türen nichts hören. Es hätte sie auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Schließlich waren die beiden Wohnungsmieter erst kürzlich kurz nacheinander verstorben, und die Wohnungen standen daher leer.

Sie ging weiter nach unten, bis sie ins Erdgeschoss kam. Hier entdeckte sie den Ursprung des Gestanks, der unmittelbar an seiner Quelle derart intensiv war, dass ihre Augen aufgrund der Benzindämpfe tränten und sie angewidert das Gesicht verzog. Großflächige Benzinlachen bedeckten den Boden. Außerdem glänzten die Wände und das hölzerne Treppengeländer nass, als wären sie ebenfalls mit Benzin übergossen worden. Und in der Nähe der Eingangstür lag ein leerer Kanister aus schwarzem Metall.

Erneut wurde es Lisa schwindelig, als sie die Benzindämpfe einatmete. Sie eilte zur Haustür, um sie zu öffnen und frische Luft hereinzulassen. Doch die Haustür war abgeschlossen, und sie hatte keinen Schlüssel dabei.

Sie sah sich um und entdeckte, dass die Tür zur Erdgeschosswohnung einen Spaltbreit offenstand. Es wirkte wie eine stumme Einladung, die Wohnung zu betreten, obwohl Lisa sich nicht vorstellen konnte, dass die Einladung an sie gerichtet war. Schließlich hatte niemand wissen können, dass sie herunterkommen würde.

Allerdings war sie froh, dass die Tür offen war, und das gleich aus mehreren Gründen. Schließlich wollte sie Andrea und Florian Stürmer, die Eltern des kleinen Leon, ohnehin auf das verschüttete Benzin aufmerksam machen. Außerdem musste einer der beiden mit seinem Schlüssel die Haustür aufsperren, sodass sie für frische Luft im Treppenhaus sorgen konnten. Dann musste Lisa nicht erst ganz nach oben in ihre Wohnung gehen, um ihren eigenen Schlüssel zu holen. Und obwohl sie es nicht einmal vor sich selbst zugeben wollte, machte sie sich auch Sorgen um die Bewohner der Erdgeschosswohnung.

Wenigstens ist Toni nicht da und somit in Sicherheit!

Zaghaft schob sie die Tür zur Erdgeschosswohnung auf. Dahinter war es so dunkel, als wären alle abgehenden Türen geschlossen oder alle Rollläden noch unten.

»Hallo?«

Auf Lisas Ruf erfolgte keinerlei Reaktion. In der Wohnung war es, ebenso wie im ganzen Haus, still wie in einem Grab.

Diesen erneuten unschönen und ungewollten Vergleich quittierte sie mit einem mentalen Zähneknirschen. Gleichwohl hatte sie in diesem Moment eine düstere Vorahnung. Und zugleich das ungute Gefühl, dass der Begriff nicht völlig unpassend war.

Lisa ermahnte sich, wegen ein paar Todesfällen in den letzten Tagen, die nach Meinung der Behörden alles andere als verdächtig waren, nicht hysterisch zu werden und sich keinen Wahnvorstellungen hinzugeben. Dann betrat sie entschlossen die Wohnung.

Der Benzingeruch war hier drin nicht so intensiv wie im Treppenhaus.

Lisas rechte Hand tastete instinktiv nach dem Lichtschalter. Doch als sie ihn betätigte, passierte außer einem leisen Klicken rein gar nichts. Entweder war die Sicherung herausgesprungen oder der Strom im ganzen Haus ausgefallen. Das würde auch erklären, warum ihr Telefon nicht funktioniert hatte.

Im schwachen Tageslicht, das vom Treppenhaus in den Wohnungsflur fiel, erkannte sie, dass sämtliche Türen geschlossen waren.

Ohne zu zögern, öffnete sie die erste Tür, die unmittelbar rechts neben dem Eingang lag. Flackernder Lichtschein empfing sie, denn jemand hatte eine Kerze aufgestellt und angezündet. Das war auch notwendig, denn der Rollladen war heruntergelassen, sodass kein Sonnenlicht von draußen hereinkommen konnte. Außerdem war der Rollladengurt gerissen oder durchtrennt worden, was Lisa merkwürdig fand.

Kurz sorgte sich Lisa, die Kerze könnte die Benzindämpfe entzünden, doch nichts dergleichen geschah. Möglicherweise waren die Dämpfe nicht konzentriert genug, um sich derart leicht zu entzünden.

Sie sah auf den ersten Blick, dass es sich bei dem Raum vor ihr um das Badezimmer handelte. Und soweit Lisa im diffusen Kerzenlicht sehen konnte, war es leer.

Aber warum brennt dann hier drin eine Kerze?

Es war leichtsinnig, wenn nicht sogar fahrlässig, eine brennende Kerze unbeaufsichtigt zu lassen. Lisa beschloss daher, sie zu löschen.

Obwohl alles in ihr darauf drängte, es bloß nicht zu tun, betrat Lisa das Bad. Nach zwei zögerlichen Schritten bemerkte sie, dass die Badewanne voller Wasser war. Nach einem weiteren Schritt entdeckte sie, dass jemand darin lag. Doch erst als sie direkt neben der Wanne stand, sah sie, dass die Person mit einem Schlafanzug bekleidet und von Kopf bis Fuß unter Wasser getaucht war.

Instinktiv beugte sich Lisa nach vorn und griff, ohne darüber nachzudenken, mit beiden Händen ins kalte Wasser. Sie packte die Person in der Wanne unter den Achseln und hob ihren Oberkörper an. Erst als der Kopf die Oberfläche durchbrach, erkannte sie anhand des langen hellblonden Haares, dass es sich um Andrea Stürmer handelte.

Lisa handelte automatisch. Sie wagte gar nicht, genauer darüber nachzudenken, was sie hier entdeckt hatte und was sie tat. Ansonsten hätte sie vermutlich längst die Beine in die Hand genommen und wäre schreiend davongerannt.

Sobald Andreas Hinterkopf auf dem Wannenrand ruhte, strich ihr Lisa mit der rechten Hand die nassen Haare aus dem Gesicht. Dabei hielt sie die reglose Frau mit der anderen weiterhin fest, da sie ansonsten wieder nach unten gerutscht und ins Wasser abgetaucht wäre.

Lisa zuckte vor Schreck zusammen, als ihr Blick von den weit aufgerissenen Augen der anderen Frau erwidert wurde. Doch sogleich stellte sie fest, dass die Augen ohne jeglichen Ausdruck und völlig leblos waren. Auch Andreas Mund stand offen. Er war bis zur Unterlippe mit Wasser gefüllt, das herauslief, als der Kopf der Frau nun zur Seite kippte. Nicht nur das, sondern auch die unnatürliche Blässe des vor Entsetzen verzerrt wirkenden Gesichts sagten Lisa, dass Andrea tot war. Dennoch sah sie es als ihre Pflicht an, auf Nummer sicher zu gehen. Außerdem wollte sie die Hoffnung nicht so schnell aufgeben. Deshalb fühlte sie am Hals der Frau nach ihrem Puls. Doch sie fand keinen. Darüber hinaus fühlte sich die Haut unter ihren Fingern zu kalt an, als dass es ihrer Meinung nach Hoffnung auf eine erfolgreiche Wiederbelebung gegeben hätte.

Sobald sie sich davon überzeugt hatte, dass Andrea Stürmer tot und ihr nicht mehr zu helfen war, wollte sie die Leiche nicht länger anfassen. Sie ließ daher los, richtete sich auf und wich einen Schritt zurück.

Der Leichnam verharrte noch einen Moment in seiner Position. Dann rutschten Oberkörper und Kopf am Wannenrand nach unten und versanken wieder vollständig im Wasser.

Geistesgegenwärtig nahm Lisa die brennende Kerze an sich und verließ mit ihr fluchtartig das Badezimmer.

Ihre Gedanken rasten. Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte. Natürlich musste sie umgehend die Polizei und den Notarzt rufen. Vielleicht gab es doch noch eine Chance, Andrea wiederzubeleben, sofern sich Profis mit der richtigen Ausrüstung darum kümmerten. Sie hatte schon oft von Fällen gehört, in denen Menschen ertrunken und dennoch erfolgreich zurückgeholt worden waren. Am liebsten hätte sie die Erdgeschosswohnung daher sofort verlassen und wäre in die relative Sicherheit ihrer eigenen Dachgeschosswohnung zurückgekehrt. Doch bevor sie ins Treppenhaus flüchten konnte, erinnerte sie sich wieder daran, dass ihr Festnetzanschluss nicht funktionierte und ihr Handy unauffindbar war. Sie musste wohl oder übel in dieser Wohnung nach einem Gerät suchen, mit dem sie die Behörden alarmieren konnte. Oder nach den Haustürschlüsseln, um das Haus verlassen zu können und die Nachbarn um Hilfe zu bitten. Außerdem musste sie sich darüber hinaus unbedingt davon überzeugen, was mit Andreas Mann und ihrem Sohn war.

Jäh bemerkte Lisa, dass sie am ganzen Körper zitterte. Zweifellos war das der Schock, den der Fund und der Anblick der Leiche ausgelöst hatten. Die Flamme der Kerze in ihrer Hand flackerte sosehr, dass sie befürchtete, sie könnte jeden Moment erlöschen.

Sie zwang sich dazu, mehrere Male tief durchzuatmen, und spürte, dass sie daraufhin ein bisschen ruhiger wurde. Sie hatte zwar immer noch Angst und wäre am liebsten weggelaufen, doch es war nicht mehr so schlimm wie zuvor.

Sicherheitshalber ließ sie die Tür zum Treppenhaus weit offen. Einerseits fiel so ein wenig Licht in den Flur, andererseits konnte sie dadurch schneller aus der Wohnung flüchten, sollte es sich als notwendig erweisen. Und eine leise, mahnende Stimme in ihrem Hinterkopf flüsterte Lisa beinahe pausenlos zu, dass es bestimmt notwendig werden würde.

Lisa wandte sich der Tür zu, die dem Badezimmer direkt gegenüberlag, und öffnete sie. Der Raum dahinter lag vollständig im Dunkeln. Auch hier waren der Rollladen heruntergelassen und der Gurt gekappt worden, es brannte aber keine Kerze. Sie blieb im Türrahmen stehen, hob die Hand mit der Kerze und sah sich in ihrem Lichtschein um. Es handelte sich um das Elternschlafzimmer, und soweit sie erkennen konnte, befand sich niemand darin. Das Doppelbett war auf einer Seite zerwühlt, aber dennoch leer.

Ihr Herz, das in Erwartung einer weiteren Leiche besonders heftig und schnell geschlagen hatte, beruhigte sich wieder ein bisschen, als sie sich abwandte und auch hier die Tür offenließ.

Auf dem Weg zur nächsten Tür auf der Seite des Schlafzimmers kam sie an einer Kommode vorbei, auf der das Festnetztelefon der Familie stand. Lisa nahm den Hörer ab und lauschte, konnte jedoch auch hier keinen Wählton hören. Sie legte seufzend auf und suchte auf der Kommode und in den Schubladen nach Schlüsseln oder einem Handy, wurde jedoch nicht fündig.

Schweren Herzens wandte sie sich der nächsten Tür zu. Auch hinter ihr brannte eine einsame Kerze. Lisas Beherztheit schwand, während ihr Herzschlag sich unwillkürlich wieder beschleunigte.

Während sie eintrat und sich umsah, fragte sie sich, woher sie überhaupt den Mut zu alldem nahm. Sie hatte sich bisher nie als besonders mutig betrachtet. Allerdings war sie auch noch nicht in einer vergleichbaren Situation gewesen.

Anhand der Möbel, der vielen Spielsachen, die auf dem Boden verstreut waren, der bunten Tapete und der fröhlichen Poster an den Wänden war der Raum eindeutig als das Zimmer des fünfjährigen Leon identifizierbar. Doch wo steckte der Junge?

Erneut hatte Lisa das Gefühl, innerlich zerrissen zu werden. Ihr Verstand und dabei vor allem diese ständig mahnende flüsternde Stimme in ihrem Hinterkopf wollten sie dazu bringen, das Zimmer nicht zu betreten, sondern im Gegenteil die Flucht zu ergreifen. Doch ihre Beine taten genau das Gegenteil und trugen sie zu dem Kinderbett in der hinteren rechten Ecke unmittelbar neben dem Fenster. Auch hier war der Rollladen heruntergelassen und, wie sie nun sah, der Gurt durchgeschnitten worden.

Das Bettchen war ungemacht, und unter der Decke zeichnete sich der Umriss eines kindlichen Körpers ab, der darin lag. Lisa hoffte, dass Leon nur schlief, doch da die Decke ihn vollständig bedeckte, war ihre Hoffnung nicht sehr ausgeprägt.

Ich will das nicht sehen!, dachte sie und schüttelte den Kopf. Dabei bemerkte sie, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen.

Doch sie musste sich davon überzeugen, was mit dem Kind los war. Schon allein deshalb konnte sie dem inneren Drang, der sie umkehren und davonrennen lassen wollte, nicht nachgeben, sondern war gezwungen nachzusehen. Ob sie wollte oder nicht!

Schließlich erreichte sie das Kinderbett, beugte sich nach vorn und streckte zögerlich die zitternde linke Hand aus.

Als beobachtete sie jemand anderen, sah Lisa dabei zu, wie ihre Finger nach der Bettdecke griffen. Dann verharrten sie sekundenlang, als wollten sie ihr die Möglichkeit geben, es sich doch noch anders zu überlegen. Aber trotz ihrer Angst vor dem, was sie finden würde, war ihr Pflichtgefühl stärker. Und so zog sie mit einem entschlossenen Ruck die Decke zur Seite.

Der Körper, der darunter zum Vorschein kam, war der eines fünfjährigen Kindes. Er rührte sich nicht. Den Kopf konnte Lisa allerdings nicht sehen, da das zur Bettdecke passende Kissen mit den aufgedruckten bunten Rennwagen auf dem Gesicht des Jungen lag und dieses vollständig bedeckte.

Lisa beschloss, dass sie sein Gesicht gar nicht sehen musste. Nicht wenn das Kind ohnehin tot war. Und um sich davon zu überzeugten, genügte es, wenn sie an dem Handgelenk, das ihr am nächsten war, nach dem Puls fühlte.

Leons Haut fühlte sich wie die seiner Mutter unnatürlich kalt und leblos an.

Die Kälte des Todes!

Außerdem war auch bei ihm kein Pulsschlag zu spüren.

Lisa hörte ein Schluchzen. Zuerst dachte sie, sie hätte sich geirrt, der Junge wäre doch noch am Leben und der Laut käme von ihm. Doch dann realisierte sie, dass sie selbst geschluchzt hatte. Sie nahm rasch die Decke und breitete sie wieder sorgsam über das tote Kind, das anscheinend mit dem Kissen erstickt worden war.

Während sie sich wie ein ferngesteuerter Roboter aufrichtete, umwandte und das Zimmer verließ, wischte sie sich mit zitternder Hand die Tränen vom Gesicht und fragte sich, was um Himmels willen hier bloß passiert war. Sowohl die Mutter als auch der Sohn waren tot. Allem Anschein nach waren sie bereits vor Stunden im Laufe der letzten Nacht ermordet worden. Doch wo steckte der Vater? War er ebenfalls tot? Oder – ein durchaus naheliegender und erschreckender Gedanke! – war er es gewesen, der die Morde begangen hatte?

Lisa hatte schon öfter von erweiterten Suiziden gehört oder gelesen. Dabei entschlossen sich in erster Linie verzweifelte Männer dazu, ihre Angehörigen mit in den Tod zu nehmen. Aus finanziellen oder persönlichen Gründen sahen sie keinen Sinn mehr darin, weiterzuleben. Und in ihrem selbstmörderischen Wahn glaubten sie, ihre Frauen und Kinder wären so ebenfalls besser dran.

Ist so etwas letzte Nacht auch hier geschehen?

Aber wie passten dann die anderen Todesfälle dazu? Schließlich waren in den letzten vier Tagen sämtliche Tiere im Haus und vier seiner sechs Mieter gestorben. Toni wohnte nicht hier, übernachtete nur dann und wann bei Lisa und zählte daher nicht dazu. Also blieben von den regulären Bewohnern jetzt nur noch Florian Stürmer und Lisa übrig.

Die einzig logische Konsequenz dieser Überlegungen war, dass Florian der Mörder seiner Frau und seines Sohnes war. Aber hatte er auch bei den Todesfällen der beiden alten Leute seine Finger im Spiel gehabt? War er dabei so geschickt vorgegangen, dass er in beiden Fällen über die wahren Todesumstände erfolgreich hatte hinwegtäuschen können? Möglich wäre es, beispielsweise indem er der alten Frau ein Mittel verabreicht hatte, das sich ungünstig auf ihr schwaches Herz ausgewirkt hatte. Oder indem er dem alten Mann auf der Treppe einfach einen Stoß versetzt hatte. Den Rest hatte dann die Schwerkraft in Zusammenarbeit mit der Trunkenheit des Opfers erledigt. Und hatte er darüber hinaus auch den Hund der alten Dame und Lisas Fische vergiftet?

Aber wieso sollte er all das getan haben?

Dass er seine Angehörigen mit in den Tod nahm, erschien ihr ja noch halbwegs nachvollziehbar und logisch, auch wenn Lisa es noch immer nicht verstehen konnte, warum man so etwas tat. Doch wieso sollte er darüber hinaus Frau Neumann, Herr Pawlak und die Haustiere töten?

Das ergibt keinen Sinn!

Grübelnd stand Lisa im Flur. Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte. Dabei kam ihr ein erschreckender Gedanke: Was, wenn Florian noch am Leben und in der Wohnung war? Und wenn er nur auf Lisa wartete, um sie ebenfalls zu töten?

Am besten wäre es natürlich, wenn sie hoch in ihre Wohnung ging, ihren Schlüssel holte und das Haus verließ. Doch wenn Florian hier irgendwo auf sie lauerte und hörte, dass sie die Wohnung verließ, würde er sie zweifellos verfolgen. Sie hätte dadurch also nichts gewonnen. Doch was sollte sie stattdessen tun.

Ich brauche unbedingt eine Waffe!

Der Gedanke erschien ihr nach allem, was geschehen war, nur konsequent. Mit einer Waffe – und wenn es nur ein Besenstiel wäre – würde sie sich zweifellos besser fühlen, denn dann wäre sie nicht länger wehrlos, sondern könnte sich gegen einen Angreifer verteidigen.

Außerdem schien Florian, wenn er wirklich der Mörder seiner Frau und seines Sohnes war, unbewaffnet zu sein. Denn Andrea war offensichtlich ertränkt und Leon erstickt worden.

Lisa hob den Blick und sah die Tür vor ihr an, die der Kinderzimmertür gegenüberlag. Der inneren Logik von Grundrissplänen folgend musste es sich dabei um die Küche handeln, während links von ihr, hinter der letzten Tür, das Wohnzimmer lag. Sicherlich würde sie in der Küche ein großes Messer finden. Und vielleicht entdeckte sie dort drinnen auch Haustürschlüssel oder ein Handy, womit ihr ebenfalls geholfen wäre.

Als sie nach der Türklinke griff, zuckte sie zusammen, denn durch die abrupte Bewegung tropfte ihr heißes Wachs auf die andere Hand, in der sie die Kerze hielt. Mit einem Zischen sog sie die Luft ein und biss dann die Zähne zusammen. Sie öffnete die Tür und atmete erleichtert auf, als sie feststellte, dass es in der Küche stockfinster war und hier keine Kerze brannte. Denn das hieß wohl, dass sie darin auf keinen weiteren Leichnam stoßen würde.

Sie betrat die Küche, bewegte sich dabei mit Bedacht, damit kein weiteres Kerzenwachs auf ihre Hand tropfte, und sah sich um. Die Küche war tadellos aufgeräumt, und nirgendwo lag etwas herum, das nicht hierhergehörte. Deshalb fand Lisa auch weder Schlüssel noch ein Mobiltelefon. Sie öffnete eine Schublade und fand darin Essbesteck. Doch die Messer hatten allesamt abgerundete Spitzen und waren daher als Waffe denkbar ungeeignet. In der Schublade daneben wurde sie jedoch fündig. Neben anderen Kochutensilien entdeckte sie eine Reihe von Messern, vom kleinen Gemüsemesser bis zum langen Brotmesser mit gezackter Klinge. Sie entschied sich für ein Fleischmesser mit Edelstahlgriff und einer etwa sechzehn Zentimeter langer Klinge, nahm die Kerze in die linke Hand und griff mit der Rechten nach dem Messer.

Sobald sie es in der Hand hielt, fühlte sie sich sogleich viel besser und nahezu allem gewachsen, was sie noch erwartete. Wenn Florian sich nicht ebenfalls umgebracht hatte und irgendwo auf sie lauerte, sollte er sich jetzt besser in Acht nehmen, denn sie war nicht mehr wehrlos, sondern bewaffnet.

Lisa verließ die Küche rasch wieder, blieb erneut im Gang stehen und dachte nach.

Sie könnte jetzt die Wohnung verlassen und ihre Schlüssel holen, um die Haustür aufzuschließen und aus dem Haus zu gehen. Dennoch zögerte sie.

Das Wohnzimmer war der einzige Raum in der Wohnung, den sie noch nicht gesehen hatte. Sobald sie dort ebenfalls nach dem Rechten gesehen hatte, konnte sie der Wohnung ruhigen Gewissens den Rücken kehren. Denn noch war noch längst nicht erwiesen, dass Florian Stürmer seine Familie ausgelöscht hatte. Es war nur eine vage Vermutung. Genauso gut konnte ein Fremder hier eingedrungen sein und die Familie angegriffen haben. Und der Familienvater lag nun womöglich mit schweren Verletzungen im Wohnzimmer und starb, wenn er nicht umgehend medizinische Hilfe bekam. Lisa konnte dieser Möglichkeit, so ungewiss sie auch sein mochte, nicht einfach den Rücken zukehren. Denn wenn der Mann aufgrund ihrer Feigheit starb, würde sie sich das nie verzeihen können.

Daher nahm sie erneut all ihren Mut zusammen, der anscheinend wesentlich größer war, als sie bislang vermutet hatte, und ging zur letzten Tür, die sie noch nicht geöffnet hatte.

Da sie keine Hand freihatte, legte sie die, in der sie die Kerze hielt, auf die Türklinke. Doch noch ehe sie diese nach unten drückte, horchte sie, ob sie ein Geräusch aus dem dahinterliegenden Zimmer hören konnte. Es blieb jedoch weiterhin so still wie schon die ganze Zeit, seit sie erwacht war.

Da sie inzwischen wusste, woher die Stille im Haus stammte – im wahrsten Sinne des Wortes handelte es sich dabei um die sprichwörtliche Totenstille –, erschauderte sie.

Doch sie ließ sich von diesen Gedanken nicht einschüchtern, sondern fasste sich ein Herz, atmete tief durch und öffnete entschlossen die Tür.

Augenblicklich wurde der Benzingeruch, an den sie sich bereits gewöhnt hatte, um einige Nuancen intensiver. Außerdem blendete sie das Licht, denn im Gegensatz zur restlichen Wohnung war das Wohnzimmer beinahe taghell erleuchtet. Das lag, wie Lisa alsbald feststellte, daran, dass hier nicht nur eine, sondern zahlreiche Kerzen aufgestellt und entzündet worden waren.

Lisa verharrte auf der Türschwelle und nahm den Anblick, der sich ihr bot, in sich auf. Sie sah sofort, dass jemand auf der Couch saß, als wartete die Person auf sie. Doch wegen mehrerer Kerzen, die zwischen ihnen auf dem Couchtisch standen und sie blendeten, konnte sie keine Einzelheiten erkennen. Sie nahm allerdings an, dass es sich um Florian Stürmer handelte.

Deutlich erkennen konnte sie hingegen die Worte, die mit dunkelroter Farbe hinter ihm über der Couch an die Wand geschrieben worden waren. Sie lauteten:

 

TÖTE, WAS DU LIEBST!

 

Lisa streckte die Hand mit dem Messer abwehrbereit nach vorn und umfasste den Griff unwillkürlich fester, während sie das Wohnzimmer betrat und langsam auf die Person auf der Couch zuging. Doch erst als sie den Teppich betrat, der in diesem Bereich einen großen Teil des Parketts bedeckte, erkannte sie, dass es sich bei der Person auf der Couch um Florian handelte.

Von dem, was sie darüber hinaus sah, war sie derart gebannt, dass sie auf nichts anderes mehr achten konnte. Weder auf ihre unmittelbare Umgebung noch auf das platschende Geräusch, das ihre Schuhsohlen auf dem Teppich verursachten.

Dieses Mal sah Lisa auf den ersten Blick, dass sie eine Leiche vor sich hatte und von dem Mann auf der Couch keinerlei Gefahr für sie ausging.

Von dem schockierenden Anblick geradezu gelähmt, starrte sie, ohne auch nur einmal zu blinzeln, auf die klaffende Halswunde und das unfassbar viele Blut, das daraus hervorgesprudelt und herausgespritzt war. Es hatte Brust und Schoß des Toten förmlich durchtränkt und war inzwischen größtenteils getrocknet. Florians Hinterkopf ruhte auf der Rückenlehne der Couch, als schliefe er nur. Doch die Augen waren, ebenso wie bei seiner Frau, weit aufgerissen und starrten blicklos zur Decke, als hätte er in den letzten Sekunden seines Lebens seiner Seele hinterhergeblickt, während diese bereits in den Himmel aufgestiegen war. Vielleicht hatte er aber auch nur versucht, die Schrift an der Wand über ihm zu entziffern, die zweifellos aus seinem Blut bestand, das sich beim Trocknen dunkel verfärbt hatte.

So viel also zu ihrer Theorie, dass dieser Mann seine Frau und seinen Sohn umgebracht hatte. Denn dann hätte er sich anschließend selbst die Kehle durchschneiden müssen. Doch dass jemand dazu in der Lage sein sollte, daran glaubte Lisa nicht. Außerdem sah sie nirgends ein Messer.

Außer …

Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob sie die Hand mit dem Fleischmesser und betrachtete es genauer. Und da erst bemerkte sie mehrere dunkle Flecken auf der Klinge und dem Griff, die wie das getrocknete Blut an der Wand aussahen. In der Küche, wo sie nur den trüben Schein der Kerze in ihrer Hand zur Verfügung gehabt hatte, war ihr das gar nicht aufgefallen.

Der Gedanke, dass sie das Messer in der Hand hielt, mit dem Florian Stürmer ermordet worden war, entsetzte sie und erfüllte sie gleichzeitig mit Abscheu. Sie wollte es nicht länger berühren und schleuderte es daher von sich. Es flog über die Couch, prallte unterhalb der blutigen Schrift an die Wand und fiel dann in den Zwischenraum zwischen Wand und Couch, wo sie es nicht mehr sehen konnte.

Lisas Gedanken rasten. Sie dachte daran, wie sie Andreas und Leons Leichen entdeckt hatte. Wahrscheinlich hatte sie dabei auch Spuren hinterlassen, so wie ihre Fingerabdrücke nun auf dem Messergriff waren? Hatte der Täter etwa gewollt, dass sie die Leichen fand und dabei genügend Fingerabdrücke, Hautschuppen, Haare und Fasern hinterließ, damit die Polizei hinterher glaubte, sie hätte diese Menschen getötet?

Der Gedanke entsetzte sie sosehr, dass sie unwillkürlich ein paar Schritte nach hinten taumelte, als hätte ihr jemand einen Hieb in den Magen versetzt. Dabei fiel ihr erstmals das platschende Geräusch auf, das ihre Schuhsohlen auf dem Teppich erzeugten. Sofort blickte Lisa erschrocken nach unten. Der Teppich war völlig durchnässt. Dem intensiven Geruch nach hatte er sich mit Benzin vollgesogen, das hier ebenso wie im Treppenhaus großzügig verschüttet worden war. Lisa war alarmiert. Sie musste den Teppich sofort verlassen. Und sie durfte auf keinen Fall die Kerze in ihrer Hand fallenlassen oder eine der anderen brennenden Kerzen in ihrer unmittelbaren Umgebung umstoßen.

Doch bevor sie auf den Parkettboden zurückweichen konnte, vernahm sie hinter sich ein leises Rascheln. Es hörte sich ganz nah an; zu nah, wie sie fand. Zweifellos war sie zu abgelenkt gewesen, um früher zu bemerken, dass sie nicht mehr allein war und jemand sich von hinten an sie herangeschlichen hatte.

So schnell wie möglich drehte sich Lisa um und hob den Blick, um der Person hinter ihr ins Gesicht sehen zu können.

Doch sie entspannte sich sofort wieder, als sie erkannte, wer vor ihr stand.

»Toni«, sagte sie erleichtert und lächelte voller Zuneigung. »Da bist du ja. Wo hast du denn bloß gesteckt?«

Toni antwortete nicht, sondern hob stattdessen die Hand, die bislang vor Lisas Blick verborgen gewesen war.

Da sah Lisa das Messer in der erhobenen behandschuhten Hand. Ein ganz ähnliches Messer wie das, das sie vor wenigen Sekunden weggeworfen hatte.

Bevor Lisa in irgendeiner Form reagieren konnte, schoss die Hand wie eine zuschnappende Klapperschlange nach vorn und stieß ihr die Klinge bis zum Heft in den Hals.

Lisa riss die Augen weit auf, weil sie einfach nicht glauben konnte, was hier geschah.

Wieso hast du das getan, Toni?, wollte sie fragen, doch aus ihrem Mund kamen keine Worte, sondern nur ein an ein ersticktes Gurgeln erinnerndes Röcheln, gefolgt von einem Blutschwall. Sofort verließen sie sämtliche Kräfte, und sie fühlte sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode erschöpft. Ihre Beine knickten unter ihr ein, und sie fiel nach hinten. Ihre kraftlosen Finger konnten die brennende Kerze nicht länger festhalten und öffneten sich.

Das Benzin …!

Es war einer der letzten bewussten Gedanken der jungen Frau. Dann landeten sie und die Kerze zum exakt gleichen Zeitpunkt auf dem benzingetränkten Teppich, der augenblicklich in Brand gesetzt wurde. Ihre Welt explodierte im Bruchteil eines Augenblicks in einem Inferno aus blendender Helligkeit, dem ohrenbetäubenden Lärm einer entfesselten Flammenhölle und wahnsinnig machendem infernalischem Schmerz.

Sie krümmte sich vor unbeschreiblichen Schmerzen. Und während das hoch auflodernde Feuer sie umschloss, dabei gierig ihre Kleidung sowie ihre Haare verzehrte und an ihrem Fleisch nagte, konnte sie durch eine Lücke in den Flammen einen letzten Blick auf Toni erhaschen.

Nun, viel zu spät, ergab der Spruch an der Wand für sie einen Sinn.

Töte, was du liebst!

Dann schloss sich der Flammenvorhang mit einer Endgültigkeit, die Lisa trotz der mörderischen Hitze und ihrer Qualen ein letztes Mal erschaudern ließ.

 

 

 

 

 

 

 

 

MITTWOCH

Kapitel 1

»Dafür sind Nachbarn doch da.«

 

Cat

 

12:42 Uhr

Nachdem sie tief in Gedanken versunken mit gesenktem Kopf das Haus betreten hatte, hob sie gerade noch rechtzeitig den Blick, sonst wäre sie in den Mann hineingerannt, der vor den Briefkästen im Treppenhaus stand.

Für ein paar Augenblicke waren beide zu perplex, um etwas zu sagen, und starrten sich nur gegenseitig an.

Cat nutzte die kurze Zeitspanne, um sich einen ersten Eindruck von ihm zu verschaffen.

Da sie ihn noch nie zuvor im Haus gesehen hatte, nahm sie an, dass es sich bei ihrem Gegenüber um den neuen Mieter handelte, der erst vor wenigen Tagen in Wohnung 4 im Obergeschoss eingezogen war. Außerdem entsprach er exakt der Beschreibung, die Bernie, ihr Hausverwalter, ihnen gegeben hatte.

Aufgrund der Mieterselbstauskunft, die alle Mietinteressenten bei der Besichtigung hatten ausfüllen müssen, wusste sie nur, dass er achtundzwanzig Jahre alt, ledig und von Beruf Informatiker war. Er arbeitete als Sicherheitsfachmann im Bereich Security und Datensicherung für ein großes Münchner IT-Unternehmen.

Doch nun konnten ihre Augen das lückenhafte Profil der freiwilligen Selbstauskunft ergänzen, und sie stellte dabei fest, dass sie es bei der Auswahl des neuen Mitbewohners durchaus schlechter hätten treffen können. Er hatte lockiges dunkelblondes Haar von mittlerer Länge, einen gepflegten Vollbart, strahlend blaue Augen und eine Ausstrahlung, die ihn sofort sympathisch erscheinen ließ. Für eine Frau war Cat mit ihrer Körpergröße von ein Meter achtzig nicht gerade klein, doch er überragte sie um eine ganze Handspanne. Außerdem war er schlank und hatte eine sportlich durchtrainierte Figur, trug verwaschene Jeans, ein kurzärmliges, hellgraues Henley-Shirt und schwarze Sneaker. An einem Riemen über der linken Schulter hing eine Laptoptasche, und in der rechten Hand hatte er die Post aus seinem Briefkasten, die allerdings hauptsächlich aus Reklame und Postwurfsendungen zu bestehen schien.

»Hallo«, sagte er schließlich und brach damit das Schweigen. Seine Stimme war tief und volltönend und ließ Cat erschaudern.

»Hallo«, erwiderte sie, fühlte sich dabei wie ein Papagei und lächelte unwillkürlich über diesen Gedanken. »Sie müssen der neue Mieter sein.«

Er nickte, wechselte die Post in die linke Hand und streckte ihr sodann die rechte zum Handschlag entgegen. »Sebastian Lehner. Und Sie sind …?«

Cat ergriff die dargebotene Hand. »Catharina Wolff. Allerdings wird Catharina mit einem C geschrieben. Darauf lege ich großen Wert.«

Sebastian überlegte kurz. »Sie wohnen in einer der beiden Erdgeschosswohnungen, habe ich recht?«

»In Wohnung 2«, bestätigte sie mit einem Nicken und deutete auf die Tür zu ihrer Wohnung, die am Ende des kurzen Hausflurs hinter ihm lag. »Zusammen mit meinem Lebensgefährten Maximilian Brandt.« Sie bemerkte, dass sie noch immer seine Hand hielt, ließ mit einem verlegenen Lächeln los und trat einen Schritt zurück.

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie müssen entschuldigen, Catharina, aber ich hab die Namen der anderen Hausbewohner noch nicht alle verinnerlicht. Und vor allem kann ich sie noch keinen Gesichtern zuordnen.«

»Nach der kurzen Zeit wäre das auch ein Wunder«, sagte sie. »Aber nennen Sie mich bitte nicht Catharina, sondern einfach nur Cat, denn das tun fast alle.«

»Cat?«

»So wie das englische Wort für Katze.«

»Interessant.«

Cat runzelte verwirrt die Stirn. »Was meinen Sie damit?«

»Nun, Sie heißen demnach also Cat Wolff. Was sind Sie denn nun eher, eine anschmiegsame, aber durchaus wehrhafte Katze oder ein einzelgängerischer, grimmiger Wolf?«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Aber jetzt, wo Sie es erwähnen …« Sie überlegte und zuckte dann mit den Schultern. »Wahrscheinlich bin ich eine Mischung aus beidem. Mal mehr die Katze, dann wieder eher der Wolf, je nach Stimmung und Tageszeit.«

»Gut zu wissen, Cat. Und Sie können Sebastian zu mir sagen.«

»Gern.«

Für mehrere Augenblicke schwiegen beide, als wüsste keiner, was er noch sagen sollte, schließlich hatten sie sich soeben erst kennengelernt. Das Gespräch schien damit beendet zu sein.

Sebastian biss sich auf die Lippen und schien zu überlegen. Er sah verunsichert aus, als wüsste er nicht, ob er mit der Sprache herausrücken sollte. Doch dann gab er sich scheinbar einen Ruck und ergriff das Wort: »Ich hoffe, das klingt jetzt nicht wie eine blöde Anmache, denn das soll es auf keinen Fall sein. Schließlich weiß ich ja, dass sie einen Freund haben. Aber hätten Sie nicht Lust, bei mir eine Tasse Kaffee, Cappuccino oder Latte macchiato zu trinken? Ich hab da diesen nagelneuen Kaffeevollautomaten, den ich noch gar nicht benutzt habe. Wieso weihen wir ihn nicht gemeinsam ein? Dann können Sie mir auch alles über die anderen Hausbewohner erzählen, damit ich nächstes Mal besser Bescheid weiß, wenn ich einem von ihnen über den Weg laufe. Bisher habe ich nur Herrn König kennengelernt, den Hausverwalter, der mit seiner Familie neben mir im Obergeschoss wohnt. Und jetzt natürlich auch Sie.« Er verstummte und sah sie erwartungsvoll an.

Cat dachte über sein Angebot nach. Max würde erst in etwa zwei Stunden nach Hause kommen. Ursprünglich hatte sie die Zeit bis dahin nutzen wollen, um ein Bad zu nehmen und sich zu entspannen. Doch das war nicht dringend und konnte durchaus warten. Außerdem war ihr Sebastian sympathisch. Sie wollte ihn daher gern näher kennenlernen und mehr über ihn erfahren.

»Na schön. Da ich ein bisschen Zeit erübrigen kann, nehme ich Ihre Einladung gerne an, Sebastian.«

»Das freut mich. Folgen Sie mir bitte.« Er drehte sich um und ging voraus. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn wir nicht den Aufzug, sondern die Treppe nehmen«, sagte er über die Schulter. »Aber erstens lohnt sich der Fahrstuhl für das kurze Stück gar nicht, und zweitens mag ich Aufzugkabinen nicht besonders.«

»Ich nehme auch lieber die Treppe«, sagte Cat, als sie ihm die Stufen nach oben folgte. »Die Bewegung, die man dadurch bekommt, schadet auf keinen Fall. Außerdem spart es Strom, und heutzutage sollte man keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, um unnötigen Stromverbrauch zu vermeiden. Gibt es einen besonderen Grund, weswegen Sie Aufzugskabinen nicht mögen?«

Sebastian warf über die Schulter einen Blick nach hinten und schenkte ihr ein schiefes Grinsen. »Ich hatte als Kind ein traumatisches Erlebnis, als ich im Aufzug steckenblieb.«

»Was ist passiert?«

Er blieb stehen, wandte sich ihr zu und senkte die Stimme, als wollte er verhindern, dass andere sie belauschten. »Ich lebte damals bei meinen Großeltern. Wir wohnten in einem achtstöckigen Wohnhaus in Sendling. Als ich eines Tages mit meinem Opa im Fahrstuhl nach oben fuhr, fiel der Strom im ganzen Viertel aus. Plötzlich wurde es stockfinster und die Aufzugkabine blieb abrupt stehen. Und die Notbeleuchtung funktionierte auch nicht.« Er verstummte und schien darüber nachzudenken, ob er weitersprechen sollte. Sein Blick war zur Seite und ins Leere gerichtet, als sähe er die Szene erneut vor seinem geistigen Auge.

»Sie müssen es mir nicht erzählen, wenn es Ihnen schwerfällt«, sagte Cat und legte mitfühlend ihre Hand auf seinen Unterarm.

Die Berührung riss ihn aus seiner Erstarrung. Er schien zu erschaudern und schüttelte den Kopf. »Mittlerweile habe ich kein Problem mehr damit, darüber zu sprechen. Allerdings werden dabei natürlich all die Erinnerungen wieder wach.«

Cat wartete geduldig, dass er weiterredete, was er nach einer kurzen Pause auch tat.

»Als die Kabine steckenblieb und es dunkel wurde, bekam mein Opa einen Herzinfarkt und starb. Ich hörte, wie er zu Boden fiel, rief immer wieder nach ihm, doch er antwortete mir nicht. Obwohl ich erst acht Jahre alt war, ahnte ich, dass etwas Furchtbares geschehen war. Ich durchsuchte die Kabine nach ihm und tastete im Dunkeln umher, bis ich ihn endlich fand. Er reagierte allerdings auch auf meine Berührungen nicht, während ich immer wieder, zunehmend verzweifelter und lauter ›Opa, Opa!‹ schrie, sodass es von den metallenen Wänden widerhallte. Schließlich berührte ich sein Gesicht, ertastete seinen Mund, der keine Atemluft einsog, seine Nase und schließlich seine Augen, die weit offen standen. Da erkannte ich, dass er tot war, und wich voller Entsetzen vor ihm zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Aufzugwand stieß und nicht mehr weiterkonnte. Dort kauerte ich schluchzend, bis ich schließlich befreit wurde.«

»Wie lange dauerte es, bis man Sie dort herausholte?«

»Man sagte mir, dass ich ungefähr eine halbe Stunde mit meinem toten Opa in der finsteren Aufzugkabine eingeschlossen gewesen sei. Mir kam es damals allerdings wie Stunden vor. Doch das Schlimmste daran war, dass ich mir die ganze Zeit über vorstellte, wie mein Opa sich plötzlich wieder rührte und auf mich zugekrochen kam. Als dann das Licht anging und der Fahrstuhl sich wieder in Bewegung setzte, wagte ich es daher nicht, die Augen aufzumachen und zu meinem Opa hinzusehen. Ich war davon überzeugt, dass sein Gesicht mit den weit aufgerissenen toten Augen nur Millimeter von meinem entfernt war. Und dass er mich lauernd anstarrte und nur darauf wartete, dass ich ihn ansah, um sich dann auf mich zu stürzen und mich zu verschlingen.«

Nachdem Sebastian verstummt war, herrschte für einen Moment atemloses Schweigen, bevor Cat es brach: »Was war mit ihrem Opa? Konnte er wiederbelebt werden.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, leider konnte man nichts mehr für ihn tun.«

»Das tut mir leid.« Cat drückte mitfühlend seinen Arm, bevor sie ihre Hand wegnahm.

»Danke.« Er sah sie an und lächelte dankbar.

»Was für ein traumatisches Erlebnis.«

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte er. »Danach habe ich jahrelang keinen Aufzug mehr betreten. Außerdem hatte ich Albträume, in denen ich wieder im stockfinsteren Fahrstuhl kauerte und etwas Schreckliches auf mich zugekrochen kam. Mittlerweile geht es wieder, sowohl was die Benutzung von Aufzügen als auch die Albträume betrifft. Trotzdem nehme ich, wenn möglich, lieber die Treppe. Ansonsten habe ich das Erlebnis aber ganz gut verarbeitet. Wie sagt man so schön? Die Zeit heilt alle Wunden.« Er zuckte mit den Schultern und grinste schief, dann wandte er sich um und brachte den Rest der Treppe hinter sich.

Cat folgte ihm.

Sobald sie das Obergeschoss erreicht hatten, wandten sie sich nach links. Der Aufzugsschacht befand sich am Ende des Ganges, beinahe im Zentrum des Gebäudes. Rechts und links davon führten Türen in die beiden benachbarten Wohnungen.

Sebastian wohnte auf der linken Seite. Er holte einen Schlüsselring aus der Hosentasche, wählte unter den Schlüsseln klimpernd den richtigen aus und schloss die Wohnungstür auf. Nachdem er hineingegangen war, trat er zur Seite und bat Cat mit einer entsprechenden Geste und einer angedeuteten Verbeugung, ebenfalls hereinzukommen.

»Hier sieht es teilweise noch aus wie auf einer Baustelle«, sagte er entschuldigend. »Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, alles so einzurichten, wie ich es haben möchte. Teilweise fehlen mir auch noch Möbel, denn ich wohnte zuvor jahrelang in einer viel kleineren Wohnung. Aber mittlerweile verdiene ich genug, um mir eine größere Wohnung und die horrende Miete in diesem Haus leisten zu können.« Er zwinkerte ihr zu, um anzudeuten, dass er einen Witz gemacht hatte.

Allerdings wusste Cat, dass die Miete für die Wohnung tatsächlich hoch war. Schließlich handelte es sich bei dem Gebäude um einen Neubau, der noch keine zwei Jahre alt war. Er stand im Münchner Süden im Stadtteil Harlaching in einem Wohngebiet, das Gartenstadt genannt wurde. Es enthielt sowohl Villen als auch Neubauten und grenzte unmittelbar an den Perlacher Forst, einem großflächigen Waldgebiet, das zum sogenannten Münchner Grüngürtel gehörte und als Naherholungsgebiet genutzt wurde. Ein marodes leerstehendes Gebäude hatte weichen müssen, um die Mehrfamilienvilla mit ihren fünf Wohnungen zu errichten. Auch die Ausstattung des Hauses war gehoben und anspruchsvoll. Vom edlen Lärchenholz für die Dachterrasse und die Balkone über den hochwertigen Dielenboden in Eiche und die Feinstein-Platten in den Sanitärbereichen, bis hin zu den dreifach verglasten bodentiefen Panoramafenstern in der eleganten Fassade. Es gab einen Aufzug vom Keller bis zum Penthouse im Dachgeschoss, beheizbare Handtuchhalter, wärmegedämmte Rollladenkästen mit elektrisch betriebenen Kunststoff-Rollläden und in allen Räumen Fußbodenheizung mit Einzelraumregulierung. Die Erdgeschosswohnungen verfügten über großzügige Sonnenterrassen mit Gartenanteil. Darüber hinaus besaß jede Wohneinheit einen vollwertigen Einzelstellplatz in der Tiefgarage und ein großzügiges Kellerabteil. Und bei der Errichtung des Hauses waren ausschließlich umweltfreundliche und lösungsmittelfreie Materialien verwendet worden. Der hohe Mietpreis war daher nach Cats Ansicht gerechtfertigt.

Sobald sie die Wohnung betreten hatte und an ihm vorbeigegangen war, schloss Sebastian die Tür.

Cat blieb abwartend stehen und sah sich um.

Es roch noch immer nach frischer Wandfarbe, denn die Wohnung war erst vor kurzem von einer renommierten Malerfirma aus der Umgebung gestrichen worden. Danach hatte sie zwei Wochen leer gestanden, bevor der neue Mieter eingezogen war. In dieser Zeit war Cat mit Bernie, dem Hausverwalter, hier gewesen, um sich die Wohnung anzusehen. Sie kannte sich daher in den Räumlichkeiten aus. Außerdem lag die Wohnung, die sie mit Max bewohnte, direkt unter dieser, und die Grundrisse beider Wohnungen waren bis auf ein paar minimale Abweichungen nahezu identisch.

Im Flur hatte sich zum damaligen Zustand nicht viel verändert, denn er war noch immer genauso leer und kahl. Wie Sebastian gesagt hatte, war er in den wenigen Tagen seit seinem Einzug noch nicht dazu gekommen, sich komplett einzurichten.

»Ich weiß, der Flur sieht noch nicht sehr bewohnt aus«, kommentierte Sebastian Cats Blick. Er musste an ihrem Gesicht abgelesen haben, was sie dachte. »Aber in anderen Bereichen der Wohnung bin ich bereits etwas weiter.«

Es handelte sich um eine Dreizimmerwohnung mit etwas mehr als 70 Quadratmeter. Die Tür zum Schlafzimmer lag vom Eingang her gesehen links. Der Wohnungstür direkt gegenüber befand sich das Badezimmer, daneben das Arbeitszimmer. Auf der anderen Seite des Flurs gab es zwei weitere winzige Räume; der erste diente als Abstellraum, der zweite als Gäste-WC. Das Ende des Flurs führte ohne Übergang oder Tür direkt in einen großzügig bemessenen Raum, der nicht nur dem Wohnen, sondern auch dem Kochen und Essen diente.

»Kommen Sie«, sagte Sebastian und wirkte plötzlich aufgeregt. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Cat runzelte irritiert die Stirn. »Ich hoffe, es handelt sich nicht um Ihre Briefmarkensammlung.«

Er lachte herzhaft. »Das würde ich nie wagen, Cat. Außerdem«, sagte er und bemühte sich im Anschluss um einen italienischen Akzent: »Isch ’abe gar keine Briefmarkensammlung.«

Sie mussten beide lachen. Cat nicht nur über seinen Humor, den sie sehr mochte und der ihn in ihren Augen noch sympathischer machte, sondern auch über seine miserable Imitation eines italienischen Akzents.

Sebastian ging den Flur entlang, bis er die Tür zum Arbeitszimmer erreichte. Wie alle anderen Türen war sie geschlossen. Er legte die Hand auf die Klinke und sagte geheimnisvoll: »Was ich Ihnen gleich zeigen werde, ist mit Abstand der wichtigste Raum in meiner Wohnung. Gewissermaßen das Allerheiligste.«

»Und wieso?«

»Schauen Sie selbst.« Er öffnete die Tür und trat ein.

Cat folgte ihm, blieb neben ihm in der Mitte des Zimmers stehen und sah sich um. »Wow. Hier sieht es ja aus wie im Kontrollzentrum der NASA.«

Auf sie wirkte es tatsächlich so, denn der kleine Raum war voller Computer und Monitore. Sie zählte mindestens fünf Computerbildschirme, dazu mehrere Rechner. Ein paar davon waren an und brummten oder surrten leise vor sich hin, doch auf den dazugehörigen Monitoren waren entweder nur Schwärze oder verschiedene Bildschirmschoner zu sehen, die unter anderem animierte Fische zeigten, die durch ein Aquarium schwammen.

Sebastian stellte seine Laptoptasche auf einen der Drehstühle und legte seine Post neben die Tastatur auf einem Schreibtisch. »Im Grunde ist es tatsächlich beinahe so etwas wie ein Kontrollzentrum, allerdings gehört es nicht der NASA, sondern mir.«

Für Cat wirkte er in diesem Augenblick wie ein Kind, das ihr voller Stolz seine Spielzeugsammlung präsentierte.

»Und was machen Sie damit alles?«