Das Dornenhaus - Di Morrissey - E-Book
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Das Dornenhaus E-Book

Di Morrissey

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Beschreibung

Im Jahre 1898 läßt Robert MacIntyre in den Urwäldern Australiens für seine über alles geliebte Frau Catherine den Palast Zanana bauen. Doch als Catherine bei der Geburt ihrer Tochter Kate stirbt, zerbricht das Glück, das über Zanana schwebt, und seine Bewohner zerstreuen sich in alle Winde. Die verlassene Villa verfällt - bis sie mehr als ein halbes Jahrhundert später von einem spielenden Mädchen entdeckt wird. Der verwunschene Ort läßt Odette nicht mehr los, und so macht sie sich Jahre später als junge Frau auf, endlich das Geheimnis von Zanana zu lüften ...

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Di Morrissey

Das Dornenhaus

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologIKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtIIKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnIIIKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigEpilogDanksagung

Für meinen OnkelJim RevittFür deine Liebe,für alles, was du mich gelehrt hast,und für alles, was du getan hast.

’Tis the last rose of summerLeft blooming allone;All her lovely companiosAre faded an gone.

Thomas Moore (1779–1852)

 

 

 

Letzte Rose, wie magst duSo einsam hier blühn?Deine freundlichen SchwesternSind längst schon, längst dahin.

(aus dem Libretto zu »Martha«von Friedrich von Flotow)

 

 

 

 

Wenn die Blätter derletzten Rose des Sommers fallen,brechen die dunklen Tage des Winters an.Verzweifle nicht, denn Frühlingund Hoffnung werden bald wieder blühen …

DM

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Prolog

Das Haus am Fluss

   

Kindcaid 1953

Der Fluss, wohl eine Meile breit, floss von der Stadt weg, gemächlich, spiegelglatt, matt glänzend wie altes Zinn. Mangroven säumten seine Ufer und schirmten die Vororthäuser ab, deren Gärten bis an den übel riechenden Sumpf reichten.

Dieser Teil des Paramatta River wirkte verlassen, doch verborgen im Wurzelgewirr und Geäst an seinen Ufern nisteten Zugvögel und zogen ihre Brut auf, tauchten Wasservögel nach Nahrung. Während der Ebbe marschierten Armeen von Einsiedlerkrebsen, gekleidet in blau-beige Uniformen, in scharrenden, knirschenden Formationen über den Schlick, bevor sie im schieferfarbenen Schlamm verschwanden, begraben unter unzähligen kleinen grauen Bläschen.

In der nachmittäglichen Stille unter den grauen Wolken und dem bleischweren Himmel bewegte nicht der kleinste Lufthauch die Blätter oder kräuselte die Wasseroberfläche. Dann war von der Biegung des Flusses her das rhythmische Schlagen von Rudern zu hören, als sich ein kleines Boot in diese wie gemalte Szene schob. Die Ruder wurden sauber und entschlossen durchgezogen, Tropfen fielen von den Ruderblättern herab und hinterließen eine Spur kleiner Kreise neben dem Boot.

Das Mädchen im Boot war elf Jahre alt. Odette Barber war groß für ihr Alter, trug eine verblichene rote Wollhose, einen grünen Strickpullover und feste Ledersandalen an den nackten braunen Füßen. Ihre Haut hatte die Farbe dicker Sahne, ihre großen Augen schimmerten aquamarinblau. Wirre rote Locken standen um ihren Kopf wie eine Aureole.

Sie hielt inne, ließ die Ruder schleifen und hob prüfend den Kopf. Ein Beobachter hätte meinen können, sie lausche einem unhörbaren Gesang, aber es war ein süßlicher Geruch, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein schwebender, schwacher Duft, der ihr vertraut vorkam, trieb auf sie zu und verflog wieder. Sie ruderte langsam weiter und hielt dann an. Diesmal war der Duft unverkennbar, er hing über dem Wasser, unsichtbar, aber süß und stark. Rosen.

Odette tauchte das rechte Ruder ein und ließ das linke in der Luft hängen, während sie das Boot näher ans Ufer steuerte. Sie hielt auf eine Lücke in den Mangroven zu, wo sich ein dichter grüner Vorhang aus Bambus, Trauerweiden und raschelnden Kängurubäumen von dem wilden, natürlichen Dickicht am Flussufer abhob. Ein Landungssteg ragte ins Wasser, die dunklen, modrigen Pfähle wie verrottete Zähne. Am Ufer stand ein ehemals hübsches Bootshaus, jetzt verfallen und zusammengesunken.

Furchtlos ruderte Odette zum Steg, zog die Ruder ein, kletterte die wackeligen Stufen hinauf und band das Boot an einem der Pfähle fest. Irgendwo in dem grünen Gewirr blühten Rosen. Der Herbst näherte sich, es mussten die letzten Rosen des Sommers sein. Wenn sie die Rosen fand, würde sie ihre Mutter damit überraschen. Odette wusste instinktiv, dass hier niemand lebte, denn die Stille und Verwahrlosung sprachen deutlich von Verlassenheit.

Polternd lief sie über den Steg, übersprang die fehlenden Bohlen und lugte in das leere Bootshaus, in dem die Überreste eines kleinen Stechkahns an den von Spinnweben überzogenen Dachsparren hingen. Vom Bootshaus führte ein mit Steinplatten ausgelegter Weg in den Bambushain. Die hohlen Bambusstämme standen wie Wächter, und ihre grünfedrigen Spitzen berührten sich an die sechs Meter über ihr. Odette blieb in dem luftigen grünen Hain stehen, lauschte auf das raschelnde Seufzen und das musikalische Knacken in dem alten Bambus. Sie fühlte sich wie in einer schützenden grünen Unterwasserhülle.

Der Bambushain, der den Anlegesteg abschirmte, öffnete sich auf einen terrassenförmig angelegten Garten. Dort, wo Odette stand, verdeckten Gebüsch und Bäume zusammen mit tropischen Pflanzen einen kleinen Felsvorsprung. Daneben befand sich einer der ersten Swimmingpools von Sydney. Eingerahmt von Sandsteinblöcken, strömte das tiefe, leere Rechteck einen durchdringenden Geruch nach vermoderten Blättern aus, die in der grünen, schleimigen Pfütze am Boden schwammen. Auf der anderen Seite standen zwei Badepavillons, die einst als diskrete Umkleidekabinen für die badenden Damen und Herren gedient hatten. Trotz des trostlosen Anblicks und des modrigen Geruchs blieb Odette stehen und stellte sich vor, wie elegant es einst ausgesehen haben musste: hellrosa Sandstein und kühles klares Wasser, auf einer Seite beschattet von den Bäumen, die es zum Fluss hin abschirmten. Sie stellte sich das Lachen und Juchzen einer Familie oder fröhlicher Paare vor, die hier in einer galanteren Epoche geplantscht hatten.

Rundherum waren die Rasenflächen und Blumenbeete mit Unkraut überwachsen, aber eine Reihe von Sandsteinstufen, begrenzt von dicken Steinbalustraden, führten über die Terrassen hinauf.

Odette folgte dem Pfad, vorbei an einem versunkenen Garten, in dem ein mit Schimmel überzogener Cherub von Ranken erdrückt wurde. Auf der Seite sah sie eine Art Sockel und schob, neugierig geworden, die hohen Gräser beiseite, um besser sehen zu können.

Es war eine Sonnenuhr, deren Granitsockel mit Moos und Flechten bewachsen war. Die Bronzescheibe war schwarz und grün vor Alter, genau wie die dreieckige Platte, die senkrecht in der Mitte angebracht war und einen scharfen Schatten in Richtung der römischen Ziffern am Außenrand der Scheibe warf. Unter der Platte war etwas in verschnörkelten Buchstaben eingraviert. Mit dem Ärmel ihres Pullovers rieb Odette den Schmutz ab, bis sie lesen konnte, was da stand.

Schatten der Vergänglichkeitzeigen an den Lauf der Zeit

Ein Schauder überlief sie, während sie die schöne Uhr betrachtete, die lautlos den unaufhaltsamen Lauf der Sonne verfolgte. Wie lange hatte sie hier schon gestanden und die Augenblicke festgehalten? Und welche Ereignisse hatten sich währenddessen hier abgespielt? In diesem Moment fühlte sich Odette mit einer Vergangenheit verbunden, die sie nicht kannte, und mit einer Zukunft, die Ungewisses bereithielt. Staunend legte sie ihre Hand auf die glatte, warme Oberfläche der Sonnenuhr und spürte flüchtig die Vergänglichkeit von Leben und Zeit.

Lichtfinger huschten über einen schlammigen Teich. Einst hatten hier Wasserrosen geblüht, und ein Springbrunnen hatte glitzerndes klares Wasser in den meergrünen Teich gesprüht. Jetzt enthielt er nur noch ein wenig brackiges Wasser, das die Wurzeln der Seerosen bedeckte. Eine traurige Schönheit ging von ihm aus, und Odette wandte sich ab.

Über eine Steinmauer strömte überwältigender Rosenduft auf sie ein. Sie bog um eine Ecke und stand plötzlich vor dem Rosengarten. Der Anblick nahm ihr den Atem.

Kein einfacher Rosengarten, nein, mehr als das, eine ganze Terrasse war mit Rosenbeeten und -lauben bepflanzt, und auch der Abhang dahinter war von Rosen überwuchert. Was einst liebevoll beschnitten und an Spalieren hochgezogen war, wuchs jetzt an einem Wirrwarr aus Farben und Arten durcheinander: Damaszener-, Moschus-, Moos- und Teerosen, Albas, Bourbonen, Gallicas, winzige Banksias, Babyrosen, wilde Rosen und Kletterrosen – alle kämpften in fröhlichem Durcheinander um Licht und Raum.

Odette betrat einen der Laubengänge, dessen bogenförmiger Eingang von Moschusrosen überwuchert war. Sie bewegte sich durch die mit weißen Blüten übersäten Sträucher hindurch und blieb hin und wieder stehen, um ihren milden, frischen Duft einzuatmen.

Hinter dem Torbogen bahnte sie sich ihren Weg durch die alten Rosenbeete, die über ihre viktorianischen Beetbegrenzungen aus Schmiedeeisen hinausgewachsen waren. Inmitten eines Rosendickichts konnte sie einen kleinen Metallzaun ausmachen, und über dem Rosengewirr erhob sich ein Marmorengel, dessen Sockel vom Wildwuchs überwuchert war. Seine Flügel waren schützend ausgebreitet, und er sah wie eine verlorene, einsame Gestalt aus, die ein Geheimnis hütete. Die dornigen Rosenbüsche hatten ihre Zweige zu einer undurchdringlichen Barriere verwoben, und Odette ging weiter.

Jetzt befand sie sich auf der obersten Ebene, wo sich ausladende Eichen und Rasenflächen mit kniehohem Gras bis zu einer Villa hinzogen, deren Türmchen und Schornsteine über dem Grün zu sehen waren. Odettes Sandalen knirschten auf dem Kies im Halbrund der Auffahrt, als sie auf den Vordereingang der verfallenen Villa zuging. Obwohl sie verlassen und vernachlässigt aussah, wirkte sie immer noch beeindruckend. Ehrfurchtsvoll blickte Odette zu der italianisierten Fassade empor. Eingemeißelt über der breiten Doppeltür stand Zanana 1898.

Auf Zehenspitzen ging sie die Sandsteinstufen hinauf zu der gefliesten Vorhalle unter den korinthischen Säulen, sie setzte die Fersen nicht auf, um kein Geräusch zu machen und die Geister und Geheimnisse im Inneren des Hauses nicht aufzustören.

Sie schob einen zerbrochenen Fensterladen zur Seite, rieb mit dem zerrissenen Pulloverärmel an dem staubigen Fenster und drückte ihre Nase an das Glas. Im Halbdunkel des Inneren konnte sie wenig erkennen, also ging sie um das Haus herum auf die weiträumige Veranda, wo das Licht durch das hölzerne Gitterwerk auf die Marmorfliesen fiel.

Schwere, von der Sonne ausgebleichte Vorhänge hingen vor den Glastüren und Fenstern, daher ging Odette weiter zur Rückseite des Hauses, an der ein Gewächshaus oder Wintergarten angebaut war, der sich an der ganzen Rückwand des Hauses entlangzog und im rechten Winkel seitlich um das Haus herumlief.

Das Ganze wirkte wie ein merkwürdiger Glaszylinder, teilweise mit purpurfarbenen und violetten Glasscheiben versehen, so dass es aussah wie eine dicke braunrote Raupe, die sich an das Haus klammerte. Eine Tür aus Gitterwerk stand offen, und Odette trat ein.

Einst hatten hier die ersten australischen Exemplare der »Saintpaulia« gestanden, entdeckt vom Baron von Saint Paul auf den Hängen der Usambaraberge in Tanganyika. Die winzigen zarten Blüten dieses kleinen afrikanischen Veilchens hatten einen Kontrast zu den auffallenderen und prächtigeren Orchideen gebildet, die entlang des ganzen Treibhauses wuchsen. Die Pflanzen waren längst verdorrt, nur ein paar zerbrochene Tontöpfe und Kästen zeugten noch von der wertvollen Sammlung. Das Licht, das durch das dicke, farbige Glas eindrang, verlieh der cremigen Haut des Mädchens einen bleichen, mauvefarbenen Schimmer und verwandelte den langen Gang in eine violett eingefärbte Welt. Der Boden war schwarz und weiß gefliest, und ihre Schritte hallten geisterhaft.

Odette versuchte, leise zu gehen, während sie sich durch diese merkwürdige farbige Welt bewegte. Plötzlich, als sie an der Ecke zur Seitenfront anlangte, blieb sie stehen. Ihr Herz schlug schneller. Von ferne hörte sie Schritte, die auf sie zukamen. Sie machte sich zur Flucht bereit, da hörten die Schritte auf. Hatte sie sich das Geräusch nur eingebildet? Zwei weitere Schritte, und sie würde um die Ecke sein und vor Augen haben, was immer sich dort befand. Der Gedanke wegzurennen, wohl gar von jemandem gejagt zu werden, schien noch beängstigender zu sein. Vielleicht hatte sie es sich ja wirklich nur eingebildet. Sie wartete eine Sekunde, holte tief Luft und ging um die Ecke.

Ihr Herz wollte stehen bleiben, und sie schlug die Hände vor den Mund, als sie direkt vor sich einen Jungen sah, der ebenso vorsichtig wie sie auf Zehenspitzen den Gewächshausgang hinunterkam.

»Wer bist du?«

»Was machst du hier?«

Sie sprachen beide gleichzeitig, dann traten sie zurück, um einander zu mustern.

Der Junge sah zwei aufgerissene, ängstliche, türkisblaue Augen, ein bleiches, vom einfallenden Licht violett überschattetes Gesicht mit zwei hellroten Flecken auf den Wangen und eine Wolke rostfarbener Locken. Sie erinnerte ihn an ein erschrecktes, fluchtbereites Reh.

Odette sah einen Jungen, der nicht viel älter war als sie, mit weichem braunem Haar, das ihm in die Stirn fiel, gefleckten haselnussbraunen Augen und Sommersprossen auf der kleinen geraden Nase.

Nachdem sie einmal den Schreck überwunden hatten, hier auf einen anderen Menschen zu stoßen, fühlten sie sich beide nicht mehr voneinander bedroht, und Neugier trat an die Stelle der Überraschung.

»Warum bist du hier?«, fragte der Junge.

»Ich schau mich nur um. Und du?«, wollte Odette wissen, entschlossen, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen.

»Ich wohne hier.«

»Hier? Das Haus sieht verlassen aus.«

»Nein, nicht im Haus. Mein Vater und ich wohnen in einem der Cottages hinten bei der alten Molkerei. Er ist der Verwalter und kümmert sich um alles.«

»Ach so.« Sie wollte nicht sagen, wie ungepflegt es ihr hier vorkam.

Der Junge lächelte zurückhaltend. »Ich hab mich auch umgeschaut. Ich komm oft hierher. Das Haus und der Garten – die sind interessant, nicht?«

»Es ist so anders. Ich wusste nicht, dass es das hier gibt.«

»Wie bist du hergekommen?«

»Ich bin auf dem Fluss gerudert und habe die Rosen gerochen, also hab ich am Steg angelegt. Es sah so … einladend aus.«

Seite an Seite gingen sie durch das Gewächshaus.

»Ja, das stimmt. Es hat etwas …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… etwas Besonderes an sich. Hast du das indische Haus schon gesehen?«

Odette schüttelte den Kopf. Als sie aus der Tür des Glastunnels traten, nahm der Junge die Rolle des Führers an. »Das ist alles original indisch. Komm mit. Wir gehen durch die Ställe … die sind sogar schicker als unser Haus. Die müssen hier früher tolle Pferde gehabt haben.«

Odette beeilte sich, um mit dem Jungen Schritt halten zu können, und lauschte aufmerksam, während er die ehemals prächtigen Ställe und das Torhaus beschrieb. Doch auf den Zauber des indischen Hauses war sie nicht vorbereitet. In einem abgelegenen Teil des Gartens standen sie plötzlich davor. Gebaut auf einer kleinen Anhöhe, doch versteckt hinter Bäumen, schien es einem Bild aus einem alten Märchenbuch entsprungen. Der Miniaturnachbau eines indischen Palastes wirkte fremdartig in dem edwardianischen Garten.

»Was ist das? Warum steht es hier?« Odette war wie verzaubert und lief die Marmorstufen hinauf.

»Mein Dad sagt, dass der Mann, der es gebaut hat, auf seiner Hochzeitsreise in Indien war und seiner Frau dort die Paläste und all das so gut gefallen haben. Daher hat er diesen hier für sie gebaut.«

»Wie romantisch.« Odette betrachtete die kunstvollen Schnitzereien an der Tür. Sie verzog die Nase. »Was ist das für ein Geruch?«

»Sandelholz. Riech mal.«

Gehorsam sog sie den Geruch ein, als sie die Tür aufstießen und in das dämmrige Innere traten. Odette schnappte nach Luft. »Oh, das ist ja wunderschön.«

»Ich kann mich nie daran satt sehen«, flüsterte der Junge. »Schau dir die Wände an.«

Behutsam ließ Odette ihre Hände über den staubigen Samt gleiten, der mit kleinen glitzernden Spiegelchen besetzt war. Der Samt war an einigen Stellen gebrochen, viele der Spiegel waren abgefallen und hatten schwache Klebstoffspuren in dem Blumenmuster hinterlassen. Die Samtbespannung zog sich bis halb zur Decke hinauf. Darüber und über die ganze Decke breiteten sich Miniaturfresken auf goldgerahmten Tafeln aus: geschmückte Elefanten, Radschas, Tiger, schöne Frauen in seidenen Saris, Affen und prächtige Gärten – exotische Illustrationen aus Mythen und Geschichte.

Am meisten aber faszinierten Odette die Fenster. Sie bestanden aus winzigen Stücken seltsam geformten Glases in verschiedenen Farben, die sich wie ein glitzerndes Puzzle ineinander fügten. Das Licht, das durch die Fenster auf den weißen Marmorboden fiel, zersplitterte die Myriaden vielfarbiger Fragmente und schuf so den Eindruck eines kunstvollen, funkelnden Teppichs.

Es gab kaum Möbel, bis auf eine große, quadratische Holzplattform mit hohen Pfosten an jeder Ecke, die einen gewölbten, geschnitzten Baldachin trugen.

»Ist das ein Bett?«

»Ich glaube, ja. Leg dich mal drauf und schau nach oben.«

Mit Hilfe eines kleinen geschnitzten Fußbänkchens kletterte Odette hinauf, streckte sich auf dem Holz aus und schaute mit einem entzückten Lachen nach oben. »Oooh … das ist ja wirklich toll.«

Der Junge kletterte auch hinauf. Ohne sich etwas dabei zu denken, lagen sie Seite an Seite und schauten hinauf zu dem glitzernden, juwelenbesetzten Nachthimmel, ein Kaleidoskop farbiger Steine.

»Sind das echte Edelsteine?«, fragte sie staunend.

»Keine Ahnung. Aber sie funkeln wie echte. Ich glaube, das Gold ist in jedem Fall echt.«

In kameradschaftlichem Schweigen staunten sie gemeinsam über das Wunder, bevor sie sich aufsetzten und ihre Beine über den Rand des hohen Bettes baumeln ließen.

»Wie heißt du?«, fragte der Junge.

»Detty.« Odette war selbst überrascht, dass sie ihm den Kosenamen genannt hatte, mit dem sie zu Hause gerufen wurde. »Und du?«

»Dean. Das ist nicht mein richtiger Name. Den mag ich nicht.«

»Dean gefällt mir.«

Odette kniete sich nieder und legte beide Hände um einen der geschnitzten Pfosten, um zu sehen, ob sich ihre Finger berührten. Sie konnte den Pfosten nicht umspannen.

»Das ist alles wunderschön.« Sie setzte den Fuß auf den kleinen Schemel und trat hinunter auf den Marmorboden.

»Soll ich dir ein Geheimnis zeigen?«

»Gibt es noch mehr?«

Dean sprang vom Bett und schob den Schemel von Odettes Fuß weg. »Sieh mal hier. Das hab ich zufällig gefunden.«

Der hölzerne Schemel hatte Klauenfüße und dicke geschnitzte Beine, die wie Baumäste geformt waren. An den Ecken waren grinsende Affenköpfe eingeschnitzt. Aufgestickte Blumen bedeckten die gepolsterte Oberfläche, und vorne war in der Mitte eine große Perle angebracht, umgeben von Staubperlen und Granaten.

»Meine Güte«, entfuhr es Odette.

»Ich hab mir die Perle angesehen, und schau …«

Er fummelte an der Perle und drückte darauf. Der Deckel des Schemels öffnete sich.

Odette riss staunend den Mund auf. Das Innere war mit rotem Samt ausgeschlagen. Ein dickes Papierbündel war mit einem silbernen Band umwunden, und daneben lag ein kleiner Samtbeutel. Dean nahm ihn heraus und gab ihn Odette, die ihn vorsichtig öffnete.

Ein kleiner, länglicher, grauer Stein und ein winziges Fläschchen glitten heraus.

Das Fläschchen bestand aus tintenblauem Glas mit eingeritzten Blumen. Der Stöpsel war aus Silber, graviert mit Ranken und Blüten. Sie schraubte den Stöpsel ab und roch an dem leeren Fläschchen. »Rosen. Es muss Parfüm enthalten haben.«

»Ich hab mir die Papiere angesehen, es scheinen Pläne vom Haupthaus zu sein. Zeichnungen und Maßangaben und so. Ganz interessant.«

Odette drehte das Fläschchen langsam in der Hand um. Sie hatte noch nie etwas so Kunstvolles gesehen.

»Was mag das wohl sein?« Der Junge befingerte den grauen Stein.

»Keine Ahnung. Wir sollten das wohl besser zurücklegen.« Widerstrebend gab sie Dean das Fläschchen, der den Stein wieder einwickelte und beides zusammen in den Beutel tat.

»Es könnte Unglück bringen, das mitzunehmen.«

Odette nickte und sah hinauf zum Fenster. Der Sonnenuntergang näherte sich. Sie musste nach Hause.

Dean begleitete sie zum Anlegesteg.

»Was wird mit alldem hier geschehen? Wem gehört es?«

Er zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Niemand scheint es zu wissen.«

»Darf ich wiederkommen?«

»Ich denk schon. Aber lass dich nicht von meinem Vater erwischen. Niemand darf das Gelände betreten. Nicht mal ich.«

»In Ordnung. Ich sehe zu, dass ich nächste Woche wieder das Ruderboot haben kann. Am Freitag nach der Schule.«

»Gut. Bis dann.« Er schaute zu, wie sie das Boot in die Flussmitte steuerte, bevor er sich durch den Garten zurück in das Verwalterhaus am anderen Ende des Grundstücks schlich.

Odette ruderte nach Hause, gefangen in einer Traumwelt, in der sie in einem solchen Haus voller Wunder lebte. Beim Abendessen konnte sie nicht mehr an sich halten und platzte mit ihrer Geschichte über das unglaubliche Haus am Fluss heraus.

Ihre Mutter hörte lächelnd zu, während sie ihr von der Fleisch- und Nierenpastete auftat. »Du und deine Geschichten, Detty! So viel Phantasie.«

»Aber das ist nicht erfunden, Mum! Da ist ein riesiges Haus. Über der Eingangstür steht Zanana.«

Ihr Vater häufte sich Erbsen auf den Kartoffelbrei. »Ich hab davon gehört. In der Nähe von Cuddys Haus führt ein breiter Privatweg von der Hauptstraße dorthin. Aber er ist gesperrt. Du solltest da nicht hingehen, Liebes. Das ist unbefugtes Eindringen, weißt du. Du könntest Ärger bekommen.«

»Wenn dir dort etwas zugestoßen wäre, hätten wir dich nie gefunden«, fügte ihre Mutter hinzu und zauste ihr das Haar. »Edelsteine im Baldachin, also wirklich. Ich würde niemandem davon erzählen, Schätzchen. Heb’s dir für eine der Geschichten auf, die du so gerne schreibst.«

 

Dean antwortete seinem Vater ausweichend auf die Frage, wo er den Nachmittag über gewesen sei.

»Deine Arbeit hast du auch nicht gemacht. Ich musste die Schweine selbst einsperren.«

»Tut mir leid, Dad.«

Schweigend aßen sie weiter, der Vater betrachtete seinen Sohn und dachte, wie sehr er doch seiner Mutter ähnelte, an die sich der Junge nicht erinnern konnte.

»Du warst doch hoffentlich nicht drüben beim großen Haus. Du weißt, dass das verboten ist. Ich will nicht, dass du dorthin gehst.«

»Aber warum, Dad?«

»Es ist voll schlechter Erinnerungen und hat allen nur Unglück gebracht. Je eher du von hier wegkommst und dir deinen eigenen Platz in der Welt schaffst, desto besser. Du wirst Zanana vergessen.« Er hatte schärfer gesprochen als beabsichtigt, denn der Junge hörte auf zu essen und sah ihn mit verletztem Blick an. »Mach deine Hausaufgaben fertig, damit du einen guten Job kriegst und später deinen alten Vater versorgen kannst«, fügte er barsch hinzu.

Der Junge stand auf und räumte das Geschirr ab.

»Nun lauf schon, ich spüle heute das Geschirr. Mach deine Hausaufgaben fertig, dann kannst du danach das Hörspiel im Radio hören.«

»Oh, prima! Danke, Dad.« Pfeifend lief er davon.

Sein Vater blieb noch einen Moment am Tisch sitzen, dann fuhr er sich mit der Hand über die Augen. »Das verdammte Haus«, murmelte er vor sich hin. »Verflucht seien sie alle!«

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I

Die Vergangenheit – KateDie Gegenwart – Odette

   

Kapitel eins

Zanana 1899

Die Nachmittagssonne blinkte in einem der oberen Fenster und spiegelte die stämmigen Eichen und Fichten in der Scheibe wider. Die irisierende Landschaft verschwamm, als der Spitzenvorhang wieder herabsank.

»Was schaust du, Catherine?«

»Ich habe den Garten betrachtet – ich dachte, wie schön es wäre, wenn dort Kinder spielen würden«, seufzte die junge Frau.

Robert MacIntyre legte die Zeitung beiseite, trat zu seiner Frau und schlang ihr den Arm um die schlanke Taille. »Liebste, ich verstehe, was du empfindest. Auch ich hätte gerne Kinder. Aber die Zeit wird es weisen.« Er gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange.

Sie befühlte den schweren Spitzeneinsatz über ihrem flachen, unfruchtbaren Leib. »Ich habe das Gefühl, dich zu enttäuschen, Robert. Vielleicht sollte ich noch einmal Doktor Hampson aufsuchen.«

»Dazu besteht kein Anlass, mein Schatz … es sei denn, du fühlst dich nicht wohl?«

Sie lächelte schwach. »Nein, mir geht es recht gut. Vielleicht ein Tässchen Tee. Ich werde nach Mrs. Butterworth klingeln.« Sie griff nach der samtenen Klingelschnur neben der Tür und zog leicht daran.

Im Gegensatz zu dem etwas steifen, wenn auch gemütlichen Wohnzimmer im ersten Stock war die Küche im Erdgeschoss ein geräumiger, weiß gestrichener Raum mit hohen Fenstern, die zum Küchengarten und den Dienstbotenquartieren hinausgingen. Der Boden war mit großen schwarz-weißen Fliesen ausgelegt. Und massive gusseiserne Öfen, vor kurzem geschwärzt und gereinigt, standen an der einen Wand neben dem mit Holz beheizten Herd und dem Rauchfang, in dem Fleisch zum Räuchern hing.

Drei große Holztische wurden als Arbeitsflächen benutzt. In Hängeschränken, deren Türen mit schmalen farbigen Glasscheiben versehen waren, war das Gebrauchsgeschirr untergebracht. Alle Arten von Kochutensilien, von Eisentöpfen und Pfannen bis zum hölzernen Butterfass, hingen an den Wänden oder standen in ordentlichen Reihen auf Borden.

Eine Schwingtür führte zur Speisekammer, in der die Vorräte aufbewahrt wurden: Kisten mit Gemüse, Tontöpfe mit Eingelegtem, Säcke mit Mehl und Zucker, große, runde Dosen mit importiertem Kaffee und Tee und Reihen von Gläsern mit selbstgemachter Marmelade, Gelees, Chutneys und eingemachtem Obst.

Als die Klingel ertönte, klappte die emaillierte Nummer vierzehn in einem Holzkasten mit einer Reihe von Zahlen auf, unter denen in sauberer Schrift die Zimmerbezeichnungen vermerkt waren. Unter Nummer vierzehn stand »Kleines Wohnzimmer«.

Mrs. Butterworth war dabei, Pastetenteig auf einem Marmorbrett auszurollen. »Sie werden ihren Tee haben wollen. Ich mache ihn gleich fertig.«

Gladys Butterworth, eine stämmige, rundliche Frau, die gerade ihr drittes Lebensjahrzehnt erreicht hatte, wies schon graue Strähnen in den Löckchen auf, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatten. Ihre Wangen waren vor Gesundheit und von der Hitze des Ofens gerötet. Mit beiden Händen hob sie den dampfenden Eisenkessel vom Kaminvorsprung, nachdem sie ein dickes Tuch um den heißen Griff gewickelt hatte, um sich nicht zu verbrennen. Rasch band sie ihre Arbeitsschürze ab und griff nach der gestärkten weißen Servierschürze mit der Häkelspitze, die neben der Tür an einem Messinghaken hing. Sie zog die Schürze über den Kopf und steckte die widerspenstigen Löckchen in ihrem Knoten fest.

Ihr Mann Harold wusch sich im emaillierten Küchenausguss mit Kernseife die Hände, trocknete sie ab und glättete sich das Haar. Er zog sich die gute Jacke über die Weste, während er seiner Frau half, das Teegeschirr vorzubereiten. Harold war ein rotgesichtiger, drahtiger Mann mit dunkelbraunem, kurz gestutztem Haar, dessen Strenge durch einen Wirbel mitten auf dem Kopf gelockert wurde.

Oben im Wohnzimmer seufzte Robert MacIntyre. Er war ein gut aussehender Mann mit dunklen, scharf geschnittenen Zügen und untersetztem, muskulösem Körperbau. Ein aktiver, erfolgsgewohnter Mann, aber in dieser Angelegenheit fühlte er sich hilflos. Nach drei wundervollen Ehejahren mit seiner liebreizenden Catherine wünschte auch er sich Kinder, und es schmerzte ihn tief, sie so traurig und verzweifelt zu sehen. Es war ihm unerklärlich, genau wie den Ärzten, warum ihre glückliche Ehe nicht mit einem Kind gesegnet war.

Sie hatten so vieles zu bieten. Sie liebten sich sehr, führten ein glückliches Leben, Robert war ein erfolgreicher, äußerst wohlhabender Kaufmann, ein Selfmademan, der das »grandioseste Haus von Sydney« erbaut hatte, wie der Sunday Morning Herald Zanana beschrieben hatte. Wieder seufzte Robert und lehnte sich in dem tiefen Lederclubsessel zurück.

Diskret und ohne viel Aufhebens betraten Harold und Gladys Butterworth den Raum, als das Licht zu schwinden begann. Mrs. Butterworth stellte das silberne georgianische Teeservice auf den Teewagen und rollte ihn zu Catherine. Mr. Butterworth zog die schweren weinroten Vorhänge zu und knipste das elektrische Licht an, dann bückte er sich, um die Scheite anzuzünden, die schon im Kamin bereitlagen.

Der Feuerschein flackerte über die Blumen und Vögel auf den handbemalten Kacheln, die den Kamin einrahmten. Mr. Butterworth richtete sich auf und legte die Lederschachtel mit den Wachszündhölzern an ihren Platz neben den silbergerahmten Fotografien auf dem Kaminsims zurück.

»Vielen Dank, Harold.« Catherine reichte Mrs. Butterworth die geblümte Porzellantasse. »Mrs. Butterworth, würden Sie bitte den Tee für Mr. MacIntyre einschenken?«

Mrs. Butterworth brachte Robert die gefüllte Tasse, er dankte ihr mit einem kleinen Lächeln. Leise folgte sie ihrem Mann aus dem Zimmer und schloss sanft die Doppeltüren aus Zedernholz mit den glänzenden Messinggriffen hinter sich.

Catherine stellte ihre Teetasse auf den kleinen Tisch neben dem Brokatsofa und griff nach ihrer Stickerei. Robert trank nachdenklich seinen Tee und starrte in die Flammen der nun hell lodernden Holzscheite.

Wäre da nicht das gelegentlich auftauchende Schreckgespenst des ›fehlenden Kindes‹, überlegte Robert, könnte er nicht glücklicher sein. Er stand jetzt in seinem einundvierzigsten Lebensjahr und hatte mehr erreicht, als er sich je erträumt hatte.

 

Mit neunzehn war Robert von Schottland nach Sydney gesegelt und mit fürstlichen fünf Pfund in der Tasche in diesem rauen neuen Land gelandet. Seine Mutter war gestorben, als er noch klein war, sein Vater war bei einem Jagdunfall im Dienste des Earl of Lord ums Leben gekommen. Der MacIntyre-Clan lebte weit verstreut, und abgesehen von der jüngeren Schwester seines Vaters war niemand da, der sich des Waisenknaben annehmen wollte. Der Earl hatte für die letzten Jahre von Roberts schulischer Ausbildung gesorgt, dann hatte Robert die dürftigen Besitztümer seines Vaters verkauft und war, versehen mit einer kleinen Geldbörse, die der Earl ihm gegeben hatte, nach Glasgow gefahren. Dort hatte er die Schiffspassage nach Australien bezahlt, dem Land der großen Möglichkeiten.

Robert hatte schnell begriffen, dass er in Sydneytown Dieben und rücksichtslosen Männern ausgeliefert war, die nur darauf warteten, einen naiven jungen Burschen frisch aus dem Heimatland auszunutzen. Doch Robert besaß den Vorteil einer guten schulischen Grundbildung und dazu einen scharfen Verstand sowie Zähigkeit und Robustheit, ererbt von den Mitgliedern seiner Familie, die seit Generationen in rauer Umgebung überlebt hatten.

Wie viele andere Hoffnungsvolle, die der Stadt auf der Suche nach Reichtum den Rücken kehrten, machte sich auch Robert auf zu den Goldfeldern in New South Wales, nach Wattle Flat am Rande der aufstrebenden Goldgräberstadt Hill End. Doch bevor er seinen Claim absteckte, hatte der vorsichtige junge Schotte mit erfahrenen Goldgräbern gesprochen, die schon seit den Anfangstagen des Goldrauschs in diesem Gebiet waren, und von ihnen hatte er so viel wie möglich gelernt.

Ihm wurde schnell klar, dass er einen Partner brauchte, mit dem er sich die Arbeit teilen konnte – und auch aus Sicherheitsgründen. Die Goldgräber bewachten ihre Claims scharf, weil Diebstahl an der Tagesordnung war. Ein einzelner Mann konnte diese Aufgabe nicht bewältigen. Jemand musste die Winde bedienen, mit der die Körbe voll Erz aus dem Schacht hochgezogen wurden, und ein Einzelner konnte nicht gleichzeitig an der Winde arbeiten und die Mine bewachen.

Robert sah sich auf den Goldfeldern um, um zu entscheiden, wo er seinen Claim abstecken wollte, obwohl unbearbeitetes Land allmählich rar wurde. Tausende hoffnungsvoller Männer strömten immer noch in den Bathurst Distrikt, mit zwei Pfund in der Tasche für die Goldgräberlizenz, einer Schürfausrüstung und dem Traum vom leicht erworbenen Reichtum.

Verschiedenste Gruppen, meist verbunden durch ihre nationale oder ethnische Zugehörigkeit, hatten gemeinsame Lager aufgeschlagen und Claims abgesteckt. Außerhalb der Stadtgrenze, hinter dem Friedhof für Weiße, befand sich das Chinesenlager. Sie galten als seltsame Gesellen aufgrund ihrer komischen Kleidung, den spitzen Hüten und den langen Zöpfen. Man betrachtete sie mit Misstrauen und oft mit Hass. Chinesen, die nicht nach Gold gruben, bestätigten sich als Ladenbesitzer, betrieben Spielsalons, Glücksspielhäuser und Opiumhöhlen oder hatten Wäschereien und Gärtnereien eröffnet.

Da er sich einsam fühlte und auch neugierig war, hatte sich Robert eines Tages in den raucherfüllten Schatten hinter dem Schuppen von Wing Ons Wäscherei geschlichen und entdeckt, dass hier schlitzäugige Frauen lethargisch ihre Röcke hoben und ihre Körper jedem Mann darboten, der den geforderten Preis bezahlte. Aber der Anblick, die Geräusche und Gerüche hatten ihn abgeschreckt, und er hatte sich rasch zurückgezogen, da er es weder für den richtigen Moment noch die angemessene Art hielt, seine Jungfräulichkeit zu verlieren. Dieses Geheimnis konnte noch warten.

Im Hinterkopf behielt Robert das flüchtige Bild einer schönen, blondhaarigen Frau, hübscher, lachender Kinder und einer großen Villa am Ufer eines rauschenden Flusses. Diese Vorstellung entsprang einer anderen Welt, dem Leben anderer Menschen, in Büchern erschaut und nur in seinen Träumen lebendig. Er nahm sich fest vor, dass er all dies erreichen und an die Seinen vererben würde … eines Tages.

Robert war verschiedentlich am Chinesenlager vorbeigekommen und hatte einen neu angelegten Gemüsegarten bemerkt, der von einem Chinesenjungen in seinem Alter bearbeitet wurde. Als er sich an diesem Tag näherte, sah er, dass sich eine Menschenmenge um den Gemüsegarten versammelt hatte. Eine rüde Prügelei war im Gange, und er eilte rasch hinzu. Der Chinesenjunge schien gegen einen bulligen Goldgräber zu verlieren, einen rothaarigen Iren, den Robert schon bei diversen Kneipenschlägereien gesehen hatte. Gemüse war aus dem Boden gerissen worden, und der Junge stolperte über einen dicken Kohlkopf. Der Ire warf sich mit Triumphgeheul auf seinen viel kleineren Gegner.

»Was ist denn da los?«, fragte Robert den neben ihm stehenden Mann.

Der füllige Bursche zuckte die Schultern. »O’Mally glaubt, das Schlitzauge hat Gold unter dem Gemüse vergraben.«

»Wessen Gold?«

»Ach, Junge, wen kümmert das – Hauptsache, es gibt einen ordentlichen Kampf.« Er wandte sich wieder O’Mally zu, der auf den Chinesenjungen einprügelte.

Robert warf sich dazwischen. Er schnappte sich eine Schaufel und schmetterte sie dem wild gewordenen Iren auf den Schädel, der daraufhin wie ein gefällter Baum zu Boden ging. Der Menge brüllte und johlte. O’Mally rieb sich den Schädel und schaute zu dem stämmigen Schotten auf, der drohend die Schaufel schwang.

»Wenn du den Kampf beenden willst, dann beende ihn mit mir«, knurrte Robert.

Der Ire war müde und schätzte rasch Roberts Wut und seine Stärke ein. »Ach, steck’s dir sonst wo hin, Kumpel, mit dir hab ich doch nichts zu schaffen.« Er kam taumelnd auf die Füße und deutete auf den zusammengeschlagenen, blutenden Chinesenjungen. »Nächstes Mal grab ich dein ganzes verdammtes Feld um und schlag dir den Schädel ein.«

Als die Menge hinter O’Mally wieder zur Stadt hinunterstolperte, half Robert dem Jungen hoch. »Alles in Ordnung?«

»Wie seh ich aus?«

»Ziemlich jämmerlich.«

»So fühl ich mich auch. Danke. Ich steh in deiner Schuld. Mein Name ist Hock Lee«, sagte der Junge mit einer sanften Singsang-Stimme und streckte Robert die Hand hin. Die Männer schüttelten sich die Hand.

»Ich bin Robert MacIntyre. Worum ging’s denn hier?«

»Ich weiß es nicht genau. Die haben unten am Bach gesoffen, und dann kamen sie hierher, während ich im Garten arbeitete, und haben behauptet, ich hätte ihr Gold gestohlen und es vergraben. Ich glaube, die waren nur auf eine Prügelei aus. Diesmal war eben ich der Prügelknabe.« Sie wandten sich dem Lager zu, Hock Lee humpelte steif neben Robert her. »Auf uns wird ständig rumgehackt. O’Mally hasst uns ganz besonders. Beim letzten Mal hat er versucht, unseren Tempel abzubrennen. Behauptete, wir würden mit der Asche unserer Toten Gold nach China zurückschmuggeln. Einmal haben sie Dynamit in die Feuerwerkskörper gesteckt, mit denen wir unser Neujahr feiern. Das Verrückte ist, dass ich noch nie nach Gold gegraben habe – mein Vater führt den Gemischtwarenladen, und ich helfe ihm dabei.«

Robert gefiel dieser Hock Lee. Er hatte mit niemandem seines Alters mehr geredet, seit er nach Wattle Flat gekommen war. »Du sprichst ein sehr gutes Englisch. Wo kommst du her?«

»Aus Sydney. Meine Mutter und mein Vater sind vor Jahren aus Kanton nach Australien gekommen, da war ich noch klein. Eine lange Geschichte … aber eine recht interessante.«

»Die würde ich gerne mal hören.«

Hock Lee sah schüchtern zu Robert auf und lächelte. »Würdest du wohl mit uns Tee trinken wollen? Wenn es meiner Mutter auch nicht gefallen wird, mich so zu sehen.« Zerknirscht berührte er seine aufgeplatzte Augenbraue und die blutende Lippe.

Robert verbrachte den Rest des Nachmittags im Schatten des Baumes neben der einfachen Hütte der Familie und unterhielt sich mit Hock Lee. Sie stellten fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten und beide den Ehrgeiz besaßen, es in dieser Welt zu etwas zu bringen.

»Ich dachte, ich wäre der Einzige, der so hochfliegende Träume hat«, lachte Hock Lee.

»Aber das Träumen bringt uns nicht ans Ziel. Dazu braucht man Geld«, seufzte Robert.

Hock Lee sah ihn nachdenklich an. »Gold … und ein bisschen Glück. Das könnte der Schlüssel zu unserem Erfolg sein.«

Die beiden jungen Männer begannen sich ernsthaft zu unterhalten. Bei Anbruch der Nacht hatten sie sich darauf geeinigt, Partner zu werden und gemeinsam einen Claim abzustecken.

»Mein jüngerer Bruder kann meine Arbeit hier übernehmen, ich bin sicher, dass mein Vater nichts dagegen hat. Aber die Leute werden unsere Partnerschaft recht ungewöhnlich finden«, meinte Hock Lee. »Könnte sein, dass deine eigenen Leute dich mit schiefen Augen betrachten.«

»Wenn eine auf Vertrauen und Aufrichtigkeit gegründete Partnerschaft ungewöhnlich sein soll, dann ist es eben so.« Robert streckte die Hand aus, und Hock Lee drückte sie mit festem Griff.

Roberts Sicherheit in der Einschätzung und Beurteilung anderer sollte sich bei seinen Geschäften als seine wertvollste Eigenschaft erweisen, die ihn selten im Stich ließ. Seine impulsive Freundschaft mit Hock Lee und ihre zwanglose Partnerschaft bewährte sich in all den Jahren, in denen sie zusammen waren.

Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen Robert allein auf einen Drink in den »Green Man Pub« ging, war er gezwungen, seinen Freund und Partner mit den Fäusten zu verteidigen. Aber die Trinker und Skeptiker hörten auf zu lachen, als die beiden auf eine ergiebige Goldader stießen und einige Monate später die Goldfelder als reiche junge Männer verließen.

Sie hatten sich geeinigt, eine Zeit lang ihre eigenen Wege zu gehen, und Hock Lee ging nach Melbourne und eröffnete eine Kette lukrativer Restaurants und Teehäuser. Robert blieb in Sydney, besuchte aber weiterhin Hock Lees Familie, die mit ihrem Laden ebenfalls ein Vermögen gemacht hatte, nach Sydney zurückgegangen war und sich in einem großen Haus am Meer im vornehmen Stadtteil Mosman niedergelassen hatte.

Als Robert Mitte zwanzig war, hatte er als Gründungsmitglied der Mercantile Bank sein Vermögen verdoppelt und unterhielt eine Zuckerrohrfabrik im Norden von Australien. Die Ernten waren gut, und die Kanaken – Arbeiter von den pazifischen Inseln –, die zur Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern eingesetzt wurden, erbrachten durch ihre Plackerei beachtliche Gewinnzahlen in den Rechnungsbüchern.

Nach mehreren Jahren kehrte Hock Lee nach Sydney zurück und eröffnete ein großes Warenhaus. Die beiden Freunde vereinten erneut ihre Kräfte und gründeten eine Import-Export-Firma. Sie importierten Güter für das Warenhaus und exportierten Wolle und Kohle. Später gründeten sie ihre eigene Schifffahrtsgesellschaft, statteten ihre Frachtschiffe mit Kühlräumen aus und konnten so Fleisch und Milchprodukte nach England exportieren. Robert und Hock Lee widmeten ihre gesamte Zeit, ihre Energie und ihr Interesse dem aufblühenden Geschäft.

Obwohl Robert als einer der begehrtesten Junggesellen in Sydney galt und ehrgeizige Mütter ihm bei jeder Gelegenheit ihre heiratsfähigen Töchter präsentierten, war er zu sehr auf seine Geschäfte konzentriert, um sich eine Frau zu suchen. Er hatte wohl die eine oder andere diskrete Liebelei gehabt, hatte sich aber nie fest gebunden.

Inzwischen achtunddreißig Jahre alt, beschloss Robert 1896, sich einen Urlaub zu gönnen, und verspürte in sich die Sehnsucht, sein Geburtsland wiederzusehen. Er reiste nach Schottland und besuchte seine alte Tante, die einzige Verwandte, die er noch hatte. Sie war gebrechlich, aber noch munter, lebte in einem kleinen Cottage und wurde von einer jungen Frau namens Catherine Garrison versorgt. Catherine war Krankenschwester, Gefährtin und Haushälterin in einem, und Robert verliebte sich sofort in sie. Sie war die ätherische Schöne seiner Träume – zart, zerbrechlich und liebenswürdig.

Robert verlängerte seinen Aufenthalt und umwarb sie langsam, aber leidenschaftlich, fand schließlich auch die Unterstützung seiner Tante und konnte Catherine überreden, ihn zu heiraten und ihm nach Australien zu folgen.

Catherine machte sich Gedanken darüber, ob Roberts unverheiratete Tante auch gut versorgt werden würde – sie hatte die kleine alte Dame lieb gewonnen, da sie selbst kaum Familie hatte außer ihrem verwitweten Vater in Ayr. Daher übernahm Robert die Bezahlung einer Ersatzgefährtin, einer fröhlichen Witwe aus einem nahe gelegenen Dorf.

Er versprach Catherine ein wundervolles Leben in Australien, wo er das prächtigste Haus von Sydney für sie bauen würde, und versicherte ihr, sie würden ihre Flitterwochen im exotischsten Land der Welt verbringen. Solche Versprechen bedeuteten Catherine wenig, sie war nur etwas verwirrt über Roberts leidenschaftliche Beteuerungen und Vorhaben. Robert, der Mann, den sie lieben gelernt hatte, sprach ihr Herz und ihre Seele an, und sie blieb unbeeindruckt von seiner Eröffnung, dass er wohlhabend und erfolgreich sei. Seine beschützende Stärke, seine sanfte Natur, das warme Lachen und der Glanz in seinen Augen, wenn er sie ansah, gaben ihr ein Gefühl tiefster Geborgenheit und Liebe. Sie wusste, dass dieser Mann sie bis zum Tage seines Todes mit all seiner Kraft lieben würde.

Robert und Catherine heirateten im winzigen Kirk Alloway in Ayr, wo Catherines ältlicher Vater sie Roberts Fürsorge übergab. Es war eine kurze, gefühlvolle Zeremonie, und Catherine, die noch jünger als ihre dreiundzwanzig Lenze aussah, trug ein traditionelles Brautkleid mit langem Schleier, das ihrer Mutter gehört hatte, dazu einen Strauß schottischer Wildblumen. Robert hatte sich ein Zweiglein Heidekraut ans Revers gesteckt.

Sie gaben sich das Jawort in der kleinen, uralten Steinkirche, und als Robert Catherine in die Arme nahm, schien es ihm, als hätte der Himmel diesen Augenblick schon Jahrhunderte zuvor bestimmt. Sein ganzes bisheriges Leben verblasste vor diesem Moment. Als er seinen dunklen Kopf zu seiner goldhaarigen Schönen hinunterbeugte, wusste er, dass sein Leben wirklich begonnen hatte.

Von da an war jeder Tag voller Glückseligkeit für Robert. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine ihn aufrichtig liebende Gefährtin. Hock Lee war und blieb auch sein bester Freund. Catherine war seine Seelengefährtin und seine Liebste. In ihren weichen Armen fühlte er sich wie ein Mann, der die Welt erobern kann, ihr konnte er flüsternd seine Wünsche, Hoffnungen und Träume gestehen. Nie wieder würde er einsam sein. Ihr liebevolles Verständnis, ihre fürsorgliche und großzügige Natur, ihre Zärtlichkeit ergriffen sein Herz und füllten seine Augen mit Tränen. Wenn er in der Dunkelheit ihren schlafenden Körper umschlungen hielt, war ihm bewusst, dass er sein Leben für diese Frau hergeben würde.

Nach der Trauung verbrachten sie ein paar Tage in einem kleinen Gasthaus in der Nähe von Catherines Vater, während sie ihre Habe packte. An einem windigen, frösteligen schottischen Nachmittag setzte sich Robert hin und breitete einen Weltatlas vor sich aus. »Catherine, meine Liebste, wohin auf der Welt soll unsere Hochzeitsreise gehen, bevor wir nach Australien fahren?«

Catherine saß auf dem Boden, die Beine untergeschlagen, und schaute sich die kolorierten Seiten des Buches auf seinem Schoß an. »Ich war ja noch nicht einmal in London, Robert. Für mich ist das alles ein Geheimnis. Entscheide du. Wo auch immer wir hinfahren, es wird für mich ein Abenteuer sein.«

Er griff nach ihren Fingerspitzen und küsste sie. »Liebste Catherine, ich treffe gerne Entscheidungen für uns. Aber ich möchte, dass wir in unserer Ehe alles teilen. Alles, was ich besitze, gehört dir. Ich möchte, dass du mir hilfst, Entscheidungen zu treffen, mir deine Gefühle und Gedanken mitteilst – auch was meine Geschäfte betrifft. Ich stelle es mir wunderbar vor, nach Hause zu kommen und alles mit dir zu besprechen. Ich möchte, dass du mir ebenso Freundin wie Ehefrau bist.«

Sie sah lächelnd zu ihm auf. »Ich danke dir, Robert. Ich weiß nichts von der Welt, die du beschreibst – deiner Arbeit, deinem Leben in Australien –, aber ich werde viel lernen. Manchmal ist es hilfreicher, jemandem ein aufrichtiges und mitfühlendes Ohr zu leihen. Für mich wird es eine Zeit des Wachstums sein.«

Robert beugte sich vor und küsste sie auf den lächelnden Mund. »Meine süße Catherine, du bist wie eine Knospe. Es wird ein Vergnügen sein, dich erblühen zu sehen. Nun … wie ist es mit Afrika? Reizt dich das? Oder Europa. Was hältst du von Paris? Oder dem kalten Norden? Dem exotischen Osten?«

Catherine lachte. »Das alles klingt wunderbar. Ich weiß, was wir machen. Schlag die Weltkarte im Atlas auf, und ich werde mit unfehlbarer weiblicher Intuition die Entscheidung treffen.« Damit schloss sie die Augen und tippte mit dem Finger auf eine beliebige Stelle der Weltkarte. Ihr Finger traf ein rosa gefärbtes Gebiet des Britischen Empire. »Indien«, hauchte sie.

»Gut, dann soll es Indien sein, Liebling.«

Sie verbrachten mehrere Tage in London, bevor sie sich auf der »Peninsular and Orient Line« nach Indien einschifften. Nachdem Catherine erst einmal seefest geworden war, gewöhnte sie sich an die Schiffsroutine und gestand Robert, dass sie sich vorkam wie auf einem dahingleitenden Stern, wie ein Teil eines glitzernden Universums. Nachts strahlten die Sterne am klaren Firmament über ihnen, während sich in der dunklen See um sie das Mondlicht spiegelte und phosphoreszierende Lichter in ihrem Kielwasser tanzten.

Sie widmeten sich einander in der Abgeschiedenheit ihrer Luxuskabine, sie schlenderten gemeinsam über das Deck, und während Robert mit den anderen Passagieren an Wurfringspielen teilnahm, saß Catherine in einem Deckstuhl und las ein Buch. Oft sank ihr das Buch auf den Schoß, und sie starrte hinaus auf die vorbeigleitende See, die sie in ihren Bann zog und ihrer neuen Heimat näher brachte.

Sie hatten ihre Plätze am Tisch des Kapitäns, wo die Damen jeden Abend in prächtigen Abendroben mit glitzernden Juwelen erschienen. Die Männer kamen im Cut, unterhielten sich mit dem weiß uniformierten Kapitän über die Weltereignisse und plauderten höflich mit den Damen, die in ihrer eleganten Aufmachung dem runden Zehnertisch Glanz verliehen.

Robert und Catherine freundeten sich mit einem älteren Ehepaar an, Sir Montague und Lady Charlotte Willingham, die von einem Heimaturlaub nach Indien zurückkehrten. Sir Montague war der Vertreter der englischen Regierung in Kaliapur und war bezaubert von Catherines tiefem Interesse an Indien, obwohl sie, wie sie zugab, wenig über das exotische Land wusste, das sie für ihre Flitterwochen ausgesucht hatten.

Catherine erfuhr jedoch mehr über das Leben in Indien von Lady Willingham, die sich ihr manchmal zum Nachmittagstee auf dem sonnenbeschienenen, leewärts gelegenen Deck zugesellte.

»Ich sehe, Sie haben gelernt, der Sonne zu folgen und dem Wind auszuweichen. Darüber hinaus müssen Sie sich merken, meine Liebe, dass Sie sich auf den Seereisen von und nach England stets eine Luxuskabine an Steuerbord sichern sollten.«

»Ich werde daran denken. Doch ich glaube nicht, dass wir regelmäßige Reisen in die alte Heimat unternehmen werden, wenn wir uns erst einmal in Sydney niedergelassen haben. Robert hat dort nur eine betagte Tante, und mein Vater ist Witwer und schon sehr gebrechlich.«

»Der Abschied von zu Hause muss Ihnen schwer gefallen sein, meine Liebe.«

Catherine nickte. Es hatte sie sehr traurig gemacht, ihren Vater zu verlassen, den sie gewiss nie wiedersehen würde, aber ihre Liebe zu Robert war so groß, dass ihr keine andere Wahl geblieben war.

Beim Dinner an diesem Abend sprach das Paar eine Einladung an Robert und Catherine aus, sie in ihrer Residenz in Kaliapur zu besuchen.

Robert dankte ihnen für das freundliche Angebot, aber Catherine sank das Herz, da sie merkte, dass er die Einladung nur für eine Höflichkeitsgeste hielt.

Da sie sich an den Wunsch ihres Gatten erinnerte, sie solle ihren Gefühlen Ausdruck geben, lehnte sich Catherine mit vor Aufregung blitzenden Augen vor. »Ich fände das wirklich sehr schön. Ich hoffe, wir können nach Kaliapur reisen.«

Robert warf Catherine einen raschen Blick zu, ein leises Lächeln umspielte dabei seinen Mund.

Lady Willingham beugte sich wohlwollend zu ihr hinüber und tätschelte Catherines behandschuhten Arm. »Ich meine es wirklich ernst, meine Liebe. Es kommt nicht oft vor, dass wir so charmante Gesellschaft haben. Wir wären entzückt, Sie beide bei uns begrüßen zu dürfen. Sie werden es ganz bestimmt faszinierend finden.«

»Vielen Dank, Lady Willingham und Sir Montague, wir nehmen mit Freuden an«, erwiderte Robert.

Catherine schlug die Augen nieder und errötete erfreut. Sie hob ihr Weinglas und spürte, wie Robert gutmütig ihren Fuß anstieß.

Catherine schlief friedlich, als das weiße Schiff langsam im Hafen von Bombay einfuhr. Robert spürte das Zittern, das durch den Schiffsrumpf lief, und merkte, dass das vertraute Beben des Schiffes aufgehört hatte. Sie hatten angelegt. Er hörte Schlurfen und gedämpfte Stimmen im Korridor und wurde schließlich von Neugier ergriffen. Rasch zog er sich den wollenen Morgenmantel über den Schlafanzug, schlüpfte in seine Pantoffeln und schloss leise die Kabinentür hinter sich, um Catherine nicht aufzuwecken.

Gelb zog die Morgendämmerung herauf, aber der ganze Himmel war von einem trüben, verschwommenen Licht überzogen, das eher wie Rauch aus einem schwärenden Hochofen wirkte. Säuerliche, üble Gerüche drangen ihm in die Nase, und er hustete und legte die Hand vor das Gesicht, trat an die Reling und blickte hinab. Ein schmaler Streifen träge schwappenden, schmutzigen Wassers, in dem allerlei Abfall schwamm, trennte das Schiff von dem mit geschäftigem, ameisengleichem Leben erfüllten Kai. Während er den Anblick von Schmutz, Chaos und Gedränge in sich aufzunehmen versuchte, flogen zwei große schwarze Raben mit schweren Flügelschlägen in der dicken, feuchtwarmen Luft an ihm vorbei und betrachteten ihn aus bösen kleinen Augen. Er zuckte zurück, als ein weiteres Rabenpaar auf ihn zuflog, und kam sich wie eine hilflose Feldmaus vor, auf die sich diese hungrigen Vögel gleich stürzen würden. Von all den Scheußlichkeiten um ihn herum erschreckten ihn diese Vögel am meisten.

Robert ging zurück in die Kabine und schlüpfte neben Catherine ins Bett. Sie tastete nach ihm und murmelte: »Sind wir da?«

»Ja, mein Liebling. Aber es wird noch Stunden dauern, bevor wir an Land gehen können. Schlaf noch ein wenig.«

Sie lächelte verschlafen und schmiegte sich an ihn. Er hielt ihren süß duftenden Körper in den Armen und fragte sich, wie es seiner sanften Braut wohl in diesem wilden, gewaltigen, traurigen Land ergehen mochte, das sich hinter den von Menschen wimmelnden Hafenanlagen ausdehnte.

Zu Roberts Überraschung empfand Catherine Indien als ein erregendes und stimulierendes Erlebnis. Die Verzweiflung der Armen, der Schmutz, die Aggressivität der Städte ließen sie zurückschrecken, aber sie legte sich bald eine praktische Einstellung zu. »Es bricht mir das Herz, all diese Armut und Qual zu sehen, aber, liebster Robert, wenn wir einem Bettler etwas geben, werden wir von den anderen überrannt. Das ist nur wie ein Tropfen im Ozean. Die Veränderung wird hier nur langsam vonstatten gehen, wir können wenig tun.«

Nach einigen Tagen in Bombay reisten sie weiter durch Dörfer und kleine Städte und bestiegen schließlich den Radscha-Express nach Kaliapur.

Die Zugfahrt allein war schon ein Abenteuer. Catherine war entzückt gewesen, zu sehen, dass die große Dampflokomotive in einem dunklen Rosenrot lackiert war und die Außenseiten der Erste-Klasse-Waggons mit gold- und kastanienfarbenen Girlanden bemalt waren. Das Doppelabteil hatte eine dunkle Holztäfelung, weinrote Ledersitze, und die beiden Kojen waren mit gestärkten weißen Laken und kunstvoll gewobenen Decken ausgestattet. Dazu gab es einen kleinen Raum mit Toilette und Waschgelegenheit.

Über das breite Fenster konnte man dunkelblaue Samtvorhänge ziehen, aber für den größten Teil der Reise ließen sie sie offen und staunten über die Weite und Vielfalt des indischen Panoramas, das sich vor ihnen entfaltete. Die unfassbare Größe des Landes überwältigte Catherine. Die scheinbar unendliche, farb- und formenlose Landschaft war ehrfurchtgebietend. Gelegentlich huschte ein staubiger Baum, in dessen Schatten alte Männer am Boden saßen, wie ein gemaltes Bild vorbei. Kleine Dörfer schienen wie Farbkleckse in der öden Landschaft verteilt.

Bei jedem Halt umschwärmte eine brodelnde Menschenmasse den zischenden, Dampf ausstoßenden Zug. Kinder und Straßenhändler klopften an die Waggonfenster, boten gewebte Teppiche, Stoffbahnen, Halsketten und Tabletts voller Speisen feil. Zu kleinen Bergen geformter regenbogenförmiger Reis, dekoriert mit Früchten und Nüssen, wurde in flachen Körben angeboten. Passagiere, die auf dem Bahnsteig geschlafen hatten, rollten ihr dünnes Bettzeug zusammen und erkämpften sich einen Platz in den überfüllten hinteren Waggons. Das aufgeregte Geplapper in verschiedenen Dialekten und singendem Englisch hob und senkte sich, während die Menge sich gegen die Fenster ihres Abteils drückte und Catherine gezwungen war, die Vorhänge zuzuziehen.

Die Mahlzeiten wurden im Speisewagen erster Klasse eingenommen. Sie wurden von Kellnern in Turban und makellosen weißen, mit roten und goldenen Tressen besetzten Uniformen serviert, an mit weißem Leinen und schwerem Silber gedeckten Tischen. Das Silber trug das Wappen der Königlich Indischen Eisenbahngesellschaft. Robert und Catherine freundeten sich mit verschiedenen englischen Familien an, die alle schon lange in Indien weilten, und waren fasziniert von ihren Geschichten über das Leben in diesem exotischen Land.

Am Ende des Radscha-Express befanden sich die Waggons dritter Klasse: Holzsitze, keine Scheiben in den Fenstern und restlos überfüllt. Die Reisenden waren Welten entfernt von den Passagieren der ersten Klasse. Sie schliefen überall dort, wo es möglich war – aufrecht stehend zwischen den Mitreisenden oder ausgestreckt auf den staubigen Gängen. Sie aßen von dem, was sie mitführten, oder rangelten um billige, würzige samosas, chapatis und in Blätter gewickelten gekochten Reis bei den Händlern, wenn der Zug anhielt.

Nach drei Tagen fuhr der Zug in Kaliapur ein, und Robert half Catherine heraus auf den staubigen Bahnsteig, wo sie sogleich von rot bejackten Gepäckträgern umringt wurden. Sie standen in der wirbelnden Menge und sahen verwirrt, wie einige ihrer Gepäckstücke in verschiedene Richtungen verschwanden. Mit Erleichterung entdeckten sie Lady Willingham, die auf sie zugesegelt kam. Sie trug einen großen Schirm vor sich her, mit dem sie die Menge teilte, während sie gleichzeitig ihren Kutscher und den Boy anwies, das Gepäck der MacIntyres zu retten.

Nachdem sie sich herzlich begrüßt hatten, wurden Catherine und Robert in Lady Willinghams offenem Landauer platziert, dem der Nummer-eins-Boy mit dem Gepäck auf einem einspännigen Kutschwagen folgte. Lady Willingham reichte Catherine einen blassblauen Parasol und spannte selbst ihren schwarzen Schirm auf.

»Schützen Sie Ihr Gesicht vor der Sonne, meine Liebe. Sie ist sehr stark und wird Ihren Rosenteint verderben.«

Robert lächelte seine hübsche Braut an. »Auch in Australien brennt die Sonne sehr heiß, du solltest Lady Willinghams Rat befolgen.« Catherine nickte, war aber mehr an den wimmelnden Menschen und den geschäftigen Straßen interessiert, während sie sich ihren Weg durch die Stadt bahnten. Allmählich verließen sie den brodelnden Geschäftsbezirk, und die Straßen wurden breiter, beschattet von scharlachrot blühenden Flamboyantbäumen.

Als sie an einer hohen Steinmauer vorbeikamen, fragte Catherine: »Was befindet sich dahinter, Lady Willingham?«

»Das Quartier der Soldaten. Dort werden sie ausgebildet. Wir haben ein recht schmuckes Regiment hier in Kaliapur. Sie marschieren meist nur bei zeremoniellen Anlässen auf, obwohl Sir Montague sie vor einiger Zeit ausrücken lassen musste, um einen Aufruhr zu unterdrücken. Zum Glück war es nur ein kleiner Sturm im Wasserglas. Ah, hier ist die Residenz. Sie sehnen sich sicher nach einem anständigen Bad und einem bequemen Bett.«

Catherine hielt den Atem an, als der Landauer in die Auffahrt bog. Die Residenz des Vertreters der britischen Krone bot sich dar als eine exotische Mischung aus herrschaftlicher Pracht und altenglischem Charme. Die klassische Palastvilla aus rosafarbenem Sandstein war von einer hohen Mauer mit Brustwehr umschlossen. Die kunstvoll geschnitzten Tore wurden von uniformierten Wächtern zu Pferde bewacht. Sobald sie sich innerhalb der Mauern befanden, eröffnete sich vor ihren staunenden Augen die Schönheit eines traditionellen englischen Blumengartens.

Während außerhalb der Mauern der Residenz die Sandwege und Bäume staubbedeckt und trocken waren, war dieser Garten gepflegt und üppig grün. Eine Rabatte säumte die Auffahrt mit blühendem Rittersporn, Glockenblumen, Stockrosen und Pfingstrosen. Näher am Haus waren Azaleenbüsche und große Rhododendren mit Blüten übersät wie mit farbigem Schnee. Weiter entfernt in einem kleinen Teich erblickten sie einen marmornen Miniaturpavillon, wo man sitzen und die heitere Gelassenheit des Teiches und des Gartens im kühlen Schatten genießen konnte.

Die große Eingangshalle des Hauses hatte einen auf Hochglanz gebohnerten Holzboden, auf dem Läufer aus Kurdistan und Herat ausgebreitet lagen. Zeitgenössische viktorianische Möbel, große goldgerahmte Bilder, die den Lake District und treuherzige Springerspaniels zeigten, dazu Antiquitäten und schimmerndes Silber gaben Catherine das Gefühl, sich im Haus eines reichen englischen Aristokraten zu befinden. Aber die vielen Dienstboten, die luxuriöse Umgebung und der Lebensstil gingen weit über den des britischen Landadels hinaus. Die Jahre in dieser Umgebung hatten Sir Montague und Lady Willingham ein Auftreten verliehen, als entstammten sie dieser Welt, wenn sich auch Catherine erinnerte, dass Lady Willingham ihr auf dem Schiff erzählt hatte, sie stamme aus einem kleinen Dorf in Surrey.

Robert und Catherine hatten sich bald in der luxuriösen Residenz eingelebt, und die Tage flogen vorbei. Sir Montague nahm Robert unter die Fittiche und führte ihn in seinen Club ein, während Lady Willingham Catherine durch die farbenfrohen Basare begleitete. Jeden Abend erzählten sie sich ihre Erlebnisse in dem breiten, von einem Baldachin gekrönten Bett.

Eines Tages, als Catherine die Einladung von Sir Montague ablehnte, ihn und Robert auf die Tigerjagd zu begleiten, machte Lady Willingham einen anderen Vorschlag. »Meine Liebe, hätten Sie Lust, mit mir zusammen unsere hiesige Maharani und ihr Palastgefolge im Zanana zu besuchen?«

»Aber gerne. Was ist ein Zanana?«

»Das sind die Privatgemächer im Palast, wo die königlichen Frauen in purdah leben.«

»Purdah? Ist das so etwas wie ein Harem?« Catherines Augen weiteten sich vor Staunen und Neugier.

Lady Willingham lachte. »Es ist eine matriarchale Hierarchie, angeführt von der alten Maharani. Jede kennt ihren Platz und ihre Pflichten, und die Frauen kommen ausgezeichnet miteinander aus. Sie führen ein sehr behütetes Leben. Sie werden es bestimmt interessant finden, Catherine, und die Damen wären entzückt, Sie kennen zu lernen.«

Zu dem prächtigen Palast wurden sie in zwei Palankins getragen – kastenförmigen Sänften zwischen zwei Stangen, die auf den Schultern zweier rasch laufender Träger ruhten, einer vorn, einer hinten. Abgeschirmt durch einen geblümten Musselinvorhang, saß Catherine auf einem Kissen, hielt sich an den Seiten fest und gewöhnte sich allmählich an das Schaukeln.

An den Geräuschen von draußen erkannte sie, dass sie beim Palast angelangt waren. Ihr Palankin wurde zu Boden gelassen und der Vorhang angehoben. Ein lächelnder Inder in Uniform mit einer roten Feder am Turban, die mit einer juwelenbesetzten Spange befestigt war, winkte sie heraus. Zwei Inderinnen in farbenprächtigen Saris, deren Enden über Kopf und Gesicht geschlagen waren, halfen ihnen beim Aussteigen.

Catherine schaute sich rasch um und schnappte nach Luft. Sie stand im Vorhof des Hauptpalastes. Neben den Marmorstufen, die zum Haupteingang hinaufführten, standen zwei Elefanten, geschmückt mit Goldborten, farbigen seidenen Kopfbändern und reich bestickten Tüchern über ihren Rücken. Diese riesigen Tiere standen gleichgültig da und sahen leicht gelangweilt aus, sie ließen die Rüssel schwingen oder verlagerten das Gewicht von dem einen auf den anderen Fuß. Daneben standen steif aufgerichtet ihre mahouts, zwei junge Inder in einfachen weißen dhotis, die sich augenfällig von den leuchtenden roten, weißen und goldenen Uniformen der Palastwache abhoben.

Das Zanana war ein kleineres, zweistöckiges Gebäude seitlich vom Hauptpalast. Wenn auch von bescheidener Größe, war die Fassade ein einziges Glitzern aus farbigen Steinchen und Schnitzereien. Sie schimmerte im Sonnenlicht wie das Rad eines Pfaus. Smaragdgrüne, indigoblaue und goldene Mosaiken waren in kunstvollen Mustern angebracht, und rundum lief ein Fries mit exotischen Tänzerinnen auf reich geschmückten Tafeln. Am oberen Stockwerk entlang zogen sich Balkone mit Rundbögen, die mit Bambusrollos verhangen waren. Weibliche Gestalten in Saris waren silhouettenhaft hinter den Vorhängen zu sehen, schauten hinunter in den Hof und beobachteten die Ankunft der beiden weißen Frauen.

Lady Willingham gab Catherine ein Zeichen, und sie begaben sich zum Eingang, begleitet von den aufgeregt um sie herumflatternden Inderinnen. Eine willkommene Brise schlug ihnen auf den Marmorstufen entgegen und hob den Rand des Saris der ihnen vorangehenden Frau. Die andere folgte ihnen, und Catherine stieg der süße Duft von Patschuli in die Nase, der von diesen schmetterlingshaften Wesen ausging. Ihre nackten Füße machten kein Geräusch auf den glänzenden Fliesenböden, und das leise Klirren ihrer Beinkettchen hob sich von den harten Tritten der Lederschuhe ab, die die beiden englischen Damen trugen.

Catherine schaute nach rechts und links, während sie den prächtigen Korridor entlanggeführt wurden. Die weiß getünchten Wände waren mit Fresken ineinander verschlungener Blumen und geometrischen Mustern bedeckt. Das kühle Dämmerlicht des Korridors wurde von bogenförmigen Fenstern unterbrochen, die mit einem feinen steinernen Flechtwerk aus Blumen vergittert waren. In das durchbrochene steinerne Blumenmuster waren bunte Glasstückchen eingefügt, die regenbogenfarbenes Licht auf die Schatten warfen.

Die hohen, mit Schnitzereien aus indischen Fabeln und Mythen bedeckten Türen am Ende des Korridors öffneten sich, und sie wurden von der lächelnden Maharini begrüßt, deren runder, fülliger Körper in blaue, goldbestickte Seide gehüllt war.

Lady Willingham legte die Hände aneinander und hob sie zum traditionellen Gruß vor das Gesicht. Catherine machte es ihr nach und wurde vorgestellt.

»Willkommen in unserem Zanana. Bitte machen Sie es sich bequem.«

Die alte Maharani führte sie in die Mitte des unmöblierten Raumes, wo große Kissen aus Seide und Samt auf wertvollen Teppichen lagen, die den Marmorboden bedeckten. Unbekümmert ließ sich Lady Willingham auf dem Boden nieder, setzte sich anmutig auf eines der Kissen und ordnete ihren Crêperock um ihre Beine.

Mehr als ein Dutzend Frauen befanden sich in dem großen Raum – die zweite und dritte Frau des Maharadschas, ihre beiden Mütter und die Tochter der alten Maharari. Die anderen Frauen waren Schwestern des Maharadschas, Verwandte der anderen beiden Frauen und ihre Dienerinnen.

Catherine versuchte, die drei Ehefrauen nicht zu auffällig zu betrachten, aber es schien keine Rivalität zwischen ihnen zu geben. Sie kicherten und plapperten wie niedliche kleine Vögel, doch es war nicht zu übersehen, dass die alte Maharani im Zanana das Sagen hatte.

Sie trugen alle farbenprächtige Saris, doch Catherine fiel auf, dass die Ehefrauen in kostbare Seide gekleidet waren, während die anderen Damen Saris aus feinstem Musselin trugen. Alle waren reichlich mit Schmuck behängt, wenn auch die Goldarmreifen der Maharanis mit Edelsteinen besetzt waren. Ihre Halsketten, Ringe und Ohrringe waren reich verziert, und es dauerte nicht lange, bis sich das Gespräch dem letzten Besuch des bangriwalla zuwandte – des Schmuckverkäufers.

Die alte Maharani klatschte in die Hände und ließ sich das Kästchen mit ihren Einkäufen bringen, und bald waren die Damen damit beschäftigt, die Armbänder und Armreifen aus kostbarem Metall, geschliffenem Glas und winzigen Staubperlen zu bewundern und anzuprobieren.

Während diese Frauen in purdah selten den Palast verließen, hatten Besucher und Händler Zugang zum Zanana. Wenn es ein Mann war, bedeckten die Frauen ihre Gesichter mit Gazeschleiern oder saßen hinter einem purdah-Schirm. Sie suchten sich Färbemittel für ihre Saris aus Seide oder weichem Musselin beim sariwalla aus. Der attarwalla, der ihnen Parfüms verkaufte, mischte ihnen besondere Düfte für wichtige Anlässe.

Während die Frauen plauderten und lachten, zog eine Dienerin sanft an einer langen Kordel, die den punkah über ihnen bewegte. Das schwere Tuch aus Brokat hing zwischen zwei Bambuspfählen, bewegte sich vor und zurück, fächelte und kühlte die Damen.

Bald wurden thalis – Tabletts aus gehämmertem Silber – hereingetragen und in der Mitte der Gruppe abgestellt. Jedes Schüsselchen, bedeckt von einem Tuch, enthielt kleine Süßigkeiten, Kuchen und Delikatessen, alle mit dünner Gold- und Silberfolie dekoriert, so dass es wie ein Mahl aus Juwelen aussah. Chai, gesüßter milchiger Tee, wurde in Kelchen serviert, zusammen mit lassi, einem erfrischenden Joghurtgetränk.