Der Gesang des Wasserfalls - Di Morrissey - E-Book

Der Gesang des Wasserfalls E-Book

Di Morrissey

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Beschreibung

Eine indianische Legende besagt, dass die Welt nicht verloren ist, solange die goldenen Frösche am Rande der Wasserfälle im südamerikanischen Guyana singen. Ein Stück vom Paradies scheint hier gerettet zu sein. Doch die junge australische Hotelmanagerin Madison Wright, die nach einer anstrengenden Scheidung bei ihrem Bruder Urlaub macht, erkennt bald, dass die Idylle Risse hat. Als sie den Auftrag erhält, an der Planung eines Kasinos mitten im Urwald mitzuwirken, lehnt sie ab und beschließt, ein anderes, naturnahes Konzept zu erarbeiten. Doch noch bevor der Plan Gestalt annehmen kann, werden Madison und ihr attraktiver Begleiter Connor Bain bei einer Expedition entführt ...

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Di Morrissey

Der Gesang des Wasserfalls

Ins Deutsche übertragen von Susanne Aeckerle

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

MottoPrologErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEpilogDanksagung
[home]

Wenn die Frösche nicht mehr singen,

wird der Planet sterben …

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Prolog

Guyana, Südamerika, 1979

Der Kameramann schaute aus dem ovalen Fenster auf die treibenden Nebelschwaden unter dem Islander-Flugzeug. Zwischen den Wolken eröffnete sich ein fast beängstigender Blick auf den dichten, schier endlosen Urwald, der in allen Richtungen Berge und Täler bedeckte. Eine halbe Stunde nach dem Start waren die Gespräche in der kleinen Maschine verstummt. Es war zu anstrengend, sich über das Dröhnen der beiden Motoren hinweg zu unterhalten, und so blieben die vier Passagiere ihren Gedanken überlassen. »Brokkoli«, dachte Venti schließlich. Der Kameramann hatte seit zehn Minuten nach einem Wort gesucht, das diesen sich bis ins Unendliche erstreckenden Dschungelbaldachin beschreiben würde. »Ja, das ist es, so eng zusammengedrängt wie die Rosetten einer frischen Brokkolistaude. Wenn wir hier abstürzen, wird man uns in hundert Jahren nicht finden.«

Ähnliche Gedanken gingen auch den beiden anderen Passagieren durch den Kopf. Nur der vierte, Sir Gavin Rutherford, Naturwissenschaftler von der Universität Bristol, vom Akademiker zur Fernsehberühmtheit aufgestiegen, wirkte unbeeindruckt. Er lehnte sich zurück, strich über seinen silbergrauen Schnurrbart und schloss entspannt und zuversichtlich die Augen. Edwina, die Produzentin, lenkte sich durch das Blättern in einer zerfledderten Zeitschrift ab. Während der zwei Jahre, die sie nun schon mit dem Team von Planet Erde unterwegs war, hatte sie einige haarsträubende Reisen mitgemacht, um an die verschiedensten Drehorte zu gelangen, von der Mojave-Wüste bis zu den Galapagos-Inseln, vom indischen Subkontinent bis nach Surrey. Und jetzt Guyana.

Was als von dem angesehenen Sir Gavin kommentierte Lehrfilmreihe über das Tier- und Pflanzenreich dieser Erde begonnen hatte, hatte sich zur Überraschung aller BBC-Leute in einen unerwarteten Einschaltquoten-Renner verwandelt. Sir Gavins Begeisterung und sein profundes Wissen hatten ihn, verbunden mit einem Schuss liebenswürdigen Charmes, von einem Kommentator aus dem Off mit nur kurzen Auftritten am Anfang und Ende der Sendung mehr und mehr zu einem voll integrierten Entdecker werden lassen, der in fast jeder Szene zu sehen war.

Die Zuschauer sahen ihn hinter Elefanten herschleichen, aus einem Baumversteck Löwen beim Beuteschlagen beobachten, in einem schwankenden Schlauchboot nahe an einen kalbenden Wal heranfahren, einen Ast hochheben, um eine schimmernde Schlange freizulegen, oder unter seinem zum Markenzeichen gewordenen Safarihut hervorblinzeln und einer Venusfliegenfalle beim Einfangen eines Insekts zuschauen. Und die in atemloser Erregung über das Beobachtete leise eingestreuten Erklärungen wirkten atemberaubend und fesselnd auf die Zuschauer, die seine Abenteuer in der Geborgenheit ihres Wohnzimmers miterlebten.

Der Toningenieur, genannt Hase, als Kurzform für Hasenohr oder, weniger freundlich, schwerhöriges Hasenohr, weil er nur zuhörte, wenn er seine gepolsterten Kopfhörer übergestülpt hatte, versuchte, die Beine auszustrecken, und fragte sich, ob der Pilot möglicherweise irgendwelche Gepäckstücke auf sein Richtmikrofon hatte fallen lassen. Es hatte ihm gar nicht gepasst, wie achtlos ihre Ausrüstung in den Frachtraum des Flugzeugs geworfen worden war. Das beiläufige Wiegen von Passagieren und Fracht war sehr nachlässig geschehen, und er hoffte nur, dass der Pilot beim Navigieren und Landen mehr Sorgfalt zeigen würde als bei den Flugvorbereitungen. An die Wartung des Flugzeugs wollte er gar nicht erst denken.

Die ganze Expedition kam ihm für nur zwei kurze Einstellungen mit dem Kommentator im Bild reichlich übertrieben vor. Die Szene, in der Sir Gavin in einem Einbaum durch einen schwimmenden Teppich von Victoria-Regina-Seerosen paddelte, war bequemerweise im Botanischen Garten von Georgetown aufgenommen worden, und jetzt dieser verdammte Treck zu irgendeinem Wasserfall, um einen Frosch zu finden. Hoffentlich befand sich dieser Frosch nicht zu nahe beim Wasserfall, sonst würde Sir Gavins Gequatsche völlig übertönt werden.

Neben ihm schaute der Kameramann immer noch auf den Dschungel hinab, durch den sich jetzt in braunen Schlingen ein breiter, sehr viel Wasser führender Fluss wand. Die weißen Flecken im Fluss deutete er als Stromschnellen. Hier und da gab es Anzeichen dafür, dass Goldsucher ganze Teile der Uferböschung abgetragen und ausgewaschen und so dem kaffeebraunen Wasser noch mehr Schlamm hinzugefügt hatten. An manchen Stellen hatten sich Holzfällerlager in das jungfräuliche Grün hineingeschlagen, mit Trassen für die Fahrzeuge, ein paar blauen Plastikplanen über dem Lager und großen, kahlen, orangefarbenen Einschlagstellen, auf denen die gefällten Bäume wie Streichhölzer durcheinanderlagen. Aber das waren alles nur kümmerliche kleine Eindrücke in der Unendlichkeit des Urwaldes.

Trotz seines Zynismus und seiner abgeklärten Haltung war Ventis visuelle Vorstellungskraft immer noch frisch, und er sah im Kopf diverse Kameraeinstellungen vor sich, während die grünen Wände vor ihnen aufragten, ab und zu wurde das Blätterdach von einer Explosion rosafarbener oder gelbroter Blüten durchbrochen. Sie näherten sich ihrem Ziel, aber diese feuchte Wolkendecke machte ihm Sorgen. Sie hatten nicht geplant, hier oben ein Lager aufzuschlagen und abzuwarten, bis der Himmel sich aufklarte. Das Flugzeug würde nur eine Stunde auf sie warten und dann nach Georgetown zurückfliegen. Mit dem Licht würde es wohl auch Probleme geben. Wasser, blendende Sonne, Feuchtigkeit und Wolken. »Na bravo. Ganz toll«, grummelte er vor sich hin. Wie zum Teufel fanden sie überhaupt solche Wasserfälle, und welche Idioten stürmten dann los, um sich so was wie das da unten anzusehen?

Er blickte hinüber zu Sir Gavin, der im Schlaf kleine Schnieflaute von sich gab. Idioten wie der. Armer alter Kerl, hatte stets das Gefühl, mindestens hundert Jahre zu spät geboren zu sein. Dieses späte Aufblühen seiner Abenteuerlust war Balsam für lebenslange Frustrationen und hatte ihm darüber hinaus auch noch den Adelstitel eingebracht.

Edwina, die auf der anderen Seite aus dem Flugzeugfenster schaute, stieß plötzlich einen leisen Schrei aus und winkte Venti aufgeregt zu sich.

»Großer Gott! Schau! Die Wasserfälle!«

Der Pilot ging in eine Kurve und flog durch einen Dunstschleier, der wie Rauch vom felsigen Grund des Steilhangs aufstieg, die Schlucht hinauf. Das Flugzeug flog direkt auf den majestätischen Wasservorhang zu, der sich aus dem breiten Fluss namens Potaro ergoss und über den Rand der Schlucht hinabdonnerte. Dampfender, cremiger Schaum stürzte hinab in die Tiefe, zweihundertsechsundzwanzig Meter tief rauschten Guyanas prächtige Kaieteurfälle in den rötlich braunen Potaro.

Alle staunten mit offenem Mund über die gewaltige Schönheit dieses aus dem Nichts aufgetauchten Schauspiels, während das kleine Flugzeug höher stieg, über den Rand des Wasserfalls hinauf, und wieder in den Wolken verschwand. Venti fluchte, weil er die Kamera nicht parat hatte. Er hatte geplant, die Fälle beim Abflug zu filmen. Ein Fehler, dachte er trübsinnig. Es war nicht gerade einer der besten Tage des australischen Kameramannes. Zu viel Rum am Abend zuvor.

Sie landeten wenige Minuten später und holperten über die zwischen nassen Grasbüscheln verlaufende rote Lehmpiste.

 

Die erste Einstellung drehten sie mit einer Aussicht auf die Wasserfälle im Hintergrund. In ernstem und bewunderungsvollem Ton sprach Sir Gavin den »tapferen und hartnäckigen Pflanzensoldaten, die sich ihren Weg über diesen kargen Sandsteinabhang nach oben erkämpften, sich in haarfeinen Spalten festklammerten, ein Basislager errichteten und, genährt vom Sprühwasser der Fälle und dem sich um ihre Wurzeln bildenden Humus, keimten«, seine Hochachtung aus.

An dieser Stelle würden sie Nahaufnahmen von zarten Flechten, Moosen, Orchideen und Farnen einblenden, die an den seitlichen Abhängen des Wasserfalles wuchsen.

»Jahrhundertelang ohne Störung von außen, konnten sich in diesem Mini-Ökosystem Pflanzen, die wir als selten und kostbar betrachten, zu gutartigen Monstern entwickeln.«

Nun richtete sich Sir Gavin aus seiner hockenden Stellung auf, so dass die Fälle über seine Schulter hinweg zu sehen waren, und wies Edwina an, sich zu notieren, dass man noch »eine Aufnahme der riesigen Bromelie, die dort hinten am Pfad wächst«, machen müsse. Zu dem Piloten gewandt, der ihnen als Führer diente, bellte Sir Gavin: »Also dann, Mr. McPhee, auf zu den Fällen.«

Venti und Hase bildeten die Nachhut der Gruppe und stapften ihnen, beladen mit ihrer schweren Ausrüstung, in der dampfigen Feuchtigkeit keuchend und schwitzend hinterher. Sie blieben stehen, als der Pilot sie darauf hinwies, dass beim Gehen über die schlüpfrigen, tropfenden, mit Flechten bewachsenen Steine am Rand der Fälle Vorsicht geboten sei. Die Fälle waren nicht zu sehen, aber sie hörten das nahe Tosen des Wassers, und der Sprühnebel erfrischte sie, während sie sich vorsichtig ihren Weg durch das Laubwerk bahnten.

Venti stellte sein Stativ ab und trank von dem lauwarmen Wasser aus der ehemaligen Rumflasche, die der Pilot Gibson McPhee herumreichte.

Plötzlich kamen sie aus dem Gebüsch heraus und traten auf die nackten Felsen direkt oberhalb der majestätischen Wasserfälle. »Atemberaubend, was?«, rief Edwina Venti zu, der das Stativ aufbaute und überlegte, wie er am besten den feinen Sprühnebel von seinem Arriflex-Objektiv fernhielt.

Er sah auf und hob die Augenbrauen. »Wäre noch aufregender nach ’nem kleinen Regenschauer.«

Edwina lachte. Ihr gefiel Ventis Humor, sehr australisch, dachte sie.

Der Pilot sah amüsiert zu, wie sich Sir Gavin langsam zum Rand der Fälle vortastete, wo der Fluss in den Abgrund stürzte.

Hase befestigte ein kleines Mikrofon an Sir Gavins Hemd und ging zu seinen Geräten zurück, um den Geräuschpegel zu messen. Dabei meinte er zu Venti: »Kannst du dir das hier in Amerika vorstellen? Da gäb’s überall Absperrungen, Hot-Dog-Stände, Souvenirbuden, Schlüsselanhänger, Teelöffel und den ganzen Kram.«

Venti lächelte. »Das wird noch dauern, bis es hier vor Flitterwöchnern genauso wimmelt wie an den Niagarafällen. Die hier sind fünfmal so hoch wie die Niagaras, weißt du.«

»Ich frage mich, ob die Touristen überhaupt wissen, dass es das hier gibt.«

»Komm in zwanzig Jahren wieder, irgendwann in den Neunzigern, dann wird’s hier zugehen wie auf dem Rummelplatz.«

Edwina mischte sich ein. »Bitte, Jungs, wir haben keine Zeit für Touristengeschwätz. Wir müssen weitermachen. Mr. McPhee hat Bedenken wegen der Wolken, wenn du noch Aufnahmen beim Abflug machen willst.« Sie formte ihre Hände vor ihrem Mund zu einem Trichter und rief: »Noch eine Einstellung bitte, Sir Gavin.«

»Geh und kämm ihm das Haar oder sag ihm, er soll seinen Hut aufsetzen«, sagte Venti, während er durch sein Objektiv schaute.

»Ich denk nicht dran, näher an den Rand zu gehen. Du weißt, ich hab’s nicht mit großen Höhen und steilen Abhängen. Außerdem ist es ihm völlig egal, wie er aussieht, wenn er im Bild ist, das weißt du.«

Die feuchten Flecken auf seinem Hemd, das zerzauste silbergraue Haar, das nasse, glänzende Gesicht – all das würde Sir Gavin nichts ausmachen. Er meinte, so was trüge nur zu seiner Glaubwürdigkeit bei. War er nicht vor der Kamera, legte er jedoch großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres.

»Action!«

Mit einer ausholenden Geste deutete Sir Gavin von den Fällen hinter ihm auf ein Büschel kleiner, glänzend grüner Bromelien am Felsrand.

»Um die seltenen Schätze unserer Welt zu entdecken, muss man an Orte wie diesen reisen … zum obersten Rand der Kaieteurfälle in Guyana. Dort findet man den seltensten Frosch der Welt. Colostethus beebei. Den Goldfrosch. Sie leben hier und nur hier, in diesen vom Sprühwasser dieser gewaltigen Fälle ständig feucht gehaltenen Bromelien …«

»Schnitt«, rief Edwina. »Sir Gavin! Wie sollen wir hier eine Aufnahme von einem Goldfrosch einblenden? Wo sollen wir den finden? Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Sir Gavin strahlte. »Kommen Sie, und sehen Sie selbst.«

Die Crew versammelte sich um ihn und schaute hinunter in die wachsartigen, feuchten Blätter. Das, was ihnen da entgegenblinkte, war ein winziger Frosch.

»Gott, ist der schön. Als wäre er aus Gold. Mit Diamanten als Augen!«, staunte Edwina.

»Der grüne Frosch, der sich im Abflussrohr meiner Mutter rumtrieb, ist ganz schön armselig dagegen«, meinte Venti.

Der Pilot lachte leise in sich hinein. »Der hier ist ein vollendetes lebendes Symbol für diesen Teil der Welt. Hier soll es haufenweise Gold und Diamanten geben.«

Venti stellte die Kamera auf das Innere der Pflanze ein und empfand dieses besondere Gefühl, das ihn überkam, wenn er eine perfekte Aufnahme vor dem Objektiv hatte. Der kleine flache Frosch, der nicht größer war als Edwinas Daumen, hockte bewegungslos da, und seine Haut schimmerte, als sei sie vergoldet.

»Nicht mal Tiffany’s könnte es besser machen als Mutter Natur, was?«, grinste Sir Gavin mit großer Befriedigung. Er war stets beglückt, wenn die Natur den Sieg davontrug.

Auf dem Rückweg vom Ogle-Flughafen zum Pessaro Hotel gähnte Sir Gavin einige Male. Der strahlende Abenteurer hatte sich in einen müden und leicht gelangweilten Aristokraten zurückverwandelt. »Edwina, seien Sie so gut, und bringen Sie den Hoteldirektor dazu, einen anständigen Wein zum Essen aufzutreiben. Sagen Sie ihm, er soll, wenn nötig, den britischen Hochkommissar unter Druck setzen. Noch so einen scheußlichen Rumpunsch ertrage ich nicht.«

»Ein Land ohne Wein und Kartoffeln«, sinnierte Venti.

»Aber mit Goldfröschen und Diamanten«, erwiderte Edwina lächelnd.

Sir Gavin hatte das Interesse an der Natur verloren. »Ein vollmundiger Claret wäre ausgezeichnet. Würde helfen, das grauenvolle Essen herunterzubringen.«

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Erstes Kapitel

Sydney, Australien, März 1996

Es war einer dieser verführerischen Herbsttage von Sydney. Die schier unerträgliche, lang andauernde Hitze des Sommers war einem Wetter gewichen, das besser auszuhalten war. Angenehm wie ein Paar bequeme Schuhe. Ein schöner, sonniger Tag mit einem leichten Nordostwind, der die Segelboote gemütlich, aber zielstrebig über das glitzernde Wasser des Hafens vor sich hertrieb. Das Dach des Opernhauses schimmerte strahlend weiß, und auf den Straßen blieben die Leute stehen und genossen den Augenblick, bevor sie in den Wolkenkratzern der Innenstadt verschwanden.

Auch Matthew Wright blieb stehen und hob das Gesicht zum klaren, blauen Himmel. Der Tag entsprach seiner Stimmung – überschäumend –, während das hoch aufragende Gebäude, das er gleich betreten würde, seine Karriere widerspiegelte. Matthew war ein aufstrebender junger Mann. Mit neunundzwanzig arbeitete er bereits als erfolgreicher Marketingchef einer australischen Management- und Beratungsgesellschaft für die Bergbauindustrie, was ihm Selbstvertrauen und ein sicheres Auftreten gab. Frauen fühlten sich von diesem stets zum Lächeln bereiten, gutgelaunten, bestens aussehenden Mann angezogen. Seine rasche Auffassungsgabe für die ständigen Neuerungen in seiner Branche, seine Anpassungsfähigkeit und Kreativität hatten seine Vorgesetzten auf ihn aufmerksam gemacht. Das war ein junger Mann, den man im Auge behalten musste. Egal, wohin ihn seine internationalen Reisen auch führten, man sah in ihm stets diese ganz besondere Sorte Australier mit dem offenen, ehrlichen, sonnengebräunten Gesicht, wenn ihn auch seine Schwester dauernd ermahnte, seine Haut vor den gefährlichen UV-Strahlen zu schützen. Er hatte haselnussbraune Augen, hellbraunes Haar und war als ehemaliger Wettkampf- und Rettungsschwimmer immer noch schlank und fit. Jetzt schwamm er eigentlich nur noch, um in Form zu bleiben. Er glättete seine Krawatte und rückte, ohne dass es nötig war, sein Jackett zurecht. Dann ging er mit federnden Schritten auf die Drehtür des Wolkenkratzers in der Nähe des Circular Quay zu, in dem das hiesige Büro der AusGeo Mining Consultants untergebracht war.

Als er im 36. Stock aus dem Aufzug trat, erwiderte er das Lächeln des Mädchens an der Rezeption, das sich an einer hohen Vase mit Gladiolen zu schaffen machte. Hinter ihr hing ein großes Aborigine-Gemälde von Josephine Nugurri, einer schon älteren Künstlerin aus Utopia. Die Firma hatte eine Reihe von Aufträgen im Northern Territory durchgeführt. Das Gemälde aus der berühmten Künstlerkolonie in der Wüste war zu einer vielbeachteten Attraktion im Empfangsbereich geworden.

Im Vorbeigehen klopfte Matthew leicht auf den Tisch. »Der Schrein der großen Stammesmütter, was? Nugurri und Dame Edna Everage. Wie schön, dass Gladiolen wieder als Symbole der Eleganz in Mode sind.« Er lächelte in sich hinein bei dem Gedanken an die von dem australischen Komiker Barry Humphries geschaffene Gestalt der »Durchschnittsfrau«, durch die die Gladiolen, die sie während ihrer Bühnenmonologe ins Publikum warf, zum Sinnbild der Matrone mittleren Alters geworden waren. Matthew ging weiter den Flur entlang, in dem gerahmte Farbfotos von Bauxit-, Kohlen-, Eisenerz- und Goldminen neben Aufnahmen von Schmelzöfen und anderen Verhüttungseinrichtungen an den Wänden hingen. AusGeo war an keinem der abgebildeten Unternehmen finanziell beteiligt. Die Fotos waren vielmehr ein beeindruckender Beweis für den Rekord der Gesellschaft, sich weltweit Beratungsverträge zu sichern und als Vermittler zu fungieren.

Während des Wirtschaftsbooms der achtziger Jahre hatte sich AusGeo von einer kleinen Firma, die hauptsächlich in Australien tätig war, zu einem international anerkannten Unternehmen gemausert, das darauf spezialisiert war, Bergbauunternehmen zu sanieren, die durch raffgierige Investoren, unstabile Regierungen oder schlichte Unfähigkeit des Managements in größere Schwierigkeiten geraten waren.

In seinem Büro, das, typisch für AusGeo, in mattem Edelstahl und schwarzem Leder gehalten war, stellte Matthew seinen Aktenkoffer schwungvoll auf den Schreibtisch und sah rasch die Unterlagen und Nachrichten durch, die seine persönliche Assistentin ordentlich aufgestapelt hatte, darunter auch eine Notiz über einen Anruf seiner Schwester Madison. Er stand mit dem Rücken zu dem glitzernden Hafenbecken viele Meter unter dem deckenhohen Fenster und überflog seinen Terminkalender. Dann rief er, ohne das Jackett auszuziehen, denn fünfzehn Minuten später musste er zu einer Sitzung der Firmenleitung, seine Schwester in dem Fünf-Sterne-Hotel an, in dem sie arbeitete. Als er schließlich die Werbeabteilung erreichte, wurde ihm gesagt, dass der Anschluss seiner Schwester belegt sei. Er nahm sich vor, es später noch mal zu versuchen.

 

Das Sitzungszimmer hatte einen Panoramablick über den Hafen von Sydney. Die sechs Männer saßen um einen langen, ovalen Tisch aus australischer Rotzeder. An jedem Platz standen ein Glas Wasser und eine Kaffeetasse aus feinem Porzellan, daneben lagen ein Schreibblock und ein frisch gespitzter Bleistift. Kleine Schälchen mit Smarties waren in der Mitte des Tisches plaziert. Diese Konfektschalen waren eine kleine Extravaganz des Geschäftsführers.

Während die Männer Platz nahmen und eine lockere Unterhaltung begannen, trug die persönliche Assistentin des Geschäftsführers ein Silbertablett mit Kaffeekanne, Milchkännchen und Zuckerdose herein. Sie stellte es vorsichtig auf den Tisch, zog sich zurück und schloss leise die Tür hinter sich. Gleich darauf betrat Stewart Johns, der Geschäftsführer, mit energischen Schritten den Raum. »Morgen, die Herren«, sagte er aufgeräumt. »Herrlicher Tag zum Segeln.« Johns hatte immer Vorschläge, wie man den Tag besser verbringen konnte als in einer Konferenz. Das war seine Art, Witze zu machen. Er öffnete eine Mappe, setzte die Brille auf und begann nach einem sanft lächelnden Blick in die Runde, zu sprechen.

»Also, es gibt gute und schlechte Nachrichten. Die gute Nachricht: Wir sind aufgefordert worden, einen Vorschlag zur Sanierung einer in Schwierigkeiten steckenden Bauxitmine in Südamerika einzureichen. Die Mine gehört dem Staat und soll privatisiert werden. Wir müssen eine detaillierte Studie über die Aussichten für eine öffentliche Ausschreibung erarbeiten. Dazu brauchen wir ein Team vor Ort, das die endgültige Bewertung vornimmt und unsere Präsentation vorlegt. Ich bin kurz dort gewesen und habe Unterlagen über Finanzen und Produktion zur Analyse mitgebracht. Ich denke, die Mine ist es wert, dass wir unsere Zeit investieren.«

Er unterbrach sich und schaute sich wieder am Tisch um. Kevin Blanchard, der leitende Ingenieur, nahm das eingangs hingeworfene Stichwort auf: »Und wie lautet die schlechte Nachricht?«

Stewart Johns grinste. »Die Mine liegt in Guyana.«

Kevin zuckte die Schultern. »Na und? Hört sich für mich okay an.«

»Ja, aber dein letzter Einsatz war auch in Somalia«, witzelte Matthew, was alle zum Lächeln brachte.

Die Führungskräfte von AusGeo waren mit Minen in der ganzen Welt vertraut, und es war wohlbekannt, dass Guyana einer der Hauptlieferanten für erstklassigen Bauxit gewesen war, den man zur Herstellung von Aluminium brauchte.

»Ein ziemlich rückständiges Land, oder?«, meinte Matthew.

»Ja, ein fast hoffnungsloser Fall. Eine echte Bananenrepublik. Liegt an der Küste von Südamerika zwischen Venezuela und Brasilien. Früher hieß es Britisch Guiana, und davor war es eine holländische Kolonie. Eine Zeitlang war es im Besitz der Franzosen. Hatte eine blühende Zuckerrohrindustrie, die inzwischen vollkommen brachliegt. Außerdem war es Schauplatz der Selbstmorde von Jonestown.«

Kevin Blanchard mischte sich ein. »Stimmt, die Sache mit dieser Sekte, People’s Temple, in den späten siebziger Jahren, oder? Reverend Jim Jones und seine große Kommune, und dann haben sie diesen amerikanischen Politiker erschossen, und danach haben alle vergiftete Limonade getrunken.«

»Nicht gerade die beste Reklame für ein Land. Und wie sieht es da jetzt aus?«, fragte Matthew, als sich Stewart Johns zurücklehnte und die Reaktion der Männer am Tisch beobachtete.

»Hat sich nach meinen oberflächlichen Erkundigungen nicht sonderlich verändert. Die Mine ist in den letzten zwanzig Jahren, nachdem sie verstaatlicht wurde, durch politische Einflussnahme und Missmanagement den Bach runtergegangen. Die gesamte Wirtschaft ist seit Jahren ein einziges Chaos. Die Regierung hat versucht, die Mine an diverse Aluminiumkonzerne loszuschlagen, aber jeder, der sie genauer unter die Lupe nahm, hat die Beine in die Hand genommen und sich verdrückt. Die ganze Sache ist viel zu lange verschludert worden. Das trifft übrigens genauso auf verschiedene andere Minen in Guyana zu. Die gesamte Anlage und die Maschinen sind in einem hoffnungslosen Zustand, es fehlt an Geld, irgendwas zu reparieren oder zu ersetzen, Moral und Arbeitseinsatz sind auf dem Tiefpunkt. Förderung, Auslieferung und technische Kapazität haben sich in einem solchen Maße verringert, dass der gesamte Marktanteil verlorengegangen ist. Das Ganze ist also ein gewaltiger Klotz am Bein.«

»Gibt es denn überhaupt noch Hoffnung?«, fragte sich Kevin laut.

»Nun ja, seit dem Ende des sozialistischen Regimes Mitte der achtziger Jahre hat Guyana versucht, sich der kapitalistischen Welt und der freien Marktwirtschaft anzuschließen«, erklärte Johns. »Jetzt hat sich die neue Regierung auf die Zusammenarbeit mit der Internationalen Finanzorganisation eingelassen und will einen Unternehmensberater anheuern, der die Mine auf Vordermann bringen soll, damit sie für einen Verkauf attraktiver wird.«

»Ist das denn überhaupt möglich?«, fragte Matthew. »Sie malen da ein ziemlich düsteres Bild.«

»Das sollen Sie und Kevin herausfinden. Wenn wir den Job übernehmen, werden wir Sie alle brauchen, um die Daten zu analysieren, die wir Ihnen täglich übermitteln werden«, sagte Johns. Die Männer um den Tisch nickten. Das war die Art von Arbeit, die sie am besten beherrschten, und ihnen gefiel die Herausforderung.

»Wie viel Zeit haben wir, um unsere Vorschläge einzureichen?«, fragte Kevin.

»Überhaupt keine. Je schneller wir unser Angebot unterbreiten, desto eher werden wir den Zuschlag bekommen, denn ich habe gehört, dass die anderen Anbieter nicht sonderlich begeistert sind. Ich habe bereits mit dem zuständigen Minister gesprochen, und er betrachtet uns als äußerst empfehlenswert. Die Tatsache, dass wir dem Konzept positiv gegenüberstehen, spricht meinem Eindruck nach offensichtlich für uns. Ich habe ausführliche Unterlagen zusammenstellen lassen, um Ihnen einen Informationshintergrund über das Land und das Projekt zu geben.«

Stewart Johns deutete auf einen Stapel spiralgebundener Unterlagen zum Verteilen. »Darin sind die Anforderungen und Probleme aufgeführt, die uns bevorstehen. Alle Vorschläge – und ich erwarte sie in schriftlicher Form – sind höchst willkommen. Wir treffen uns am Montag wieder. Genießen Sie Ihr Lesewochenende.«

Typisch für Johns, mit so was am Freitag zu kommen, dachte Matthew, während er die Unterlagen durchblätterte. Allen Ernstes hatte er die unverhohlene Erwartung, dass alle ihre Wochenendpläne aufgaben, um den gesetzten Termin einzuhalten.

 

Am späten Samstagmorgen hatte Matthew sich mit den Unterlagen vertraut gemacht. Er war kurz in der Manly-Bibliothek gewesen, nur um zu erfahren, dass es in Australien keine aktuellen Bücher über Guyana gab. Dann hatte er sich die Samstagsausgaben des Sydney Morning Herald und des Australian gekauft und war zu Le Kiosk am Shelly Beach gefahren, wo er sich mit seiner Schwester zum Lunch treffen wollte.

Bei einem Cappuccino blätterte er die Zeitungen durch, nur gelegentlich abgelenkt durch die Umgebung und das Leben um ihn herum. Ein kleiner Bus mit japanischen Touristen traf ein. Gemeinsam stapften sie zum Wasser hinunter und begannen, sich gegenseitig zu fotografieren, mit dem sonnenüberfluteten Manly Beach im Hintergrund. Zu ihrer Überraschung kamen plötzlich zwei Taucher aus dem Wasser und wateten, nachdem sie ihre Schwimmflossen abgenommen hatten, an Land. Sie waren mit Harpunen bewaffnet und hatten einige große Schwarzfische erlegt. Ein Fotomotiv, das sich keiner der Touristen entgehen ließ. Matthew lachte leise in sich hinein. Für ihn war das so gewöhnlich, so alltäglich. Er betrachtete es als selbstverständlich, und genauso empfanden es zweifellos auch die am Strand und um die Grillplätze im angrenzenden Park verstreuten Familien. Ein glückliches Land, dachte er, an diesem Strand zeigte es sein perfektes Image.

Eine Gruppe offensichtlich gut verdienender und modisch gekleideter junger Leute kam herein und schob lärmend Tische zum Lunch zusammen. Matthew sah auf die Uhr. Madi kam mal wieder zu spät.

Er hatte sich in den Wirtschaftsteil des Australian vertieft, als ein Schatten über die Seite fiel. »Hallo, Matt. Was macht die Börse? Sind die AusGeo-Aktien gestiegen? Gab’s diese Woche aufsehenerregende Gold-, Öl- und Diamantenfunde?«

Matthew sah zu seiner Schwester Madison auf. Sie tauschten ein Grinsen, und er dachte wie immer, was für ein gutaussehendes Mädchen sie war. In den letzten Jahren waren sie sich sehr nahegekommen.

»Hallo, Madi. Kann dir keine Tipps geben, das wären Insidergeschäfte.«

Er küsste sie auf die Wange, und sie küsste ihn zurück. »Schön, dich zu sehen, Bruderherz.« Sie lächelte und merkte, wie froh sie war, ihren großen Bruder zu sehen.

Matthew betrachtete sie, während sie sich setzte, die Sonnenbrille abnahm und ihre Schultertasche auf den freien Stuhl neben sich legte. »Na … und wie geht’s dir?«

Sie verzog die Nase und spielte mit dem dicken blonden Zopf, der ihr über die Schulter fiel. Ihre großen braunen, goldgefleckten Augen umwölkten sich.

»So lala. Ich fühle mich zappelig, ruhelos. Die Scheidung wird in drei Monaten rechtskräftig. Dann bin ich auf mich selbst gestellt. Zumindest psychisch. Einerseits denke ich, dass ich diesen Tag feiern sollte. Aber genauso gut ist es möglich, dass ich gar nicht merke, wenn es so weit ist. Vielleicht könnten wir ja mit ein paar deiner tollen Kumpel zum Essen gehen.«

Matthew grinste seine Schwester an, die mit ihren siebenundzwanzig Jahren immer noch wie ein Schulmädchen aussah. Sie war mittelgroß und ungewöhnlich schlank für die Kraft, die sie besaß. Sie konnte fast genauso schwer heben wie er. Als sie ihre Möbel in die neue Wohnung transportiert hatten, war er erstaunt gewesen, wie stark sie war. Aber jetzt kam sie ihm irgendwie kleiner und schwächer vor. Und sie war so blass.

Obwohl sie zwei Jahre jünger war als er, hatte er das Gefühl, dass sie sehr viel mehr durchgemacht hatte.

»Madi, du bist schon seit sechs Jahren ›auf dich selbst gestellt‹. Seit du dich Hals über Kopf in diese miese Ehe gestürzt hast. Ich kann nur sagen, Gott sei Dank habt ihr keine Kinder. Geoffrey ist ein Versager, ein Zauderer und nicht gut für dich. Lass uns das nicht alles wieder aufwärmen. Du weißt, dass ich ihn nie leiden konnte. Ich war froh, dass ich damals so viel im Ausland war. Gut, dass du es hinter dir hast. Warum wechselst du nicht die Stelle? Du könntest um Versetzung bitten, dich in einem anderen Hotel der Kette unterbringen lassen. Am besten im Ausland. Würde dir nur guttun.«

 

Die Kellnerin kam mit zwei Gläsern Wasser und der Speisekarte. Madison bestellte einen Milchkaffee und sah in die Speisekarte, legte sie gleich wieder weg und griff nach dem Wasserglas.

»Ich nehme den warmen Tintenfischsalat. Kann ich nur empfehlen. Mit Knoblauchbrot«, sagte Matthew.

»Klingt gut.«

Matthew hatte das Gefühl, sie hätte zugestimmt, selbst wenn er gekochte Pappe vorgeschlagen hätte. Er lächelte sie ermutigend an. »Was bedrückt dich wirklich?«

»Ich bin mir nicht sicher. Na ja, schätze, ich weiß es doch … Geoff natürlich. Ich bin froh, dass es vorbei ist, aber ich komme mir vor, als hätte man meine Haut mit Sandpapier abgerieben. Ich fühle mich völlig entblößt und sehr verwundbar. Vieles kommt wieder hoch, und ich wundere mich, warum ich die Zeichen nicht früher erkannt habe. Ich dachte, wir wären wirklich glücklich zusammen, und sah nicht, was vor sich ging, was er mir antat …«, ihre Stimme zitterte, »… was ich mir selbst antat.«

»Madi, du hast überhaupt nichts getan. Vielleicht warst du zu nett, zu sanft. Ich konnte nie verstehen, wieso du dir das alles hast gefallen lassen. Diese Spitzen, die er ständig gegen dich losließ, so oft, dass ich ihn am liebsten zusammengeschlagen hätte. Du warst immer so kleinlaut, dass mir ganz schlecht wurde.«

Er beugte sich vor und sagte mit ernster Stimme: »Wo ist meine Schwester? Wo ist der Mensch, zu dem ich stets aufgeblickt habe, der mein ganzes Leben lang auf mich aufgepasst hat und den in meinen Augen nichts erschüttern konnte? Wo ist das lustige, draufgängerische, schwungvolle Mädchen, von dem ich dachte, dass es die Welt erobern wird?«

Madisons Lippen zitterten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß nicht, Matt. Ich wünschte, ich wüsste es. Ich hab das alles einfach verloren. Mein Selbstvertrauen, meine Selbstachtung, er hat darauf herumgetrampelt … Er hat mir so oft gesagt, ich sei unfähig, nichtswürdig, würde es nie zu etwas bringen …«

»Er hat nur versucht, sich stark und unbezwinglich zu fühlen, indem er dich erniedrigte. Madi, du hast einen guten Job, eine verantwortungsvolle Stellung … und das seit Jahren.«

Sie unterbrachen das Gespräch, als die Kellnerin Madis Kaffee vor sie hinstellte und Matthew die Essensbestellung aufgab.

»Du hast recht«, gab Madison zu. »Mein Job im Hotel war mein Rettungsanker. Marketing und Werbung können ganz schön harte Arbeit sein. Aber ohne das wäre ich verrückt geworden.«

Genau wie ihr Bruder war sie eigentlich ein Erfolgstyp. Mit einem Abschluss in Betriebswirtschaft und Marketing von der Universität Sydney war sie ins Hotelgewerbe gegangen, hatte in einem neuen internationalen Hotel ganz unten angefangen und rasch eine natürliche Begabung für Verkaufsförderung und Werbung gezeigt. Sie hatte neue, zugkräftige Ideen, und ihr Tätigkeitsfeld hatte sich ausgeweitet, als man immer öfter ihre Meinung zu verschiedenen Aspekten der Werbung für das Hotel und seine Serviceleistungen wie auch zum Image der Hotelkette einholte.

Sie war eine angesehene Führungskraft und kleidete sich entsprechend – zum Teil in Kostüme mit kurzen Röcken, zum Teil in gut geschnittene Hosenanzüge. Heute sah sie ganz anders aus, trug einen kurzen weißen Rock und ein blau-weiß gestreiftes, ärmelloses T-Shirt.

Matthew legte seine Hand auf die ihre. »Das Hotel muss dich doch schätzen, und es gehört zu einer internationalen Kette. Geh zum Direktor und bitte ihn um eine Versetzung aus persönlichen Gründen. Wissen die von deiner Scheidung?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe stets darauf geachtet, dass meine Arbeit nicht darunter leidet. Es war ja nicht so, dass er mich verprügelt hat. Ich hatte das Gefühl, ich würde ein Versagen eingestehen, das mich in ihren Augen herabsetzen würde.«

»O Madi, ich wünschte, du wärst in dieser Zeit offener gewesen. Ich glaube nicht, dass ich wirklich eine Ahnung davon hatte, wie schwer es für dich war. Er hat dich emotional ganz schön verprügelt.«

»Mag sein, aber jetzt ist es vorbei. Und du warst mir, bist mir immer noch, eine so große Hilfe.« Ihr Gesicht erhellte sich, und ihr Lächeln wurde entspannter.

»Du wirst also tun, was ich dir vorgeschlagen habe?«

»Ich überleg’s mir. Das wäre ein ziemlich großer Schritt. Um die Wahrheit zu sagen, am liebsten würde ich Urlaub machen … weitab von den großen Hotels. Die erinnern mich zu sehr an meine Arbeit.«

»Willst du hören, was es bei mir Neues gibt?« Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

»Eine neue Freundin?«

»Nee. Ich gehe wieder ins Ausland.«

»O Matt!« Madi konnte ihre Enttäuschung nicht verhehlen. Sie war so abhängig geworden von Matthews brüderlicher Unterstützung und auch von seiner Gesellschaft. »Ich bin am Boden zerstört. Wann? Wohin?«

»Guyana.« Er lachte über ihren verwirrten Gesichtsausdruck. »Lehn dich zurück und lass dir von mir was über das Land erzählen. Ich bin zum Experten geworden – seit gestern. Junge, das ist vielleicht eine Geschichte!«

»Fang damit an, wo es liegt.«

»Südamerika, aber die Bevölkerung ist eher karibisch-westindisch. Es gibt eine Menge afrikanische Einflüsse durch die Sklaven, die zur Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen dorthin gebracht wurden. Das Land war im Besitz der Holländer, der Engländer, der Franzosen, dann hat England es zurückgefordert, und es wurde zu Britisch Guiana und ist jetzt Guyana. 1966 wurde es eine unabhängige Republik. Die Hauptstadt heißt Georgetown, hat ungefähr achthunderttausend Einwohner, aber es gibt sechs verschiedene ethnische Gruppen, und sie alle trinken Rum.«

»Aus dem Zuckerrohr … was gibt es da sonst noch?«

»Nicht viel, so wie es aussieht. Der Urwald im Inneren muss atemberaubend sein, aber das Land ist nie entwickelt worden. Es hat dreißig Jahre lang unter der Herrschaft von Forbes Burnham, dem sozialistischen Premierminister und späteren Präsidenten, vor sich hin gedämmert. Er hat seine eigene Partei gegründet und sich westlichen Regierungen angebiedert, die befürchteten, Guyana könne kommunistisch werden und sich zu einem kubanischen Satellitenstaat wandeln. Also bekam er amerikanische Unterstützung, hat prompt die Wahlen manipuliert, ist Diktator geworden und hat das Land in den finanziellen Ruin getrieben und in Verruf gebracht. Er starb 1985 – und glaub mir, das allein ist schon eine sagenhafte Geschichte. Bis heute hat sich Guyana unter der neuen demokratischen Regierung nicht davon erholt, trotz allen guten Willens. Korruption ist allgegenwärtig, und es ist kein Geld vorhanden, um die Genesung voranzutreiben. Es wird ein langwieriger Prozess werden.«

»Und was ist das für eine sagenhafte Geschichte über den Tod des armen alten Diktators?«

»Der Bericht, den wir bekommen haben, liest sich halb wie eine Farce, halb wie ein Thriller.«

»Erzähl schon.«

»Forbes Burnham ging ins Krankenhaus von Georgetown, um sich am Kehlkopf operieren zu lassen, weil er damit Probleme hatte und auf einer riesigen Kundgebung zur Befreiung der afrikanischen Sklaven sprechen sollte – er war selbst afrikanischer Herkunft. Also ließ er Spezialisten aus Kuba einfliegen, weil er sich weigerte, den örtlichen Ärzten zu vertrauen. Offenbar hielt er sich für unverletzlich, lehnte sämtliche voroperativen Untersuchungen ab und kam am Morgen der Operation ins Krankenhaus gerauscht. Die kubanischen Ärzte hatten keine Ahnung, dass er 1977 einen Herzanfall erlitten hatte, und direkt nach der Operation kam es zu einem Herzstillstand. Was dann passierte, ist zu einer guyanischen Legende geworden. Die Ärzte rannten zum Schrank, um das Wiederbelebungsgerät herauszuholen. Der Schrank war abgeschlossen. Niemand wusste, wer den Schlüssel hatte, also brachen sie den Schrank auf, nur um zu entdecken, dass das Gerät geklaut worden war. Burnham starb an Herzversagen, als Opfer der chaotischen Zustände, die er selbst verursacht hatte. Die Ärzte wurden eilig außer Landes geschafft, um eine Untersuchung der Vorfälle zu vermeiden. Und in der offiziellen Verlautbarung über den Tod des Präsidenten wurden alle Feste und Feiern verboten.«

»Du meinst, die Leute waren froh darüber?«

»Wohl eher erleichtert, weil sie die Nase voll hatten. Angeblich sollen guyanische Emigranten, als die Nachricht per Lautsprecher in einem Einkaufszentrum von Miami übertragen wurde, zu tanzen und zu jubeln angefangen haben. Wie auch immer, Burnham wurde mit großem Pomp und Zeremoniell beerdigt. Dann beschlossen seine Anhänger, die Leiche zu exhumieren, einzubalsamieren und in einem Mausoleum im Botanischen Garten aufzubahren wie Lenin in Moskau, damit spätere Generationen ihn dort bewundern könnten.« Matthew machte eine Pause, als die Kellnerin mit ihrem Essen kam.

»Als Erstes planten sie, den Leichnam auf einer offenen Lafette durch die Stadt zu fahren – vergiss nicht, der Ort liegt nicht weit vom Äquator. Und in der Leichenhalle fiel der Strom aus. Also zog die Beerdigungsprozession in der Kühle des Nachmittags los, vorbei an riesigen Menschenmengen. Dann wurde die Leiche eilends zurück in die Leichenhalle gebracht, wo die Kühlkammern inzwischen wieder funktionierten.«

Matthew schaute zu Madi, die mit einem Ausdruck des Unglaubens und der Belustigung im Gesicht die Gabel mit dem Essen in der Luft hielt. »Erzähl weiter.«

»Danach dauerte es zehn Tage, die Leiche aus Guyana herauszubringen und zur Einbalsamierung nach Russland zu fliegen. Ein bürokratischer Alptraum. Sie wurde zuerst nach Kuba geflogen, wo der Sarg von den Beamten in Havanna offenbar mit wenig Respekt vor dem ehemaligen hohen Regierungsamt des Toten behandelt wurde. Also taucht der verstorbene Präsident erst drei Wochen nach seinem Ableben in Moskau auf. Inzwischen wird in Guyana in aller Eile der Bau eines großartigen Mausoleums im Botanischen Garten geplant, für zwei Millionen Dollar zu Lasten der öffentlichen Hand. Die Kosten für eine Klimaanlage oder einen Notstromgenerator zur Kühlung der Kammer, in der der Leichnam aufgebahrt werden sollte, waren allerdings durch das Budget nicht abgedeckt. Andere Faktoren wie die Bewachung und Wartung der elektrischen Anlage wurden ebenfalls übersehen. Derweilen spaltete sich Burnhams Partei in eine ideologische Fraktion auf der einen Seite und eine pragmatische Fraktion mit einem Sinn für die neue Ordnung auf der anderen. Was dazu führte, dass Ende 1986, mehr als zwölf Monate nach seinen Tod, die sterblichen Überreste von Forbes Burnham in einer bescheidenen Zeremonie auf dem ehemals für das Mausoleum vorgesehenen Platz neben den Sieben Teichen im Botanischen Garten bestattet wurde, wo er nun anscheinend – und endgültig – ruht.«

Madi schüttelte leicht verwirrt den Kopf, während sie in ihrem Salat herumstocherte. »Warum um alles in der Welt will deine Firma ausgerechnet dorthin?«

»Aufgrund einer Initiative der Internationalen Finanzorganisation. Ein Vertreter der IFO – übrigens ein Australier – ist bereits dort. Offenbar hat er entschieden, dass diese Bauxitmine namens Guyminco eine Sanierung wert ist. Jetzt nimmt er Angebote von Unternehmensberatern entgegen, und damit kommen wir ins Spiel. Stewart Johns, unser Geschäftsführer, meint, es wäre genau das Richtige für uns.«

»Und du freust dich auf diesen Auftrag?«

»Ja, du kennst mich doch, ich reise wahnsinnig gern. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen bekomme ich so die Gelegenheit, längere Zeit in einem fremden Land zu verbringen, Land und Leute kennenzulernen. Anscheinend ist es das, was Johns den Mund wässrig gemacht hat. Er war schon drüben, hat sich alles angesehen, bevor wir entschieden haben, ob wir ein Angebot unterbreiten. Nach der Sitzung hat er mir erzählt, dass eine Art Zauber über der Gegend liegt. Und vor allem über den Menschen. Trotz aller Probleme meint er, dass wir den Aufenthalt dort genießen werden. Eine stimulierende Herausforderung hat er es genannt. Außerdem hat er gesagt, ich soll im Antrag für das Visum unbedingt nein ankreuzen bei der Frage: ›Haben Sie vor zu predigen?‹«

»Wieso das denn?«

»Erinnerst du dich an den schrecklichen Vorfall mit Reverend Jim Jones aus San Francisco und seinen neunhundert Anhängern, die nach der Ermordung eines amerikanischen Kongressabgeordneten Massenselbstmord begangen haben?«

Madison hob die Augenbrauen. »O ja, stimmt. Prediger nicht willkommen, was?«

»Sieht so aus. Man hat nie herausbekommen, welchen Deal er mit Burnham abgeschlossen hat, um Jonestown errichten zu können. Es hat nie eine Untersuchung stattgefunden, und keiner weiß, was mit all dem Geld und den Wertsachen passiert ist, die angeblich im People’s Temple aufbewahrt wurden.«

»Ich frage mich, was davon wohl noch übrig ist.«

»Seit 1978 … nicht viel, schätze ich. Außerdem lag der Tempel irgendwo am Ende der Welt, nahe der venezolanischen Grenze, sagt Johns.«

»Klingt auf jeden Fall außergewöhnlich. Wie rauh sind die Lebensbedingungen?«

»Schwer zu sagen. Ich werde viel Zeit in der Mine verbringen, die ein ganzes Stück außerhalb der Stadt liegt. Aber meine Ausgangsbasis habe ich in der Stadt. Ich muss Verbindung mit Regierungsbeamten und so weiter aufnehmen. Vermutlich werde ich mir mit Kevin Blanchard, unserem Ingenieur, ein Haus teilen. Johns bleibt in der Mine. Georgetown ist nicht allzu sicher, gewiss kein touristisches Reiseziel wie die meisten anderen Orte in der Karibik. Und sozusagen vor der Hintertür liegen Brasilien und der Amazonas. Weißt du, wer dort war?«

Madison schüttelte den Kopf.

»Sir Walter Raleigh. Er hat dort nach der sagenhaften Goldenen Stadt gesucht, dem verlorenen El Dorado.«

»Du machst Witze!«

»Ich werde sehen, ob ich das Buch auftreiben kann, und es lesen. Er hat über seine Expedition geschrieben und berichtet, wie er durch eine Geschichte über einen ›goldenen Mann‹ dazu verlockt wurde.«

»Wer war das denn?«

»Ein König aus alten Zeiten, dessen Frau und Tochter sich in einem See ertränkten, weil er sie misshandelt hatte. Um die Götter zu versöhnen und Frau und Tochter zurückzuholen, bemalte der König sich mit Goldstaub und warf Gold in die Mitte des Sees. So entstand die Legende von El Dorado, der Goldenen Stadt. Raleigh fand weder den See noch das Gold, aber er beschrieb in glühenden Worten das, was heute Guyana ist. Wer weiß … ist doch eine hübsche Vorstellung, sich auszumalen, dass es da irgendwo im Regenwald immer noch eine verborgene Stadt aus Gold gibt.«

»Ich seh dich schon als Wochenendgoldgräber … Wahrheit oder Mythos, es ist trotzdem eine gute Geschichte«, lachte Madison. Über Matthews begeisterter Schilderung seiner neuen Herausforderung hatte sie ihre eigenen Sorgen vergessen.

»Nun ja, wir wissen, dass es dort Gold gibt. Und Diamanten. Wahrscheinlich alle Arten von Bodenschätzen. Aber da der größte Teil des Landes von Regenwald bedeckt ist, kommt man nur schwer an sie ran.«

»Warum lässt man sie dann nicht, wo sie sind?«

»Das Land ist arm, und wenn es reiche Bodenschätze besitzt, sollten sie nutzbar gemacht werden … natürlich auf verantwortungsvolle Weise«, fügte er hastig hinzu, denn er war sich der Sympathie seiner Schwester für »grüne« Politik bewusst. »Lass uns nicht mit philosophischen Umweltdiskussionen anfangen.«

»Ich weiß, dass die Bergbauindustrie dein Leben ist, aber ich dachte immer, du hättest auch eine sensible Seite und wärst nicht damit einverstanden, was manche Firmen machen.«

»Manche Firmen, liebe Schwester. Die Zeiten ändern sich«, meinte er mit einem Lächeln. »Die meisten Minenbetreiber lernen inzwischen, gute, verantwortungsbewusste Bürger zu sein und der Umwelt keinen Schaden zuzufügen.« Wie zu seiner Verteidigung warf er die Hände hoch. »Ich weiß … du denkst, dass vieles davon bloße Fassade ist und dass am Ende der allmächtige Dollar regiert. Und bitte, komm mir nicht wieder mit dem Ok-Tedi-Argument … nicht heute, dafür ist der Tag zu schön.«

»Also, mir kommt es so vor, als würde sich dieses Guyana nicht allzu sehr von Papua-Neuguinea unterscheiden«, erwiderte Madison, die entsetzt gewesen war, als die Berichte über die Verschmutzung des Fly River durch die Abwässer der Gold- und Kupferminen von Ok Tedi im abgelegenen Hochland Schlagzeilen machten.

»Na, und du arbeitest in der Tourismusbranche. Große Hotels und Golfplätze mitten in die unberührte Natur zu setzen ist auch nicht gerade umweltbewusst«, schoss ihr Bruder zurück.

»Okay.« Madison wedelte mit der Hand. »Lass uns Waffenstillstand schließen und uns nicht dieses gute Essen verderben.«

»Einverstanden. Und was hältst du von dieser tollen Idee? Du bist doch immer gern gereist. Warum lässt du nicht einfach den ganzen Scheidungsschlamassel hinter dir und kommst rüber nach Guyana, um bei mir Urlaub zu machen … eine Art Reinigungsritual am Beginn deines neuen Lebens?« Er lehnte sich zurück und verschränkte, begeistert von seiner Idee, die Arme.

Sie betrachtete ihn mit dem abweisenden Blick, den sie seit ihrer Kindheit benutzt hatte, wenn er mit Vorschlägen kam, die er brillant fand und sie unmöglich. »So verzweifelt bin ich noch nicht, Bruderherz.«

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Zweites Kapitel

Matthew machte nach nur wenigen Tagen in Guyana eine milde Form des Kulturschocks durch. Er spürte, wie sein Denken ins Stocken geriet, einen Eindruck einfing, ein Bild festhielt, das ihm nur einmal mehr die Tatsache bewusst machte, dass er sich in einem fremden Land, auf einem neuen Kontinent, in einer unbekannten Stadt befand. Zwischen Georgetown und Sydney hätte kein größerer Unterschied bestehen können. Er suchte ständig nach Parallelen und Vertrautem, fand aber nur Vergleiche und Kontraste.

Es war Sonntagmorgen, und er fuhr mit dem wahrscheinlich einzigen Aufzug von Georgetown zum sechsten und obersten Stockwerk des Pessaro Hotels hinauf. Er betrat die Terrasse, die rund um den Turm des besten Hotels der Stadt führte, ein Wahrzeichen, das modernisiert und dem allgemeinen mittelmäßigen Standard tropischer Hotels angepasst worden war: weiße Korbmöbel, die Polsterung in grellen Farben mit aufgedruckten Vogelmotiven, in Massenproduktion hergestellte Bilder weiterer einheimischer Vögel, Ständer mit glänzenden Grünpflanzen und die Angestellten in Uniformen mit Goldtressen und Namensschildern. Weiße Hemden und ein ständiges Lächeln, dazu ein Akzent, den Matthews Gehör immer noch auf eine verständliche Wellenlänge zu bringen versuchte.

Ein träger Wind, der eher erstickend wirkte als erfrischend, schlug ihm mit heißem, tropischem Atem entgegen. Matthew trat an das schmiedeeiserne Geländer und schaute auf den Ozean. Plötzlich fiel ihm der Samstagslunch mit Madison am Shelly Beach ein. Das lag erst wenige Wochen zurück. Hier gab es keinen blauen Pazifik. Keine blendenden australischen Farben. Nur das träge Schwappen des milchkaffeebraunen Meeres gegen die Mole, ein eher dürftig wirkendes Gebilde, das den Atlantik daran hindern sollte, die Stadt zu überschwemmen, ein schwächliches Mauerwerk, das diesen gewaltigen Ozean zurückhalten sollte, der sich nach Osten bis zum schiefergrauen Horizont erstreckte, wo sich schwere, überladene, wasserdurchtränkte Regenwolken zusammenballten. Er meinte, die Luft, die er einatmete, beinahe sehen zu können.

Nach Westen breitete sich die Stadt in die Ferne aus. Direkt gegenüber dem Hotel befand sich der wohlhabende Teil der Stadt, beherrscht von der cremefarbenen Festung der amerikanischen Botschaft. Sie nahm einen ganzen Häuserblock ein, wo früher drei prächtige Villen im Kolonialstil gestanden hatten. In den achtziger Jahren, nach dem Geiseldrama im Iran, hatte Washington angeordnet, alle amerikanischen Botschaften mit Außenmauern zu verstärken, die dem Aufprall eines mit Dynamit beladenen Lastwagens bei fünfzig Meilen pro Stunde standhalten konnten. Ebenfalls aus Sicherheitsgründen wohnte der Botschafter jetzt in einem befestigten modernen »Palast«, der in einem anderen Stadtteil Georgetowns lag.

Die solide Bauweise der Botschaft stand im Gegensatz zum Rest der Stadt, die trotz ihrer langen Geschichte auf Matthew reichlich provisorisch wirkte. Nichts war sonderlich hoch gebaut, und die meisten der Betonbauten und Holzgebäude hatten ein nichtssagendes Äußeres. Überall wuchsen Bäume, die in dem schwülen, feuchtwarmen Klima gut gediehen, und Matthew war sich sicher, dass es, falls alle Menschen die Stadt verließen, nicht lange dauern würde, bis die Natur sie wieder in einen sumpfigen Dschungel verwandelt hätte.

Als bei seinem Rundgang über die Hotelterrasse das Kricketfeld in Sicht kam, blieb Matthew stehen. Der grüne Rasen mit dem Clubhaus war endlich etwas Vertrautes für ihn. Es erinnerte ihn auf überraschende Weise an das Oval in Manly, und er lächelte bei der Erkenntnis, dass ihn zumindest eines mit dieser merkwürdigen und seltsam aussehenden Stadt verbinden würde. Kricket war eine seiner Leidenschaften, und bis zu seinem Einsatz hier war ihm die Existenz Guyanas nur ins Bewusstsein gedrungen, wenn einer der hiesigen Kricketspieler in einem Team der Westindischen Inseln gegen die Australier antrat. Und das war noch etwas Seltsames an diesem Land. Das hier waren nicht die Westindischen Inseln, es war Südamerika. Und trotzdem sprach jeder, dem er bisher begegnet war, dieses singende westindische Englisch, das fast so rhythmisch war wie der Calypso und das laut und klar zum Ausdruck brachte, dass es sich hier um ein karibisches Land handelte.

Eine Brise brachte eine Mischung aus Geräuschen und Gerüchen von der Straße herauf. Der Verkehr war äußerst hektisch und sehr vom übermäßigen Gebrauch der Hupe bestimmt. Die Fußgänger, die Farben ihrer Haut wie die Farben ihrer Kleider, waren wie die bunte Farbmischung auf der Palette eines Malers, und wenn der Verkehrslärm etwas nachließ, waren Laute in den verschiedensten Akzenten zu hören. Und die Gerüche – Gewürze, Currys, Salz, Luft, tropische Früchte, verschwenderische Blütendüfte und ein leicht abstoßender Geruch nach etwas Feuchtem und Verrottetem.

Die Straße unter ihm strömte samstagmorgendliche Vitalität aus, und Matthew fühlte sich plötzlich so weit weg, so allein auf seinem bescheidenen Ausguck, dass er das dringende Bedürfnis verspürte, hinunterzugehen und sich in das Gewimmel zu stürzen. Er sah auf die Uhr. Es war fast an der Zeit, sich mit dem örtlichen Vertreter der Guyminco Bauxitmine zu treffen. Mit einem Gefühl der Erleichterung ging Matthew zum Lift, froh, der Hitze und dem Ansturm auf seine Sinne zu entkommen.

 

Vivian Prashad, geboren und ausgebildet in Georgetown, arbeitete seit acht Jahren für Guyminco. Seine Eltern waren aus Bombay eingewandert, ursprünglich, um auf einer Zuckerrohrplantage zu arbeiten, und hatten allmählich ihre Lebensumstände verbessert. Prashad war stellvertretender Betriebsleiter bei Guyminco, ein ehrgeiziger und hart arbeitender Mann. Darüber hinaus hatte er die Aufgabe, die ausländischen Führungskräfte mit der Stadt und den Vorgängen in der Mine vertraut zu machen. Er öffnete die rückwärtige Autotür für Matthew und setzte sich dann neben den schwarzen Fahrer. »Ich mache eine kleine Rundfahrt mit Ihnen, Mr. Wright, dann zeige ich Ihnen das Haus, das wir für Sie und Mr. Kevin Blanchard in Georgetown gemietet haben. Mr. Johns wird in MacGregor wohnen.«

»Ist das die Minenstadt?«

»Ja. Da gab es nichts, bis 1910 ein Schotte mit einem Kanu den Fluss hinauffuhr. Er fand ein erstklassiges Bauxitvorkommen und traf eine sehr günstige Vereinbarung mit einer amerikanischen Beteiligungsfirma. Sie kauften eine Menge Land und begannen 1916 mit dem Abbau.« Prashad schüttelte den Kopf. »Das waren die guten alten Zeiten, jetzt sind sie nicht mehr so gut. Für die Familien der Minenarbeiter ist es sehr schlimm. Die Leute haben Angst, dass die Stadt sterben wird, wenn die Mine zumacht.«

»Nun, deswegen hat man uns ja beauftragt«, sagte Matthew, bemüht, seiner Stimme Autorität zu verleihen. »Wir hatten schon viel schwierigere Projekte als dieses.«

»Oh, das höre ich gern«, meinte Prashad begeistert, drehte sich um und lächelte Matthew breit an.

»Wie groß ist die Minenstadt?«

»Siebentausend Einwohner. Ziemlich groß, aber ganz hübsch. Ich wohne gern in MacGregor.«

»Wie lange braucht man bis dahin?«

»Weniger als zwei Stunden. Jahrelang war die Straße in einem furchtbaren Zustand. Jetzt ist sie ausgezeichnet. Die beste im Land.«

Das dürfte nicht schwierig sein, dachte Matthew, als das Auto über die nächsten Schlaglöcher rumpelte.

Sie bogen ins Zentrum der Stadt ein. Jetzt weiteten sich die Straßen zu breiten Avenuen, und er konnte die Einflüsse besser erkennen, von denen diese Stadt geformt worden war, die unter den Franzosen Longchamps und unter den Holländern Stabroek geheißen und von den Engländern den Namen Georgetown erhalten hatte.

»Das hier ist die Hauptstraße. Hier stehen viele wichtige Gebäude. Und es ist immer viel Betrieb. Gefährliche Gegend für Raubüberfälle und Taschendiebstähle. Die Diebe treiben sich bei den Guyana Stores, der Bank, dem Town Hotel herum. Passen Sie auf Ihre Uhr und Ihren Geldbeutel auf. Ihre weibliche Begleitung sollte keinen Schmuck tragen«, riet Prashad mit erhobenen Augenbrauen und einem schwachen Lächeln.

Sie fuhren parallel zu großen, offenen Abflusskanälen mit grasbewachsenen Einfassungen, die zu Matthews Erstaunen relativ sauber wirkten, trotz des überall herumliegenden Abfalls. »Hat man die als Kanalisation oder als Flutwasserkanäle gebaut?«, fragte er Prashad.

»Die Franzosen begannen mit der Stadtplanung, aber erst die Holländer errichteten die eigentliche Stadt mit Straßen in einem rechtwinkligen Gittermuster auf altem Plantagenland. Georgetown liegt unterhalb des Meeresspiegels, daher bauten sie die Mole entlang der Küste. Dann weiteten sie das Entwässerungssystem der Plantagen aus, bauten Schleusen, Siele und Dämme, um die Gezeiten, die Flüsse und Überflutungen in den Griff zu bekommen. O ja, sehr geschickte Leute, diese Holländer. Die Zuckerindustrie benutzte die Kanäle zum Transport des Zuckerrohrs. Durch die Überflutungen werden die Kanäle ausgespült.«

»Danke für die Einführung«, sagte Matthew.

»Gern geschehen. Guyana ist ein interessantes Land. So viele europäische Einflüsse durch die Kolonialmächte. Fügen Sie die afrikanischen Sklaven, uns Inder, die Portugiesen, die Chinesen und die Indios, die Ureinwohner des Landes, hinzu, dann erkennen Sie, dass wir eine ganz hübsche Mischung abgeben. Ich werde Ihnen einige der alten Häuser mit ihrer multikulturellen Architektur zeigen.«

»Also, das ist wenigstens etwas, was mir bekannt vorkommt – das Multikulturelle.«

Matthew betrachtete das chaotische Gewimmel von Menschen auf Fahrrädern, zu Fuß und in uralten, zerbeulten und vielfach reparierten Autos. Gelegentlich tauchte ein teures deutsches oder amerikanisches Modell auf, dessen Insassen hinter getöntem Glas verborgen waren, und bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Einst hatte die Hauptstraße den Anspruch gehabt, ein Boulevard zu sein, mit einem begrünten Mittelstreifen, auf dem blühende Samanbäume standen, von denen rote und goldene Blüten herabregneten. Aber das Chaos auf den Straßen lenkte von dem großzügigen Entwurf der ehemaligen Stadtväter ab.

»Da, schauen Sie, dort stehen einige der im Plantagenbesitzer-Stil erbauten Häuser«, sagte Prashad. »Sie wurden hoch über dem Boden gebaut, um nicht vom Flutwasser weggespült zu werden und Platz für die Tiere zu haben. Jetzt wird dieser Bereich hauptsächlich zum Wäschewaschen und für die Dienstbotenquartiere benutzt.«

»Mir gefallen die Veranden und die Holzarbeiten«, sagte Matthew.

»Die Veranda ist ein wichtiger Bestandteil. Sehr nötig bei unserem heißen Klima, um die nordöstlichen Winde auszunutzen«, meinte Prashad.

Wie große alte Damen, die schwere Zeiten durchmachen müssen, hatten sich die Häuser einen Anschein von Würde und ehemaliger Pracht bewahrt, trotz der derzeitigen Schande vornehmer Armut.

»Das da drüben sieht aber gut aus. Was ist das?« Matthew deutete auf ein großes, zweistöckiges Gebäude mit geräumigen Veranden, frisch gemähten Rasenflächen und blühenden Bäumen, deren Zweige über eine hohe Steinmauer hingen.

»Ah ja, das ist der Georgetown Club. Sehr feudal, sehr schwer, da hineinzukommen. Der beste Club in der Stadt. War er schon immer. Natürlich in früheren Zeiten nur den Briten vorbehalten.«

»Und jetzt … was braucht man, um da aufgenommen zu werden?«

»Das wird vom Komitee entschieden … Geld, Ansehen, Status. Aber es ist ein guter Club. Alle möglichen Leute sind Mitglied. Ist jetzt mehr gemischt. Sagen Sie Mr. Johns, er soll dafür sorgen, dass die Leute von AusGeo aufgenommen werden.«

Matthew lächelte, da er genau wusste, dass für Stewart Johns so etwas nicht an erster Stelle stand. »Wo kann man denn sonst noch hingehen?«

Prashad lachte leise. »Oh, da gibt es jetzt einiges. Die Leute gehen gern ins Palm Court, das Restaurant ist freitagabends immer voll besetzt. Und da drüben ist das Park Hotel … gute Qualität. Ein dreigängiges Menü plus Getränk für weniger als tausend Dollar.«

»Das sind zehn australische Dollar. Spricht allerdings für Qualität. Und es sieht sehr ansprechend aus.« Das Park Hotel hatte sich einen kolonialen Anstrich bewahrt, ohne grandios zu sein, besaß eine breite obere Veranda und Säulengänge und war mit bequemen Korbmöbeln ausgestattet.

»Wir Guyaner feiern gern. Heute Abend werden Sie eine typische guyanische Party kennenlernen.«

Das AusGeo-Team war zu einem Empfang in der Residenz von Lennie Krupuk, dem Generalmanager von Guyminco, und seiner Frau Roxy eingeladen. Matthew hatte sich bisher nicht allzu viel davon versprochen. Diese Art von Empfängen folgten stets demselben Muster. Das Defilee der Gäste in absteigender Rangfolge, ihre Frauen in pompösen Kleidern, die Haare vom nachmittäglichen Friseurbesuch in eine steife, gelackte Form gebracht, fade Häppchen und eine Mischung aus Regierungsbeamten, Geschäftsleuten, Gesellschaftslöwen und Wirtschaftsreferenten aus den verschiedenen Botschaften.

Die amerikanische Flagge fiel ihm ins Auge, als der Wagen an einem einfachen, niedrigen, kastenartigen Gebäude vorbeifuhr.

»Das war die alte Botschaft der USA, bevor sie das Hotel Hoffnung bauten.«

»Hotel Hoffnung? Sie meinen das cremefarbene Fort Knox?«

»Ja. Alle gehen dort voller Hoffnung hin. Jeden Morgen ab fünf bilden sich Schlangen, alle hoffen auf ein US-Visum.« Prashad schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gut. Die Menschen wollen nur genug Geld verdienen, um nach Miami, New York, Kanada oder London auszuwandern. Niemand will mehr hierbleiben und arbeiten und dieses Land in Ordnung bringen. Wir brauchen hier gute Leute.«

»Und Sie, Mr. Prashad, hätten Sie auch gern ein Visum für die USA?«

Er zuckte die Schultern. »Wenn ich Geld hätte, vielleicht. Um meinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Jeder in Guyana hat Verwandte im Ausland, was?« Er stupste den schwarzen Fahrer an, der grinste.

»Klar doch.«

Matthew war sich sicher, dass auch der Fahrer schon in dieser Schlange vor dem Hotel Hoffnung gestanden hatte.

»Und was tut sich in dem alten Botschaftsgebäude?«

Prashad schenkte ihm ein breites Lächeln. »Da sitzen die Informationsleute. Die Spooks, wissen Sie. So nennen sie die Spione.«

Matthew lachte. »Ich sehe, es gibt keine Geheimnisse in dieser Stadt.«

»Keine Geheimnisse und viele Gerüchte und jede Menge Klatsch. Manchmal wahr, manchmal nicht … aber immer wert, weitergegeben zu werden«, meinte Prashad leise lachend und ohne Boshaftigkeit.

Der Wagen glitt an dem eindrucksvollen Gebäude des Obersten Gerichtshofs vorbei, dessen rotes Dach zu einem rostigen Orange verblichen war. Wie bei den anderen kunstvollen Holzgebäuden der Stadt dämpften abblätternde Farbe und Schäbigkeit seinen einzigartigen Reiz. Königin Victoria starrte aus leeren Augen über die wimmelnde Menge vor den schmiedeeisernen Gittern des Gerichtsgebäudes hinweg. »Die Königin hat eine Hand verloren«, bemerkte Matthew.

»Sie kann von Glück sagen, dass sie nicht den Kopf verloren hat. Lag jahrelang im Gras hinten im Botanischen Garten, nachdem man sie vom Sockel gestürzt hatte. Erst die neue Regierung hat sie wieder vor dem Gericht aufgestellt. Schließlich ist es der Victoria High Court«, erklärte Prashad.

Am Nordende der breiten Avenue der Republik umrundeten sie den Stolz der Stadt, die St.-Georgs-Kathedrale, einen neugotischen Holzbau, der seit seiner Erbauung 1892 all die Feuersbrünste überstanden hatte, denen viele wichtige Gebäude der Stadt zum Opfer gefallen waren. »Das höchste hölzerne Gebäude der Welt«, verkündete Prashad, und Matthew lächelte.

Sie kamen am heruntergekommenen Stabroek-Markt vorbei, der unter einem leuchtend roten Dach mit kunstvollen hölzernen Zierleisten untergebracht war. Der Platz vor der Markthalle war ein wimmelnder Basar aus Fahrzeugen, Fahrrädern, Fußgängern, fliegenden Händlern und kleineren Ständen, die sich den Schutz der schattigen Markthalle nicht leisten konnten.

»Ist hier immer so viel los?«, fragte Matthew, der plötzlich am liebsten angehalten und sich unter das geschäftige Treiben des Marktes gemischt hätte.

»Ja, immer. Aber es gibt hier eine Menge Tiebs.«

»Tiebs? Sie meinen wohl Diebe«, sagte Matthew.

Der Fahrer und Prashad tauschten ein Grinsen aus. »Ein Ausdruck, den wir hier haben. Klingt nicht so schlimm, wenn wir ›Tiebs‹ sagen«, erklärte Prashad.

Zehn Minuten später bogen sie auf einen umzäunten, mit Gras überwachsenen Platz ein. Ziegen grasten in der Mitte, und ein Rudel kleiner Hunde patrouillierte auf der Straße. Es gab keine Gehwege oder Randstreifen, und einige Anwohner hatten schmale Bretter über das sumpfige Gras vor ihren Eingangstoren gelegt.

Die modernen Betonhäuser besaßen zwei Stockwerke und steinerne Veranden mit Glaslamellen. Aus den Schlafzimmerwänden ragten die metallenen, kastenförmigen Rückseiten der Klimaanlagen heraus. Die meisten Häuser waren mit kunstvollen, schmiedeeisernen Toren versehen, alle waren eingezäunt, und ein oder zwei waren zu grandiosen, neureichen Monstrositäten umgebaut worden. Matthew fragte sich, welchen Geschäften seine Nachbarn wohl nachgingen, offenbar verhalfen sie ihnen zu beträchtlichen finanziellen Erfolgen. Zweifellos würde er es mit der Zeit erfahren.

»Das ist das Haus, das Sie und Mr. Kevin Blanchard bewohnen werden«, sagte Prashad, als sie vor einem vergleichsweise bescheidenen Bungalow hielten. »Vier Schlafzimmer, zwei Badezimmer, großer Wohnbereich, kleiner Balkon, großer Garten«, zählte er auf, während er das unverschlossene Tor aufschob.

Beim Kratzen des Metalls über die Betonauffahrt erschien eine verschlafene Gestalt. Ein kräftiger, dunkelhäutiger Mann mit einem welligen, weißen Haarschopf, bekleidet mit einem Unterhemd und voluminösen alten Khakishorts, eilte barfuß auf sie zu. Prashad beachtete ihn nicht, ging zum Haus und schloss die Vordertür auf. Eine gebohnerte Holztreppe führte nach oben in den Wohnbereich, und Matthew folgte Prashad hinauf. Alles war hell und luftig, an der Vorderseite gab es einen Balkon. Ein zweiter, kleinerer lag nach hinten hinaus vor den Schlafzimmern und war mit schmiedeeisernem Gitterwerk eingefasst. Von hier aus konnte man in einen großen Garten mit Bananenstauden und Obstbäumen, tropischen Büschen und Blumen sehen. Ein palmgedeckter Pavillon stand ein bisschen schief in einer Ecke an einem von Seerosen bewachsenen Teich. Mehrere Hängematten waren auf der Veranda aufgespannt.

Prashad fuhr fort: »Es gibt ein Hausmädchen namens Hyacinth, wir würden Ihnen empfehlen, sie einzustellen. Sie wohnt unten. Sie wird für Sie kochen, waschen und sauber machen. Sie müssen ebenfalls einen Wachmann und einen Gärtner einstellen.«

»Wer war der Alte da unten?«

»Er war hier, als ich gestern Mr. Blanchard herbrachte, während Sie im Ministerium waren. Ich weiß nicht, wer er ist. Wir haben das Haus gerade erst gemietet.«

»Ich seh mich nur noch schnell im Garten um«, sagte Matthew.

 

Obwohl Prashad und die anderen Angestellten der Mine noch nichts davon wussten, hatte AusGeo den Zuschlag für den Minenvertrag bekommen, sobald die Australier das Land betreten hatten. Matthew konnte kaum erwarten, Kevin zu erzählen, wie es dazu gekommen war. Und dieses Haus würde sich bestens für einen längeren Aufenthalt eignen.

Matthew hielt sich nicht damit auf, die Dienstbotenquartiere zu überprüfen, denn das war Sache des Hausmädchens. Er würde seine Zeit zwischen Georgetown und der Mine aufteilen. Kevin würde es genauso machen, obwohl sie wahrscheinlich zu unterschiedlichen Zeiten arbeiten würden. Matthew blieb stehen und sah zu dem kleinen Pavillon hinüber. Ja, er konnte sich vorstellen, hier draußen abends mit einem Glas Rum zu sitzen. Als er sich umdrehte, kam der alte Mann wieder unter dem Haus hervor, wo das Zimmer des Dienstmädchens und die Waschküche untergebracht waren. Er trug jetzt ein kurzärmeliges Hemd und lächelte Matthew an. »Wohnen oder arbeiten Sie hier?«, fragte Matthew.

Der Mann richtete sich auf und verkündete: »Ich bin Singh. Ich gehör zum Haus.«

»Ach ja? Ich bin Matthew Wright.« Matthew schüttelte die ausgestreckte Hand. »Ich ziehe morgen hier ein. Was sind Ihre Aufgaben, Singh?«

»Ich bin Wächter und mach den Garten, Boss.«

»Sehr gut, Singh. Wenn Sie das sagen.«

»Sind Sie Engländer, Mr. Wright?«

»Nein, Australier.«

»Ah, Australier. Sehr gut. Sehr willkommen in Guyana, Mr. Wright.«

Singh hielt das Tor auf, als sie wegfuhren. »Wir können etwas Besseres finden, da bin ich sicher. Es gibt einen Wachdienst, den wir engagieren können«, meinte Prashad.