Tränen des Mondes - Di Morrissey - E-Book

Tränen des Mondes E-Book

Di Morrissey

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Beschreibung

Wo die schillernden »Tränen des Mondes« gefunden werden, die australischen Austernperlen, dorthin zieht es im 19. Jahrhundert Seeleute, Vagabunden und Piraten. Und hier begegnen sich auch die energische Olivia und der Abenteurer John Tyndall. Gemeinsam wollen sie mit der Perlenfischerei ihr Glück machen. Bis Johns tot geglaubte Frau auftaucht und nicht nur Anspruch auf das Vermögen ihres Mannes erhebt …

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Di Morrissey

Tränen des Mondes

Roman

Aus dem Englischen von Maria Andreas und Susanne Dickerhof-Kranz

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die Stadt Broom im Nordwesten Australiens ist im 19. Jahrhundert das schillernde Zentrum der australischen Perlenfischerei. Hierhin zieht es Seeleute und Abenteurer, Vagabunden und Piraten. Hier treffen die europäischen Einwanderer auf einen wilden, unerschlossenen Kontinent und auf die uralte Kultur der Aborigines.

Und hier begegnen sich auch die energische Olivia Hennessy und der Abenteurer John Tyndall. Olivia hat durch ein Feuer, das ihre Plantage zerstörte, ihren neugeborenen Sohn verloren. Da macht Kapitän Tyndall ihr das verlockende Angebot, sich an seinem Geschäft der Perlenfischerei zu beteiligen. Sie verlieben sich bei einem Tauchgang ineinander, doch die Ereignisse reißen sie auseinander, und ihre Liebe muss sich über Jahrzehnte hinweg gegen die Widerstände des Schicksals behaupten.

Inhaltsübersicht

MottoPrologErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelBesonderen Dank an …
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Im Gedenken all jener, die auf See geblieben sind …

 

 

In der indischen Mythologie glaubt man, dass Perlen die Tränen des Mondes sind, die einst ins Meer tropften …

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Prolog

Broome 1905

Der Taucher bewegte sich im Zeitlupentempo, ein schwerer Stiefel trat kleine graue Staubwolken los. Das Einzige, was er hören konnte, war das ständige Zischen in seinem Luftversorgungsschlauch und sein eigenes rhythmisches Atmen, während er von dem Logger über ihm über den Meeresgrund geführt wurde. Wenn er ausatmete, stieg jedes Mal eine Wolke von Luftblasen an die Oberfläche, etwa dreißig Faden über ihm. Die glasklaren Bläschen mit heißem, entfernt nach Chili und schwarzer Soße riechendem Atem platzten irgendwann in der Nähe des driftenden Loggers auf dem Indischen Ozean auf.

Dem an der Pumpe kauernden Helfer, der trotz seiner schläfrigen Haltung wachsam war, verriet das beständige Aufperlen der Luftblasen, dass alles normal verlief. Durch seine Hände lief das Kokosseil, das zugleich Rettungsseil und Signalseil war und die beiden Männer wie eine Nabelschnur verband. Ungeachtet des Ratterns der Handpumpe und des Geplappers der Muschelarbeiter verfolgte der Helfer die Schritte des Tauchers und steuerte den Logger in die Richtung, die der Mann unter Wasser nahm.

Der japanische Taucher arbeitete allein, ganz im Vertrauen auf seine Fähigkeit, es lange in der Tiefe auszuhalten, Ruhe zu bewahren und Perlmuscheln »sichten« zu können. Er streifte langsam über den Meeresboden, sein Korb war schon fast bis zum Rand gefüllt mit den breiten, flachen, grauen Schalen, die für andere so schwer auszumachen sind. Beinahe eine Stunde verbrachte er in dieser Welt von eigenartiger Fremdheit und Schönheit und blieb doch von den Geheimnissen und dem Zauber um ihn herum unberührt. Er hatte schon früh in seinem Beruf gelernt, die Einzigartigkeit der Unterwasserwelt zu vergessen. Nur ein winziger Augenblick der Unachtsamkeit konnte ihn manch schönen Fund kosten oder sogar einen Unfall herbeiführen.

Die Luft aus dem Versorgungsschlauch erfüllte seinen Schädel mit einem beständigen Rauschen. Wie ein Wesen von einem anderen Stern wanderte die wulstige Gestalt mit dem befensterten Kupferhelm durch den Wasserkosmos – ein Fremder in einer fremdartigen Welt.

Er hatte fünf Jahre auf Thursday Island gearbeitet und war für weitere drei Jahre hier in Broome verpflichtet worden. Er war ein Ass unter den Tauchern, einer der Besten seiner Zunft. Er gehörte zu den Männern, die auf dem Meeresgrund zu Hause waren. Den Männern, die tiefer tauchten, länger unter Wasser blieben und mehr Perlmuscheln fanden als Weiße, Malaien oder Aborigines. Er hatte sein Gutteil an gestohlenen Perlen verkauft, Geschäfte gemacht, aus Perlenfunden und Perlmuttausbeute Profit geschlagen. Dies war jedoch seine letzte Saison. Sobald er wieder Fuß an Land setzte, würde er nach Wakayama und zu Akiko San zurückkehren.

Hatte ihn der Gedanke an die Frau abgelenkt? Wurde seine stete Wachsamkeit für einen Augenblick von der Erinnerung an den warmen Körper, das seidige Haar und die süße Stimme getrübt? Oder hatten die Götter beschlossen, dass an diesem Tag, in diesem Moment seine Zeit gekommen sei? Der kleine Talisman aus Walfischknochen unter den vielen Schichten aus Flanell, Gummi und Segeltuch bot keinen Schutz vor den Ereignissen, die nun hereinbrechen sollten.

Aus dem Augenwinkel nahm er eine rasche Bewegung wahr, erhaschte einen großen Schatten, der sich auf ihn zubewegte. Ungewollt atmete er heftig aus, der Schwall von Luftblasen verstörte die silbrige Gestalt. Der riesige Schwertfisch schwang herum, sein breites, tödliches Schwert durchschnitt das Wasser. In seinem Weg der Luftversorgungsschlauch und das Rettungsseil, die über dem Kopf des Tauchers baumelten. Aber der gewaltige Fisch ließ sich nicht beirren.

Die rote Gummiarterie über dem Taucherhelm wurde zur Hälfte durchtrennt. Mit lautem Getöse entwich die Luft aus dem Schlauch und wirbelte das Wasser zu einer brodelnden Wolke auf. Der Taucher war durch den Schlag aus dem Gleichgewicht geraten und nestelte verzweifelt an seinem Handventil, um die restliche Luft in seinem Taucheranzug zu halten, damit er es bis an die Oberfläche schaffen konnte.

Der Helfer im Boot merkte, dass etwas passiert war. Er hatte das plötzliche Rucken und Erschlaffen des Luftversorgungsschlauchs gespürt, noch ehe der Taucher ihm verzweifelt Zeichen gab, ihn heraufzuholen.

Im Normalfall stieg der Taucher nach und nach an die Oberfläche, legte immer wieder Dekompressionspausen ein, damit sich kein Stickstoff im Blut ansammelte. Der Helfer erkannte jedoch an dem wilden Reißen am Seil, dass dem anderen Atemluft fehlte. Obschon das Risiko einer Lähmung erheblich war, beschloss er, den Taucher sofort hochzuziehen.

Laute Rufe trommelten die Mannschaft auf dem Logger zusammen. Die Männer an der Handpumpe arbeiteten wie besessen, um wenigstens etwas Atemluft an dem Leck vorbei durch den Schlauch zu pressen und den Taucherhelm mit dem Atem des Lebens zu füllen.

Der Taucher spürte, wie der Druck zunahm. Stechende Schmerzen jagten durch seine Gelenke, als sein Körper wie eine Marionette im Wasser emporschwang und dabei regelrecht erdrückt wurde, da man ihn zu schnell an die rettende Luft zu befördern suchte.

In den letzten Sekunden, die er bei Bewusstsein war, hoffte er inständig, die anderen würden das Leck im Schlauch schnellstmöglich flicken und ihn gleich wieder in die Tiefe ablassen, wo er einige Stunden bleiben würde, bis sein Körper sich wieder an die Druckverhältnisse angepasst hätte.

Es gibt wundersame Geschichten und Legenden vom Überleben und genauso viele von schrecklichen Schicksalen, die so manchen Taucher ereilten. Es gab den Tod unter Wasser, verursacht durch heimtückische Strudel, gefährliche Strömungen oder verborgene Krater, die einen Taucher einfach verschluckten, oder durch unglückselige Begegnungen mit Teufelsrochen, Schwertfischen, Haien oder Walen. Über Wasser konnten die Beriberi-Krankheit, Zyklone, Schiffbruch und meuternde Besatzungen ebenso leicht zum Tod führen. Ein Taucher mochte wohl überleben, war aber dann zu einem Landleben als elender Krüppel verdammt. Die Straßen von Broome wimmelten von menschlichen Wracks, die lieber als Taucher umgekommen wären, als ein Leben als Davongekommener zu fristen.

Sie wussten um die Gefahren, dennoch wagten sie das Risiko.

Der Logger neigte sich, als sich alle Mann über Bord beugten. Der triefende Taucher wurde an Deck gehievt, die schweren Stiefel und der Kupferhelm krachten auf die Planken.

Beim Anblick der schwärzlichen Hautfarbe durch das Helmfenster hindurch schüttelten die Männer den Kopf. Der Helm wurde abgeschraubt und das schreckliche Gesicht freigelegt … Die Augen quollen hervor, ein Augapfel hing bis auf die Wange, Blut strömte aus Ohren, Nase und Mund. Während die Körper einiger Taucher so fest in Anzug und Helm gepresst waren, dass man sie herausschneiden musste, bestand hier noch Hoffnung auf einen Funken Leben. Die Männer schraubten den Helm wieder fest, flickten den Atemschlauch und ließen den Taucher ins Wasser zurückgleiten.

Ein Taucher begleitete ihn, verharrte neben ihm und wartete in der unheimlichen Grabesstille des Meeres. Er regulierte den Druck im Taucheranzug und im Taucherhelm in der vagen Hoffnung, die schwarz gewordene Haut möge wieder einen rosigen Schimmer annehmen und der geschundene Schädel sich wieder aufrichten.

Die beiden Taucher schwebten eine gute Stunde lang nebeneinander im Wasser. Schließlich gab der zweite Taucher das Zeichen zum Hochziehen. Er hoffte inständig, wenn seine Zeit gekommen sei, möge sein Tod unter Wasser kurz und schmerzlos sein.

Der tote Taucher wurde aus seinem Anzug geschält. Der Logger löste sich aus der Taucherflotte und nahm Kurs auf Broome, die Männer an Deck machten sich wieder an das Aufbrechen der Perlmuscheln.

Die erste Muschel aus dem Korb des toten Perlentauchers gab eine makellose zartrosa Perle frei. Ihre Schönheit würde einmal in einer fernen Stadt den Hals einer vornehmen Dame schmücken – aber zu welch hohem Preis wurde sie geborgen!

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Erstes Kapitel

Sydney 1995

Lily saß im Schlafzimmer ihrer Mutter auf dem Fußboden und kam sich wie ein Eindringling vor. Um sie herum lagen Schubladen voller Unterwäsche, persönliche Papiere, Schmuck, zwei Hutschachteln mit Reiseandenken und allerlei Erinnerungsstücke. Auf dem Bett türmten sich Schuhe und Kleidungsstücke. Der Duft von »Blue Grass«, dem Parfüm ihrer Mutter, hing in der Luft, und Lily wünschte, sie könnte weinen.

Sie hatte das Aussortieren der persönlichen Dinge ihrer Mutter so lange wie möglich hinausgeschoben. Nun, da seit dem Begräbnis mehrere Wochen vergangen waren und die Wohnung verkauft werden sollte, duldete die Angelegenheit keinen Aufschub mehr.

Es wurde allmählich dämmerig. Lily stand auf, machte Licht und goss sich ein Glas Wein ein.

Wie hatte es nur geschehen können, dass sie ihrer eigenen Mutter nie wirklich nahegekommen war und sich nicht bewusst geworden war, dass sie keine Familie besaß? Sie hatte ihre Mutter geliebt, sie war so offensichtlich anders als andere Mütter, und Lily wünschte sich jetzt von Herzen, sie hätte ihre Mutter besser gekannt. Wirklich gekannt – die wichtigen Stationen ihres Lebens, was sie erlebt, was sie begeistert, was sie verletzt hatte. Ihre unerfüllten Träume. Was in ihr vorging, als Lily geboren wurde. Über solche Dinge hatten sie nie miteinander gesprochen. Sie hatte ihre Mutter nie gefragt, und die hatte nie etwas gesagt. Und jetzt war es zu spät. Die Hoffnungslosigkeit dieser Tatsache rief in Lily ein Gefühl der Schuld, des Versagens und der Enttäuschung hervor. Georgiana, ihre verrückte, rastlose Mutter, hatte ihr Leben mit Reisen und Dramen erfüllt und ihr immer wieder gesagt, wie glücklich sie sich schätzen könnten, nicht durch Familienbande gehalten zu werden. Nur sie beide gegen den Rest der Welt. Und Lily hatte ihr geglaubt – bis sie selbst eine Familie gründen und in der Gewissheit leben wollte, künftig an ein und demselben Ort bleiben zu können.

Wie gern hätte Lily die Familie ihrer Mutter gekannt, wie gern ihren Vater und dessen Familie. Georgiana hatte mehrere Ehemänner verschlissen, einschließlich Lilys Vater. Sie hatten sich während des Kriegs kennengelernt. Er war ein charmanter amerikanischer Marineoffizier, sie jung und abenteuerlustig. Nach einer kurzen Zeit des Werbens und einer, wie ihre Mutter es abfällig nannte, »mickrigen« Hochzeit, war sie als Kriegsbraut an Bord gegangen.

Lily wurde 1947 in Kalifornien geboren, doch das Leben in Torrence, Kalifornien, schien nicht dem zu entsprechen, was Georgiana sich nach dem Genuss amerikanischer Filme vorgestellt hatte. Sie ließ sich scheiden, als Lily noch im Krabbelalter war, und sah keine Veranlassung, mit ihrem Ex-Mann noch irgendwelchen Kontakt zu pflegen. Sie erzog Lily in dem Glauben, dass ihr Vater kein Interesse an einer Tochter gezeigt hatte, die er kaum kannte. Und was die Schwiegereltern anging, hatte Georgiana sich nur geschüttelt und wieder einmal betont, wie glücklich sie beide seien, frei wie die Vögel zu leben und sich ihre Freunde selbst aussuchen zu können, anstatt sich mit unbequemen Anverwandten herumschlagen zu müssen.

Lilys Kindheits- und Jugenderinnerungen bestanden aus Internatsschulen und Ferien mit ihrer Mutter an exotischen Orten. Dies waren die kostbaren Momente, die nur ihnen beiden gehörten. Georgiana behelligte Lily niemals mit Stiefvätern, und Lily brach jedes Mal das Herz, wenn sie am Ende der Ferien ihre unternehmungslustige Mutter verlassen und ins Internat zurückkehren musste.

Georgiana hatte ihrerseits nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie ein schwieriges und wildes Kind gewesen war und ihrer Mutter viel Kummer bereitet hatte.

»Ich ging lieber ins Internat, als da im Westen festzusitzen. Du wirst es mir eines Tages danken, dass ich dich in gute Schulen geschickt habe, glaube mir«, pflegte sie zu Lily zu sagen.

Georgiana lehnte jedes Gespräch über die »Familie« ab und beschränkte sich auf Anekdoten oder wenig schmeichelhafte Bemerkungen, wie etwa die, dass sie damals als Kriegsbraut in Amerika ihre Herkunft lieber verschwieg. »Wie sich dann herausstellte, wäre das unnötig gewesen. Seine Leute waren die reinsten Hinterwäldler.«

So hatte Lily ihre Kindheit in der Obhut anderer Menschen verbracht, immer wieder unterbrochen von verschiedenen Reisen und Aufenthalten in tropischen Somerset-Maugham-Hotels. Egal, wohin sie reisten, Georgiana hatte gewöhnlich innerhalb kürzester Zeit einen Schwarm von Verehrern um sich, Hilfe von allen Seiten und unterhaltsame Gesellschaft.

Das Einzige, was Georgiana je über ihre eigenen Eltern verlauten ließ, war, dass ihr Vater noch vor ihrer Geburt im Ersten Weltkrieg in Frankreich gefallen war und dass ihre Mutter im Westen gelebt hatte, einer Gegend, die Georgiana von ganzem Herzen hasste. Sie machte allen das Leben derartig schwer, dass man sie gezwungenermaßen in Perth in ein Internat steckte, wo es ihr weitaus besser gefiel. Sobald es ging, war sie nach Sydney gezogen, hatte dort als Sekretärin gearbeitet und ihren zukünftigen amerikanischen Ehemann kennengelernt.

So weit Lilys Wissensstand über ihre Herkunft. Es gab eine verschwommene Erinnerung an einen Besuch bei ihrer Urgroßmutter in Perth. Lily erinnerte sich an einen herrlichen Garten und eine liebe alte Dame. Wie oft hatte sie dorthin zurückgewollt, doch irgendwie schien das nie mit Georgianas Plänen in Übereinstimmung zu stehen. Dann war Lily auf eine teure Privatschule in Sydney geschickt worden und hatte ihre Verwandte nie mehr wiedergesehen. Ungerührt hatte Georgiana ihr verkündet, Westaustralien läge noch weiter hinter dem Mond als das übrige Australien.

Selbstbezogen, wie Kinder sind, hatte Lily ihre Mutter nie mit Fragen über ihre Familie behelligt. Als sie mit ihrer eigenen Tochter Samantha schwanger war, hatte sie Georgiana in einem Brief gefragt, ob es mögliche Erbkrankheiten in der Familie gäbe. Georgiana hatte Lilys Ängste beiseitegeschoben und erklärt, sie wüsste so gut wir gar nichts über die Krankheitsgeschichte von Lilys Vater und würde auch deswegen keinen Kontakt mit seiner Familie aufnehmen, selbst wenn sie wüsste, wo sie lebte. In ihrem Antwortbrief hatte Georgiana wörtlich gesagt:

Das Leben beginnt mit der Geburt. Vergiss allen Ballast, du kannst ja sowieso nichts mehr ändern. Ich habe versucht, dich frei zu erziehen. Du wirst herausfinden, was du wissen musst, wenn die Zeit dafür reif ist. Manchmal kann zu viel Wissen auch schmerzhaft sein.

Lily konnte mit dieser Bemerkung wenig anfangen, war sich aber bewusst, dass sie von ihrer Mutter mehr nicht bekommen würde. Ihr damaliger Mann Stephen meinte, sie sollte sich den Kopf nicht weiter darüber zerbrechen. Er war froh, dass seine exzentrische, launische Schwiegermutter ihr eigenes Leben führte, und begegnete ihr mit unermesslicher Geduld, was ihn bei Georgiana nicht gerade beliebt machte. Als er und Lily sich scheiden ließen, war Georgiana entzückt, konnte sie doch künftig bei ihren Besuchen Lilys und Samis ungeteilter Aufmerksamkeit gewiss sein, ohne die lästigen Unterbrechungen und Einmischungen durch »diesen Mann«.

Lily bestand jedoch darauf, dass Stephen Kontakt mit Sami hielt. »Ich hatte kein männliches Vorbild in meinem Leben, und ein Mädchen braucht seinen Vater.«

Ihr Ex-Mann, ein Akademiker, der mit den Widrigkeiten des alltäglichen Lebens wenig vertraut war, war ein liebevoller, wenn auch entfernter Vater – entfernt, weil sie nicht in derselben Stadt lebten.

Lily seufzte. Hätte sie doch darauf gedrungen, dass Georgiana ihr mehr über ihre Familie erzählte. Sie brannte darauf, alles über die Herkunft ihrer Mutter zu wissen, und nun war es zu spät. Zu spät, um ihre rebellische, flatterhafte, unabhängige Mutter zu verstehen, die ihr Leben in vollen Zügen genossen hatte. Nicht einmal »Mutter« hatte sie sie nennen dürfen. Georgiana fand, das mache sie alt. Selbst im reiferen Alter hatte Georgiana weiterhin unbekümmert geflirtet und immer viel jünger ausgesehen, als sie wirklich war. Und ihre Enkeltochter musste sie Georgie nennen, keinesfalls Oma.

Damals hatten Lily und Sami sich darüber amüsiert, aus heutiger Sicht fand Lily, dass die kapriziösen Launen ihrer Mutter nur dazu dienten, Aufmerksamkeit zu erhaschen.

In ihrer Jugendzeit wurde Lily von ihren Freunden um ihre glamouröse, lustige und leicht überspannte Mutter beneidet. In Wahrheit war Georgiana selbstsüchtig und egozentrisch gewesen und hatte sie, wie Lily heute erkennen musste, um ihre Familie gebracht.

Als sie sich so ihrem Kummer hingab, wurde ihr allmählich bewusst, dass sie genau das tat, was sie Georgiana vorwarf – sie schloss alle anderen aus. Sie hatte Sami den Tod der Großmutter so schonend wie möglich beigebracht. Ihre Tochter war daraufhin mit dem Flugzeug aus Melbourne gekommen, um an dem schlichten Begräbnis teilzunehmen. Da jedoch die Prüfungstermine nahe bevorstanden, hatte Lily sie gedrängt, gleich wieder an die Universität zurückzukehren.

Erst jetzt machte sie sich Gedanken darüber, wie ihre Tochter mit diesem ersten unerwarteten Todesfall in ihrem kleinen Familienverband fertigwürde. Sie beide sollten ihren Kummer teilen. Lily fand es nicht richtig, dass in der heutigen Gesellschaft das Trauern als Privatangelegenheit angesehen wurde. Wo blieb das Ritual, wo das Wehklagen, das Teilen und gemeinsame Ertragen des Schmerzes, die Tradition des Todes, wie sie in anderen Kulturen gepflegt wurde? Fiel ihr der Abschied von ihrer Mutter deshalb so schwer?

Der Gedanke versetzte Lily einen bitteren Stich. Sie stand auf und öffnete den Kleiderschrank ihrer Mutter. Außer den satinbezogenen Kleiderbügeln gab es nichts in dem Schrank, bis auf einen alten Lederkoffer, der, wie Lily wusste, das Herzstück von Georgianas Leben enthielt. Sie hatte ihn ihr einmal gezeigt und dabei gesagt: »Wenn ich einmal tot bin, wirst du mein Leben hier in diesem Koffer finden.«

Lily hatte den Koffer nie aufgemacht, hatte aber darauf bestanden, dass ihre Mutter ihr Testament, ihre Aktien und ihre Investmentpapiere herausnahm und bei der Bank deponierte.

Lily zog den Koffer in die Mitte des Zimmers, nahm noch einen Schluck Wein und ließ die altmodischen Schlösser aufschnappen. Ein leichter Geruch von Mottenkugeln entstieg seinem Innern. Lily zog das zuoberst liegende Seidenpapier fort und fand mehrere unordentliche Bündel von Fotografien und Briefen. Sie blätterte aufs Geratewohl durch einen der Stapel. Es waren Liebesbriefe von Georgiana und den zahlreichen Männern in ihrem Leben. Andere Briefe stammten von ihren zahlreichen Reisebekanntschaften. Sie hatte mit vielen von ihnen noch eine Zeit lang korrespondiert, bis die Entfernung und nachlassendes Interesse den Briefkontakt ausklingen ließen.

Eine vertraute, wenngleich kindliche Schrift erweckte Lilys Aufmerksamkeit. Gerührt hielt sie all die Briefe in der Hand, die sie ihrer Mutter aus dem Internat geschrieben und die diese säuberlich zusammengebunden hatte. Georgiana war keine gute Briefschreiberin gewesen, sie bevorzugte das Telefonieren. Lily hatte sich nie des Verdachts erwehren können, dass die Briefe ihrer Mutter an sie in Wirklichkeit für ein großes Publikum gedacht waren, zum Vorlesen und Bewundertwerden. Es waren dramatische und detaillierte Beschreibungen von exotischen Orten, in die witzige und maßlos übertriebene Anekdoten eingestreut waren. Das Ganze in einer großzügigen, freien Handschrift auf dickem Hotelbriefpapier.

Der Koffer enthielt noch Dutzende von Fotos, die Georgiana mit Freunden zeigten oder auf Reisen. Ein Foto war in Seidenpapier eingeschlagen. Neugierig zog Lily das Papier fort und hielt eine vergilbte Fotografie in einem schmalen Silberrahmen in der Hand. Sie erblickte einen gut aussehenden Mann in einer weißen Marineuniform mit keck aufgesetzter Mütze. Trotz der förmlichen Pose schien ein Lächeln um Augen und Mund des Mannes zu spielen. Lily hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen und fragte sich einen Moment lang, ob dies wohl ihr Vater sei. Dann fiel ihr ein, dass er ja in der Armee gewesen war. Sie drehte den Rahmen um, öffnete ihn und las auf der Rückseite des Fotos in zittriger Handschrift die Worte »Broome 1910«. Der Mann auf dem Foto war zu alt, um einer der Liebhaber ihrer Mutter gewesen zu sein, und da Georgianas Familie, wie Lily wusste, aus dem Westen stammte, gab es hier offensichtlich eine Verbindung.

Es gab noch mehr Fotos, von Bällen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen, in Gärten von unbekannten Häusern. Ein junger Mann in Uniform tauchte auf mehreren Fotos auf, die, dem Auto im Hintergrund nach zu schließen, in Amerika aufgenommen sein mussten. Es gab Aufnahmen aus aller Welt und immer mit Georgiana im Mittelpunkt, mit Elefanten, vor Schlössern oder in Gesellschaft lächelnder Menschen. Dann gab es Fotos von Lily auf ihren gemeinsamen Urlaubsreisen und einige Kinderfotos von ihr, mit einem Spielzeugsegelboot, auf der Schaukel oder fürchterlich aufgedonnert mit Hut und Schleife und niedlichen Lackschuhen – ihren »Shirley-Temple-Schuhen«, wie ihre Mutter sagte.

All diese Aufnahmen dokumentierten jedoch nur das Leben Georgianas, nachdem sie Australien verlassen hatte. Es gab kein Bildnis von ihrer Familie, ihrer Kindheit oder ihrem Heimatland. Nichts, bis auf das geheimnisvolle silbergerahmte Foto von dem Mann aus Broome.

Lily war jetzt auf dem Boden des Koffers angekommen. Da lag noch eine Schachtel. Sie enthielt einen Brief und ein stoffumwickeltes Päckchen. Mit zittrigen Fingern machte Lily den Brief auf, der in der Handschrift ihrer Mutter an sie adressiert war.

Liebste Lily,

ich wollte dir dies immer schon geben, fand aber nie die richtige Gelegenheit dazu. Ich zögerte, weil ich wusste, du würdest Fragen stellen, auf die ich nicht alle Antworten weiß.

Ich hatte eine so unbeständige Jugend, dass ich kein Interesse an meiner Vergangenheit hegte. Ich zog es vor, dem Leitspruch zu folgen: »Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß.« Ich glaube, dass ich seit dem Krieg nach dem Grundsatz »Das Leben ist heute« lebte.

Diese gehören nun dir, denn sie werden schon seit Generationen in unserer Familie von einer Frau an die nächste weitergegeben. Als meine Großmutter sie mir gab, sagte sie zu mir: »Trage sie nah an deinem Herzen, wie ich es getan habe. Wenn sie nicht gehütet und geschätzt werden wie die Liebe, zerfallen sie zu Staub.«

Du warst mein Leben, und auf meine Weise habe ich das Beste für dich getan. Außer dir brauchte ich keine Familie.

In Liebe

Deine Mutter

Lily kamen die Tränen, als sie die Worte ihrer Mutter las. Es war das erste Mal, soweit sie sich erinnern konnte, dass Georgiana sich selbst »Mutter« nannte.

»Warum hast du mir das nicht schon eher gesagt! Du warst alles, was ich hatte, Georgie. Meine Mutter, sicher, aber ich brauchte mehr!«

Lily wurde von Schluchzen geschüttelt, sie weinte um den Verlust der Mutter und der Familie, die sie nie gekannt hatte, um die Frau, die sie selber war und die sie nicht verstand, und um ihre eigene Tochter, der sie so wenig von ihrer Vergangenheit vermitteln konnte.

Irgendwann verebbten die Tränen und das Schluchzen. Lily nahm das Päckchen zur Hand und wickelte es aus.

Es enthielt einen blauen Samtbeutel. Sie knotete die Kordel auf und zog eine Schnur herrlicher, großer, schimmernder Perlen heraus. Lily stockte der Atem, als sie die Pracht in der Hand hielt. Wie gebannt schaute sie auf den seltsam geformten Perlmuttanhänger in der Mitte der Perlenkette. Auf seiner Oberfläche waren parallele Linien, ein Kreis mit kleineren Kreisen und ein X eingeritzt.

Unwillkürlich schlang sie sich die Perlenkette um den Hals und legte die Hand auf den Anhänger. Er fühlte sich glatt und kühl an. Lily schloss die Augen, und es überkam sie ein wunderbares Gefühl.

Und dann, wie durch einen feinen Schleier, kam die Erinnerung. Sie hatte diese wunderschöne Halskette schon einmal gesehen. Sie wurde auf einem dunkelblauen Seidenkleid getragen von … der Dame aus dem Blumengarten. Ein anderes Bruchstück tauchte in ihrem Gedächtnis auf. Sie waren Hand in Hand durch den Garten gegangen. Ihre Urgroßmutter hatte ihr die Namen der Blumen erklärt. Einmal hatte sie sich zu Lily heruntergebeugt und sie angelächelt. Das kleine Mädchen hatte die Hand nach dem Perlmuttanhänger ausgestreckt, und ihre Urgroßmutter hatte ihr die Kette umgelegt und gesagt: »Eines Tages wird sie dir gehören, kleine Lily.«

Dann war Georgiana gekommen und hatte gemeint, es sähe albern aus, wenn ihr die Kette bis zu den Knien baumelte, hatte sie ihr abgenommen und erklärt: »Sie könnte sie kaputt machen.«

Lily hatte diesen Vorfall längst vergessen, doch nun stand alles wieder vor ihr. Das war bei dem einzigen Besuch gewesen, den sie ihrer Urgroßmutter in Perth abgestattet hatten. Sie fragte sich, warum sie ihre Mutter diesen Familienschmuck nie hatte tragen sehen. Er war ganz offensichtlich alt und kostbar. Noch kostbarer wurde er jedoch durch die Erkenntnis, dass es sich um ein Familienerbstück handelte. Lily wurde sich bewusst, dass diese Halskette die einzige Verbindung zu ihrer unbekannten Familie darstellte.

Sie streckte die verkrampften Beine aus, leerte ihr Weinglas und begann, ruhelos im Zimmer auf und ab zu gehen, die prächtige Perlenkette noch immer um den Hals.

Ihr erster Impuls wäre gewesen, nach dem Telefonhörer zu greifen und ihre Tochter anzurufen. Sie ließ es, sie wollte ihre Tochter, die mitten im Examen steckte, nicht mit ihrem Kummer behelligen. Dann erwog sie, den Mann anzurufen, den sie liebte. Sie wusste, dass Tony sie trösten würde, aber dazu musste sie in seiner Nähe sein, sie brauchte seine Zuwendung, seine Zärtlichkeit, seine Arme, in denen sie weinen konnte. Die räumliche Entfernung und ihr Privatleben trennten sie beide.

Plötzlich fühlte Lily sich entsetzlich allein.

 

Die nächsten Wochen verbrachte sie damit, den Nachlass ihrer Mutter zu ordnen: Sie verkaufte einiges, verschenkte anderes und bot die Wohnung zum Verkauf an. Doch sie konnte das Gefühl des Verlusts, das sie empfand, ihre innere Unruhe und den quälenden Wunsch, die Lücken in ihrer Vergangenheit zu schließen, nicht abschütteln.

Die Perlenkette hatte einen Sturm der Gefühle in ihr hervorgerufen. Wiederholt ertappte sie sich dabei, wie sie sich im Badezimmerspiegel anstarrte, ihre Gesichtszüge studierte und nach Hinweisen auf die unbekannten, schemenhaften Verwandten suchte, die diesen Menschen namens Lily hervorgebracht hatten.

Wo kam sie her … welche Gene hatte sie an ihre eigene Tochter weitergegeben?

Als ob sie ihren stummen Ruf vernommen hätte, rief Samantha an. »Ich denke viel an dich, Mami. Es muss schwer sein, Georgies Sachen auszusortieren und so … Ich wünschte, ich wäre gekommen, um dir zu helfen. Für mich wäre es dann auch einfacher zu begreifen, dass sie wirklich nicht mehr da ist.«

»Ja, ich hätte dich auch gerne dabeigehabt, Sami. Aber du stehst schließlich vor dem Examen … Es war schon irgendwie … merkwürdig.«

Sami hörte das Zittern in der Stimme ihrer Mutter. »Daddy wollte wissen, wie es dir geht. Er sagt, er will sich nicht aufdrängen, er hofft, dass du zurechtkommst.«

»Ich komme natürlich zurecht, du kennst mich doch. Es ist nur …« Lilys Stimme brach ab.

»Was hast du, Mami? Du vermisst sie doch nicht etwa? Ich meine, du hast ja nicht besonders viel von ihr gehabt, oder?«

»Sie war schließlich meine Mutter, Sami … und ich denke viel über sie nach. Über sie und ihr Leben.«

»Wir wissen ja auch nicht viel über sie«, sagte Sami mit einer gewissen Schärfe. »Ich finde, es war sehr egoistisch von ihr, alles für sich zu behalten. Sie hat uns nie irgendetwas erzählt. Jedes Mal, wenn ich sie nach ihrer Familie fragte, wiegelte sie ab und meinte, ich bräuchte das nicht zu wissen. Ich muss es aber wissen, Mami!« Jetzt war es Samis Stimme, die zitterte. »Das ist doch ein Teil von uns. Es kommt mir vor, als hätte sie uns unsere Familie weggenommen, ausgelöscht. Und jetzt gibt es nur noch dich und mich, ein Bündel Briefe und ein paar Fotos von Leuten, die wir nicht einmal kennen. Was soll ich denn meiner Tochter erzählen, wenn ich einmal eine habe?«

»Beruhige dich, Sami. Sei nicht so melodramatisch. Du hast natürlich recht, Liebes. Deswegen bin ich ja auch so traurig, aus ebendiesen Gründen, und ich mache mir Vorwürfe, dich genauso im Stich gelassen zu haben …«

»Aber Mami. Das hast du nicht. Vielleicht finden wir eines Tages die Zeit, die Spuren unserer Vorfahren zu verfolgen und unseren Stammbaum aufzudecken. Bitte sei nicht traurig, Mami. Soll ich nicht doch lieber zu dir kommen?«

»Nein, mein Schatz. In ein paar Monaten sind Ferien. Konzentriere dich auf deine Prüfungen und arbeite gut. Vielleicht machen dann wir was ganz Besonderes, fahren irgendwohin, wo es schön ist … wir lassen uns was einfallen – falls du nicht was anderes vorhast.«

»Nein, ich freue mich! Abgemacht, Mami. Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch. Pass auf dich auf, Sami.«

Lily legte auf. Sie war dankbar für das Mitgefühl ihrer Tochter, dafür empfand sie nun die Trostlosigkeit umso stärker. Offenbar schien die Geschichte sich zu wiederholen. Nachdenklich legte Lily die Briefe und Fotos in den Lederkoffer zurück, bis auf das Bild im Silberrahmen von dem Mann aus Broome. Sie behielt die Perlenkette an und schlief in dieser Nacht nackt, nur mit den Perlen um den Hals. Auf ihrer Haut fühlten sie sich warm und lebendig an, und als Lily während der Nacht kurz erwachte und die Perlen im Mondlicht schimmern sah, kam es ihr so vor, als seien sie zum Leben erwacht, denn sie schienen von innen heraus zu leuchten.

Am nächsten Morgen stand ihr Entschluss fest. Sie würde drei Monate Ferien machen. Sie arbeitete als technische Assistentin in einem Forschungslabor und hatte lange Zeit keinen Urlaub mehr genommen. Sie würde nach Broome fahren und dort mit der Suche nach ihrer Vergangenheit und der Familie ihrer Mutter beginnen. Das war sie sich selbst und ihrer Tochter schuldig.

Je mehr Lily über Georgiana und ihr merkwürdiges Verhalten nachdachte, desto mehr gelangte sie zu der Überzeugung, dass es Geheimnisse gab, die ihre Mutter am liebsten vergessen und begraben hätte.

Es überraschte sie, wie einfach alles manchmal ging. Im Verlauf von nur wenigen Wochen hatte sie ihr Leben vollkommen umgekrempelt.

Tony, ihr Geliebter, ihr guter Freund und Lebensgefährte, reagierte zunächst leicht irritiert und wollte wissen, warum sie ausgerechnet jetzt mit der Spurensuche begann. »Warum hast du das nicht schon vor Jahren gemacht? Du sagtest, du hattest dieses Bedürfnis ganz stark, als du mit Sami schwanger warst. Warum jetzt? Was willst du damit bezwecken?«

Sein sanftes Befragen veranlasste Lily, die Antworten in ihrem Herzen zu suchen. Schon einige Male in ihrem Leben hatte sie den tiefen Wunsch verspürt, ihre Familie, ihre Herkunft zu ergründen. Während der Schwangerschaft hatte sie über das Wunder der Vererbung, über Gene und erbliche Merkmale gegrübelt, aber aus Zeitgründen war sie nie dazu gekommen, dem ernsthaft nachzugehen. Sie hatte sich vorgenommen, ihrer Mutter eines Tages bei einer gemütlichen Flasche Wein alle notwendigen Fragen zu stellen, aber auch dazu war es nie gekommen. Und im Internat, unter all den Schulkameradinnen, die von ihren Familien erzählten und ihre kleinen Geheimnisse teilten, hatte Lily wenig beizusteuern gehabt und es lieber in Kauf genommen, dass die anderen dachten, sie verheimliche ihnen etwas, als ihnen zu gestehen, dass sie kaum etwas über ihre Herkunft wusste. Hatte Sami etwa vor dem gleichen Problem gestanden?

Womöglich hatte die emotionale Erschütterung ihres Lebens, dieser Kummer, der Schock, sie zu der Erkenntnis gebracht, dass sie ihrer Tochter etwas schuldete. Lily erkannte, dass die Zeit gekommen war, sich dem Leben zu stellen – der Vergangenheit wie der Zukunft.

Auf seltsame Weise waren ihre Lebensgeister wieder erwacht, sie fühlte sich geradezu verjüngt. »Ich hoffe, du findest jetzt endlich deinen Frieden, Georgie. Aber ich habe noch etwas zu erledigen. Familienangelegenheiten. Ich ziehe gen Westen.«

Lily hob die Perlenkette an und küsste den Anhänger. Zum ersten Mal in diesen langen Wochen konnte sie wieder lachen.

 

Lily saß in einer der vorderen Reihen am Fenster in eine Tageszeitung vertieft. Sie schreckte auf, als die Flugbegleiterin den kleinen Tisch vor ihr herunterklappte und ein Essenstablett vor sie hinstellte.

Lily lächelte sie entschuldigend über ihrer Zeitung an. »Tut mir leid, ich habe gelesen.«

Die junge Stewardess in Uniform lächelte zurück. »Tee oder Kaffee?«

»Tee bitte.«

Während sie den dampfenden Tee einschenkte, schaute die Stewardess die attraktive Frau freundlich an. »Wollen Sie in Darwin Urlaub machen?«

Das Kabinenpersonal hatte die hübsche Vierzigjährige in der beigen Leinenhose und der cremefarbenen Seidenbluse interessiert beäugt. Das kräftige dunkle Haar war zu einem lockeren Knoten geschlungen, der Goldschmuck dezent, aber teuer. Eine »Frau mit Klasse«, wie die Crew konstatierte. Zart gebräunte Haut, große dunkle Augen, der breit geschwungene Mund schön geformt. Sie war eine dieser Frauen, deren Schönheit sich allmählich erschloss und lange nachwirkte.

Lily antwortete mit ihrer weichen, rauchigen Stimme.

»Eigentlich bin ich auf dem Weg nach Broome.«

»Oh, mit seinen Traumstränden der ideale Urlaubsort!«

»Na ja, ich habe geschäftlich dort zu tun. Familienangelegenheiten. Wie lange habe ich Aufenthalt in Darwin?«

»Fünf Stunden, fürchte ich. Sie müssen in eine andere Maschine umsteigen.«

Mit einem bedauernden Lächeln ging die Flugbegleiterin weiter zur nächsten Sitzreihe.

Als sie nach einer Weile mit neuem Tee zurückkam, lag Lily in ihren Sitz zurückgelehnt, die Augen geschlossen. Der versonnene Ausdruck in ihrem Gesicht duldete keine Störung.

Lily schlief nicht, obwohl sie müde war. Psychisch und physisch erschöpft. Sie hatte die Einlagerung der Möbel, den Verkauf vieler Gegenstände und verschiedene Spenden aus Georgianas Besitz organisiert. Die Wohnung war leer geräumt und sauber und nunmehr in Händen eines Immobilienmaklers. Lily hatte die halbe Nacht gepackt und alles Übrige für die Haushälterin vorbereitet, die sich während ihrer Abwesenheit um alles kümmern sollte. Sie war früh aufgestanden, hatte noch einmal mit Sami telefoniert, um ihr zu sagen, dass sie nun auf dem Weg sei und im Hotel Continental in Broome wohnen würde. Sie würde regelmäßig anrufen.

Lily sah diese Reise als eine Art Wendepunkt in ihrem Leben. Es war ihr bewusst geworden, dass sie eine ganze Weile schon auf der Stelle trat und erst vorankommen würde, wenn sie mit ihrer Vergangenheit im Reinen war. Schon merkwürdig, dass sie die vierzig erreicht hatte, ohne wirklich zu sich selbst gefunden zu haben. Aber vielleicht gab es für alles im Leben den richtigen Zeitpunkt.

Mit Samis Vater hatte sie eine konventionelle Ehe geführt. Mit der Zeit war sie schal geworden, beide hatten begonnen, sich auseinanderzuleben. Er, indem er sich in den Elfenbeinturm des akademischen Lebens als Universitätsdozent verkroch, während sie, für alles Neue aufgeschlossen, ihren Horizont erweiterte und nach neuen Perspektiven für ihr Leben suchte.

Vier Jahre nach ihrer Scheidung hatte Lily Anthony Jamieson – Tony – kennengelernt, einen Witwer, dessen Frau zwei Jahre zuvor gestorben war. Nach ihrem Tod hatte er sich gefühlsmäßig abgekapselt und war, trotz seiner Gewandtheit und Professionalität im Beruf, ein verletzlicher Mann. Im Alter von zweiundfünfzig Jahren verspürte er keinen Wunsch, sich jemals wieder ernsthaft in eine Frau zu verlieben. Er hatte einen anstrengenden Beruf und erwachsene Kinder, ja sogar Enkelkinder.

Aber Lily hatte sich durch seine harte Schale hindurch in sein Herz geschlichen und sich, wie er gestehen musste, in seiner Seele eingenistet. Es schien ihnen wie ein Wunder, zusammen eine emotionale und sexuelle Leidenschaft zu erfahren, die sie nie zuvor erlebt hatten. Beiden schien ihr Arrangement geradezu perfekt, denn das Getrenntleben ließ das Romantische ihrer Beziehung nicht verkümmern und schürte ihr Verlangen.

Zu Beginn ihrer Beziehung spürte Lily, dass Tony keine Verantwortung für das Glück eines anderen Menschen übernehmen wollte. In der Umgewöhnungsphase nach ihrer Scheidung hatte sie die unschätzbare Lektion gelernt, mit sich alleine auszukommen, aus der eigenen Kraft zu schöpfen und für das eigene Leben verantwortlich zu sein.

Ein steiniger Weg, mit Tränen des Selbstmitleids gepflastert, aber sie hatte ihn gemeistert, war eine starke, selbstbewusste und doch sanfte und geduldige Frau geworden. Tony wunderte sich oft über das Ausmaß ihres Verständnisses, ihrer Wärme, ihrer Toleranz. Ohne sich dessen bewusst zu sein, war sie eher eine Gebende denn eine Nehmende geworden. Die Bande jedoch, die zwei Menschen knüpfen, sind nicht aus unbiegsamem Stahl gemacht, sie dehnen und spannen sich, schnappen zurück wie elastisches Gummi, und nichts bleibt, wie es war. Das Leben erforderte immer wieder kleinere Anpassungen und ein beständiges Festigen und Lockern dieser Fesseln. Trotzdem wurden gewisse Themen nicht angerührt, und Lily hatte nun viel Zeit, einige Faktoren in ihrem Leben neu zu überdenken. Fand sie womöglich nicht das, wonach sie suchte, oder mochten ihr die Antworten nicht behagen, so hatte ihr Leben dennoch zum ersten Mal nach langer Zeit wieder einen Sinn.

 

Lily fuhr aus ihren Gedanken auf und stellte die Rückenlehne ihres Sitzes gerade. Die Maschine war bereits im Landeanflug auf Darwin. Als Lily aus der klimatisierten Kühle des Flugzeugs trat, schlug ihr feuchtwarme Luft entgegen und ließ sie an Asien denken. Die üppigen Palmen, der blendend helle Sonnenschein, der lächelnde Flughafenbeamte in Shorts, Socken und kurzärmeligem weißem Hemd erinnerten sie daran, dass sie sich hier in den Tropen befand. Sie lächelte zurück. »Sie finden Ihre Koffer da drüben auf der linken Seite«, sagte der Mann.

»Hoffentlich nicht«, scherzte Lily. »Die sollen nämlich nach Broome weiterreisen.«

»Man weiß nie, junge Frau. Alles Glückssache.«

Lily checkte noch einmal ihren Anschlussflug und die genaue Abflugzeit, dann stieg sie in ein Taxi und fragte nach dem Museum.

»Tolle Ausstellung da. Auch’n hübsches Gebäude. Wird Ihnen gefallen. Endlich haben die Bürokraten mal was Richtiges gemacht. Wurde auch Zeit«, kommentierte der Fahrer mit einem gewissen Sarkasmus.

Er hielt vor einem Gebäude mitten im Grünen auf einer Landzunge nahe Mindil Beach. Als Lily durch das große Glasportal trat, fielen ihr sogleich die Holzschnitzereien der Aborigines von den Inseln im Norden Darwins und aus Arnhem-Land auf, und sie wurde augenblicklich gefangen genommen vom Zauber dieser geheimnisvollen Kultur. Etwas Spirituelles, ja geradezu Magisches ging von diesen Holzarbeiten und ockerfarbenen Malereien aus.

Der erste Raum präsentierte eine umfassende Ausstellung der Kunst der Aborigines mit Exponaten aus allen Teilen Nordaustraliens. Es waren Arbeiten auf Rinde oder Leinwand in einem Stil, der so gar nichts mit westlicher Kunst gemein hatte und vielmehr einer uralten Kultur und einer beinahe unbegreiflichen spirituellen Welt entstammte, der sogenannten Traumzeit. Bei ihrem Rundgang durch die Ausstellung fühlte Lily sich auf eine merkwürdig aufregende Art mit der Kunst der Ureinwohner verbunden, obwohl sie so gut wie nichts davon verstand.

Ein Hinweisschild mit Pfeil »Zum Marinemuseum« weckte Lilys Neugier und ließ sie aus ihrem tranceähnlichen Zustand erwachen, in dem sie sich beim Betrachten der Aboriginekunst verloren hatte. Sie folgte dem Schild und stand alsbald vor einer Sammlung der ungewöhnlichsten Segelfahrzeuge. Da gab es den Einbaum, das aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestehende Kanu der Eingeborenen, winzige Boote mit absonderlich geformten Segeln und den prau, das große Segelschiff für den Handel mit den indonesischen Inseln, ein vietnamesisches Flüchtlingsboot und Auslegerboote aus Papua-Neuguinea. Doch das Glanzstück der Ausstellung verschlug ihr fast die Sprache.

Ein funkelnd weißer Perlenlogger in voller Betakelung. Daneben das Exponat eines alten Perlentaucheranzugs mit dem voluminösen stählernen Taucherhelm. Urplötzlich fiel Lily das Foto mit dem schneidigen Seefahrer wieder ein, das sie aus dem Koffer ihrer Mutter mitgenommen hatte. Es war ihr, als sähe sie ihn, wie er lässig am Bug des Loggers lehnte, und sie musste schmunzeln bei diesem Gedanken. Eine ganze Weile stand sie so vor dem Perlenlogger, nahm jedes Detail in sich auf und fuhr versunken mit der Hand über den hölzernen Rumpf.

»Wunderschön«, flüsterte sie. »Einfach wunderschön.«

In einer anderen Abteilung des Museums erfuhr Lily, dass die nördlichen Gewässer und Küsten Australiens schon jahrhundertelang von fremden Schiffen heimgesucht worden waren, lange bevor der Engländer James Cook die Ostküste Australiens entdeckte. Goldhäutige Männer aus Makassar hatten sich jedes Jahr im Dezember auf die Reise gemacht, waren auf ihren praus mit dem Nordwestmonsun gesegelt, um Kleidung, Werkzeug, Tabak und Reis gegen Trepang und Schildpatt einzutauschen. Getrockneter Trepang, auch bêche-de-mer oder Seegurke genannt, war in der chinesischen Küche und Medizin begehrt und wurde mit großem Profit an chinesische Händler verkauft.

Die Männer von den Molukken blieben einige Monate lang, lebten, arbeiteten und trieben Handel mit den Eingeborenenstämmen, bis der Südostmonsun begann und sie in die Heimat zurücktrieb.

Die Händler und Seefahrer, die mit den Monsunwinden reisten, waren keine Siedler und keine Kolonialherren. Sie waren einfache Handelsleute von den Gewürzinseln jenseits der Timorsee. Solange sie die uralten Sitten und Gebräuche respektierten, waren sie willkommene Gäste. Weniger willkommen waren die vom Kurs abgekommenen Portugiesen oder Holländer, die den Navigationsfehler verfluchten, durch den sie, vom Kap der Guten Hoffnung kommend, zu weit nach Osten abgetrieben waren, bevor sie nach Norden zu ihren in der Malaiischen See gelegenen Handelsposten abdrehten. Ob nun ein Missgeschick oder Bedarf an frischem Wasser und Proviant, sie gingen jedenfalls hin und wieder an Land und lieferten sich nicht selten Kämpfe mit den Eingeborenen, was auf beiden Seiten Menschenleben kostete.

 

Lily schaute auf ihre Armbanduhr, warf einen letzten Blick auf das Perlenfischerboot und eilte zum Museumseingang zurück. Am Eintrittsschalter fragte sie, wo sie mehr über die Perlenfischerei erfahren könnte. Eine hilfsbereite junge Dame empfahl ihr das Perlenmuseum im Hafenbezirk der Stadt und telefonierte nach einem Taxi.

Diesmal hielt der Taxifahrer vor einem alten Hafenschuppen unterhalb des steilen Hangs, auf dem der Stadtkern von Darwin erbaut war. Lily bezahlte ihre fünf Dollar und betrat einen kleinen, dunklen Raum, der wie ein Kino aussah.

Fluoreszierendes blaues Licht schien durch riesige Aquarien, das Zischen und Gurgeln von Luft und das Blubbern von Luftblasen kam über eine Lautsprecheranlage. Eine kleine begehbare Höhle, geformt wie das obere Halbrund eines Taucherhelms, enthielt weitere Exponate. Unterwasserszenen demonstrierten die alte Kunst des Perlentauchens, und auf einem Großbildschirm lief ein Videofilm über Perlenfarmen und die moderne Form der Perlenzucht. Großformatige Bilder zeigten Nadeln, die in das Muskelfleisch von Austern gestochen wurden, gefolgt von geöffneten Schalen mit ihrer feucht schimmernden Frucht, und schließlich jene legendären und fürstlich bezahlten Prachtstücke, die man in den besten Juweliergeschäften der Welt findet.

Lily interessierte sich mehr für die alte Perlenfischerei und stand lange vor den vergilbten Fotos, den alten Zeitungsausschnitten, den Resten einer Taucherausrüstung, dem Werkzeug der Perlenpolierer und einer Sammlung ausgesuchter Perlen in einer Glasvitrine. Dann, in einer dunklen Ecke, entdeckte sie das Rumpfstück eines kleinen Perlenloggers. Er war ohne Takelage, in seiner Bauweise aber unverkennbar.

Fotos von diesem und anderen Perlenfischerbooten zeigten Decks voller Muschelschalen, dunkelhäutige Besatzung und japanische Perlentaucher, die noch in ihren Segeltuchanzügen steckten und fröhlich lachten, in den Händen den gewaltigen stählernen Taucherhelm. Lily konnte die Kokosfaser der Taue, den Teer und das Salz des Meeres förmlich riechen.

Eine raue Stimme, begleitet von starkem Tabakgeruch, ließ Lily herumfahren. Vor ihr stand ein gedrungener Mann im Seemannshemd, an seiner Brust steckte ein Namensschild mit der Aufschrift »Dave«.

»Interessiert Sie das?«, fragte er leutselig.

»Ja, sehr. Arbeiten Sie hier?«

»Hmm. Sie können mich alles fragen, was Sie wollen.«

Lily lächelte bei der Vorstellung, was er wohl sagen würde, wenn sie ihn um Auskunft über ihre Familie bäte. Stattdessen sagte sie: »Ich bin auf dem Weg nach Broome, also dachte ich, ich mache erst einmal meine Hausaufgaben.«

»Aha, Sie wollen wohl den Drei-Uhr-Flieger nehmen? Na schön, ist der richtige Ort hier, um sich die Zeit zu vertreiben. So, Sie wollen also nach Broome? Da hab ich mal ’ne Zeit lang gelebt. Hab bei ’nem Schiffsbauer gearbeitet, ’n bisschen dies und das gemacht, und dann bin ich auf eine dieser Perlenfarmen gegangen. Ist heute ganz schön anders als damals.« Er unterbrach sich und betrachtete versonnen eines der Fotos. »Hartes Leben damals. Hat ’ne Menge von seiner Romantik verloren, heute ist es nur noch ’n Geschäft wie jedes andere. Obwohl, glauben Sie’s mir, ist immer noch ’ne Menge Spannung und Abenteuer dabei. Jemand entwickelt ein neues Verfahren, und schon sind alle dahinter her. Abgelegene Perlenfarmen werden nachts überfallen und ausgeraubt. Die großen Broome-Perlen werden im Ausland immer noch zu horrenden Preisen gehandelt. Eine Perlenkette bringt manchmal hunderttausend Dollar, ich sag’s Ihnen. Also, wie heißen Sie, wie heißt Ihre Familie? Broome is ’n kleines Pflaster, vielleicht kenne ich sie.«

»Das bezweifle ich. Keiner mehr da. Sind alle tot und begraben.« Lily wechselte das Thema. »Ist in Broome noch etwas von der alten Geschichte zu finden?«

»Dank Lord McAlpine, der unser Broome für den Tourismus entdeckt hat, ist noch einiges erhalten – das historische Viertel Chinatown, zum Beispiel, und das alte Freilichtkino. Leider hat nicht jeder, der sich hier niederlässt, einen Sinn für so was. Wenn Sie das alte Broome suchen, müssen Sie ans Wasser gehen, die Mangroven riechen, auf Muschelschalen wandern und bei Ebbe die Wracks der alten Flugboote anschauen. Gehen Sie an den Strand, und Sie werden das alte Broome riechen und spüren. Aber vorher werfen Sie noch mal ’nen gründlichen Blick auf diesen Logger … weit und breit der letzte seiner Sorte.«

Lily bekam allmählich klaustrophobische Zustände in diesem engen, abgedunkelten Museum, und die von der Lautsprecheranlage verstärkten Atemgeräusche machten sie irgendwie schwindelig.

»Herzlichen Dank, Dave. Ich denke, ich gehe ins nächste Hotel und stärke mich ein wenig, bevor ich zum Flughafen zurückfahre.«

»Gehen Sie ins Hotel Darwin«, schlug Dave vor. »Mein liebstes Wasserloch und, wie dieses Boot hier, ein Gruß aus der Vergangenheit.«

Lily quittierte das mit einem Lächeln. »Danke für den Tipp.«

Dave eskortierte sie bis an die Tür und überschüttete sie noch mit gut gemeinten Ratschlägen. Geradezu erleichtert trat Lily in die grelle Mittagshitze. Sie setzte sich die Sonnenbrille auf und stieg langsam die Treppen hinauf, die zum Stadtzentrum führten. Den ganzen Weg freute sie sich auf ein kaltes Bier und ein leckeres Sandwich in der Kühle des altmodischen Hotels.

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Zweites Kapitel

Es dämmerte bereits, als die Maschine in Broome landete. Die Tageshitze hatte spürbar nachgelassen, und die tropische Nacht brachte angenehme Kühlung.

Am Steuer des kleinen Hotelbusses saß ein freundlicher junger Mann, der im Hotel Continental als Empfangschef und Barkeeper zugleich fungierte. Bei ihren Erkundigungen über Broome war Lily auch auf alte Fotos gestoßen, die das große, alte »Conti« in seiner Blütezeit Anfang des 19. Jahrhunderts zeigten. Doch als sie in die Auffahrt einbogen, musste Lily enttäuscht feststellen, dass die langen, bungalowähnlichen Gebäude eher zu einem Motel der Sechzigerjahre passten. Von kolonialer Pracht war nichts mehr geblieben. Es war zwar nicht das Ritz, aber was dem Hotel an Großartigkeit fehlte, wurde durch ein freundliches Lächeln und familiären Umgang wettgemacht. Das Zimmer war einfach, aber komfortabel. Statt der Klimaanlage stellte Lily lieber den Deckenventilator an. Sie freute sich, dass ihr Zimmer auf eine eigene kleine, von Bougainvilleen umrankte Terrasse führte, auf der ein Tisch und ein Stuhl standen.

Lily löste ihren Haarknoten und bürstete sich ausgiebig das lange, kräftige Haar. Dann frischte sie ihr Make-up auf und nahm Kurs auf die Logger-Bar. Noch so ein Gruß aus der Vergangenheit, dachte sie heiter.

Es gab aber weder einen gemütlichen langen Bartresen noch einen Gin Sling, vielmehr war alles nüchtern und funktionell, wie in den meisten Bars in Australien. Es herrschte kaum Betrieb, und Lily hatte keine Bedenken als einzige Frau in der Bar. Sie bestellte sich ein Glas Weißwein und sah sich ein wenig um. An den Wänden hingen großformatige, gerahmte Fotografien. Sie zeigten das alte Broome – an dem langen Anleger vertäute Logger, bei Ebbe mit dem Rumpf im Schlick liegende Boote, japanische Taucher in unförmigen Taucheranzügen, den stählernen Helm unter dem Arm, asiatische Arbeiter neben riesigen Muschelhaufen beim Sortieren und Aufbrechen der Schalen.

Lily hätte liebend gern teilgehabt an jener aufregenden Ära und wünschte, das Flugzeug hätte sie in das Broome des frühen 19. Jahrhunderts gebracht. Obwohl sie noch nichts von dem Ort gesehen hatte, war es für sie ein bewegendes Gefühl, einfach hier zu sein, und sie hoffte inständig, dass ihre Erwartungen nicht enttäuscht würden. Was, wenn die Vergangenheit ausradiert war und ihre persönlichen Nachforschungen in einer Sackgasse endeten?

Ein sonnengegerbtes, grauhaariges Männchen in einem verwaschenen T-Shirt mit einem handfesten Trinkspruch darauf schwang sich auf seinem Barhocker herum und sprach Lily an. »Das waren noch Zeiten, Mädchen. In den Zwanzigern ging es ganz schön rund hier in der Stadt.«

Lily nahm die Anrede »Mädchen« amüsiert zur Kenntnis. Förmlichkeiten waren in Broome offenbar nicht üblich. »Ich wette, Sie sind ein Einheimischer«, gurrte sie.

»Na ja, könnte man so sagen.« Das Gesicht des Mannes legte sich in Hunderte von Fältchen, als er sie anlächelte.

»Leben Sie schon lange hier?« Lily ging zwischen den unbesetzten Tischen und Stühlen in billigem Tudorstil zur Bar und setzte sich zu dem Mann.

»Eigentlich schon viel zu lange. Man sagt hier, jeder kommt für ein oder zwei Jahre nach Broome und bleibt dann hängen. Ich wollte immer weiterziehen, wenn ich genug Kohle gemacht hab. Hab ich aber nie gemacht. Vor ein paar Jahren bin ich dann in ein Altenheim nach Perth gezogen. Hab’s nicht ausgehalten da. Leb lieber in ’ner bescheidenen Hütte hier. Sie wollen also Urlaub bei uns machen?«

»So ähnlich. Ich will mich ein bisschen kundig machen über die alten Zeiten, die alteingesessenen Familien.«

»Was Sie nicht sagen!« Der Mann war ehrlich überrascht. »Wozu das denn?«

Lily nahm einen Schluck Wein, um sich Zeit mit der Antwort zu lassen. »Vielleicht schreibe ich was darüber. Oder entdecke einen Stammbaum.«

»In dieser Gegend hat wohl jeder ein oder zwei Leichen im Keller«, meinte der Mann mit einem fröhlichen Zwinkern. »Und wo wollen Sie anfangen?«

»Ich weiß noch nicht. Was würden Sie vorschlagen?«

»Am besten gehen Sie ins hysterische Museum. Gleich die Straße runter. War selber noch nie da.«

Lily musste lachen. »Ist das Historische Museum groß?«

»Im alten Zollhaus. Nur ’n kleiner Laden, aber vielleicht werden Sie da ja fündig. Sonst gibt’s nix hier.« Der Mann leerte sein Glas und sah Lily erwartungsvoll an.

Sie verstand den Wink und bestellte eine Runde. »Ich bin Lily Barton.«

Sie gaben sich die Hände.

»Clancy. Na ja, eigentlich heiße ich Howard. Aber ich liebe Gedichte. Deswegen der Spitzname.«

»Ach, Sie lesen Lyrik?«

»Manchmal.« Er zuckte die Achseln und fuhr dann voller Selbstüberzeugung fort: »Das, was ich schreibe, ist besser.«

Lily wollte vermeiden, dass er ihr eine Kostprobe seines Könnens verabreichte, und lenkte schnell ab. »Sagen Sie, gibt es hier noch ›alte Hasen‹, mit denen ich reden könnte? Taucher oder jemand aus den alten Familien?«

»Genüge ich Ihnen nicht?«, feixte Clancy. »Hören Sie, es gibt noch alte Familien hier, aber die bleiben eher unter sich. Geschlossene Gesellschaft. Aber Mrs Fong könnte Ihnen was erzählen, ihr Mann war Perlentaucher. Als sie noch jung war, hat sie für die reichen weißen Damen geputzt. Die Fongs sind heute ganz gut im Geschäft. Und die Perlenarbeiter hier sind alle ziemlich neu. Aber es kommt vor allem drauf an, was Sie eigentlich suchen.«

Lily kramte in ihrer Handtasche nach dem Foto von dem Mann in der weißen Marineuniform und reichte es Clancy. Der Barkeeper und die anderen Gäste rückten näher. »Er ist ein Teil meiner Vergangenheit, ich weiß aber überhaupt nichts über ihn.«

Die Männer betrachteten das Foto eingehend.

»Eins ist sicher, der Premierminister ist es nicht«, stellte Clancy mit einem verschmitzten Lächeln fest. »Keine Ahnung, wer das sein könnte. War vor meiner Zeit.«

Die anderen bekräftigten das mit einem Nicken, und Lily steckte das Foto wieder in die Handtasche.

Danach entwickelte sich eine angeregte Unterhaltung zwischen Lily und den übrigen Bargästen, die ihr zu ihrer Belustigung haarsträubende Geschichten und Anekdoten aus alten Zeiten auftischten. Irgendwann wurde sie müde, und sie verabschiedete sich von der Runde.

»Dank der Zeitzonen war mein Tag heute drei Stunden länger als der Ihre«, sagte sie zur Erklärung und auch, um der Bestellung einer weiteren Runde zuvorzukommen. »Es war sehr nett mit Ihnen allen, ich hoffe, wir können unsere Unterhaltung ein andermal fortsetzen.«

»Aber immer. Sie finden uns abends meistens hier in der Bar.« Clancy klang ehrlich begeistert.

Die Männer verfolgten die schlanke Gestalt mit anerkennendem Blick auf ihrem Weg nach draußen.

»Hübscher Käfer. Was meint ihr, was sie hier sucht?«, überlegte Clancy laut.

»Schwer zu sagen«, meinte der Barkeeper. »Jedenfalls hat sie für ein paar Wochen gebucht.«

 

Am nächsten Morgen nahm Lily ihr Frühstück unter den üppigen Bougainvilleen auf ihrer Terrasse ein. Auf dem Frühstückstablett lag ein kleines Schreiben, in dem die Hotelleitung sich dafür entschuldigte, dass es anstelle von Croissants leider nur Muffins gab und dass die Tageszeitung erst mit der Mittagsmaschine eintreffen würde. Dafür hatte man ihr eine Broschüre »Sehenswertes in Broome und im Kimberley-Distrikt« beigelegt. Lily schaltete das Radio an ihrem Bett ein und suchte vergeblich nach einem Sender mit Nachrichten. Also trank sie ihren Tee, bevor er kalt wurde.

Später erschien sie in Jeans und Hemd an der Rezeption und erkundigte sich nach dem Weg zum Historischen Museum. Die junge Frau am Empfang legte die Stirn in Falten.

»Ich glaube, das ist im alten Zollhaus«, half Lily ihr auf die Sprünge.

»Ach so, ja, das ist im Seaview Shopping Centre, einfach nur die Straße runter«, erinnerte sich die Frau.

Draußen wurde Lily von einer angenehmen Brise empfangen. Beim Anblick der weitläufigen Roebuck Bay, die sich vor ihr ausbreitete, stockte Lily der Atem. Kleine Wellen schwappten an dicken Mangrovenwurzeln hoch, vereinzelt ragten rostrote Felsen aus dem wundervoll türkisblauen Meer.

Lily stand da und schaute fasziniert auf das grandiose Farbspektakel. Milchige Stellen ließen das Meer wie gefroren erscheinen, und über dem Ganzen wölbte sich ein tiefblauer, geradezu transparenter Himmel.

Sie wanderte weiter und fand sich bald darauf vor einem weiteren Überrest aus der Vergangenheit. Sie konnte sich nicht erklären, was diesmal ihre Aufmerksamkeit weckte. Es war nur ein kleiner verlassener Laden direkt am Meer. Das rostige Wellblechdach war blutrot wie die Felsen, die Wände dünn und voller Löcher, und durch Spalten und Fenster konnte Lily im Inneren Stapel verrottender Austernkörbe, Netze und Taue entdecken. Sie wanderte um das Häuschen herum, machte ein Foto und rätselte immer noch, was sie an diesem Ort so faszinierte.

An dem kleinen weißen Holzhaus, in dem das Historische Museum untergebracht war, stand auf einem blanken Metallschild zu lesen, dass sich hier vormals die alte Zollstation befunden hatte. Teile von Taucherausrüstungen, Handpumpen von Loggern und Hausgerät aus Pioniertagen lagen in dem kleinen Vorgarten herum. Auf der schmalen Veranda standen Vitrinen mit Ausstellungsstücken, sie waren wohl abgeschlossen, aber vertrauensvoll dem Zugang des Betrachters überlassen.

Lily trat auf die Eingangstür zu, an der ein großes Schild »KLIMATISIERT, BITTE EINTRETEN« hing. Darunter entdeckte Lily den kleinen handschriftlichen Hinweis »FÜR EIN PAAR TAGE GESCHLOSSEN«. Mit einem amüsierten Lächeln fragte sie sich, wie lange der Zettel wohl schon da hing und wie sie trotzdem Zugang zu dem kleinen Museum bekommen konnte. Sie ging in ihr Hotel zurück und rief die Autovermietung an, die man ihr empfohlen hatte.

Kurze Zeit später erschien eine lebhafte Frau in einem kleinen Geländewagen. Auf der Fahrt zu der Blechbaracke, die der Frau als Büro diente, erzählte sie Lily ihre gesamte Lebensgeschichte und dass ihre Ehe sich erheblich gebessert hatte, seit sie und ihr Mann von der Ostküste nach Broome gezogen waren. Lily sann darüber nach, inwiefern die Geografie Einfluss auf eine Ehe zu nehmen vermochte.

Sie erledigten kurz die Formalitäten, und schon rollte Lily in ihrem Mietwagen über eine staubige Straße an kleinen, hinter tropischen Pflanzen versteckten Bungalows vorbei. Bei der Touristeninformation hielt sie an und erkundigte sich, wo sie noch etwas über das alte Broome erfahren könnte, nachdem das Historische Museum geschlossen war.

»Ja, richtig. Die Museumsleiterin hat familiäre Verpflichtungen, und ihre Aushilfe ist nicht da. Was genau wollen Sie denn wissen?«, fragte das Mädchen hinter dem Tresen zuvorkommend.

Lily hatte ihre Version schon parat. Als sie beiläufig die faszinierende Geschichte der ersten Händler an der Küste erwähnte und ihr Interesse an der guten alten Zeit bekundete, schnippte das Mädchen mit den Fingern. »Na, da hab ich was für Sie. Sie sollten mal die Küste rauffahren, da gibt es einen Ort, der Sie interessieren könnte. Ihr Team braucht einen Geländewagen, aber wir haben jetzt Trockenzeit, und es ist keine Saison, da dürften Sie keine Probleme haben.« Sie suchte nach einer Straßenkarte.

»Welchen Ort meinen Sie denn?«, fragte Lily.

»Kap Leveque. In den alten Missionsstationen wird man Ihnen vielleicht ein paar Fragen beantworten können. Ist zwar nicht viel los jetzt, aber wenn Sie in der Vergangenheit schürfen wollen, ist das genau der richtige Ort für Sie und Ihre Leute.«

Lily ging mit der Karte und einer bunten Ansammlung von Prospekten für ihr »Team« davon. Offenbar war das Mädchen daran gewöhnt, dass Journalisten, Dokumentarfilmer und Reiseschriftsteller mit ihrem Gefolge hier einfielen. Vielleicht hatte sie auch den Eindruck vermittelt, dass sie auf der Suche nach mehr als bloß einer Familiengeschichte sei. Lily studierte die Karte. Kap Leveque lag sehr abgelegen. Sie würde also eine weite Strecke fahren müssen.

Zunächst fuhr sie durch die Stadt und parkte den Wagen an der Napier Terrace. Wieder überkam sie das merkwürdige Gefühl des déjà-vu, als sie an den alten Perlenschuppen an der Mole entlangging, wo die Ebbe das Watt freigelegt hatte und gestrandetes Mangrovengehölz aus dem Schlamm ragte.

Nun stand sie auf dem alten Anleger Streeter’s Jetty, der weit in den grauen Schlick hinausreichte. In Broomes Blütezeit vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich an die 400 Logger am Steg, an der Küste entlang und in den Kanälen gedrängt, die von der bis zu zehn Meter hohen Flut unter Wasser gesetzt wurden. Mit dem Verschwinden der Perlenlogger hatten die Mangroven das Wattland zurückgewonnen und bildeten nun dichte Haine, durch die sich ein Netz von Wasserarmen und Kanälen zog. Die Gegend lag verlassen, die Morgenhitze brannte auf die alten Planken des Anlegers.

Ein typisches Bild für Broome waren die Perlenlogger, die bei Flut am Anleger und vor der Küste im Wasser lagen oder bei Ebbe im Schlick steckten. Lily versuchte, sich die damalige Zeit zu vergegenwärtigen, die Männer, die an den Loggern hantierten und Werkzeug reparierten, die Betriebsamkeit in den Sortierschuppen, das Sprachengewirr, die gellenden Befehle der Perlenunternehmer, das Rasseln der Muschelschalen, wenn sie in Säcke gefüllt wurden, das Bimmeln der Fahrradglocken.

Sie vermeinte, das würzige asiatische Essen riechen zu können, den süßlichen indonesischen Tabak, den herben Meergeruch der Muschelschalen, den Teer der Boote. Doch alles, was sie wirklich roch, waren die salzige Luft und der Faulgestank der Mangroven.

Lily schlenderte am ehemaligen Büroschuppen eines Perlenunternehmers vorbei. Das Gebäude hatte einen neuen Anstrich und diente nunmehr einem Perlenexporteur als Firmensitz. Sie ließ den Blick über die Bucht schweifen und entdeckte eine kleine Sandbank, auf der eine menschliche Gestalt hockte, die Beine im Sand ausgestreckt, den Hut tief ins Gesicht gezogen, in der Hand eine Angelschnur.

Lily sprang von der niedrigen Hafenmauer und wanderte über den Strand auf die einsame Gestalt zu. Es war eine ältere Aborigine. Lily lächelte ihr einen Gruß zu und ging an ihr vorbei bis zum Ende der Sandbank, wo im seichten Wasser ein kleines Boot dümpelte. Zwischen niedrigen Mangrovenbüschen verästelten sich schmale Wasserläufe in alle Richtungen. Das offene Meer war etwa zwei Kilometer entfernt. Aber hier in der Bucht bildeten die schmalen Kanäle ein Labyrinth sich ähnelnder Wasserläufe, das zu befahren ein Albtraum sein musste. Lily wanderte zurück und blieb bei der alten Frau stehen, die gerade ihre Angelschnur einholte und ihren Fang betrachtete.

»Kein Glück, was?«, konstatierte Lily.

Die Frau befestigte ein Stück Fleisch am Angelhaken, warf dann die Schnur in weitem Bogen wieder aus und sah aufmerksam zu, wie der Köder aufs Wasser schlug.

»Gibt es hier viele Fische?« Eine Plastiktüte trieb vorbei.

»Fisch ist da. Aber nicht so gut.«

»Was für Fisch denn?«

»Welse. Manchmal Barben. War mal guter Fisch. Jetzt zu viel Müll.«

»Lebst du schon lange hier?«

»Alle meine Familie hier gearbeitet.«

»Was hast du gemacht?«

»Waschen und putzen.« Auf dem Gesicht der Frau zeigte sich ein zahnloses Lächeln. »Ich für weiße Damen gearbeitet. Meine Urgroßmutter, Großmutter und meine Mutter, alle für selbe Leute. Zu alt jetzt für Arbeit.«

Die alte Frau hatte schwielige Hände wie ein Mann. An ihren dünnen Beinen traten die Venen in Knoten hervor, ihr Körper war massig und schwer, und der Strohhut auf ihrem Kopf verbarg ihr schütteres weißes Haar.

»Ich heiße Lily.« Sie hockte sich neben die Frau in den Sand.

»Ich bin Biddy. Dahinten das kleine Haus is mir.« Sie wies mit dem Kopf kurz über ihre Schulter. »Die da gehören auch zu mir.« Noch ein Wink mit dem Kopf in Richtung der alten Schuppen, in deren Schatten Lily ein halbes Dutzend Männer lungern sah. Der Berg leerer Bierdosen und das silbrige Glitzern von leeren Weinflaschen kündeten von wochenlangem Trinken.

»Faule Kerle, die«, fuhr die Frau fort. »Früher Männer hart gearbeitet. Viel Arbeit damals.«

»Erzähl mir von früher, Biddy. Wie war es damals?«

Biddy prüfte die Angelschnur, die sie um den Finger gewickelt hielt, dann rückte sie sich zurecht und begann, in Erinnerungen zu schwelgen. Sie kramte bunte Geschichten und Anekdoten aus ihrem Gedächtnis hervor, die sie mit gackerndem Lachen und Glucksen garnierte. Sie erzählte von großen Häusern mit prächtigen Möbeln. »Gab auch Stühle und was nicht alles mit Perlen und Gold dran.« Sie beschrieb die kunstvoll bestickten und verzierten Kleider der Frauen, die Uniformen der Männer, die großen Feste und Partys.

»Ich viel gewaschen! Herrje! Master weiße Sachen viele Male am Tag gewechselt.«

»Weiße Sachen?« Lily dachte dabei an das Foto mit dem lächelnden Mann in der strahlend weißen Uniform.

»Und Schuhe! Fünfzehn Paar weiße Schuhe ich für Master putzen müssen … Waren aber gute Leute, die. Gute Leute.«

Lily hörte gebannt zu, ab und zu stellte sie eine Frage. Allmählich kam Farbe in ihr schwarz-weißes Bild vom alten Broome.