Die Perlenzüchterin - Di Morrissey - E-Book

Die Perlenzüchterin E-Book

Di Morrissey

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Beschreibung

Seit Lily Barton erfahren hat, dass ihr Urgroßvater kein anderer als der legendäre Perlenfischer Kapitän Tyndall war, fährt sie jedes Jahr für einige Zeit nach Broome im Nordwesten Australiens, um noch mehr über das abenteuerliche Leben ihrer Vorfahren herauszufinden. Als sie dabei auf den Kunsthändler und Archäologen Ted Palmer trifft, sieht sie eine Chance, für immer dort zu leben – sie tritt in die Fußstapfen ihres Urgroßvaters und steigt in die Perlenfischerei ein. Bei einer Schmuckauktion fällt Lily ein mysteriöses Amulett in die Hände. Stammt das wertvolle Stück etwa aus dem Wrack eines gesunkenen Schiffes? Und was hat das mit ihrer Perlenzucht zu tun?

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Seitenzahl: 714

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Di Morrissey

Die Perlenzüchterin

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Inhaltsübersicht

WidmungPrologKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigDie DünenpartyMein besonderer Dank gilt …

Für meine Mutter Kay Warbrook und ihre großartige Freundin Olga Parsey, und zum Gedenken an ihre Schwester Annette Hutchinson.

 

Für meine Tochter Gabrielle Morrissey und Gabrielles Großmutter Dorothy Morrissey – allesamt den Geist beflügelnde Frauen.

[home]

Prolog

In diesem entlegenen Teil des australischen Outback ist die Morgendämmerung die angenehmste Zeit des Tages. Noch war es nächtlich kühl, doch die ersten wärmenden Strahlen der Morgensonne kündigten bereits einen weiteren glühend heißen Tag an. Bald würde die verschwommen hinter der staubigen Windschutzscheibe erkennbare Buschlandschaft der Kimberleys einen gleißenden, scharf konturierten Anblick bieten. Das ehemals weiße Taxi aus Broome war über und über mit rotem Staub bedeckt, und der Fahrgast auf dem Beifahrersitz hatte trotz der Klimaanlage das Gefühl, statt Luft feinen Staub einzuatmen.

Bobby Ching, der fröhliche junge Fahrer, hatte seine Bedenken wegen der fürchterlichen Straßenbedingungen leichthin abgetan. Matthias Stern hingegen hatte Asphalt erwartet, oder doch wenigstens ordentliche Schotterstraßen. Aber er hatte schließlich selbst auf dem Weg zu einer wichtigen Verabredung das echte Outback sehen wollen. Er kam von so weit her. War solche Risiken eingegangen. Und nun schien alles von diesem Mann abzuhängen, der ausgerechnet auf einer Rinderfarm in der Kimberley-Region auf ihn wartete. Stern musste lächeln, als er wieder einmal an das ungewöhnliche Zusammentreffen verschiedener Umstände dachte, das ihn genau jetzt an diesen Ort geführt hatte. Diese Fahrt würde alle seine Probleme lösen.

Bobby sah, dass sein Fahrgast sich zurücklehnte, und verzichtete auf ein Gespräch. Sie waren schon vor Stunden in Broome abgefahren, um möglichst weit zu kommen, ehe es zu heiß wurde. Der Deutsche hatte mit Mr. Choy, dem Taxi-Eigentümer, ein ungewöhnliches Geschäft ausgehandelt: eine umständliche Fahrt zur Bradley-Farm, um das Benefizrennen zu sehen – und dort jemanden zu treffen. Das hatte Bobby neugierig gemacht. Doch sein Fahrgast hatte nicht darüber gesprochen, wen er treffen wollte, und warum.

Macht nichts, entschied Bobby. Nur der Auftrag zählt, und bei diesem gibt es eine Zulage, wenn alles gut geht. Ich danke euch, ihr Leute da draußen, dass ihr alle Flüge zur Bradley-Farm ausgebucht habt, dachte Bobby, sodass Matthias ein Auto mit mir als Fahrer mieten musste. Aber das macht ihn nicht arm. Der Mann scheint reichlich Geld zu haben. Forscht und lehrt an einer Universität in Stuttgart, irgendwas mit Kunst und Archäologie. Ist zwar eine lange Fahrt, aber ich werde ein bisschen frei haben, wenn wir da sind. Dann kann ich ein paar Bierchen mit meinen Kumpels zischen. Ach, das Leben kann so schön sein, wenn einem das Glück hold ist! Er begann zu summen, dann sah er wieder zu seinem Fahrgast.

Eigentlich ist er ja ganz nett. Sieht sehr deutsch aus. Helles Haar, blaue Augen, rötliche Gesichtsfarbe, übergewichtig, irgendwie schwammig, vermutlich Mitte fünfzig. Bisschen zu ernst für meinen Geschmack – hat über keinen meiner Witze gelacht. Aber vielleicht kommt er ja mit meinem Akzent nicht klar, überlegte Bobby. Hat mich gefragt, welche Sprachen ich spreche, und schien überrascht, als ich sagte, nur Englisch. Naja, das kommt davon, wenn man eine Mischung aus Chinese, Aborigine und Ire ist. Da erwarten die Leute alles Mögliche.

Schließlich regte Matthias sich wieder. »Erstaunlich«, sagte er erfreut. »Offenbar ist hier draußen jeder Sonnenaufgang spektakulär.«

»Sehen Sie sich gut um, Kumpel. Was Besseres finden Sie nirgendwo.« Bobby deutete auf die rot-goldenen Bergketten in der Ferne, die gelbbraune, mit Spinifex-Horsten gesprenkelte Erde, ausgetrocknetes Grasland, Termitenhügel und die hohen, dürren Bäume, an denen sich beinahe jeder Zweig wie aus Verzweiflung krümmte.

Rechts oben am Himmel bewegte sich etwas, nicht allzu hoch, vielleicht ein Adler. Bobby sah hin. In diesem Augenblick schoss etwas auf der Beifahrerseite aus dem Busch, und im nächsten Moment erschütterte ein Aufprall den Wagen: Sie waren mit einem großen alten Känguru kollidiert. Es wurde auf die Motorhaube katapultiert, zertrümmerte die Windschutzscheibe und stürzte zurück auf die Straße. Das Auto geriet ins Schleudern, raste durch den niedrigen Busch und prallte gegen einen großen Felsen.

»Scheiße!« Bobby beugte sich zu Matthias hinüber. »Sind Sie okay? Passen Sie auf, die Glasscherben. Himmel, was für ein Schlamassel.« Er stieg aus und untersuchte das Känguru. »Der ist hinüber. Verdammt, und die Kiste auch. Mr. Choy wird ausrasten.«

Matthias kletterte auf der Fahrerseite hinaus. »Meine Tür hat sich verklemmt. Was machen wir jetzt? Wo kriegen wir Hilfe her?« Er blickte sich um, als suchte er nach einem Hinweisschild zu einer Werkstatt oder einer Telefonzelle.

»Wir bekommen schon noch Hilfe, Kumpel. So läuft das hier draußen. Sie müssen nur Geduld haben. Trotzdem, wir sollten nachsehen, was noch funktioniert, und was nicht.«

 

Zwei Stunden später waren sie immer noch dort, saßen auf der Schattenseite mit dem Rücken am Auto und kämpften gegen die zunehmende Hitze, die Fliegen und ein Gefühl der Isoliertheit an. Aus einer Plastikplane, die Bobby im Kofferraum gefunden hatte, und ein paar belaubten Ästen hatten sie ein kleines Sonnensegel gebastelt. Der Kühler war durch den Aufprall in den Motor geschoben worden, der dadurch nicht mehr zu gebrauchen war; Batterie und Radio waren ebenfalls zerstört.

»Ich kann es einfach nicht fassen: Wir stehen hier schon seit Stunden, und nicht ein Auto ist vorbeigekommen«, rief Matthias beunruhigt aus. »Sie wissen doch, wie wichtig es ist, dass ich rechtzeitig auf der Bradley-Farm eintreffe!«

»Heute wird schon noch jemand vorbeikommen. Das ist ein großes Ereignis, viele Leute fahren auf dieser Straße da hin. Keine Sorge.« Bobby sorgte sich mehr darum, wie er das Auto zurück zu seinem Chef bringen sollte. So ein Mist! Dabei hatte er gerade erst bei ihm angefangen.

Er schreckte aus seinen Gedanken hoch: Matthias holte seinen Fotoapparat aus dem Wagen und verkündete: »Ich mache einen Spaziergang.«

»Wozu? Da draußen gibt es nichts zu sehen.«

»Ich muss mich erleichtern. Und ich möchte ein paar Fotos machen.«

»Hey, aber keine Buschwanderung! Hüpfen Sie nur kurz hinter einen Strauch, aber entfernen Sie sich nicht weit vom Auto. Ist verdammt gefährlich hier draußen«, warnte Bobby.

»Gefährlich? Sie meinen, hier gibt es wilde Tiere?«

»Das auch, aber nicht so viele, dass Sie sich Sorgen machen müssten. Ich will bloß nicht, dass Sie sich verirren. Es ist erstaunlich, wie schnell man in dieser Landschaft die Orientierung verliert. Keine Anhaltspunkte, keine Spuren, nichts.«

»Nett von Ihnen, aber ich werde nur ein kurzes Stück gehen. Ich würde gerne ein paar Fotos schießen, mit denen ich meine Freunde zu Hause beeindrucken kann.« Er überquerte die Straße, wandte sich um, machte ein Foto vom Taxi und schlenderte dann in den Busch zu einem großen Termitenhügel vor einem Baobab-Baum. »Sehr hübsche Motive«, rief er Bobby zu.

Die Unbekümmertheit des Deutschen sorgte Bobby, und er rief zurück: »Gehen Sie nicht zu weit! Seien Sie in spätestens einer Viertelstunde zurück, okay?« Dann legte er sich mit dem Kopf auf seine zusammengerollte Jacke und bedeckte das Gesicht mit dem Hut.

 

Matthias war fasziniert. Durch das Kameraobjektiv schien er einen anderen Planeten zu entdecken. Er schreckte eine prähistorisch wirkende Eidechse auf und jagte ihr nach. Schließlich erwischte er sie mit dem Fotoapparat, als sie aus sicherer Entfernung von einem überhängenden Zweig herablugte. Matthias ging noch etwas weiter, gab seinem natürlichen Bedürfnis nach und benutzte ein Stück Rinde, um Erde über den verschmutzten Fleck zu schaufeln – eine Geste des Respekts für das Land, dachte er grinsend.

Ein Vogelruf führte ihn zu einem anderen Baum und einem weiteren Foto, diesmal von einem farbenfrohen Papagei. Dann kehrte er um und stellte fest, dass es nichts gab, woran er erkennen konnte, in welcher Richtung die Straße lag. »Ah, da geht es lang, ganz sicher«, sagte er zu sich, als er eine weitere Eidechse erblickte, die vor ihm davonlief. Er nahm an, es handele sich um dasselbe Tier. Aber dem war nicht so …

Nachdem er eine halbe Stunde umhergewandert war, wurde ihm klar, dass er sich verirrt hatte. Er kletterte auf einen struppigen Baum, sah jedoch keine Spur von der Straße. Allerdings entdeckte er in einiger Entfernung eine Gruppe etwas höherer Bäume und steuerte darauf zu.

 

Die Sonne hatte in ihrer gleißenden Hitze nicht nachgelassen, als Bobby aufwachte. Seine Kleidung war schweißnass, und innerlich fühlte er sich völlig ausgedörrt. Er nahm die Wasserflasche vom Vordersitz und trank in großen Schlucken. Dann sah er sich um und stellte fest, dass Matthias nicht da war. Er blickte auf die Uhr. Es war elf. »Mist!«, rief er. »Das hat mir gerade noch gefehlt, dass mir ein verdammter Tourist hier draußen verloren geht. Scheiße!«

Er lief ein Stück in den Busch hinein und rief: »Matthias!« Er rief erneut, erhielt aber keine Antwort. Bobby ging ein Stück weiter und rief nochmals: »Matthias? Matthias! Kommen Sie zurück. Cooee!«

»Keine Spur von dem Idioten!« Bobby lief zurück zum Auto, setzte den Hut auf und schraubte den Verschluss wieder auf die Wasserflasche. Von einem Baum brach er einen Ast ab und machte sich dann in die Richtung auf, in die Matthias gegangen war. Den Ast zog er durch den Staub, um eine Spur zu hinterlassen.

Zwei Stunden später war Bobby wieder am Auto – allein. Von Matthias keine Spur, und die Hitze war unerträglich. Er hoffte inständig, der Deutsche würde zurückfinden, oder es käme zumindest jemand vorbei, der ihm beim Suchen helfen konnte.

 

Matthias hatte ebenfalls immer wieder laut gerufen – vergeblich. Obwohl er mittlerweile völlig erschöpft war, lief er weiter. Er spürte, wie die Hitze ihm die Energie aussaugte. Gesicht und Nacken brannten. Seine Sportkappe reichte nicht als Schutz gegen diese unbarmherzige Sonne.

Wasser. Der Wunsch danach beherrschte seine Gedanken. Ein Glas Wasser. Er hatte eine Flasche beim Taxi zurückgelassen. Nun sah er sie genau vor sich, jedes Detail der sprudelnden Quelle auf dem Etikett. Plötzlich erblickte er ein Stück voraus einen Wasserlauf, ja, richtiges Wasser da drüben bei der Baumreihe. Er stolperte darauf zu, und der Wasserlauf verschwand …

Was mache ich hier eigentlich, in diesem gottverlassenen Land? »Hilfe«, wollte er rufen, doch aus seiner trockenen Kehle kam kein Laut mehr. Die Welt begann sich zu drehen. Er stolperte zu einem Baum, wollte sich anlehnen und brach zusammen.

Was in Kuala Lumpur wie ein unkompliziertes Geschäft geklungen hatte, hatte ihn immer weiter auf die schiefe Bahn geführt. Wenn man an der Universität doch nur seinen Vertrag verlängert hätte! Er wäre womöglich nicht so rasch in Versuchung geraten, seine moralischen Grundsätze über Bord zu werfen. Letztlich hatte er alles sich selbst zuzuschreiben, doch jedes Mal, wenn er erneut der Versuchung erlag, schwor er sich, dies werde das letzte Mal sein. Nur dieses eine letzte Mal noch, das ihn aus dem Schlamassel ziehen würde, den er aus seinem Leben und seiner Karriere gemacht hatte. Er musste lediglich seinen Teil der Abmachung bei der Kontaktperson in den Kimberleys abliefern und zu gegebener Zeit ein wenig übersetzen.

Doch nun fühlte sich jeder Atemzug an wie der Luftstrom aus einem Hochofen. Er rappelte sich auf, fiel jedoch wieder hin. Er stemmte sich auf alle viere hoch und kroch ein Stück weiter.

Da, da hinten glänzt das Taxi. Nein. Jetzt ist es wieder weg. Die Erde reißt auf. Wird sie mich verschlingen? Ich rieche Wasser. Ich rieche Äpfel. Mutters Küche.

Er fiel flach aufs Gesicht und biss in Erwartung des Geschmacks von Apfelkuchen in die rote Erde. Er hustete, würgte und hob bestürzt den Kopf. Die Sonnenkugel loderte und blendete ihn. Er sah die einzelnen Sonnenstrahlen. »Ich hab’s, Hajid. Wir können mit der Suche anfangen.«

Seine Lippen waren geschwollen. Keine Worte mehr. Er biss sich auf die Zunge, schmeckte salziges Blut. Arme und Beine von sich gestreckt, hilflos, wühlten seine Finger im Staub. Dann wusste er nichts mehr.

[home]

Kapitel eins

»Hast du wieder geweint, Lily?« Die Frau, die die Frangipani-Blüten von dem gepflegten grünen Rasen vor der Rezeption harkte, lehnte den Rechen an den Baum und ging zu Lily, die gerade aus dem Mietwagen stieg.

»Hallo, Blossom. Was für eine Frage. Das Flugzeug legt sich schräg, ich sehe die roten Felsen, die Farbe des Wassers, die Bucht, die Mangroven, die Blechdächer, und schon ist’s um mich geschehen. Broome geht mir jedes Mal sofort unter die Haut.«

»Alle Jahre wieder, hm? Wann ziehst du endlich hierher, Lily?«

Sie betrachtete die elegante Frau in zitronengelber Leinenhose und cremefarbener Seidenbluse; das weiche dunkle Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Kaum eine Falte im Gesicht, dabei muss sie fünfzig sein, dachte Blossom. Wie aus dem Ei gepellt. Und doch fügte Lily sich ins Broomer Leben ein.

»Ach, komm schon. Ich bin gerade erst angekommen. Erst schwimmen, dann ein Nickerchen. Und dann denke ich an morgen. Aber kein Stückchen weiter voraus.«

Blossom, die braun gebrannte, drahtige Frau, die für die Gartenpflege der Moonlight Bay Apartments zuständig war, holte Lilys Tasche aus dem Kofferraum. »Ich bringe sie hoch. Diane hat dich in deinem Stammapartment untergebracht. Die Tür ist offen. Ich hab dir ein paar Mangos hingelegt.«

»Du bist ein Schatz, Bloss. Danke. Es ist herrlich, wieder hier zu sein. Ich melde mich wohl besser an der Rezeption und sage dem großen Boss Martin guten Tag.«

Blossom lief bereits die Treppe hinauf, zum oberen Eckapartment. Mühelos trug sie Lilys Tasche. »Keine Hektik. Alle wissen, dass du heute Nachmittag ankommst. Gehst du heute Abend zu Paulines großer Eröffnungsfeier?«

»Ja. Aber zuerst muss ich mich ausruhen. Ich bin um fünf Uhr aufgestanden. Sydney scheint schon eine Ewigkeit her.«

»Für dich gilt jetzt die Zeit von Broome. Immer mit der Ruhe.«

»Ich werde mich ernsthaft bemühen«, erwiderte Lily ebenso entschlossen wie unbekümmert. Blossom legte die Tasche aufs Doppelbett. Sie war mit Mitte vierzig im Urlaub nach Broome geraten, hatte sich das Broome-Virus zugezogen, wie sie es nannte, und war geblieben. Sie trug Khakishorts, ein T-Shirt und feste Stiefel, aber um den Hals eine wunderschöne Perle an einer Goldkette. »Die ist neu«, sagte Lily und berührte die Perle ganz leicht. »Hast du dir was Gutes getan?«

»Klar, warum auch nicht? Jede Frau in Broome hat ein, zwei Perlen.«

»Ich bin gespannt, was Pauline sich hat einfallen lassen. Was ich über ihren Perlen- und Muschelschmuck gehört habe, klang wundervoll.«

»Die Party müsste eigentlich toll werden. Ich wünsche dir viel Spaß. Wenn du was brauchst, schrei einfach, Lily.«

»Mache ich. Danke, Blossom.«

Lily ging auf den Balkon, lehnte sich übers Geländer und nahm die Landschaft in sich auf. An der Roebuck Bay, einer glitzernden Fläche in Eisvogelblau und Türkis, die sich bis zum Horizont erstreckte, konnte sie sich nicht satt sehen. Milchig-weiße Wirbel bildeten sich zwischen den Mangroven, die den Rasen unter ihr säumten. Draußen in der Bucht ankerte ein Viehtransporter aus Indonesien, näher zum Ufer hin lagen private Kreuzfahrtschiffe und Jachten verstreut, und in der Ferne an der lang gezogenen Mole sah man ein Containerschiff aus Perth.

Unwillkürlich verglich sie, wie sie sich jetzt fühlte und wie damals, als sie vor sieben Jahren nach dem Tod ihrer Mutter zum ersten Mal hierher gekommen war. Wie allein sie sich gefühlt hatte! Doch hier hatte sie zu ihren familiären Wurzeln gefunden. Aus einem Impuls heraus hatte sie damals versucht, etwas über ihre Familiengeschichte in Erfahrung zu bringen. Den wenigen Anhaltspunkten im Nachlass ihrer Mutter war sie mühsam, aber mit Erfolg nachgegangen.

Es war eine ausgefallene Familie, die sie da zutage gefördert hatte. Aus den vergilbten Seiten eines alten Tagebuchs war eine ganz besondere Geschichte zum Leben erwacht. Lily versuchte immer noch, tiefer in die Vergangenheit dieser Familie vorzudringen, von deren Existenz sie lange Jahre nichts geahnt hatte. Sie hatte einige Zeit benötigt, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie zu einem – wenn auch geringen – Teil eine Aborigine war. Und über die Jahre hatte sie bei ihren Besuchen in langen Gesprächen und bei gemeinsamen Erlebnissen vieles erfahren, wusste jedoch, dass es noch mehr zu entdecken gab. Auch ihre Aborigine-Großfamilie hatte sie allmählich als eine der ihren akzeptiert. Heute brachten sie sich gegenseitig Liebe, Respekt und Freundschaft entgegen. Sie akzeptierten die jeweiligen Schwächen und Stärken des anderen, hatten ihre Höhen und Tiefen – wie jede Familie. Dennoch war da immer noch die beunruhigende Tatsache, dass ihre dreißigjährige Tochter Sami von alledem nichts wissen wollte.

Nicht zum ersten Mal ging Lily auf, wie leer ihr Leben ohne ihre Familie all die Zeit gewesen war, wie viel ihr als kleines Mädchen und später als Frau entgangen war. Indem ihre Mutter nach ihren eigenen Träumen gestrebt und einen von der Familie unabhängigen Weg eingeschlagen hatte, hatte sie Lily um ganz gewöhnliche, jedoch ungemein wichtige Bausteine des Lebens gebracht: Verwandte und gemeinsame Erfahrungen – die starken Bande, die Menschen zusammenbringen. Einst voller Angst, sie könne dem Beispiel ihrer Mutter folgen und eine geschiedene Frau mit nur einer Tochter werden, besaß Lily nun eine bedeutsame Familiengeschichte, eine Bindung an einen Ort und an traditionsverbundene Menschen, die sie ihre Familie nennen durfte. Je mehr Lily über ihre Vergangenheit erfuhr, desto entschlossener war sie, diese mit der Gegenwart und der Zukunft zu verknüpfen. Bloß wie?

Das Läuten des Telefons unterbrach ihre Gedanken. Sie wusste, es würde Dale sein.

»Hallo, Darling. Ich dachte mir, du müsstest mittlerweile da sein. Wie geht’s dir?«

»Gut, aber ich bin natürlich müde. Ich bin einfach nur froh, wieder hier zu sein.«

»Ich auch. Ich wünschte, du hättest mir erlaubt, dich abzuholen.«

»Der Flughafen ist doch nur zehn Minuten entfernt, und ich wollte ein Auto mieten. Außerdem, wenn du hier wärst, wäre an Ausruhen nicht zu denken.«

»Darauf kannst du wetten. Ich hab dich vermisst.«

»Also, wann wollen wir uns heute Abend treffen? Ich bin so aufgeregt wegen der Ausstellung. Es klingt, als wäre es die Gelegenheit, zu erfahren, wie es allen geht.«

»Stimmt. Es ist eine richtig große Sache geworden. Deine kleine Freundin hat sich ordentlich ins Zeug gelegt, hab ich gehört. Essen wir danach zusammen zu Abend?«

»Bist du mir böse, wenn ich abwarte, wie es mir geht? Vielleicht halte ich gar nicht so lange durch. Kommt Simon auch?«

»Nein, Cocktailpartys und Schmuckvernissagen, das ist nicht sein Fall. Ich hol dich um halb sieben ab.«

»Wunderbar. Bis dann, Dale.«

»Bis dann, du Prachtweib.«

Sie hatten sich vor sechs Monaten während Dales Jahresurlaub zum letzten Mal gesehen. Er war ein auf robuste Weise gut aussehender Mann von sechzig Jahren mit tiefschwarzem, modisch kurz geschnittenem Haar, in das sich nur hie und da ein Anflug von Grau mischte. Er war mittelgroß und kräftig, braun gebrannt, mit dieser wettergegerbten Haut, die man durch viel Arbeit an der frischen Luft bekommt. Er kleidete sich gut, wenn auch etwas konservativ. Lily fühlte sich wohl in dieser Beziehung, die sie in den letzten Jahren aufgebaut hatten. Einen Begleiter, Liebhaber und Freund in Broome zu haben, Zeit füreinander zu finden, das war eine willkommene Abwechslung gegenüber ihrem arbeitsreichen Beruf und dem Singleleben in Sydney.

 

Das weiche Licht des frühen Abends verlieh dem auffälligen rot-schwarzen Eingangsbereich von Pauline Despar Designs eine dramatische Note. In schlichten goldenen Lettern hieß es auf dem Schaufenster lediglich »Perlen und Muschelschmuck«. Der alte Perlenschuppen an der Dampier Terrace war in einen eleganten, kreativ gestalteten Ausstellungsraum umgewandelt worden, der den Zauber der hiesigen Perlenfischerei einfing. Passend zur Lage in Broome war der Raum mit Unterwassermotiven dekoriert: ein Teil eines Schiffswracks, das Modell eines Tiefseetauchers mit Helm, Hunderte prächtiger Muscheln, und die Wände waren mit glänzender blauer Seide ausgeschlagen. Der Wert der legendären Perlen aus Broome und der erlesenen Schmuckstücke aus irisierendem Perlmutt in den Schaukästen und an den schönen jungen Models ging in die Millionen. Das alles war das Werk einer jungen einheimischen Schmuckdesignerin.

Tiffany wäre grün und gelb vor Neid, dachte Bertrand Shears, der Geschäftsführer, als er nun bei der Eröffnung den Cocktailzirkus betrachtete. Für ihn war die Arbeit hier ein Traum. Als älterer Mann mit viel Erfahrung in der Leitung und Vermarktung von Großstadtgeschäften, als jemand, der Klasse zu schätzen wusste, fühlte er sich hier wohl. Die Tatsache, dass Broome zugleich seine Heimatstadt war, stellte eine Dreingabe dar. Es war an der Zeit, so argumentierte er, dass sich die rauen Seiten des alten Broome abschliffen und die Stadt den Tausenden von Touristen, die an diesen entlegenen Flecken an der westaustralischen Küste reisten, etwas mehr Stil bot. Lord McAlpine hatte Ende der 1980er-Jahre mit einem geschmackvollen Luxusresort am Cable Beach den Ton vorgegeben. Anfangs hatte man den britischen Aristokraten mit seinem Unternehmergeist als »verrückt« abgestempelt, doch sein Erfolg hatte das Attribut rasch in »geschäftstüchtig« umgewandelt. Heute stand Broome auf den Reiserouten der High-society aus aller Welt, und so sprangen die führenden Perlenunternehmen auf diesen Zug auf und eröffneten elegante Ausstellungsräume.

Doch Pauline war anders, und sie wurde heiß gehandelt. Alle Stücke, die bei der Vernissage keinen Käufer fanden, würde man in einem exklusiven Geschäft auf El Paseo im kalifornischen Palm Desert anbieten. Bertrand sah sich schon eines Tages zwischen den großen Juwelieren der Welt hin und her reisen, um Paulines Kreationen vorzuführen, die sich durch die begehrtesten Perlen der Welt auszeichneten. Und natürlich wusste er, dass Perlen den Edelsteinen im neuen Jahrtausend den Rang abliefen.

»Geschaffen von der lebendigen Natur, meine Liebe«, schwärmte Bertrand einer älteren Dame vor, die schwarze Kleidung und Diamanten trug. »Denken Sie nur an all die kleinen Geschöpfe, die da unten im Meer emsig einen Kern mit all dem himmlischen Perlmutt überziehen, damit diese glänzenden, dicken, runden Schönheiten entstehen. Eine jede ist einzigartig, etwas Besonderes, finden Sie nicht?«

»Wie viel kostet diese Halskette?« Sie deutete auf eine Kette mit großen glänzenden Perlen.

Bertrand blieb das Herz stehen, er musste kurz die Augen schließen. »Welch sicherer Geschmack. Sind sie nicht einfach überwältigend?«

»Ja. Wie viel, Bertrand?«

Er senkte die Stimme. »Gleichmäßig große Goldene wie die hier sind nicht leicht zu finden. Und die Schließe – rosafarbene Kimberley-Diamanten …«

»Wollen Sie sie nun verkaufen, oder nicht?«, unterbrach sie ihn mit dünnem Lächeln.

»Vierhunderttausend, Eleanor. Das ist ein traumhaftes Stück.«

»Das sehe ich. Legen Sie sie mir zurück.« Sie reichte ihm ihr leeres Champagnerglas. Bertrand machte dem Kellner ein Zeichen und hoffte, dass seine Hände nicht zitterten. Die millionenschwere Bauunternehmerin aus Perth verlagerte ihre Aufmerksamkeit vom Schmuck auf die Gäste. »Gott segne dich, Eleanor De Linde, du alter Drachen«, murmelte Bertrand leise, »du hast den Abend für mich gerettet.«

Mit Champagnergläsern in den Händen bewegten sich Lily und Dale ungezwungen durch das Gemisch aus vornehmer Broomer Gesellschaft und hochrangigen Besuchern aus anderen Bundesstaaten und dem Ausland. Lily tauschte mehrere Wangenküsse und kurze Hallos, ehe sie Paulines Blick auffing. Sie entschuldigte sich und ließ Dale mit dem Manager des Cable Beach Club und seiner Frau allein.

Pauline Despar, eine elfenzarte Person in einem schlichten weißen Kleid, trug eine schimmernde Halskette mit einem kunstvoll gearbeiteten Perlmuttanhänger in Form eines Walhais. Ihr dunkles Haar war zu einem Bob im Stil der 1920er-Jahre geschnitten, dazu hatte sie ein dramatisches Augen-Makeup aufgelegt. Sie ging Lily entgegen, und die beiden umarmten sich innig.

»Hallo, Lily. Es ist so schön, dich wiederzusehen. Ich bin froh, dass du es zu meiner Ausstellung geschafft hast.«

Lily küsste sie liebevoll. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich komme, und ich halte meine Versprechen. Herzlichen Glückwunsch, Pauline. Du hast es geschafft. Ich wusste immer, dass du es schaffen würdest.« Lily fügte nicht hinzu, dass sie immer noch über den raschen Aufstieg des schüchternen jungen Mädchens staunte, das vor ein paar Jahren sein Studium abgebrochen hatte. Mit fünfundzwanzig die Eröffnung eines exklusiven Geschäfts zu riskieren, um die eigenen Kreationen ausstellen zu können, war ein gewaltiger Schritt.

»Papa hat mich unterstützt. Aber jetzt stehe ich auf eigenen Füßen – entweder ich lerne schwimmen, oder ich gehe unter«, vertraute sie der älteren Frau an.

»Du schwimmst auf einer großen Erfolgswelle, würde ich sagen.« Lily lächelte. »Dein Timing ist hervorragend, gute Perlen kommen jetzt international zur Geltung, und dein Perlenschmuck ist etwas ganz Neues. Natürlich werden andere versuchen, dich zu kopieren.«

»Sollen sie doch. Du weißt ja, ich habe so viele Ideen. Lily, dass ich dich vor drei Jahren kennen gelernt habe, dass du mich damals ermutigt hast, das hat den Ausschlag gegeben für meine Entscheidung, es einfach zu versuchen. Ich kann dir gar nicht genug danken.«

»Du liebe Güte, hoffentlich dachte dein Vater nicht, ich würde dich auf unverantwortliche Weise beeinflussen. Aber du hast bewiesen, dass die Entscheidung für deinen Lebenstraum richtig war. Bleib einfach mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen und behalt die Zahlen im Auge.«

»Du hattest völlig Recht, Lily. Papa versteht was von Zahlen. Ich habe einen ziemlich eindrucksvollen Geschäftsplan erstellt, und diverse große Unternehmen und Geschäfte haben mir angeboten, ich könnte für sie Schmuck entwerfen. Also habe ich mir gedacht, ich verkaufe besser gleich meine eigenen Sachen. Papa war ausnahmsweise mit mir einer Meinung und investiert in mich. Mein Bruder hält Papa für verrückt, er hält uns alle beide für verrückt, aber er wird sich noch wundern.«

»Du hast einen fantastischen Start erwischt. Deine Eröffnung ist großartig. Viel Glück, Pauline. Ich ruf dich morgen mal an, und dann treffen wir uns, wenn du nicht so gefragt bist, hm?« Lily deutete auf den Fotografen, der versuchte, die Aufmerksamkeit der Schmuckdesignerin zu erregen.

 

In der spektakulären Landschaft der östlichen Kimberley-Region in Westaustralien stand eine schlanke junge Frau neben ihrem Geländewagen am Rand einer unbefestigten Straße – in diesen Gegenden der armselige Ersatz für eine richtige Straße. Ihr Aussehen fiel auf: honigfarbenes Haar, große dunkle Augen, ein breites Gesicht mit einem seltenen, aber dann strahlenden Lächeln. Auf der Suche nach genau der richtigen Kombination von Farbe und Form ging sie ein Stück in den Busch hinein. Schließlich hob sie den Fotoapparat und nahm die heiße sienafarbene Erde und die fantastische Gestalt eines Baobab-Baums ins Visier, den knolligen Unterkörper, die knolligen Hüften, die schmale Taille und den Oberkörper, dessen nach allen Seiten hervorschießende dünne Arme am Himmel kratzten. Vor dem Hintergrund des strahlend blauen Himmels bot er einen herrlichen, wenn auch einsamen Anblick. Sie fragte sich, ob diese Landschaft schon vor Hunderten von Jahren so ausgesehen haben mochte.

Doch plötzlich drang das einundzwanzigste Jahrhundert in ihre Gedanken. Von ferne näherte sich rasch eine Staubwolke über die Piste, die unebene Arterie, die die weit auseinander liegenden Ländereien und Aborigine-Gemeinden mit der Zivilisation verband. Ein klobiger Kleinbus näherte sich rumpelnd, und Sami Barton zog sich das Musselintuch vors Gesicht, um es gegen den feinen roten Staub zu schützen. In dem Fahrzeug, eine Sonderanfertigung, saßen neun Touristen und erhaschten durch abgetönte Scheiben flüchtige Blicke auf das Outback. Der Fahrer bremste ab, doch Sami trat vor, lächelte und bedeutete ihm mit erhobenem Daumen, dass alles in Ordnung sei. Als der Bus sich entfernte, stieg Sami wieder in ihr Auto. Das Gefühl, völlig allein zu sein, war nun ruiniert. Sie sah auf den Beifahrersitz und grinste. »Touristen, Rakka. Man kann ihnen nicht entgehen, nicht mal hier draußen.«

Zwei Stunden weiter die Straße entlang fand sie einen geeigneten Platz für ein Nachtlager in der Nähe einer Reihe verkrüppelter Bäume. Sie zogen sich eine flache Sandfurche entlang, die in den seltenen Regenperioden vermutlich als Flüsschen durchging. Ein Stück abseits der Straße schlug sie ihr »Instant-Lager« auf: ein kleines Schutzzelt und einen Gaskocher. Selbst wenn sie ein Lagerfeuer machte, kochte sie ihre Mahlzeiten meist lieber auf dem Kocher. Es gab Grenzen für ihre Bereitschaft, zum bushy – Buschbewohner – zu werden. Sie glaubte, sie hätte an alles gedacht, zumal so viele Menschen ihren Rat angeboten oder sie davor gewarnt hatten, allein loszufahren. Doch so gut sie sich auch vorbereitet fühlte, so sehr war ihr bewusst, dass sie in einer außerordentlich verlassenen Gegend allein war.

Sobald das Abendlicht schwand, fiel die Temperatur, und sie zog eine Jacke über. Die schmale Silbersichel des Neumonds erschien am Himmel. Für den überwältigenden Genuss eines Sternenhimmels fern jeder Stadt war es aber noch nicht dunkel genug. Nicht zum ersten Mal auf dieser Reise überkam Sami ein Gefühl von Einsamkeit und Angst vor dem Unbekannten. Sie wusste jedoch, dass diese Gefühle nicht nur von der fremden Umgebung geweckt wurden. Sami schien es, als triebe sie gegen besseres Wissen und gegen ihren Willen in eine Konfrontation mit einem Teil ihrer Herkunft, zu dem sie sich nie richtig bekannt hatte, von dem sie eigentlich auch nichts hatte wissen wollen. Sie spürte ganz intensiv, dass es in der Isoliertheit dieser minimalistischen Landschaft kein Entrinnen für sie gab. Hier draußen sprang ihr die Vergangenheit ins Auge.

In Augenblicken wie diesem suchte sie stets Trost bei ihrer Reisebegleiterin – einer drei Jahre alten roten Kelpie-Hündin namens Rakka. Sie war ihr eine ergebene Freundin, in ihren Augen konnte Sami nichts falsch machen. Rakka war klug und schützte Sami mit ihrem Leben. Hinter ihrer verspielten Art, dem freundlichen Gesicht und dem schlanken, aber kräftigen Körper verbarg sich eine Intelligenz, auf die Sami vertraute. Rakka besaß einen sechsten Sinn für Menschen, und wenn die Hündin angespannt und mit angelegten Ohren dicht neben Sami stand, wusste diese, dass jemand nicht vertrauenswürdig war.

Später, als Rakka nach einem einfachen Mahl am Lagerfeuer zu ihren Füßen lag, konnte Sami ihren Gedanken freien Lauf lassen. Immer deutlicher sah sie, welche Ironie in dieser Reise lag. Sie hatte sich ganz bewusst im Privatleben und Studium von der Aborigine-Problematik fern gehalten – und da war sie nun, unterwegs zu einer entlegenen Aborigine-Gemeinde, um etwas über ihre uralte Felskunst zu erfahren, als Forschungsassistentin ihres Professors und im Rahmen der Forschung für ihre eigene Doktorarbeit. Es war keine angenehme Aufgabe, und sie schien mit jedem Tag, den sie in diesem Teil des Outback verbrachte, komplizierter zu werden. Oft hatte sie das Gefühl, als blickte ihr jemand über die Schulter und in ihre Gedanken hinein. Und sie wusste, diese Empfindungen hingen mit einer Tatsache zusammen, die sie nur schwer akzeptieren konnte: der entfernten Blutsverwandtschaft mit den Ureinwohnern und dem Völkergemisch an der Kimberley-Küste.

Seit dem Tod ihrer Großmutter Georgiana und der ersten Reise ihrer Mutter Lily nach Broome hatte ihr Leben sich drastisch verändert. Sami war klar, dass ihre Mutter sich noch keinen festen Wohnsitz im Norden suchen mochte, weil sie hoffte, dass Sami wenigstens eine Zeit lang bei ihr in Broome leben würde. Doch Sami hatte diese Hoffnungen nicht genährt und ignorierte ihren fernen Verwandten.

Ihre Ururgroßmutter war eine Mischlingsfrau gewesen. Sami lehnte diese Verwandtschaft als zu entfernt und fremdartig für eine gesellschaftliche oder emotionale Bindung ab. Und Lilys tiefe Verbundenheit mit diesem Teil der Familie war zwischen ihnen zu einem Tabuthema geworden – beinahe von dem Tage an, an dem Lily Sami von den Neuigkeiten über ihre Familiengeschichte erzählt hatte. Die dreiundzwanzigjährige Sami hatte gerade von den Freunden erzählt, bei denen sie gewohnt hatte, während Lily jene erste bedeutsame Reise nach Broome unternommen hatte. »Die sind so cool. So witzig und so interessant. Eine ganz bunte Mischung – italienisch und vietnamesisch. Ich finde es einfach toll, wie sich bei denen die Kulturen im Essen, in der Religion und in den Bräuchen vermischen«, schwärmte sie.

»Du findest also unsere weiße, angelsächsische, protestantische Herkunft reichlich gewöhnlich?«, fragte Lily ruhig.

»Genau, total langweilig.«

»Und wenn du plötzlich eine interessante Familie haben könntest, wie fändest du das?«

Sami hörte einen seltsamen Unterton in der Stimme ihrer Mutter. »Wie zum Beispiel? Was soll die Frage? Du weißt, dass wir das nicht haben.«

»Sami, ich habe in Broome viel Neues über unsere Familie herausgefunden …«

»Du meinst außer dem berüchtigten Kapitän Tyndall und der schönen Olivia? Außer Opa Hamish und Großmutter Maria, die die liebe Oma Georgiana bekamen, die nie Oma genannt werden wollte. Das ist nicht gerade multikulti, Mami«, erwiderte Sami bissig.

»Sami, ich habe dir nicht die ganze Geschichte erzählt. Sie ist ziemlich … kompliziert«, sagte Lily sanft und schloss kurz die Augen, als ringe sie um innere Stärke für ihr Anliegen.

Als Sami den Gesichtsausdruck ihrer Mutter sah, begriff sie, dass das Gespräch ernst wurde. »Ich glaube, du erzählst mir lieber alles.«

Lily holte tief Luft. »Der erste Mensch, mit dem ich in Broome ein bedeutungsvolles Gespräch führte, war vermutlich eine alte Aborigine, die auf einer Sandbank angelte: Biddy. In dem Moment schien es mir nichts Besonderes, aber im Nachhinein gesehen war es ein Omen. Sie hatte für viele Familien in der Stadt gearbeitet, deshalb wusste sie viel über ihre Geschichte. Das fand ich faszinierend. Rate mal, für wen sie am längsten gearbeitet hatte? Für John Tyndall, meinen Urgroßvater. Dann ging ich zum Cable Beach Club und sah mir eine Kunstausstellung an. Auf einem der Bilder war das gleiche Motiv dargestellt wie auf dem Perlmuttanhänger, den ich nach dem Tod meiner Mutter unter ihren Sachen fand.«

»Das Weihnachten, an dem du mir den Ring mit der Perle geschenkt hast?«

»Der Ring gehörte Olivia. Die erste Perle, die ihr Perlenunternehmen Star Of The Sea gefunden hatte. Tyndall, Yoshi und Ahmed, sein malaiischer Gehilfe, hatten ihn für sie angefertigt.«

»Das hast du in ihrem Tagebuch gelesen?« Lily hatte Sami erzählt, dass sie Olivias Tagebuch im Historischen Museum in Broome gelesen hatte.

»Ja. Der Anhänger stammte von John Tyndalls makassarischer Geliebter Niah. Ihre Mutter war eine Aborigine – eine Bardi.«

»Seine Geliebte? Bevor er Olivia heiratete? Was passierte mit dieser Niah?«

»Tyndall und Niah hatten eine Tochter: Maya«, fuhr Lily fort. »Und auch Mayas Geschichte ist traurig und schön zugleich. Wie bei Niah ist es eine tragische Geschichte.«

Sami war wie betäubt. Das klang wie die Zusammenfassung eines Kitschromans. »Was hat das mit uns zu tun? Das war vor einer Ewigkeit.«

»Hab Geduld, Liebes. Ich war mir unsicher, wie du diese Neuigkeiten aufnehmen würdest. Es ist alles ein bisschen kompliziert, aber auch spannend«, sagte Lily. »Weil Maya zur Hälfte eine Weiße war, wurde sie von den Missionaren nach Perth geschickt und wuchs dort als weißes Kind unter dem Namen Maria auf.«

»Eines dieser Kinder aus den ›gestohlenen Generationen‹?

»In gewisser Weise war sie das wohl. Wie auch immer, Maya, die Tochter, die Niah mit Tyndall hatte, heiratete Olivias Sohn aus erster Ehe, Hamish Hennessy. So kamen die beiden Familien auf völlig ungewöhnlichem Wege zusammen.«

»Mami, das klingt wie die Handlung einer TV-Soap«, rief Sami. »Und ich hab das Gefühl, du hast noch ein paar Episoden auf Lager.«

»Nun ja.« Lily atmete tief durch. »Also, Hamish und Maya hatten eine Tochter: Georgiana. Von ihr, meiner Mutter, haben du und ich die Gene, durch sie sind wir blutsverwandt mit Tyndalls und Olivias Familien … all das ist ein Teil von uns.« Lily lehnte sich im Sessel zurück. Sie wirkte ein wenig ausgelaugt.

Sami sagte kein Wort. Sie war wie betäubt von dieser Enthüllung. Diese Verbindung zu den Aborigines gab es sicherlich, aber sie schien irgendwie unwirklich zu sein. Nein, dachte Sami, nicht unwirklich, bloß unwichtig. Das lag ewig zurück, die Verbindung war so indirekt. Ihr fiel es schwer, sich vorzustellen, dass ihre Großmutter auch nur im Mindesten etwas von einer Aborigine hatte.

Lily beobachtete das Gesicht ihrer Tochter und spürte eine wachsende Anspannung und Ungläubigkeit bei ihr. »Auch für mich war es erst mal ein Schock, Sami, als ich das alles in Olivias Tagebuch las und dabei entdeckte, dass John Tyndall ein Verwandter von mir war. Worauf ich bei meinem ersten Besuch dort nicht vorbereitet war, war die Begegnung mit Rosie Wallangou, der jungen Aborigine-Künstlerin, die ein Bild von dem Anhänger gemalt hatte. Olivia hatte ihr wegen der familiären Verbindung Geld hinterlassen. Als mir klar wurde, dass wir durch den Anhänger verbunden sind, habe ich sie noch einmal besucht und ihre Familie kennen gelernt, auch die alte Biddy.«

»Die alte Aborigine-Dame, mit der du gesprochen hast, als sie angelte?«

Lily lächelte schwach. »Liebes, ich weiß, das ist eine Menge Neues, das du erst mal verdauen musst. Tatsache ist aber, sie alle – auch die alte Biddy – sind durch alle möglichen Sachen mit uns verbunden – Blut, Heirat, Verwandtschaft, Haut und Umgang. Wir sind eine Familie.«

Wieder schwiegen sie beide, während Sami versuchte, diese außergewöhnlichen Neuigkeiten zu verarbeiten. Es war zu viel auf einmal. Als Einzelkind einer allein erziehenden Mutter mit einem unzuverlässigen, fern von ihr lebenden Vater hatte sie sich immer nach einer Familie gesehnt – jedoch nicht so einer.

»Das ist nicht meine Familie«, rief sie plötzlich, stand auf und raffte ihre Sachen zusammen. »Mit diesen Menschen habe ich nichts zu tun.«

Lily stand ebenfalls auf und wollte ihre Tochter umarmen, doch Sami riss sich los. »Bitte zieh keine voreiligen Schlüsse, Liebes. Bitte. Du brauchst da im Augenblick überhaupt nichts zu unternehmen, denk einfach drüber nach. Ich schäme mich nicht dafür, dass es in unserer Familie Aborigine-Blut gibt.«

»So einfach ist das nicht für mich, Mami«, explodierte Sami. »Die sind da irgendwo, jetzt. Es ist doch nicht so, als wäre das alles nur Vergangenheit und wir können da ach so verdammt liberal und … politisch korrekt damit umgehen und so!«

»Wenn du sie erst kennen lernst …«

»Ich will nicht, Mami. Ich will nicht mit Leuten herumhängen, mit denen ich nichts gemein habe, bloß weil mein Ururgroßvater ein Techtelmechtel mit einem Mischlingsmädchen hatte! Und sie wollen vermutlich auch nichts zu tun haben mit einem weißen Yuppie wie mir. Himmel, ich wünschte, du hättest mir das nicht erzählt.« Sie verschränkte die Arme in der Abwehrhaltung, die Lily so vertraut war.

»Ich wollte dir gegenüber ehrlich sein. Hätte ich es dir nicht erzählt, dann dürftest du wütend auf mich sein.« Lily versuchte, die Situation etwas zu entkrampfen. »Ich hab dich noch nie von dir selbst als Yuppie sprechen hören.«

»Du weißt genau, was ich meine. Ich bin weiß, gebildet, eine Akademikerin, verdammt noch mal. Mein Leben ist völlig anders als ihres, wir haben nichts gemeinsam. Womöglich erwarten sie von uns sogar noch eine finanzielle Unterstützung. Du weißt doch, wie sie sind: was dein ist, ist mein.«

»Sami, ich hätte nicht gedacht, dass du zu Klischees greifst. Falls es dich interessiert: Es geht ihnen finanziell sehr gut. Besonders Rosie. Aber du hast Recht: Ihr Leben ist völlig anders. Was nicht heißt, das eine sei besser als das andere.« Lily hob die Hände. »Sami, ich bedauere, dass du so reagierst. Ich weiß, das kam jetzt sehr überraschend, aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Du kannst es ignorieren, oder auch annehmen. Ich habe mich entschlossen, es anzunehmen. Es ist deine Entscheidung. Sag mir einfach Bescheid, wenn du sie kennen lernen möchtest.«

 

Als Sami ihren Freundinnen nach Jahren totaler Geheimhaltung schließlich doch von ihrer Abstammung erzählte, machten deren begeisterte, ja, sogar neidische Reaktionen sie sprachlos. Sie wandte ein, wenn es deren eigene Familiengeschichte wäre, wenn sie diejenigen mit dem Aborigine-Blut wären, würden sie das vielleicht anders sehen. Es war ja schön und gut, sich politisch korrekt zu verhalten und sich für die landesweite Aussöhnungsdebatte zu interessieren, doch für Sami war es eine tiefe innere Zwickmühle, die sie selbst nicht recht verstand. Hätte sie anders empfunden, wenn man ihr gesagt hätte, sie sei ein Adoptivkind, fragte sie sich? Mochte es auch noch so verdünnt sein, infolge der Liaison ihres Ururgroßvaters floss das Blut einer Frau, die halb Aborigine, halb Makassarin gewesen war, in ihren Adern. Und in Broome existierten Verbindungen zu einer ganzen Gruppe von Aborigines, dem Küstenstamm der Bardi. Kapitän Tyndall war berühmt gewesen, ein erfolgreicher Perlenbaron, der ein kleines Imperium geschaffen, verloren und wieder aufgebaut hatte, von dem beinahe nichts geblieben war.

Sami wünschte oft, ihre Mutter hätte sich nicht auf diese Suche nach ihrer Vergangenheit begeben. Sie wollte das Erbe ignorieren, das ihre Mutter aufgedeckt hatte, doch es fühlte sich an wie ein kleiner Vulkan, der in ihrem Innern kurz vor dem Ausbruch stand. Das Bedürfnis zu wissen, dass sie irgendwo hingehörte, wurde immer stärker.

Sami versuchte sich einzureden, sie brauche keine »Familie«, sondern nur das Gefühl, an einen Ort zu gehören, der ihr etwas bedeutete. Denn im Vergleich zu ihren Freundinnen kam sie sich vor wie eine Zigeunerin – wurzellos, ohne jede Kontinuität. Ihren Vater kannte sie kaum. Er hatte sich von ihrer Mutter scheiden lassen und lebte nun in Amerika. Lily war zunächst in ein kleineres Haus und dann in eine Wohnung gezogen. Es war ein sehr praktisch ausgerichtetes Leben. Samis Freunde hingegen entstammten überwiegend Großfamilien, in denen man Jahrestage und Rituale pflegte, die Vergangenheit und die Zukunft feierte, indem man heiratete und die nächste Generation in die Welt setzte. Sami fand problemlos Anschluss an ihre Freunde und tauchte in deren Leben ein – ein zusätzlicher Stuhl am Tisch, ein weiterer Schlafsack auf Campingausflügen, geteilte Erfahrungen und Erlebnisse. Lily konnte aufgrund dieser Kontakte ihrer Tochter reisen, eine Auszeit von der Arbeit und der Rolle als Mutter eines Teenagers nehmen.

Erst jetzt erkannte Sami, wie einsam ihre Mutter gewesen war und dass sie vielleicht eben deshalb so an dieser neuen Großfamilie in Broome hing. Sie hatte kaum Kontakt zu Samis Vater in Amerika, und der Mann, in den Lily sich vor vielen Jahren verliebt hatte, war gestorben. Ihre Mutter hatte eine lockere Beziehung zu einem Mann in Broome, aber das war es nicht, was sie immer wieder dorthin zurück zog.

Als Sami der Reise in die Kimberleys zustimmte, wusste sie, dass sie sich zu den ausufernden Familienbanden dort bekennen musste. Sie war mittlerweile reifer geworden und stand der Herausforderung, diese kuriose Verwandtschaft kennen zu lernen, etwas gelassener gegenüber. Lily hatte sie überredet, bei ihrer Rückfahrt aus den östlichen Kimberleys einen Abstecher nach Broome zu machen und für einen Kurzurlaub zu ihr in die Moonlight Bay Apartments zu ziehen.

 

Am nächsten Morgen war Sami schon vor Tagesanbruch wieder unterwegs und studierte die Skizze, die ihr als Karte diente. Sie suchte nach einer kleinen Abzweigung an einem Baum, an dem eine alte Kette und das rostige Rad eines Fahrrads hoch oben an einem Ast schaukeln sollten. Sami prüfte die Entfernung, fuhr noch einige Kilometer und entdeckte befriedigt den Baum mit dem Rad und daneben einen unebenen Weg.

Nachdem sie abgebogen war, sah sie sich die Landschaft vor ihr genau an. Himmel und Erde waren von ein und demselben fahlen Grau, gegen das sich Spinifex-Horste und struppige Bäume dunkler abhoben. Und dann sah sie etwas weiter rechts ein winziges Leuchten. Ein Feuer, ein Lager. Sie war beinahe da. Augenblicklich erfüllte sie die Vorahnung, dass ihr Leben, ihre ganze Welt sich verändern würde. Ab hier gab es kein Zurück mehr. Sami wurde erwartet. Sie kam mit einigen Kenntnissen in westlicher und östlicher Kunstgeschichte, einer Ausbildung in vergleichender Forschung und Erfahrung als Dozentin an ihrer Universität in Sydney. Hier jedoch war sie eine Novizin, die eine Arbeit erledigte, zu der sie ein Professor gedrängt hatte, der keine Ahnung von ihren persönlichen Verflechtungen mit dieser Aufgabe hatte.

 

Kevin Lean sah im Rückspiegel nach dem Wohnwagen. Die Spurrillen in der unbefestigten Straße sorgten für Erschütterungen, und der Wohnwagen holperte und bebte. Eine dicke Staubschicht hatte ihren Silver Fox in Rostrot gekleidet, doch Kevin genoss jede Minute ihres Abenteuers abseits des Asphalts. Seine Frau Bette war weniger begeistert. »Das macht mir ein bisschen Angst, Kev. Wann kommen wir wieder auf Asphalt?«

»Keine Sorge, Schatz. Ehe wir’s uns versehen, sind wir auf der Farm. Noch eine Nacht im Wohnwagen, okay? Dann wieder Zivilisation.«

»Ein Gehöft inmitten von vierhunderttausend Hektar. Klingt für mich nicht nach dem Mittelpunkt des Universums. Aber ich bin froh, dass wir wenigstens den Silver Fox haben und nicht im Freien schlafen müssen.«

»Es werden vermutlich noch mehr Leute wie wir da sein. Das ist eine ganz große Sache.« Er blickte sich um. »Ein magisches Land, findest du nicht?«

Bette nickte. Als gesunde, energiegeladene Babyboomer mit Geld im Rücken hatten sie beschlossen, Kevins vorzeitigen Ruhestand mit einer Australien-Rundreise zu feiern, die etwas Spannung bot und viel Spaß versprach. Bette genoss ihre Traumreise, doch es gab auch bange Momente. Sie fand die Weite und Leere großer Teile des Landes beunruhigend. Zwar stimmte sie mit Kevin überein: Das Land war unglaublich schön, die Farben erstaunlich, die Tier- und Pflanzenwelt faszinierend. Doch sie war stets froh, wenn sie zu einem Campingplatz kamen und andere Menschen trafen. Zusammenzusitzen und Abenteuergeschichten auszutauschen war allemal besser, als sie tatsächlich zu erleben. Bette war ein echter Stadtmensch und vertrug den Busch nur in geringen Dosen. »Wir haben den ganzen Tag noch niemanden gesehen«, klagte sie.

»Naja, das ist so weit draußen nicht ungewöhnlich. Du hast doch gesagt, auf der Gibb River Road sind dir zu viele Autos. Sag mal, was ist denn das da vorne? Hat da jemand eine Panne?«

»Kev, das ist ein Taxi!«, verkündete Bette ungläubig.

»Also, da soll mich doch …«, rief er und bremste gerade rechtzeitig ab, sodass er hinter dem staubbedeckten Taxi anhalten konnte. »Da drin ist niemand.«

»Doch, da ist jemand. Unter dem Wagen.«

Die beiden kletterten aus ihrem klimatisierten Geländewagen und taumelten, als die Hitze sie traf. Ein Mann kroch unter dem ramponierten Wagen hervor.

»Unfall gebaut, Kumpel?«, rief Kevin ihm zu.

»Ja, verdammtes Pech. Das und noch ein paar Komplikationen. Gott sei Dank sind Sie aufgetaucht. Ich hab schon gedacht, es kommt niemand mehr vorbei. Hier in der Gegend ist nicht viel Verkehr, trotz dem Großereignis auf der Farm.« Bobby versuchte, lässig zu wirken, doch er war erleichtert, dass der Geländewagen angehalten hatte. Ihm fiel auf, wie gepflegt und gut gekleidet die beiden waren. Kevin war groß und dünn, aber so gut in Form, als trainierte er regelmäßig im Fitnessstudio. Er hatte kurzes graues Haar und ebenmäßige Gesichtszüge; er klang gebildet, wie ein Anwalt oder irgendein Manager, fand Bobby. Seine Frau hatte Sommersprossen, ein offenes Lächeln und hellblonde Haare mit grauen Strähnen. Sie wirkte freundlich und warmherzig.

»Was ist passiert? Können wir helfen? Ich bin Kev Lean, das ist Bette.«

Sie gaben sich die Hand.

»Bobby Ching. Ich fahre einen Typ von Broome hoch zum Rennen. Heute Morgen sind wir mit einem verdammt großen Känguru zusammengestoßen. Mein Fahrgast hat sich für einen Toilettenstopp und ’nen kleinen Spaziergang verkrümelt und ist nicht mehr aufgetaucht. Ich hab nach ihm gesucht, bin so weit gelaufen, wie ich mich getraut habe. Aber ich laufe in dieser Affenhitze nicht da raus, ohne zu wissen, in welche Richtung.«

»Regel Nummer eins: immer beim Wagen bleiben«, sagte Bette, als zitierte sie aus dem Handbuch für sicheres Fahren im Outback, und Kevin zog eine Augenbraue hoch, um Solidarität mit Bobby zu bekunden.

»Ja, es war idiotisch von mir, ihn gehen zu lassen. Ich hab auch versucht, ihm klarzumachen, wie gefährlich das sein kann.« Bobby klang besorgt.

Kevin warf einen Blick unter das Taxi und sah, dass Bobby sich eine flache Mulde gegraben hatte, um sich vor der sengenden Sonne zu schützen.

»Haben Sie kaltes Wasser, Kumpel?« Bobby sah plötzlich erschöpft aus.

»Aber sicher. Kommen Sie, hinein in den Kühlschrank. Bette, hol die Wasserflasche aus der Kühlbox.«

»So, jetzt erzählen Sie uns mehr von Ihrem Fahrgast, und was passiert ist«, forderte Bette Bobby auf, während dieser trank und dann sein Gesicht benetzte.

»Er ist Deutscher. Wir wollten zum Rennen auf der Bradley-Farm. Als das Känguru gegen den Wagen geknallt ist, hat es den Kühler in den Motor gerammt. Keilriemen und Batterie sind kaputt, also gibt’s auch keinen Strom und keine Funkverbindung. Ich wusste ja, dass wir einfach nur zu warten brauchten, aber Matthias musste unbedingt auf Wanderschaft gehen und ist nicht wiedergekommen.«

»Hat er Wasser dabei?«, fragte Bette besorgt.

»Nee. Er wollte nicht lange wegbleiben, und ich hab ihm gesagt, er soll nicht weit gehen. Das wollte er auch nicht, aber man verliert hier leicht die Orientierung. Er hat gesagt, er will fotografieren. Als er nach zwei Stunden noch nicht zurück war, hab ich nach ihm gesucht, wenigstens hier in der Nähe. Und wenn ich so drüber nachdenke: Seine Mütze war für dieses Land auch total ungeeignet, nur so eine Kappe. Wir müssen ihn wirklich finden. Funktioniert Ihr Radiotelefon?«

»Ja, nur zu.« Kevin reichte Bobby das Gerät. Bette nahm unterdessen ihren Fotoapparat und machte ein Bild von dem gestrandeten Taxi. Das würde ein Highlight für ihren E-Mail-Newsletter an Freunde und Familie in Adelaide abgeben!

Bobby meldete sich bei Mr. Choy in Broome, informierte ihn kurz und beendete die Verbindung. Mit den Abschiedsfloskeln wechselte Bobbys Stimmung. Es war, als ob der Anruf ihn aus seiner hitzebedingten Benommenheit gerissen hätte. Er wandte sich an Kevin. »Der Boss sagt, wir sollen nach ihm suchen.«

»Wie fit war er denn, Bobby?«

»Nicht besonders, glaube ich. Ein bisschen übergewichtig, wahrscheinlich über fünfzig. Er hatte keine Ahnung, wie gefährlich es da draußen im Spinifex-Busch werden kann – wie die meisten Europäer und Japaner, die mal kurz einen Blick aufs Outback werfen wollen.«

»Wir verlassen die Straße nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss, nicht bei dieser Hitze«, sagte Kevin. »Was meinen Sie, wie lange dauert es, bis Hilfe kommt?«

»Zu lange. Könnten wir vielleicht Ihren Wohnwagen abkoppeln und uns dann ein bisschen umsehen? Seine Aussichten sind schlecht, wenn er keinen Sonnenschutz gefunden hat.«

Bette berührte Kevin am Arm. »Ich weiß nicht, Schatz …«

Kevin musterte das unwirtliche Land jenseits der Straße. »Ich möchte kein Risiko eingehen. Falls wir eine Panne haben, uns in diesem Busch verirren, ich meine, ich will ja helfen, aber …«

»Hören Sie, er kann da sterben. Er ist schon den ganzen Tag da draußen. Bitte, Sie müssen helfen«, flehte Bobby.

»Natürlich. Dann mal los.«

Die beiden Männer fuhren in den Busch. Bette blieb am Straßenrand zurück, wo sie im Schatten der rasch aufgespannten Zeltplane saß. Der Staub, den das Auto aufwirbelte, hatte sich noch nicht wieder gelegt, da machte sie sich schon Notizen in ihrem Tagebuch. Das überschaubare Abenteuer war beunruhigend geworden. Sie malte sich die schrecklichsten Szenarien aus: Die Männer könnten den Geländewagen zu Bruch fahren, sich verirren oder ….

Kevin schossen ähnliche Gedanken durch den Kopf. So sehr er auf Abenteuer gehofft hatte, war er doch nie wirklich davon ausgegangen, dass so etwas geschehen könnte. Es war unglaublich, dass ein Mann, der sich einfach nur etwas den Busch ansehen wollte, tatsächlich verschwinden konnte. Der junge Bursche neben ihm schien zwar einigermaßen anständig zu sein und sich im Outback auszukennen, aber es gefiel ihm gar nicht, einfach so draufloszufahren, querfeldein, ohne Straße, ohne Orientierungspunkte oder auch nur die geringste Vorstellung von dem, was sie womöglich erwartete.

»Waren Sie schon mal hier draußen, Bobby?«

»Nicht abseits der Straße. Haben Sie einen Kompass?«, versuchte der zu witzeln.

Kevin blickte ernst drein. »Wir haben über ein GPS nachgedacht, aber ich habe nicht erwartet, dass wir die Straße verlassen würden. Ansonsten haben wir aber so ziemlich jedes denkbare Hightechgerät. Allerdings dienen die mehr dem Komfort.«

Bobby nickte. Ihm war aufgefallen, dass sie ein ziemlich teures Gefährt fuhren. Auch ihr Wohnwagen war nicht so einfach wie bei nomadisierenden Pensionären üblich. Vermutlich stieg das Paar nur auf erstklassigen Campingplätzen ab.

Kevin spähte nervös nach vorn auf die öde Landschaft. »Ich finde, wir sollten lieber nicht zu weit fahren. Ich meine, wir wissen ja gar nicht, in welche Richtung er gegangen ist. Wer kommt denn aus Broome zu Hilfe?«

»Mein Cousin macht sich auf die Socken, sobald Mr. Choy ihn informiert hat. Er benachrichtigt die Polizei, und die werden wahrscheinlich jemanden in die Luft schicken. So eine Suche aus der Luft ist teuer, das machen sie nicht bei jedem Zipperlein. Es hat in den letzten Monaten zu viel falschen Alarm gegeben, oder Geschichten, wo Leute einfach mal auf Tauchstation gegangen sind. Die Leute geraten in Panik und rufen die Polizei, bloß weil sie auf der Bundesstraße liegen geblieben sind.«

»So wie ich das sehe, ist das hier nicht gerade eine Bundesstraße«, meinte Kevin. »Eher eine rote Staubpiste mitten durchs Nichts. Ich wette, das ist der reinste Morast, wenn’s mal regnet. Und wenn es trocken ist, ist es ein schmaler Staubstreifen. Da muss man sich doch verlassen vorkommen.«

»Beängstigend für euch Stadtmenschen, was? Aber wenigstens erleben Sie das echte Outback, wenn Sie den Asphalt verlassen.« Bobby sah sich um. »Und man weiß nie, was einen erwartet, sobald man die ausgetretenen Pfade hinter sich lässt. Keine Route, keine Pläne, keine Leute. Sie sind ganz auf sich gestellt.«

»Das ist nicht sehr vernünftig – und außerdem ist es nicht sicher«, erwiderte Kevin steif.

»Ach, machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin zum Teil ein Aborigine, ich weiß, was zu tun ist.« Bobby versuchte zu lachen, doch es klang, als wollte er sich selbst überzeugen.

Kevin fuhr vorsichtig, überrascht davon, dass das scheinbar flache Land voller Gräben und Flussbetten war. Er hoffte, Bobby werde sich merken, aus welcher Richtung sie gekommen waren. Er selbst konzentrierte sich ausschließlich aufs Lenken, um Steine, Felsen und stachelige Sträucher zu umfahren. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er durch die staubige, von einem Drahtnetz bedeckte Windschutzscheibe. Da deutete Bobby plötzlich nach vorn.

»Da drüben, ein bisschen nach rechts. Wo die Vögel kreisen. Bei den Bäumen!«

»Ich sehe nur unglaublich viel Spinifex«, meinte Kevin, als er das Lenkrad nach rechts drehte. Im nächsten Moment fuhren sie durch etwas, das wie ein schmales, sehr flaches ausgetrocknetes Flussbett aussah.

»Auf der anderen Seite, fahren Sie vorsichtig durch. Ich glaube, wir haben ihn gefunden.« Bobby machte sich bereit, aus dem Wagen zu springen.

Auf der anderen Seite der Sandrinne lag der Deutsche, dicht bei einem verkrüppelten Baum, dessen dornige Zweige sich gen Himmel reckten, als riefen sie um Hilfe.

»O Gott, ob er tot ist?«, fragte sich Kevin laut. Er betätigte die Hupe, um zwei riesige Vögel zu verscheuchen, die ganz in der Nähe ihre Kreise zogen.

Sekunden später machte er den Motor aus und ging zu Bobby und dem Deutschen. Matthias lag auf der Seite. Er sah aus, als schliefe er friedlich, wenn man von der rissigen roten Haut und dem blutigen, geschwollenen Mund absah. Bobby rollte ihn auf den Rücken und setzte ihn auf.

»Okay. Er atmet. Holen Sie Wasser, Kev. Er ist stark ausgetrocknet.« Er fühlte dem Mann den Puls. Schwach und unregelmäßig konnte er ihn tasten. »Das gefällt mir nicht. Vielleicht ist was mit dem Herzen.«

Kevin war entsetzt. »Wir hätten Bette mitnehmen sollen, sie hat ein bisschen Pflegeerfahrung!«

Bobby bemühte sich, Leben in Matthias’ schwachen Körper zu bekommen. Beschwörend sprach er auf ihn ein, während er ihm die Brust massierte. »Komm schon, Kumpel, du schaffst es. Wir bringen dich hier bald raus. Ich will doch nicht, dass diese verdammten Adler dich zum Abendessen kriegen, das ist schlecht für den Tourismus. Komm schon!«

»Ich rufe die Fliegenden Ärzte«, stieß Kevin hervor, bemüht, sich nützlich zu machen, und stürzte in seinem Wagen ans Radiotelefon.

Matthias hustete, sein Kopf rollte hin und her und seine Augenlider flatterten. Bobby goss ihm Wasser in den Mund und über den Kopf. Sein Fahrgast reagierte, wenn auch benommen. Er war kaum bei Bewusstsein, konnte aber etwas Wasser schlucken. Schwach und zittrig streckte er Bobby eine Hand entgegen. Der nahm sie. »Alles in Ordnung, Kumpel, das wird schon wieder. Wir haben den Doc gerufen, sie ist bestimmt bald hier. ’n ziemlich heißer Doc noch dazu. Eine richtig nette Lady … blond, wie Sie.«

Als Kevin aus dem Wagen stieg, warf Bobby ihm einen besorgten Blick zu. »Haben Sie sie erreicht?«

»Ja. Aber wo zum Teufel sind wir?«

»Lassen Sie mich mit ihnen reden. Machen Sie hier weiter. Geben Sie ihm noch mehr Wasser … aber nicht zu viel auf einmal. Er atmet nur schwach.«

Kevin kniete sich in den Staub und hob den Kopf des Mannes an. Blutunterlaufene Augen starrten ihm ausdruckslos entgegen. Kevin zwang sich zu einem breiten Lächeln. »Tag, Matthias. Ich bin Kevin. Sie haben einen kleinen Spaziergang gemacht, was?«

»Ja«, bekam der heraus.

»Sie hätten sich klarmachen sollen, dass Sie hier nicht einfach auf Walkabout gehen dürfen. Das können hier nur die Aborigines, Kumpel.«

Bobby beendete das Gespräch und legte das Radiotelefon zurück. »Tragen wir ihn ins Auto. Wir haben Glück, die Fliegenden Ärzte haben ein Flugzeug ganz in der Nähe. Sie sollten in etwa einer Stunde hier sein.«

»Wie sollen sie uns hier draußen finden? Und wo sollen sie landen?«, fragte Kevin leicht skeptisch.

»Ich musste die Zeit totschlagen, als ich bei meinem Taxi festsaß. Da habe ich nachgesehen, wo ungefähr wir gestrandet sind. Wir sind nur circa fünf Kilometer von der so genannten Hauptstraße weg. Die finden uns. Fahren wir zurück zur Straße, da können sie besser landen.«

Kevin fuhr vorsichtig, aus Rücksicht auf den Mann, der neben Bobby auf dem Rücksitz zusammengesackt war. In den frischen Reifenspuren zurückzufahren, war nicht schwer. Sobald sie den Wohnwagen sahen, betätigte Kevin die Hupe, doch Bette hatte sie schon längst kommen hören. Sie war unendlich erleichtert, dass die beiden Männer zurück waren, und als sie Matthias sah, stürzte sie in den Wohnwagen, um ihren Erste-Hilfe-Kasten zu holen. Bobby holte eine Matte aus dem Kofferraum des Taxis und breitete sie unter der Zeltplane aus. Bald reagierte der Gerettete, zunächst nur ganz vage, aber es war ein gutes Zeichen. Er brachte sogar ein Lächeln zustande, als Bette sich um den schweren Sonnenbrand in seinem Gesicht kümmerte.

»Aloe-Vera-Salbe«, erklärte sie ihm, »fantastisch bei Sonnenbrand, und Ihrer ist ganz schlimm.« Sie erkannte mit einem Blick, dass ihr Erste-Hilfe-Kasten nicht die nötigen Medikamente zu bieten hatte.

Als die Fliegenden Ärzte sie gefunden hatten, war Matthias zwar bei Bewusstsein, doch es ging ihm noch sehr schlecht. Das Flugzeug schlitterte in einer kontrollierten, aber holprigen Landung über die unbefestigte Straße. Eine Frau mit einem Arztkoffer sprang heraus, sobald die Propeller stillstanden.

Nach einem kurzen Bericht von Bobby und einem knappen Nicken zu den Leans untersuchte sie Matthias und gab ihm eine Spritze. »Starke Dehydratation, Schädigung der Haut durch Sonnenbrand, Herz noch nicht wieder hundert Prozent, aber er sollte in Ordnung kommen. Sauerstoff haben wir an Bord; er fliegt mit uns zurück nach Broome.«

»Danke, Doc. Schade, dass er das Rennen verpasst!«, sagte Bobby.

Die Ärztin lächelte nicht. »Das ist typisch für euch aus Broome. Kommen Sie, helfen Sie uns, ihn an Bord zu bringen.«

Als sie die Bahre in das leichte Flugzeug hoben, versuchte Matthias, sich aufzusetzen.

»Meine Tasche, meine Sachen … ich muss los …«, keuchte er.

»Geht in Ordnung, Kumpel. Ich nehme alles für Sie mit nach Broome. Kommen Sie erst mal auf die Beine. Morgen oder übermorgen sehen wir uns bestimmt schon wieder, keine Sorge.«

Matthias sträubte sich, so gut er konnte. »Die Bradley-Farm, muss da hin …«

Doch der Pilot schlug die Tür zu, ehe Matthias noch mehr sagen konnte, und das Flugzeug startete.

»Was machen Sie mit dem Taxi?«, fragte Kevin. »Sie können gerne mit uns fahren. Wir wollen auch zu diesem großen Rennen auf der Bradley-Farm. Danach fahren wir zurück nach Broome. Wir wollen den Winter da verbringen.«

»Das wird Ihnen gefallen! Danke für das Angebot, aber ich leih mir lieber nur etwas Proviant und Wasser von Ihnen, wenn ich darf, und dann warte ich auf meinen Cousin. Kann ich ihn und Mr. Choy noch mal von Ihrem Radiotelefon aus anrufen? Ich möchte ihnen nur kurz sagen, was los ist.«

Der Anruf beruhigte Bobby. Er erfuhr, dass ein Reparatur- und Abschleppteam am nächsten Morgen bei ihm sein würde. Es dauerte nicht lange, bis der Wohnwagen wieder angekoppelt und die Leans reisefertig waren.

»Wir übernachten ein Stück weiter die Straße entlang, und morgen fahren wir dann weiter zur Bradley-Farm. Wenn wir zurück in Broome sind, besuchen Sie uns doch mal auf unserem Campingplatz – es ist der Buccaneer Caravan Park«, sagte Bette munter, als sie Bobby die Hand schüttelte. Sie war jetzt bester Laune; das Drama und sein glücklicher Ausgang hatten ihr Auftrieb gegeben.

»Mache ich. Sie haben was gut bei mir. Danke für Ihre Hilfe.«

»Ach, es war uns ein Vergnügen«, antwortete sie automatisch. Dann ging ihr auf, wie absurd das klang, und sie musste laut lachen.

»Willkommen im echten Outback«, meinte Bobby.

Als die Leans fort waren, spannte Bobby die Zeltplane, die sie ihm geliehen hatten, als Sonnenschutz auf. Dann baute er aus Steinen eine Feuerstelle, um sich einen Tee zu kochen und eine Dose Eintopf zu erwärmen, sobald die Sonne unterging. Er war erschöpft – nicht bloß müde, sondern völlig ausgelaugt. Wenn er ehrlich war, hatte er richtige Angst gehabt. Und auch gegen ein Gefühl von Versagen und Enttäuschung kam er nicht an. »Ich bin ein verdammter Pechvogel«, sagte er laut. »Jedes Mal, wenn ich etwas neu anfange, vermassele ich es. Wer wird mich wohl nach dieser Sache noch als Reiseführer engagieren?«