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Di Morrissey

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Beschreibung

Rote Erde, endloser Himmel, schillernde Opale Drei Frauen aus drei Generationen begegnen einander in einem kleinen Ort in der Opal-Wüste Australiens und freunden sich an: Anna, 20, die talentierte Sportlerin, die mit sich hadert, ob sie den Sport zum Lebensinhalt machen soll. Kerry, 42, gerade Witwe geworden, die nicht weiß, wie ihr Leben weitergehen soll. Shirley, 80, die schon ihr ganzes Leben lang nach Opalen sucht und die ein tragisches Geheimnis verbirgt. Nur gemeinsam können diese drei Frauen ihrem Leben eine neue Richtung geben.

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Di Morrissey

Die Blüten der Wüste

Ein Australien-Roman

Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher, Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß, Kollektiv Druck-Reif

Knaur e-books

Über dieses Buch

Drei Frauen aus drei Generationen begegnen einander in einem kleinen Ort in der Opal-Wüste Australiens und freunden sich an: Anna, 20, die talentierte Sportlerin, die mit sich hadert, ob sie den Sport zum Lebensinhalt machen soll. Kerry, 42, gerade Witwe geworden, die nicht weiß, wie ihr Leben weitergehen soll. Shirley, 80, die schon ihr ganzes Leben lang nach Opalen sucht und die ein tragisches Geheimnis verbirgt. Nur gemeinsam können diese drei Frauen ihrem Leben eine neue Richtung geben.

Inhaltsübersicht

WidmungPrologKerrie1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelShirley6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelAnna10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelDankLeseprobe »Im Schatten des Pfefferbaums«
[home]

Für meinen jüngsten Enkel William James Bodhi Morrissey.

 

Liebster Bo, mögest du eines Tages das wunderbare Land des Opals mit all seiner Vielfalt und Einzigartigkeit ebenso kennen und lieben lernen wie ich. Und mögen wir gemeinsam auf Entdeckungsreisen gehen.

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Prolog

Die Wüste. Rote Erde, weiße kuppelförmige Abraumhalden, die Landschaft von Gruben übersät wie von vernarbten Aknepusteln, den Überbleibseln des Eifers und der Verzweiflung der Schürfer. Zwischen den fleckigen grünen Hügeln Wohnstätten, in die Hänge gegraben. Weitere Gebäude, kaum erkennbar, schienen nur provisorisch gebaut. Was überdauern sollte, verbarg sich unter der Erde.

Vor dieser einsamen Kulisse tauchte eine Gestalt auf. Zielstrebig rannte sie unter der brennenden Sonne durch den klebrigen Staub des Ödlands.

Mit leichtem Schritt, der keine Abdrücke auf dem roten Boden hinterließ, flitzte die schlanke Gestalt zwischen Büscheln stachliger Wüstenpflanzen und dem Flaum des jüngeren, grüneren Bewuchses hindurch. Nach dem Frühlingsregen war die Vegetation förmlich über Nacht explodiert, die robusten Pflanzen erwachten aus ihrem zweijährigen Schlaf in der ausgedörrten Erde.

An diesem Morgen nahm die junge Frau nicht die gewohnte Strecke, sondern lief erst Sampson’s Hill hinauf, ehe sie die stillen Wohnhöhlen umrundete, wo vor sich hin rostende Maschinen auf die Rückkehr der Edelsteinsucher und der Teilzeitschürfer warteten. Diese Pendler kamen immer in den milderen Wintermonaten zurück, angelockt von einem Traum, einer Lebensart und der besonderen Schönheit des Outback. Erst wenn die sengende Sommerhitze unerträglich wurde, zogen die Leute wieder fort.

Kaum jemand in den kühlen, dunklen Dugouts bemerkte das vorbeilaufende Mädchen. Nur ein bärtiger Schürfer stand am Eingang seiner schlichten unterirdischen Behausung, nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und schaute ihr nach. Sie beachtete ihn nicht. Während er die Zigarette ausdrückte und in seine gemütliche Wohnhöhle zurückkehrte, setzte Anna ihren Morgenlauf um den kleinen Flecken Opal Lake fort und kehrte dann zum einzigen Hotel des Ortes zurück, in dem sie arbeitete.

Bev und Wayne – unverkennbar »graue Nomaden«, Senioren auf Langzeiturlaub – saßen vor dem hufeisenförmigen Eingang des Shincracker Motel und beobachteten, wie eine junge Elster Sprosse für Sprosse eine lange, an einem Eukalyptusbaum lehnende Leiter hinaufhüpfte.

»Ist aus dem Nest gefallen und kann nicht so hoch fliegen«, erklärte Anna, die nun für einen kurzen Plausch mit den Touristen stehen blieb, nur ein klein wenig atemlos und mit feucht glänzender Haut.

»Wie geschickt!«, meinte Bev grinsend. »Ich finde Elstern großartig. Aber wie können Sie denn bei dieser Hitze so rennen?«

»Die reinste Plackerei«, pflichtete Wayne bei.

»Das macht mir nichts aus. Ich laufe einfach gern.« Sie warf einen Blick auf den Caravan der beiden. »Geht’s heute wieder weiter?«

»Ja. Es war spannend hier, aber wir sind mit Freunden verabredet. Wir fahren nach Darwin«, sagte Bev stolz.

Anna bemerkte die Aufschrift Bev & Wayne auf Nomadentour am Heck ihres Wohnwagens, daneben ihren CB-Funkkanal.

»Da war ich noch nie. Hat es Ihnen hier gefallen?«

»Ist eine interessante Gegend. Opale haben wir allerdings keine gefunden. Ich schätze, die hat sich alle dieser Sampson geholt, was?« Wayne lächelte.

»Hat es hier mal einen Sampson gegeben?«, fragte Bev.

»Das weiß ich nicht. Aber wenn Sie Opale kaufen wollen, bekommen Sie welche bei Greg im Kramladen oder bei Mick im Pub. Entschuldigen Sie mich, ich muss mich noch frisch machen, bevor der Pub öffnet.«

Wayne sah ihr nach, wie sie hinter einem der niedrigen Hügel verschwand. »Wieso arbeitet so ein junges Mädchen hier in dieser abgelegenen Gegend?«, überlegte er.

»Sie scheint jedenfalls ganz nett zu sein, und hübsch ist sie obendrein. Wahrscheinlich eine Rucksacktouristin. Sie macht das, was wir in jungen Jahren auch hätten machen sollen«, meinte Bev.

»Dafür machen wir es jetzt, Schatz, vierzig Jahre später. Das werden die besten Jahre unseres Lebens.« Er schaute noch einmal in die Richtung, wo das Mädchen verschwunden war, eine frühmorgendliche Erscheinung, die Erinnerungen wachrief. »Laufen kann sie jedenfalls. Ich frage mich, was sie hierher verschlagen hat. Ist wirklich gut in Form.«

»Was dir natürlich nicht entgangen ist«, bemerkte seine rundliche Frau. »Es heißt, beim Laufen bekommt man einen klaren Kopf. Vielleicht muss sie über vieles nachdenken.«

»Sieht ziemlich anstrengend aus. Vielleicht läuft sie ja einfach, um etwas hinter sich zu lassen. Tja, wir brechen jetzt auf, also werden wir es nie erfahren. Komm, packen wir unsere Sachen und weiter geht’s. Es gibt für uns noch so viel Neues zu entdecken. Das ist das wahre Leben!«

 

Anna schloss die Tür zum Pub auf. Ihr war nicht entgangen, dass diese Touristen sie sonderbar fanden. Wie die meisten Leute. Sie war hier ziemlich fehl am Platz, aber die Einheimischen – alle achtundvierzig – hatten nie Fragen gestellt und achteten das ungeschriebene, seit hundert Jahren geltende Gesetz der Opalfelder, demzufolge niemand nach seinem Nachnamen, seiner Herkunft und seinen Funden gefragt wurde. Diese Regel gefiel Anna, und ihr wurde klar, dass sie schon lange nicht mehr so in Frieden gelebt hatte wie hier in Opal Lake.

Aber sie wusste auch, dass sie weiter laufen musste.

[home]

Kerrie

1

Als die Limousine am Eisentor vorbei über das Gelände mit gepflegtem Rasen, gestutzten Ziersträuchern und diskret aus dem Gras ragenden Wegweisern zu den diversen Kapellen, Gedenkplätzen und Meditationsräumen rollte, erkannte Kerrie sofort, dass ihr Mann so einen Abschied gehasst hätte.

Die Trauergäste standen in dunklen Grüppchen beisammen, während sich die Journalisten etwas abseits hielten und Namen notierten und die Fotografen – manche trugen sogar Krawatten – die Neuankömmlinge knipsten. Die Förmlichkeit, die Sterilität und dieser andächtige Flüsterton waren ganz und gar nicht das, was Kerrie und ihr verstorbener Ehemann Milton Faranisi gewollt hatten.

»Es ist eine Schande, dass keines seiner Werke gezeigt wird. Todlangweilig«, brummte einer der Reporter.

»Reden Sie keinen Unsinn. Haben Sie mal gesehen, wie groß die teilweise sind? Gehen Sie ins Museum für Zeitgenössische Kunst. Da stehen ein paar von seinen riesigen Skulpturen im Hof«, entgegnete ein anderer.

»Da finden Sie aber nur seine Frühwerke. Googeln Sie mal das Met in New York, das Getty in L.A. oder die Tate Modern in London – dort sind seine besten Arbeiten ausgestellt«, wusste ein Fotograf. »Übrigens, woher hat er eigentlich den Namen Milton? Es heißt doch, er sei Italiener gewesen.«

»Angeblich hatte seine Mutter eine Vorliebe für englische Dichter. Sein Bruder heißt Byron.«

»Im Ernst? Ist der auch Künstler?«

»Nein, anscheinend so ein Computerfreak. Hat in den frühen Achtzigern angefangen und ein Vermögen gemacht.«

In der großen Kapelle füllten sich die Sitzreihen, mit Ausnahme der vordersten. Kerrie Faranisi begab sich schweigend dorthin und versuchte den Blickkontakt zu den anderen Trauergästen zu vermeiden, weil sie womöglich nur wieder in Tränen ausbrechen würde. Sie setzte sich allein in die erste Reihe, eine schlanke Gestalt in schwarzem Leinenkostüm, den Blick auf die im Schoß gefalteten Hände gerichtet, als wollte sie den schmucklosen Sarg vor sich gar nicht zur Kenntnis nehmen. In der Reihe dahinter saßen zwei von Miltons Töchtern. Aus ihren Mienen sprach abgrundtiefe Missbilligung. Da und dort tuschelte man in gedämpftem Ton, und so mancher reckte den Hals nach der Witwe, die in die vorderste Reihe verbannt war.

Mit hastigen Schritten stürmte eine Nachzüglerin herein, das Haar zerzaust und mit einer großen dunklen Sonnenbrille, die ihr Gesicht verbarg. Sie sah sich um, und als sie ihre Schwestern bemerkte, eilte sie zu ihnen. Einen Moment hielt sie inne und betrachtete die einsame Frauengestalt in der ersten Reihe, dann setzte sie sich demonstrativ direkt hinter sie, neben ihre Schwestern, die sie mit einem gemessenen Nicken begrüßten. Falls sich die junge Witwe der Gegenwart ihrer jüngsten Stieftochter bewusst war, ließ sie es sich nicht anmerken, aber alle anderen nahmen den Affront sehr wohl zur Kenntnis, und etliche quittierten ihn mit einem Stirnrunzeln.

Die Witwe richtete sich auf, als der Gottesdienst begann.

Es folgten die kurzen, aber bewegenden Trauerreden des Direktors der Galerie für Moderne Kunst, des Leiters des Internationalen Zentrums für Bildhauerei in Australien und Asien, des Gouverneurs von New South Wales sowie eines angesehenen Künstlers. Dieser erklärte, der berühmte verstorbene Bildhauer Milton Faranisi sei ein großes Geschenk für die Nation und habe maßgeblich am Erscheinungsbild und am internationalen Renommee der australischen Bildhauerei mitgewirkt.

»Milton Faranisi hat sich einen überragenden Ruf erworben«, sagte er. »Sein Werk wird die Jahrhunderte überdauern, als eine Herausforderung für unsere Sinne und unsere Deutung von Harmonie, Raum und Material erweitert es unseren Horizont in intellektueller, rationaler und emotionaler Hinsicht – und dies gilt für Miltons Werk in ebensolcher Weise, wie es für seine Persönlichkeit gegolten hat. Sein künstlerisches Vermächtnis – in Marmor, Bronze, Stein, Holz und Papier – wird auch künftigen Generationen ein Quell der Inspiration sein. Mit seinem Talent ragte Milton heraus aus der Schar seiner Zeitgenossen. Seine Begabung und seine Liebe zum Leben – von gleichermaßen majestätischer Größe – drohten einen gewöhnlichen Sterblichen mitunter fortzureißen. In Miltons Gegenwart konnte man sich nie des Eindrucks erwehren, dass man ein Genie vor sich hatte, das nur mit Hammer und Meißel in der Hand so richtig glücklich war.

Er hinterlässt eine wundervolle Familie mit drei reizenden Töchtern und einer hingebungsvollen Frau, doch es sind seine gewaltigen, ehrfurchtgebietenden Skulpturen, die weiterhin unsere Herzen, unseren Verstand und unsere Sinne anzusprechen vermögen, den Betrachter in ihren Bann schlagen und ihn fragen lassen: ›Was für ein Mensch konnte so etwas erschaffen?‹

Wir, die wir hier und heute versammelt sind, hatten das Glück, ihn kennen und lieben zu dürfen, und uns allen ist bewusst, dass es einen Mann wie Milton Faranisi kein zweites Mal geben wird.«

 

Der nächste Redner kam nicht aus der Welt der Kunst, sondern aus einer, die Milton schon lange hinter sich gelassen hatte: einem noch von Nachkriegswunden gezeichneten Italien. Der Mann erzählte von Miltons Eltern, die mit ihren kleinen Söhnen nach Australien ausgewandert waren und ihnen das Streben nach Stabilität, Beständigkeit und Schönheit mit auf den Weg gegeben hatten. So war es nicht zuletzt den Entbehrungen und dem Einfluss der Eltern zu verdanken, dass Miltons gewaltige Kreationen überall auf der Welt ausgestellt wurden, wo man sie als leuchtendes Beispiel für den dauerhaften Fußabdruck eines Menschen auf der Oberfläche unseres zunehmend fragilen und verletzlichen Planeten verstand.

Der vornehme alte Herr, ein Freund von Miltons Eltern, sprach mit dem leichten Akzent eines gebildeten Norditalieners und trug einen altmodischen Anzug aus dunklem glänzenden Stoff, der schon bessere Tage und glücklichere Anlässe gesehen hatte. Kerrie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln.

Die letzte Trauerrede hielt Miltons jüngste Tochter. Mit tränenüberströmtem Gesicht trat Alia ans Pult, griff nach dem Mikrophon und zog es näher heran.

»Mein Vater … war ein großartiger Mensch. Sie alle hier kennen ihn wegen seiner Arbeit, seines Charismas und … seiner Stellung draußen in der Welt.« Ihre Mundwinkel zuckten, doch es war schwer zu sagen, ob sie das Gesicht verzog oder lächelte. »Aber ich, wir wissen auch, dass er ein wunderbarer Vater war, fröhlich und liebevoll. Und so werden wir ihn in Erinnerung behalten, als den Vater, der seine kleinen Mädchen liebgehabt hat.« Sie drehte den Kopf, und ihre Augen hinter der dunklen Sonnenbrille schienen auf ihre Stiefmutter gerichtet, als sie hinzufügte: »Wir konnten dich nicht für uns allein haben, aber wir lieben dich, Daddy.«

Sie verließ das Podest, und als sie zu ihrem Platz zurückkehrte, drückten die beiden Schwestern kurz ihre Hand.

Daraufhin erhob sich in der vordersten Reihe die Witwe, in der Hand eine spektakuläre langstielige Helikonie, und schritt zum Sarg, küsste die blutrote Blume und legte sie auf den Sargdeckel. Während die anderen Trauergäste aufstanden und zum Abschluss ein Kirchenlied anstimmten, verließ Kerrie unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen die Kapelle und ging zur wartenden Limousine.

Der Chauffeur sprang heraus und hielt ihr die Tür auf. »Wohin, Mrs. Faranisi?«, fragte er.

Kerrie nahm ihre Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. »Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich habe es bloß in diesem vergifteten Klima nicht länger ausgehalten.«

»Soll ich einfach ein bisschen herumfahren, bis Sie sich wieder gesammelt haben?«, schlug er vor.

»Ja, gute Idee, danke.«

Kerrie lehnte sich zurück und schloss die Augen, während der Wagen die Kapelle hinter sich ließ, in der Miltons Töchter unbedingt die Trauerzeremonie für ihren Vater hatten abhalten wollen. »Milton, es tut mir leid, das war nicht die Art von Totenfeier, wie du sie gewollt hättest. Diese Förmlichkeit. Und all die Ansprachen. Ich bin mir sicher, dir wäre ein zwangloser Abschiedsumtrunk lieber gewesen, wo man bei ein paar Drinks die alten Zeiten hochleben lässt. Aber so haben es die Mädchen nun mal gewollt, diese Runde ging an sie«, entschuldigte sie sich im Geiste bei ihrem Gatten. Ihr ganzes Eheleben war ein einziger langer Kampf mit ihren Stieftöchtern gewesen. So sehr sie sich auch bemüht hatte, es ihnen recht zu machen, waren sie doch nie zufrieden gewesen. Jetzt fühlte sie sich zu erschöpft, um noch weiter zu kämpfen.

Für diese Feindseligkeit gab es nur einen Grund. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Milton die Mädchen verhätschelt und verzogen. Zwar hatte ihr Vater später durchaus einige Affären mit anderen Frauen gehabt, aber seine Töchter hatten diese Beziehungen nie als Bedrohung empfunden. Es gab kurze Techtelmechtel mit jungen Mädchen und sinnlichen Schauspielerinnen, mit Angehörigen des niederen europäischen Adels und älteren Damen, darunter auch eine Künstlerin, die mehr für ihre knallrote Perücke als für ihre Kunst bekannt war. Trotz all dieser Eskapaden lebten die Mädchen stets in der Gewissheit, dass er sie am meisten liebte. Diesen flüchtigen Beziehungen maßen sie keinerlei Bedeutung bei, sie gingen mit einem Seufzer und einer neckischen Bemerkung darüber hinweg, wenn er wieder einmal mit einer neuen Frau Leben und Bett teilte. Damit kamen sie bestens zurecht – bis er Kerrie kennenlernte.

»Hier geht es nicht weiter, Mrs. Faranisi«, sagte der Chauffeur und hielt an.

»Oh, ich war ganz in Gedanken versunken. Stimmt, wir sind an der Watsons Bay.« Sie blickte zu dem kleinen historischen Leuchtturm auf der zerklüfteten Landzunge hinüber. Darunter fielen atemberaubende Klippen zum Meer hin ab.

»Es geht mich nichts an, aber ich dachte, vielleicht wollen Sie zum Strand hinuntergehen und ein Glas Wein trinken oder auch etwas essen?«

»Ja, etwas zu trinken täte mir jetzt gut, auch wenn ich nichts essen werde.«

Die Erinnerung daran, wie sie mit Milton im Strandrestaurant der Watsons Bay die einfachen Fischgerichte genossen hatte, trieb ihr eine Träne ins Auge. Doch dann merkte sie, dass sie ausgesprochen hungrig war. Ja, sie konnte sich nicht erinnern, in den letzten Tagen seit Miltons plötzlichem Herzversagen überhaupt etwas Richtiges gegessen zu haben.

Man führte sie zu einem schattigen Tisch etwas seitlich vom Restaurant. Die Speisekarte vor sich, beobachtete sie eine Familie beim Essen, während die Kleinen im Sand vor den Tischen im Freien spielten. Zwar war der junge Kellner sehr aufmerksam, und der Besitzer erschien, um ihr sein Beileid auszusprechen, aber Kerrie spürte deutlich, dass es ohne Milton auch an ihren Lieblingsplätzen nicht mehr so sein würde wie früher. Im Geiste sah sie ihn ihr gegenübersitzen, seine Silhouette vor dem Wasser, wie er sich in seinem Sessel zurücklehnte und die Aussicht und das Ambiente auf sich wirken ließ. Während ihrer zwanzigjährigen Ehe war er immer ein anregender und interessanter Gesprächspartner gewesen. Smalltalk war nicht seine Sache. Er redete lieber über Kunst und Geschichte, erzählte von Menschen, die er kennengelernt hatte, von Familiengeschichten aus Italien, den beschwerlichen Tagen seiner Kindheit und seinen Zukunftsträumen. Trotz seines enormen Erfolgs hatte Milton nie geglaubt, ganz oben angekommen zu sein. Er wollte noch so viel erschaffen, so viel erreichen.

Bei diesen Erinnerungen konnte Kerrie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Rasch tupfte sie sich die Augen und nahm einen Schluck Eiswasser.

Zwanzig Jahre zuvor

Da sich die Kunsthochschule am unteren Ende der George Street in Sydney befand, nahm Kerrie dreimal in der Woche die Fähre von Manly zum Circular Quay. Anfangs fand sie den Zeichenunterricht mit seiner Detailversessenheit frustrierend, sie hätte lieber kühn Farbe auf die Leinwand gespritzt und ihrer Kreativität freien Lauf gelassen, anstatt sich mit Bleistift- und Kohlezeichnungen abzuquälen. Aber allmählich erlernte sie den Umgang mit dem Bleistift und auch die Techniken von Form, Gestalt, Perspektive und Symmetrie. Ihr Lehrer erklärte, die Beherrschung dieser Grundlagen gebe ihr die Freiheit, »sich emporzuschwingen wie ein Vogel, kontrolliert zu fliegen und sicher zu landen. Es mag natürlich und mühelos erscheinen, aber man benutzt sein inhärentes Wissen um die Aerodynamik und die physischen Gegebenheiten – seien es Federn oder ein Stift –, um diese Freiheit zu erringen«. Widerstrebend musste sie ihm recht geben.

Kerrie trug stets ein kleines Skizzenbuch und einen gespitzten Bleistift mit sich, und wenn etwas – eine Szene, eine Gestalt, eine Figur oder ein Ausdruck – ihre Aufmerksamkeit erregte, versuchte sie es mit einer flüchtigen Zeichnung auf eine Seite ihres Buches zu bannen. Oft bat ihr Lehrer sie, ihm das Skizzenbuch zu zeigen, machte dann eine Bemerkung oder einen Vorschlag dazu, und am Ende gab er es stets mit einem Nicken und einem knappen »Machen Sie so weiter« zurück.

Wenn möglich, hatte Kerrie auch einen Aquarellkasten dabei und kolorierte damit rasch eine Bleistiftzeichnung oder hielt eine Szene mit Aquarellfarben fest. Mit der Zeit lernte sie den scheinbar unberechenbaren Verlauf der Farbe auf dem Papier zu beherrschen, und auch wenn dabei etwas herauskam, was sie so nicht geplant hatte, war sie von dem Ergebnis oft angenehm überrascht.

Sie experimentierte mit Akt- und Porträtzeichnungen, mit Landschaftsmalerei und Aquarellen und belegte die kurzen Pflichtkurse in Bildhauerei und Zeichenkunst. Mit ihren Kommilitonen ging sie oft in Museen und Galerien, und im letzten Studienjahr wurde ihre Klasse zu einer Ausstellung und einem Vortrag des berühmten Bildhauers Milton Faranisi eingeladen.

Die Galerie, in der die Ausstellung stattfand, verfügte über einen luftigen, weißgetünchten Raum mit hohen Decken, dahinter lag ein weitläufiger Innenhof, wo die Skulpturen im Dämmerlicht leuchteten. Faranisis spektakuläre Werke und Figuren, die das Thema »Trennung« interpretierten, nahmen sich riesig aus im Vergleich zu den im Hof umherschlendernden Besuchern.

Kerrie war hingerissen. Bildhauerei hatte sie nie besonders interessiert oder emotional berührt. Ihrer Meinung nach wirkten die harten Oberflächen kalt und machten es schwierig, die Intention des Künstlers zu erkennen. Doch diese Werke hatten etwas an sich, was sie ihre früheren Ansichten und Vorurteile überdenken ließ.

»Ein Mordsspektakel, was?«, meinte Sam, ein Kommilitone, der sich zu ihr gesellt hatte. Seine Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht, sein Gesicht glänzte schweißnass in dem Gedränge, während er mit einer Zigarette, einem Glas Wein und einer kleinen Frühlingsrolle gleichzeitig hantierte.

»Ein fantastischer Ausstellungsrahmen«, pflichtete Kerrie ihm bei. »Stell dir vor, du hättest so einen Raum, um deine Werke zu präsentieren.«

»Hohe Kunst, hoher Preis«, sagte Sam.

»Faranisi hat auf jeden Fall eine außergewöhnliche Begabung«, meinte Kerrie. »Normalerweise bin ich ja kein Fan von solchen Großformaten. Die hier wirken aber nicht nur durch ihre Dimensionen, sondern auch durch etwas anderes – eine Empfindsamkeit, eine Leichtigkeit, die eigentlich gar nicht zur Schwere des Materials passt.«

»Form, Gestalt und Material sind ja durchaus solide, aber mir erscheint der Gebrauch von Hammer und Meißel weniger kunstvoll als der Umgang mit dem Pinsel. Man braucht ganz schön viel Kraft, um so etwas zustande zu bringen.«

Kerrie lächelte den schmächtigen Kunststudenten neben ihr an, der aussah, als könnte er einen Hammer nicht einmal hochheben.

»Da hast du recht, Sam. An deiner Stelle würde ich auch bei der Malerei bleiben.«

Mehr und mehr Leute trafen ein, und in dem vorher Zen-artig wirkenden Raum war es jetzt so voll, dass die Kellner mit ihren Getränke- und Häppchentabletts nur mühsam durchkamen. Angesichts der gespannten und erwartungsvollen Atmosphäre beschloss die Galeristin, mit ihrer Vorstellung des Bildhauers nicht länger zu warten.

Stephanie Oates, die angesehene Leiterin des Gallery Museum of Modern Art, bat um Ruhe und verkündete: »Meine Damen und Herren, Milton Faranisi.«

Er trat durch eine Seitentür ein, schüttelte der Galeristin höflich die Hand und stellte sich lächelnd neben sie. Es war kein extravaganter Auftritt, doch seine Präsenz erfüllte den Raum und nahm alle gefangen. Als die Galeristin ihre Begrüßungsworte sprach und sich bei sämtlichen an der Ausstellung Mitwirkenden bedankte, stand der Schöpfer der Werke mit verschränkten Armen da und blickte auf die Menge. Während der Rede betrachtete Kerrie Milton Faranisi von der Seite.

Wie gern hätte sie jetzt eine Skizze von seinem markanten Profil gemacht, dem dichten kräftigen Haar, der Hakennase und dem leicht amüsierten Ausdruck, der um seinen Mund spielte. Er war groß und kräftig und schien damit Sams Einschätzung zu bestätigen, dass man als Bildhauer Kraft brauchte. Er trug ein cremefarbenes Leinensakko zu einer braunen Hose, ein cremefarbenes Hemd und eine dezente Krawatte. Dafür, dass er im Ruf eines richtigen Lebemannes stand, fand sie seinen konservativen Aufzug ein bisschen enttäuschend. Dann fielen ihr seine teuren Lederslipper auf, der Gürtel, der ein Designerprodukt zu sein schien, und seine edle Uhr.

Als hätte er ihren prüfenden Blick bemerkt, drehte er sich um und sah sie unvermittelt an. Seine dunkelgrünen Augen starrten sie an, was sie erröten ließ, doch sie hielt seinem Blick stand. Seine Augen verengten sich ein wenig, und seine Lippen verzogen sich zu einem flüchtigen Lächeln. Dann wandte er sich schon wieder ab, so dass Kerrie sich fühlte, als wäre sie bei einem kindischen Streich ertappt worden.

Unterdessen lobte Stephanie Oates das Werk Faranisis in den höchsten Tönen: »Er führt die Tradition der großen europäischen Bildhauer fort, die mit neuen Medien, neuen Stoffen und neuen Konstruktionen Grenzen ausloten und dabei dennoch mit dem Betrachter kommunizieren, der die Zeit und die Mühe investiert, um diese neuen bildhauerischen Formen zu erkunden. Ich wage die Prognose, dass seine Arbeiten bald überall auf der Welt bei Museen, Galerien und Unternehmen überaus gefragt sein werden. Und da Faranisis Werk sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch des Erfolgs erheblichen Zuwachs haben wird, ist es uns eine ganz besondere Freude, Ihnen in unseren Räumen eine so wundervolle Sammlung prächtiger Stücke präsentieren zu können. Sicherlich werden Sie mir beipflichten, dass sie in ihrer Geballtheit an einem einzigen Ort eine ungeheure Wirkung entfalten.«

Es gab nur spärlichen Applaus, denn den meisten Gästen fiel es schwer, mit einem Drink, einem Katalog und Kanapees in den Händen zu klatschen.

Stephanie schloss mit den Worten: »Milton Faranisi hat Naturwissenschaften, Zeichnung, Architektur und Technik studiert, und ich bin mir sicher, er könnte in jedem dieser Bereiche Großartiges vollbringen. Seine Fertigkeiten fließen in seine Arbeit mit ein: Sie können sehen, wie sich seine Kenntnisse in den wunderbaren Werken manifestieren, die wir Ihnen heute in unserer Ausstellung zeigen können. Wir begrüßen seine Hingabe an die Kunst, seine Energie, seinen Enthusiasmus, und dass er dies heute mit uns teilt. Bitte heißen Sie Milton Faranisi willkommen!«

 

Der Bildhauer hielt eine elegante, aber kurze Ansprache, an deren Ende er Stephanie, seinen Freunden und Künstlerkollegen und den Kunstmanagern dankte, die seine Arbeit unterstützt hatten. Danach trat er zur Seite, um sich den Fotografen und Fernsehkameras zu präsentieren.

»Ich freue mich auf seine Vorlesung nächste Woche«, sagte Kerrie zu Sam.

»Was soll das bringen? Wir sind doch keine Bildhauer.«

Kerrie zuckte mit den Achseln. »Stephanie Oates hat gesagt, dass Milton Faranisi Zeichnen, Architektur und Technik studiert hat. Er denkt nicht so eng. Wir könnten von ihm etwas lernen, was uns weiterbringt.«

»Das interessiert mich überhaupt nicht. Dich etwa? Du sagst sonst doch immer, du willst nur malen.«

»Vielleicht erweitert es meinen Horizont – man kann ja nie wissen. Ich schaue mir draußen noch mal seine Skulpturen an, da scheint es jetzt nicht mehr so voll zu sein.«

Kerrie ging in den Hof hinaus. Die meisten Leute hielten sich drinnen auf und taten sich an dem kostenlosen Wein gütlich. Daher konnte sie sich Zeit lassen, umrundete jedes der Exponate und begutachtete die unterschiedlichen Oberflächen der dreidimensionalen Formen. Vor einer Skulptur namens »Ferne Zukunft« blieb sie stehen und berührte den kühlen Stein, der so zart und federleicht aussah, sich aber massiv und erdverbunden anfühlte.

»Aha, Sie konnten also nicht widerstehen. Was fühlen Sie?«

Kerrie fuhr herum und sah Milton Faranisi, der sie belustigt anschaute. Ehe sie reagieren konnte, hatte er seine Hand auf die ihre gelegt.

»Oh, Verzeihung. Es wirkt so zart, beinahe durchscheinend, da dachte ich fast, es wäre innen hohl«, entschuldigte sich Kerrie.

»Spüren Sie die kleinen Riefen, die von meinen Werkzeugen stammen, und die Kraft in diesem Stein? Es freut mich, dass Sie die Skulptur als etwa Leichtes empfinden. Die kleine Kugel versinnbildlicht einen fernen Planeten, der jeden Moment in die Nacht davonfliegen kann. Als Bildhauer habe ich versucht, dreidimensionale Denkweisen anzuwenden und abstraktes Denken physisch umzusetzen, wobei mir der Intellekt die Hand führt.« Er hielt immer noch ihre Hand umfasst. »Sind Sie Künstlerin?«

Kerrie war klar, dass der ältere Mann mit ihr flirtete, und sie fühlte sich insgeheim geschmeichelt. Aber unwillkürlich war sie auch beeindruckt von der Art, wie er seine Arbeit beschrieb. »Nicht wirklich. Ich studiere Kunst an der Armitage School.«

Er nickte. »Dort bekommt man eine solide formale Ausbildung. Es ist ein guter Studiengang, aber man wird nicht unbedingt ein großer Künstler, nur weil man die Klassen besucht. Ich halte demnächst einen Vortrag vor Studenten der Armitage. Dann treffen wir uns hoffentlich wieder?« Er sah Stephanie Oates näher kommen. »Entschuldigen Sie mich, ich muss mich bei Stephanie für ihre freundlichen Worte bedanken.« Er drückte noch einmal sachte ihre Hand und ließ sie dann los.

 

Die Weißwandtafel neben dem Rednerpult war übersät mit Skizzen und Darstellungen. Die vierzig Studenten im Hörsaal wirkten etwas benommen angesichts des Schwalls an Informationen, Beispielen und Anekdoten, mit denen Milton Faranisi sie förmlich überschüttete.

Was Kerrie beeindruckte, war nicht nur die Klugheit des Bildhauers, sondern auch seine unterhaltsame Art. Selbst Sam war höchst angetan von Miltons Eloquenz und den Ideen, mit denen er die Geschichte der Bildhauerei und das Verhältnis zwischen zeitgenössischer und klassischer Bildhauerei erläuterte:

»Der Schlüssel zu Ihrem Studium liegt darin, jenen Moment der Wahrheit zu erreichen, den man den ›Durchbruch‹ nennt – wenn Sie feststellen, dass Sie aus Ihrem Instinkt heraus arbeiten. Dann wissen Sie einfach, dass Sie bereit sind, mit dem Herzen, mit dem Verstand wie auch mit Ihrem Körper schöpferisch tätig zu werden. In diesem Moment beginnen Sie, auf sich selbst zu vertrauen und aus sich selbst heraus kreativ zu sein. Die Macht, die Weisheit, der Geist in Ihrem Inneren werden aufblühen und Ihnen die Freiheit geben, Ihre eigene Kunst zu verwirklichen, auf Ihre ganz persönliche Weise. Lassen Sie sich nicht ablenken, lassen Sie sich nicht vom Mammon verführen, fallen Sie nicht auf die Mittelsmänner und Händler herein, die nur Ihr Talent ausbeuten wollen. Bleiben Sie sich selbst und Ihrer Kunst treu.«

 

»Er ist unwiderstehlich, aber ich wette, den Kunstakademien passt es gar nicht, dass er die Studenten ermuntert, auszusteigen und es auf eigene Faust zu probieren«, bemerkte Sam.

»Durch ihn bekomme ich Lust, Neues auszuprobieren. Ich will richtig experimentieren«, sagte Kerrie.

»Ich glaube, er erinnert sich, dass du in seiner Ausstellung warst. Merkst du, wie er immer wieder zu dir rüberguckt?«, neckte Sam sie.

»Meinst du?«, erwiderte sie unschuldig. Tatsächlich hatten sich ihre und Miltons Blicke bereits ein paar Mal gekreuzt, und Kerrie war durchaus überzeugt, dass er sich an sie erinnerte.

»Komm, Kerrie, schauen wir mal, ob er dich noch kennt.« Am Ende der Vorlesung stand Sam auf und zwängte sich aus der Sitzreihe nach vorn, wo der Bildhauer bereits von Studenten umringt stand.

Als auch Kerrie näher gekommen war, sprach Milton Faranisi sie sofort an. »Sie waren neulich in meiner Ausstellung, nicht wahr?« Kerrie nickte, was er mit einem Lächeln quittierte. »Hat Ihnen meine Vorlesung gefallen? Fanden Sie sie nützlich?«

»Ja, das fanden wir alle. Sie war sehr inspirierend.«

»Und wie heißen Sie?«

»Kerrie. Kerrie Jackson.«

 

Sie dachte nicht weiter über ihre Begegnung mit Milton Faranisi nach. Schließlich lebte er in einer ganz anderen Welt. Als er aber an der Kunstakademie auftauchte und nach ihr suchte, war sie dennoch nicht übermäßig überrascht.

Nach dem Kurs holte er sie ab und nahm sie in ein Weinlokal mit, wo sie sich in eine dunkle Ecke setzten und plauderten, lachten und über die Kunst und das Leben diskutierten. Sie fragte ihn über die Bildhauerei aus, versuchte ihm Informationen zu entlocken, als wäre sie in einer Art Meisterklasse. Milton wiederum genoss es offensichtlich, ganz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der hübschen jungen Frau zu stehen. Ihr war nicht ganz klar, warum er mit ihr hatte ausgehen wollen, zumal er keinerlei Annäherungsversuche unternahm. Und da sie nicht über private Dinge sprachen, wusste sie nicht einmal, ob er eine Partnerin hatte.

Sie überlegte, ob sie seine Biographie recherchieren sollte, schalt sich dann aber selbst. Was sollte das bringen? Warum sollte dieser gebildete und kluge Mann an einer jungen Kunststudentin interessiert sein? Später las sie aber doch seine Biographie und erfuhr, dass er verwitwet war. Einige Jahre zuvor war seine Frau gestorben, eine betuchte Brasilianerin, so dass er seine drei Töchter fortan allein großziehen musste.

Zwei Tage darauf lud Milton sie zum Abendessen ein. Das kam für sie überraschend, doch sie nahm die Einladung an. Als sie sich zum Ausgehen zurechtmachte, ertappte sie sich dabei, wie sie ihre erotische Spitzenunterwäsche anzog. Sie hielt inne und lachte über sich selbst. Hatte sie etwa die Absicht, mit dem berühmten Bildhauer ins Bett zu gehen? Sie wusste, dass sie ihm nicht mehr bieten konnte als ihren Körper und ihre Aufmerksamkeit. Aber sie mochte sein Lächeln, seinen warmen, wachen Blick, seine Geschichten und Anekdoten und seine Pläne für künftige Projekte, von denen er ihr erzählt hatte.

»Ich nehme es einfach, wie es kommt«, sagte sie sich.

Und wie sie sich eingestehen musste, fand sie ihn körperlich sehr anziehend, ja sogar erregend, als sie ihm gegenüber in einem kleinen italienischen Restaurant saß. Sein dunkles T-Shirt über seiner muskulösen Brust und den breiten Schultern lag eng an. Dazu trug er eine Jeans, die unter seinem straffen Bauch gegürtet war. Seine Arme waren sonnengebräunt, am Handgelenk prangte eine teure Uhr. Seine Manieren waren tadellos, und wären seine Hände nicht rauh und schwielig gewesen, hätte man kaum geglaubt, dass dieser Mann einer körperlichen Arbeit nachging.

Er erkundigte sich nach ihren Plänen für die Zeit nach der Kunstakademie.

»Ich habe noch keine«, räumte Kerrie freimütig ein. »Keine Ahnung, ob ich gut bin. Und selbst wenn ich ein gewisses Talent habe, ist ja nicht gesagt, dass ich von meiner Kunst auch leben kann.«

»Das stimmt, als Künstler Fuß zu fassen ist nicht leicht. Sie müssen wirklich an sich selbst glauben. Machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie Opfer bringen müssen und viel Glück brauchen. Es wird kein Zuckerschlecken, nicht einmal wenn Sie talentiert sind, was ja vielleicht gar nicht der Fall ist. Und was Sie vielleicht nie erfahren werden. Durchhalten können Sie das nur, wenn Sie ohne Kunst nicht leben können. Empfinden Sie das so? Jedenfalls sollten Sie die Risiken gut abwägen, bevor Sie sagen, Sie wollen Künstlerin werden.«

Kerrie starrte auf ihren Teller mit Pasta und hatte das Gefühl, vier Jahre ihres Lebens vergeudet zu haben. Da legte er seine Hand auf die ihre. »Vielleicht brauchen Sie einen Gönner, einen Mäzen, so wie früher. Oder Sie heiraten einen reichen Mann, der Ihnen Ihre Kunst finanziert.«

»Ja, klar doch, was sonst«, gab Kerrie zurück, die Wangen gerötet vor Zorn.

Milton zog seine Hand zurück und zuckte mit den Schultern. »Unter den richtigen Voraussetzungen – Liebe, Lust, Sex – könnte so ein Arrangement durchaus funktionieren.«

»Haben Sie auch so angefangen?«, fragte Kerrie verärgert.

Milton lehnte sich zurück, musterte Kerrie amüsiert und hob sein Glas. »Eins zu null für Sie. Sie haben recht. Das war taktlos.«

Kerrie trank einen Schluck Wein und setzte ein unergründliches Lächeln auf. »Entschuldigung akzeptiert. Apropos, wie hat bei Ihnen alles angefangen?«

Als sie beim Nachtisch angelangt waren, erzählte Milton von seinem Leben in Rom und von seinen Lehrjahren bei einem berühmten Bildhauer, der Rodin nacheiferte und mit Vorliebe klassische Figuren schuf. »Ich bewundere Rodin, aber ich habe nicht eingesehen, warum ich zu einem schlechten australischen Epigonen werden sollte. Andererseits ist eine Lehre recht nützlich. Ich habe viele Fertigkeiten erlernt, danach habe ich aufbegehrt und meinen eigenen Weg eingeschlagen – so muss es sein.«

»Aber Sie haben ja von den Fertigkeiten profitiert, die Sie erlernt haben, nicht wahr? Dann ist meine Zeit an der Kunsthochschule also nicht verschwendet?«

»Alles, was man lernt, kann von Nutzen sein. Es ist erstaunlich, wo man sein Wissen überall einsetzen kann. Doch was Sie sich fragen müssen, ist: Warum will ich Künstlerin werden? Wie wichtig ist mir das? Warum tue ich das? Für mein Selbstgefühl? Oder für Geld oder Ruhm? Wenn Sie nie ein Bild verkaufen, nie echte Anerkennung bekommen, machen Sie dann trotzdem weiter?« Er hielt inne. »Verzeihen Sie meine Suada.«

Kerrie schaute von ihrem Teller auf und erklärte mit fester, ruhiger Stimme: »Ich werde eines Tages den Durchbruch als Künstlerin schaffen, und zwar auf meine Weise.«

Er sah in ihre blitzenden Augen und lächelte. »Schön für Sie. Ich hoffe, Sie haben recht. Darf es noch ein Kaffee sein? Ein Digestif?«

Kerrie schüttelte den Kopf. »Nein danke. Es war ein wunderbarer Abend. Sie haben mich nachdenklich gestimmt.«

»Ich habe Ihre Gesellschaft sehr genossen. Sonst hört mir nie jemand zu.« Er lächelte. »Meine Töchter behandeln mich wie einen alten Mann und sind im Grunde noch zu jung, um meine Arbeit zu begreifen.«

»Ihre Töchter … gehen die noch zur Schule?«, fragte Kerrie. Sie hatte keine Ahnung, wie alt sie waren, aber Milton sah höchstens wie vierzig aus.

»Die älteren kommen gerade ins Teenageralter, werden aber schon rebellisch. Ich verbringe wohl nicht so viel Zeit mit ihnen, wie ich sollte. Irgendwie bin ich ständig unterwegs, weil ich neuerdings auch Aufträge aus dem Ausland bekomme. Na, jedenfalls finden sie mich total uninteressant. Vielleicht können Sie mir helfen, ein bisschen ›relaxter‹ zu sein, wie sie es nennen.« Er lächelte Kerrie an. »Haben Sie Mitleid mit einem alten Mann von fünfundvierzig Jahren und nehmen Sie ihn zum Tanzen oder in Clubs mit oder was immer Sie so machen, um sich zu amüsieren. Dann werden mich meine Töchter nicht mehr so langweilig finden.«

»Das tun sie bestimmt nicht«, erwiderte Kerrie wie aus der Pistole geschossen. »Ich finde Sie jedenfalls nicht langweilig.«

»Gut, dann sind beim nächsten Mal Sie dran. Gehen Sie noch mal mit mir aus, aber dann schlagen Sie das Lokal vor … einen Club, eine Kneipe? Oder ist es Ihnen peinlich, sich mit mir sehen zu lassen?«

»Natürlich nicht«, lachte Kerrie. »Aber Sie werden sich dort nicht unbedingt wohl fühlen. Hektisch blinkende Lichter, laute Musik, rappelvolle Tanzflächen, überteuerte Cocktails. Leute, die Joints und anderes herumreichen.« All das sprudelte aus ihr heraus, denn sie glaubte, dass er das jetzt von ihr erwartete. Es war die Art von Abendgestaltung, zu der ihre Freunde sie immer mitnehmen wollten, die ihr aber, wenn sie ehrlich war, gar nicht zusagte. Den ganzen Abend gegen laute Musik anzubrüllen, um sich verständlich zu machen, das war nicht ihre Welt. Auch glaubte sie nicht, dass Milton auf so etwas wirklich Lust hatte. Doch es gefiel ihr, dass er mehr Zeit mit ihr verbringen wollte, und zwar zu ihren Bedingungen.

»Das kommt mir bekannt vor, ist aber schon ein paar Jahre her. Ach ja, Positano. Davon erzähle ich Ihnen gelegentlich mal. Wollen wir gehen?«

Kerrie nahm ihre Tasche und schob ihren Stuhl zurück.

»Ich habe es ernst gemeint mit dem Ausgehen und Tanzen und Die-Nacht-Durchmachen«, beteuerte er, als er aufstand.

»Wenn Sie wirklich meinen«, sagte sie. »Ich hoffe, Ihre Töchter sind dann beeindruckt.«

»Das tue ich nicht meinen Kindern zuliebe«, widersprach er sich, »sondern weil ich es selbst will. Sie wählen das Lokal aus. Würde Ihnen Donnerstagabend passen?«

 

Überraschenderweise bekundeten sie beide nach diesem Donnerstagabend übereinstimmend, dass sie sich sehr amüsiert hätten. Kerrie hatte ihre Freunde gefragt, wo man am besten zum Tanzen hinging, und den perfekten Tipp bekommen. Sie fühlte sich komisch dabei, mit einem Mann, der ihr Vater hätte sein können – wenn auch ein sehr junger –, in einen schicken Club zu gehen. So tanzten sie und Milton anfangs noch etwas unbeholfen miteinander, doch als es auf der Tanzfläche voller wurde, kamen sie sich näher. Sie wirbelten wild herum oder hielten sich umschlungen, und zum Rhythmus von Madonnas »Vogue« schmiegten sich ihre Körper sinnlich aneinander.

In dieser berauschenden Atmosphäre, angeregt durch die Musik und schnell hinuntergekippte Drinks, verlor Kerrie allmählich ihre Hemmungen. Nun kümmerte es sie nicht mehr, was irgendwelche Leute über ihren Begleiter dachten. Als sie sich später nach hinten zur Bar durchkämpften, stellte Kerrie fest, dass eine attraktive Kellnerin Milton schöne Augen machte, was er sich anscheinend gerne gefallen ließ. Danach knüpfte er ein Gespräch mit zwei Mädchen an, die neben ihnen an der Bar etwas tranken, und da regte sich plötzlich Eifersucht in ihr. Er war unterhaltsam und wirkte auf Frauen anziehend, das stand außer Frage. Natürlich ahnten diese Mädchen nicht, dass er eine Berühmtheit war. Erst als ein zufällig vorbeikommender Fotograf Milton entdeckte und ein Bild von ihm schoss, wie er den Arm um Kerrie legte, fragte eine von ihnen: »Wer ist denn dein Freund? Ein Prominenter?«

»Nur mein Lieblingsonkel«, erwiderte Kerrie lässig, was die Mädchen mit ungläubigem Johlen quittierten.

Als Milton Kerrie nach Hause brachte, küsste er sie leidenschaftlich, doch zu ihrer Enttäuschung löste er sich dann sachte von ihr.

»Zu viel Wein. Schlaf jetzt lieber. Ich rufe dich bald an.«

»Bist du jetzt relaxter?«, fragte sie und schmiegte sich an ihn. »Es macht Spaß mit dir. Jedes zweite Mädchen dort drinnen fand dich heiß.«

»Zum Glück hatte ich dich dabei. Gute Nacht, Kerrie«, sagte er, als sie ins Haus ging.

Zwei Tage später stand Kerrie in ihrer Klasse plötzlich im Mittelpunkt des Interesses, weil ein Foto von ihr und Milton in der Zeitung erschienen war. Ihre Freunde zogen sie damit auf.

»Nimmst du jetzt Privatunterricht?«

»Oder stehst du vielleicht für den Meister Modell?«

Doch sie lächelte nur still in sich hinein. Es war Sam, der ihr zur Vorsicht riet. »Pass auf dich auf, Kerrie. Denk daran, dass du nicht die Erste bist und nicht die Letzte sein wirst.«

»Da sagst du mir nichts Neues, Sam«, gab sie zurück. »Außerdem lerne ich viel.«

»Das glaube ich gern.«

»Nicht so, wie du denkst. Ich habe jedenfalls nicht mit ihm geschlafen, falls du darauf hinauswillst«, sagte Kerrie. »Obwohl es dich auch nichts anginge.«

»Was nicht ist, kann ja noch werden.«

Kerrie lachte. »Mal sehen.«

 

Kerries Mutter freute sich darüber, dass ihre Tochter offenbar frisch verliebt war. Allerdings war sie erstaunt, als ihr eine Freundin aus dem Bridge-Club das Foto von Kerrie und Milton in der Diskothek zeigte.

»Kerrie, ist das der Mann, mit dem du zusammen bist?«

»Wir sind nur zusammen ausgegangen, Mum.«

»Aber als du gesagt hast, du würdest mit einem Bildhauer ausgehen, dachte ich, es wäre jemand aus deiner Kunsthochschule. Ein Student, kein Dozent. Du bist erst zweiundzwanzig, und dieser Mann sieht so viel älter aus. Ich weiß nicht, was dein Vater davon gehalten hätte.«

Kerrie wartete auf weitere Kommentare zu ihrem verstorbenen Vater, den sie mit elf Jahren verloren hatte. Während Kerrie ihn in liebevoller Erinnerung behalten hatte, war ihre Mutter der Meinung, dass ihm kein anderer Mann je das Wasser reichen könne. Also widmete sich Glynis Jackson künftig ihrem Heim, das sie zusammen mit ihm aufgebaut hatte, und der Erziehung ihres einzigen Kindes. Sie hatte als Sekretärin in einer kleinen Baufirma gearbeitet, aber ihr Gatte hatte ihr genug vermacht, dass sie komfortabel in ihrem Haus im Vorort Northern Beaches leben und Kerrie auf eine gute Schule schicken konnte.

Kerrie fand an der Hingabe ihrer Mutter nichts Verwerfliches. Das Einzige, was sie ihr vorwarf, war, dass sie so wenig unter Leute ging. Die beste Freundin ihrer Mutter war die Schwester ihres verstorbenen Mannes, deren beide Söhne in anderen Bundesstaaten arbeiteten und selten zu Besuch kamen. Deshalb hatten Verwandte in Kerries Kindheit keine große Rolle gespielt. Sogar Weihnachten hatten die beiden immer nur zu zweit verbracht, meist mit einem Picknick am Strand. Sonst gingen sie gelegentlich zu Grillfesten zu ihren Nachbarn. Als Jugendliche hatte Kerrie ab und zu bei den Familien ihrer Freundinnen übernachtet, war aber kaum jemals länger als eine Nacht weg gewesen.

»Na, ich hoffe, du weißt, was du tust, Kerrie. Ältere Männer sind manchmal ziemlich … unverbindlich. Erwarte dir nicht zu viel. Ich will nicht, dass du leidest«, sagte ihre Mutter.

Kerrie amüsierte sich über diesen Rat, denn Glynis hatte immer erklärt, dass Kerries Vater der erste und einzige Mann in ihrem Leben gewesen war. »Das klingt ja, als würdest du dich auskennen, Mum. Keine Sorge, wir haben einfach nur Spaß zusammen.«

»Nichts für ungut, Liebes, aber warum um alles auf der Welt sollte sich ein so niveauvoller Mann wie Milton Faranisi für dich interessieren? Ich weiß, du bist jung und hübsch, aber vielleicht bist du für ihn auch nur eine leichte Beute.«

Kerrie musste über diese unverblümte Bemerkung lachen. »Er sagt, durch mich fühlt er sich jung. Es gefällt ihm, dass ich mich so für seine Arbeit interessiere. Und ich stelle keine Forderungen an ihn. Seine Töchter sind noch ziemlich jung, anregende Gespräche kann er mit ihnen nicht führen.«

»Er hat also Familie? Hast du sie schon kennengelernt?«

»Ach, Mum, entspann dich«, lachte Kerrie. »Mir geht es gut, ich habe Spaß mit ihm, irgendwelche Hintergedanken gibt es nicht, versprochen.«

»Na, hoffentlich hast du recht.«

»Er ist kein schlechter Mensch, Mum. Er sprüht vor Leben, ist gütig und großzügig. Ich weiß, wie berühmt er in Australien ist, aber er gibt mir das Gefühl, dass ich auch wichtig bin. Wir führen wirklich tolle Gespräche miteinander«, setzte Kerrie nachdrücklich hinzu.

»Gespräche!«, schnaubte ihre Mutter. »Ich kann nur hoffen, dass du weißt, was du tust. Bitte gib auf dich acht.«

»Mum, es ist alles in Ordnung. Du machst dir zu viele Sorgen, das ist ganz unnötig.«

 

Tatsächlich wurden Kerrie und Milton ein Paar, und Kerrie fühlte sich so fraulich und sinnlich wie noch nie. Milton war ganz anders als die Jungs, mit denen sie bisher Sex gehabt hatte. Damals hatte sie geglaubt, sie wären von ihr fasziniert und total verliebt in sie. Doch jetzt erkannte sie, wie oberflächlich sie gewesen waren und dass sie nur ihre eigenen Bedürfnisse hatten befriedigen wollen.

Milton war ganz anders. Er bereitete ihr Lust, nahm sich Zeit, spielte mit ihr, neckte sie, befriedigte sie. Manchmal ließ sie den Unterricht ausfallen und vertändelte einen Nachmittag in seinem Atelier, wo ein Einzelbett stand und ein langer Tisch, vollgestellt mit handbemalten Schalen, leeren Pizzaschachteln, einer Weinkaraffe und Skizzenbüchern. Auf einem Regal lagen ein paar Kleidungsstücke. Es gab eine kleine Küche und einen Garten mit einer Freiluftdusche, die am Hausdach eingehängt war. Der Boden bestand aus Holzlatten, darunter lief das Wasser in den Garten ab, wo aus einem kleinen Teich eine von Miltons Bronzestatuen aufragte. Auf einem großen betonierten Platz am Ende der Einfahrt befand sich ein spezielles Schwerlastgerüst mit einem Flaschenzug zum Heben schwerer Steine. In einem Schuppen waren eine Schmiede und eine Drechslerei eingerichtet. Hier gab es mehr Geräte und Maschinen zum Anfertigen von Güssen und Abdrücken als an der Kunsthochschule.

Kerrie war sehr angetan von Miltons Atelier, einem großen, von einer dichten Bambushecke umgebenen Areal in der Innenstadt. Wäre nicht das Hämmern und der Lärm der Maschinen gewesen, mit denen Milton arbeitete, hätte wohl kaum jemand von dieser Oase gewusst.

Ein paar Mal, wenn seine Töchter in der Schule waren, hatte er Kerrie in sein Haus mitgenommen. Es war ein weitläufiges Anwesen in Rose Bay mit Panoramafenstern, Swimmingpool und einem verwilderten Garten. Als Kerrie einen Blick in die Zimmer der Mädchen warf, sah sie eine Menge Stofftiere, Poster und Haufen schmutziger Wäsche.

Das Elternschlafzimmer, in kühlem Weiß gehalten, dominierte eine große Schwarzweißzeichnung von Brett Whitely. Vom Bett aus hatte man durch das Doppelfenster einen wunderbaren Blick auf den Hafen. Doch abgesehen von den Kinderzimmern empfand Kerrie das Haus als unpersönlich.

Zusammengerollt in Miltons Armen liegend, meinte Kerrie: »Warum hast du hier nicht mehr persönliche Dinge? Es ist ja wie ein Hotelzimmer.«

»Ich habe das Haus nie gemocht. Meine Frau hat es gekauft. Mir ist mein Atelier lieber. Außerdem habe ich noch ein Häuschen in Italien, das ich sehr mag.«

»Warum hast du nicht auch hier ein Haus, das du magst? Ist Australien für dich nicht deine Heimat?«

»Möchtest du mal mein Haus in Italien sehen?«, fragte er unvermittelt.

»Ja gern!«, rief Kerrie aus.

»Ich kann nächste Woche hinfliegen. Komm doch mit.« Dabei klang er ganz sachlich – als wäre eine solche Einladung das Normalste von der Welt.

»Milton! Ich muss doch in die Kunsthochschule. Ich muss noch ein Projekt fertigmachen. Was ist mit deinen Töchtern? Kommen sie mit?«

»Nein, sie haben Schule. Die Haushälterin kümmert sich um sie. Und sie sind es inzwischen gewohnt, dass ich ständig komme und gehe. Das ist in Ordnung für sie. Kerrie, wenn du mitkommst, lernst du mehr über Kunst als in einem Jahr Vorlesungen an dieser Schule.«

»Du hast doch gesagt, es ist eine gute Schule«, wandte Kerrie ein.

Er liebkoste ihr Haar mit den Lippen. »Aber meine Schule ist besser. Komm mit. Ich habe dich gern in meiner Nähe. Italien wird dir gefallen.«

Kerrie begriff intuitiv, dass dieses Angebot nicht nur so dahingesagt war, sondern dass ihre Beziehung davon abhing, ob sie es annahm. Es war eine seltsame Art von Test.

»Vorher musst du meine Mutter kennenlernen.«

»Mütter mögen mich immer«, erwiderte er schlicht und küsste sie. Die Entscheidung war gefallen.

 

Erwartungsgemäß war Glynis zunächst skeptisch.

»Ich denke, du verdirbst dir damit deine Berufsaussichten. Du bist im letzten Studienjahr. Du solltest erst den Abschluss machen.«

»Mum, warte ab, bis du Milton kennengelernt hast. Das ist eine einmalige Chance. Überleg doch mal, was er mir alles zeigen kann. Ich wäre dumm, wenn ich mir diese Gelegenheit entgehen ließe.«

Milton sollte recht behalten: Kerries Mutter war sehr von ihm angetan. Er versicherte ihr, dass er auf Kerrie achtgeben würde wie auf einen kostbaren Schatz, der sie ja war. Und wenn er mit ihr die besten Galerien und Museen Italiens besuchte, würde sie mehr über Kunst lernen, als dies in Australien je möglich sei.

»Ich kenne jede Statue, jedes Relief und jedes Gemälde in allen Galerien und auf allen Straßen und Plätzen Roms!«, behauptete er.

»Jetzt verstehe ich, warum du von ihm so betört bist«, bekannte Glynis später ihrer Tochter gegenüber. »Ich weiß, ich sollte eigentlich dagegen sein, aber mir ist auch klar, dass es nichts bringen würde.«

»Danke, Mum. Ich bringe dir ein ganz tolles Geschenk mit«, versprach Kerrie, froh über das Friedensangebot ihrer Mutter.

 

Die Sticheleien ihrer Freunde wegen Milton und der bevorstehenden Italienreise nahm Kerrie ungerührt hin. Sie wusste, dass sie alle nur furchtbar neidisch waren, und damit kam sie zurecht. Sam meinte, ihre Offenheit und Unbefangenheit sei für Milton eine willkommene Abwechslung, weil er sonst wahrscheinlich an ziemlich berechnende Frauen gerate, die es auf sein Geld abgesehen hätten. Doch mochte Kerrie auch ohne Arglist sein, naiv war sie nicht. Ihr war bewusst, was Milton an ihr schätzte, nämlich ihre Direktheit und Freimütigkeit und ihr Talent, ihn zum Lachen zu bringen. Außerdem schmeichelte es ihm, dass sie seine Arbeit aufrichtig bewunderte und ganz versessen darauf war, von ihm zu lernen.

Sie verbrachten einen Monat in Italien, und Kerrie wünschte sich, die Reise würde nie zu Ende gehen. Begierig sog sie all die neuen Eindrücke in sich auf, und dank Miltons zunehmender Berühmtheit wurden sie zu Privatausstellungen und Gesellschaften eingeladen und speisten häufig mit Kunstmanagern, Kuratoren und anderen prominenten Künstlern. Die beiden schienen ein so perfektes Paar abzugeben, dass Kerrie nur ein einziges Mal gefragt wurde, ob sie Miltons Tochter sei.

»Ich finde, fürs Erste haben wir genug Kunst gesehen«, erklärte Milton eines Morgens. »Was hältst du davon, wenn wir die Küste runterfahren und ich dir meine kleine Villa zeige?«

»Wo liegt sie?«

»In Porto Ercole, ein paar Stunden südlich von hier. Ich habe sie vor einigen Jahren gekauft. Da habe ich mal alles richtig gemacht. Damals war Porto Ercole noch ein malerisches Fischerdorf, jetzt gibt es dort einen riesigen Jachthafen und Unmengen von Touristen. Aber außerhalb der Saison, so wie jetzt, lässt es sich dort noch immer gut leben.«

Rückblickend betrachtet, erschienen Kerrie diese Tage in Miltons schlichter, aber reizender alter Villa mit dem Blick über die Bucht und die unter ihnen liegende Stadt einfach nur zauberhaft. Milton arbeitete an Entwürfen und Ideen für einen neuen Auftrag, während Kerrie auf dem kleinen Markt einkaufte und lernte, einheimische Gerichte zuzubereiten. Außerdem führte sie ein Tagebuch, in dem sie Menschen und Szenen in kleinen Tuschzeichnungen festhielt und Aquarelle von der Landschaft und den Gebäuden in der Altstadt malte.

Milton erzählte ihr nicht viel von seinen Arbeitsprojekten und fragte sie auch nicht, was sie tat. Einmal beobachtete sie ihn, wie er ihr Skizzenbuch durchblätterte und es dann kommentarlos beiseitelegte. Allerdings war er voll des Lobs für ihre Kochkünste und nahm ihr das Versprechen ab, nach ihrer Heimkehr wenigstens einmal pro Woche für ihn italienisch zu kochen.

Um auch einmal aus der Villa herauszukommen, mietete Milton ein Cabriolet. Kerrie verschlug es den Atem, weil er so unglaublich schnell fuhr, und sie fragte ein ums andere Mal, warum er rasen müsse wie ein Formel-1-Fahrer.

»Ich halte nur mit dem Verkehr mit«, beteuerte er, sogar als sie die autostrade hinter sich ließen und die herrliche Küstenstraße erreichten. Auf der kurvenreichen Strecke nach Amalfi wagte Kerrie kaum einen Blick auf die steil abfallende Küste zum Meer zu werfen. Als sie aber durch die malerischen Städtchen und Dörfer fuhren, war sie hingerissen. Nach einer Kaffeepause führte ihr Weg sie wieder in Serpentinen bergauf zu der Stadt Ravello. In einer Villa mit spektakulärem Meerblick aßen sie mit einem Freund von Milton zu Mittag.

Anschließend bummelten sie über den kleinen, von einer Kathedrale beherrschten Marktplatz und durch die schmalen Gassen hinter den ummauerten Villen mit den verschwiegenen Gärten und den herrlichen Ausblicken. Für Kerrie war es wie ein Traum. Milton führte sie zu den prachtvollen Gärten der Villa Cimbrone, und dort, bei einem Imbiss auf der Terrasse, schenkte er ihr ein zauberhaftes goldenes Filigranarmband.

»Es stammt von einem Juwelier gleich neben den Stufen des Doms. Du kannst es umtauschen, wenn es dir nicht gefällt«, meinte er. »Leg es doch mal an, damit ich sehe, ob es dir steht.«

»Es ist wundervoll. Aber Milton, es sieht so … teuer aus«, rief sie. »Ich weiß nicht, ob ich es annehmen kann.«

»Unsinn. Das ist nur mein Dankeschön dafür, dass du mir in den letzten Wochen so wunderbar Gesellschaft geleistet hast. Das Armband steht dir, weil es dezent und geschmackvoll ist. So wie du. Wie du dich kleidest, gefällt mir«, fügte Milton hinzu und betrachtete ihr schlichtes Sommerkleid. »Aber du könntest bessere Sandalen gebrauchen. Wenn wir schon hier sind, kaufen wir noch Schuhe für dich.«

Kerrie zog ein Bein hoch und begutachtete ihren schmalen braungebrannten Fuß und die schlichte, wenn auch etwas abgenutzte Ledersandale.

»Danke, Milton, aber ich mag keine glamourösen Schuhe«, erwiderte sie. »Und ich möchte auch nicht noch mehr Geschenke von dir. Ich stehe jetzt schon in deiner Schuld.«

»Quatsch, du schuldest mir gar nichts. Dass ich dich dabeihaben darf, ist mir Lohn genug. Aber deine Schuhe! Ich finde, wir sollten dir ein Paar von den weichsten und schönsten italienischen Ledersandalen kaufen. Du wirst schon sehen. Und deine Füße werden es mir danken.« Er warf ihren Zehen eine Kusshand zu.

»Ich lasse mich gern verwöhnen«, meinte Kerrie.

»Genieß es, cara. Ich will, dass du glücklich bist. Denk an Zeiten wie diese zurück, wenn ich ganz in meiner Arbeit versunken bin und du dich womöglich vernachlässigt fühlst.«

Zehn Tage darauf eröffnete ihr Milton, dass er wegen eines Auftrags für ein neues Projekt nach Holland fliegen werde. Daher musste Kerrie die Heimreise nach Australien allein antreten.

 

Glynis Jackson stellte nicht allzu viele Fragen über den Aufenthalt in Italien, und als Kerrie wieder an die Kunsthochschule ging, erzählte sie ihren Kommilitonen nichts über die Reise, außer dass sie lehrreich gewesen sei.

Eine Woche später kehrte Milton zurück, übersprudelnd vor Geschichten, Plänen und guter Laune und beladen mit Geschenken für Kerrie und ihre Mutter.

»Ich habe das holländische Essen so satt. Koch mir doch was Italienisches«, sagte er zu Kerrie.

»Sei froh, dass das meine Mutter jetzt nicht hört«, entgegnete sie.

»Warum? Klingt es so, als wärst du mein Dienstmädchen?«, fragte er erstaunt.

»Na ja, sie ist der Meinung, dass du mich schon ziemlich herumkommandierst.«

»Ich finde, wenn man jemanden liebt, dann kocht man doch auch gern für ihn. Wenn du willst, kann auch ich dich mal bekochen …«

»Bitte nicht! Ich habe deine Kochkünste schon kennengelernt und weiß, warum du dir so oft Pizza kommen lässt. Also gut, dann mache ich uns Pasta.«

»Wunderbar. Und nach dem Essen zeige ich dir meine Pläne für das Projekt in Holland. Die Schalung kann ich in meinem Atelier hier in Sydney anfertigen, dann transportiere ich sie rüber und mache den Guss und die letzten Arbeiten in Holland. Wir werden einige Wochen weg sein, vielleicht auch länger.«

Kerrie starrte ihn an. »Du willst, dass ich nach Holland mitkomme? Für Wochen oder Monate? Um dich zu bekochen?«

»Nicht als meine Köchin, Schatz. Ich kann jederzeit jemanden einstellen, der das für uns macht.«

»Milton, denk doch mal nach! Ich kann hier nicht alles hinschmeißen und mit dir auf unbestimmte Zeit nach Holland gehen. Nicht mal wenn wir eine Köchin haben!«, lachte Kerrie.

»Ich habe dich gern in meiner Nähe. Du tust mir gut. Außerdem, was hast du denn schon für große Pläne, wenn du dein Kunststudium abgeschlossen hast?«

Kerrie war verwirrt. »Das habe ich dir doch gesagt. Wenn ich gut genug bin, um von der Malerei leben zu können, dann mache ich das. Wenn nicht, muss ich mir eben was in der Werbung oder als Grafikerin oder so suchen.«

»Ist es das, was du willst? Du lernst viel mehr, wenn du mit mir herumreist, als wenn du dich hier in Australien vergräbst. Ich bin deine Rettung, Kerrie!«

»Rettung wovor? Ich führe ein glückliches Leben. Ich habe meine Leidenschaft, ich habe Ziele, ich habe Freunde …«

»Dein Leben ist langweilig. Du wohnst immer noch bei deiner Mutter, die ja eine durchaus nette Frau ist, aber so ein Dasein als Nesthocker ist nicht sonderlich aufregend. Willst du nicht mal die Flügel ausbreiten? Bitte, kann nicht ich die Leidenschaft deines Lebens sein?« Er packte sie an den Schultern und zog sie an sich, presste ungestüm seine Lippen auf die ihren. Kerrie wich zurück und starrte ihn an, atemlos und verdutzt über diesen plötzlichen Ausbruch. Doch er war noch nicht fertig. »Wir können herrliche Dinge zusammen unternehmen. Ich verspreche dir, wenn du mich heiratest, wirst du ein Leben führen, wie du es dir nie hättest träumen lassen.«

2

Von einem Tag auf den anderen war Kerries Leben nicht mehr dasselbe. Sie hatte kaum noch Zeit für sich. Milton wollte, dass sie heirateten, noch bevor er sich in Holland wieder ans Werk machte.

»Eine dreimonatige Verlobungszeit ist ein bisschen knapp bemessen«, gab ihre Mutter zu bedenken. »Wir müssen immerhin eine Hochzeit ausrichten.«

»Milton will keine aufwendige, steife Feier, er mag es lieber ungezwungen und heiter«, sagte Kerrie. »Schließlich war er schon einmal verheiratet.«

»Aber du nicht!«, rief Glynis aus. »Du hast noch nicht einmal einen Verlobungsring bekommen.«

»Doch, habe ich. Gestern Abend«, erwiderte Kerrie und streckte ihrer Mutter die Hand mit dem diamant- und smaragdbesetzten Ring entgegen. »Er hat ihn extra anfertigen lassen.«

»Sehr hübsch, Kerrie, wirklich bezaubernd. Aber diese Entscheidung ist ziemlich plötzlich gefallen. Bist du sicher, dass du nicht einfach vom Glamour dieses Mannes und seines Lebens geblendet bist? Was ist mit seinen Töchtern? Wie stehen sie zu dieser Verlobung?«

Kerrie seufzte. »Sie wissen es noch nicht. Milton wird es ihnen sagen, und dann gibt es ein Abendessen im Familienkreis. Bis jetzt habe ich erst zwei von ihnen flüchtig kennengelernt, und ich glaube, es war ihnen nicht klar, dass Milton es ernst mit mir meint. Da ist zum einen Alia, die Jüngste, dann kommt Luisa, Renata ist die Älteste. Sie hängen alle sehr an ihrem Vater.«

»Was keine große Überraschung ist, nachdem sie keine Mutter mehr haben. Wer kümmert sich um sie, wenn ihr Vater unterwegs ist?«

»Er hat eine Haushälterin. Oder eher eine Art Kindermädchen. Wendy kümmert sich um sie, seit ihre Mutter gestorben ist. Früher hat sie das Wohnheim eines Internats geleitet. Laut Milton erzieht sie seine Töchter streng, aber liebevoll. Und die Mädchen beten sie offenbar an.«

»Wie geht es dir dabei, in eine fertige Familie einzuheiraten? Wie alt sind sie? Dreizehn, elf und neun? Auch wenn sie noch Kinder sind, so viel jünger als du sind sie auch nicht. Sie könnten ganz schön schwierig werden.«

»Bisher haben wir uns noch gar nicht richtig kennengelernt. Vielleicht kann ich ja auf einer anderen Ebene eine Beziehung zu ihnen aufbauen, eher als große Schwester oder junge Tante und weniger als Ersatzmutter?«

Glynis machte ein skeptisches Gesicht. »Ich fürchte, du bist ein bisschen zu optimistisch. Vielleicht solltest du sie lieber kennenlernen, bevor die Verlobung bekanntgegeben wird. Womöglich fühlen sie sich von dir bedroht. Was die Situation für dich nicht gerade leichter machen wird.«

»Mum, er liebt mich. Und ich liebe ihn. Die Mädchen werden sich daran gewöhnen, dass wir ein Paar sind … irgendwann.«

Doch die Feindseligkeit und Kälte, mit der Miltons Töchter sie begrüßten, war für Kerrie ein herber Rückschlag. Ohne die Spur eines Lächelns schüttelten die Mädchen ihr höflich die Hand.

»Wir gratulieren dir und hoffen, dass du unseren Vater glücklich machen wirst«, sagte Renata ausgesprochen kühl zu Kerrie. »Aber jetzt müssen wir Wendy in der Küche helfen.«

Böse funkelte Alia sie an. »Wir wollen dich nicht als unsere Mutter.«

»Alia! Sei nett zu Kerrie«, mahnte sie Milton. »Ich hab dir gesagt, dass Kerrie eure Freundin sein wird.«

»Wird sie hier wohnen?«

»Natürlich. Das Haus ist groß genug«, meinte Milton leutselig, ging zur Anrichte und goss zwei Gläser Wein ein.

»Ich kann deine Mutter niemals ersetzen, Alia«, sagte Kerrie. »Aber ich hoffe, wir können Freundinnen sein, und ich darf dir helfen. Bestimmt kommen wir alle gut miteinander aus und machen deinen Vater glücklich.«

»Wir haben schon genug Freundinnen. Und wir haben Wendy.«

Kerrie wollte sich nicht mit einer zornigen Neunjährigen streiten. Sie warf Milton einen hilfesuchenden Blick zu. Aber er zuckte nur die Achseln und reichte ihr ein Glas Wein.

»Alia, komm. Setz dich auf meinen Schoß und drück mich. Du hast mir gefehlt«, sagte er, stellte sein Weinglas auf einen Beistelltisch und setzte sich mit weit ausgebreiteten Armen in einen Sessel.

Aber Alia schüttelte den Kopf. »Ich will dich nicht lieb drücken, Vater«, entgegnete sie abweisend.

»Tja, dann solltest du vielleicht zu den anderen in die Küche gehen und helfen«, erwiderte Milton gelassen, und Alia stapfte aus dem Zimmer.

»Milton, mir geht es ganz schrecklich dabei. Ich wünsche mir so sehr, dass die Mädchen mich mögen«, sagte Kerrie bedrückt.

»Lass ihnen Zeit. Ich hatte zwar schon andere Freundinnen, aber bisher mussten sie mich niemals wirklich teilen. Wahrscheinlich habe ich sie verzogen, um wettzumachen, dass ich so oft fort bin.«

»Erinnern sie sich an ihre Mutter?«

»Die Großen natürlich schon, aber Alia hat nur eine vage Vorstellung von ihr. Sie war ja fast noch ein Baby, als meine Frau starb. Das war damals eine harte Zeit für uns alle.« Er trank einen Schluck Wein.

»Genau das ist ja der Grund, warum ich die Mädchen wirklich gut kennenlernen möchte. Ich werde Verschiedenes mit ihnen unternehmen«, sagte Kerrie. »Ich bin ja ein Einzelkind, ohne Geschwister und eigentlich auch ohne Verwandtschaft außer meiner Mutter, aber ich werde mir große Mühe geben, damit sie mich mögen.«

Milton beugte sich vor und tätschelte ihr den Arm. »Lass ihnen Zeit, cara mia. Dräng sie zu nichts. Sie werden dich eher respektieren, wenn du ihnen nicht hinterherrennst. Sei du selbst, und sobald sie dich näher kennen, werden sie gar nicht anders können, als dich ins Herz zu schließen. Du wirst schon sehen.« Er lächelte.

 

Die bevorstehende Hochzeit setzte Kerries Mutter ziemlich zu, und sie vertraute sich ihrer Schwägerin an.