Im Tal der roten Zedern - Di Morrissey - E-Book

Im Tal der roten Zedern E-Book

Di Morrissey

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Beschreibung

Eine sanft gewellte Landschaft, durchzogen von einem glänzenden Fluss auf seinem Weg zum Meer. Inmitten dieser friedvollen Idylle liegen Familiengeheimnisse verborgen, die seit Jahrhunderten niemals ans Licht gekommen sind. Erst als Lara Langdon in ihren Heimatort Cedartown zurückkehrt und beginnt, nach ihren familiären Wurzeln zu forschen, kann sie mit der Vergangenheit abschließen und ihr Glück finden ... Im Tal der roten Zedern von Di Morrissey: im eBook erhältlich!

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Di Morrissey

Im Tal der roten Zedern

Aus dem australischen Englisch von Alice Jakubeit

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Gewidmet meiner gesamten Familie, [...]DanksagungDas TalPrologKelly’s Crossing, 1840Sydney, 1998Kapitel einsSydney, 2006Cedartown, 1932Kapitel zweiKapitel dreiCedartown, 1928Kapitel vierCedartown, 1932Kapitel fünfMount George, 1840Kapitel sechsMount George, 1844Kapitel siebenMount George, 1845Cedartown, 1934Kapitel achtMount George, 1845Kapitel neunCedartown, 1938Kapitel zehnMount George, 1846Péronne, 1917Kapitel elfKapitel zwölfCedartown, 1940Kapitel dreizehnCedartown, 1942Kapitel vierzehnKapitel fünfzehnRiverview, 1852Kapitel sechzehnCedartown, 1944Kapitel siebzehnCedartown, 1945Kapitel achtzehnKapitel neunzehnCedartown, 1948Cedartown, 1954

Gewidmet meiner gesamten Familie, überall.

Ganz besonders herzlich umarme ich meine Mutter Kay,

meine Tochter Gabrielle und meinen Sohn Nick;

und Barrie – willkommen in der Familie.

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Danksagung

Für Onkel Jim Revitt, mit dem ich die Erinnerung an das Aufwachsen in einer ganz besonderen kleinen Stadt teile. Danke für deinen (wie immer) konstruktiven und klugen Rat. Ich danke auch dir, Rosemary Revitt, für deine Besonnenheit und Herzenswärme. Danke, Onkel Ron Revitt-Jonach, dass du mir geholfen hast, Künstler und ihre Arbeit zu verstehen. Und ich danke meinem geliebten Boris, der immer für mich da ist und das Tal jetzt auch liebt.

Ein Dankeschön geht an alle bei Pan Macmillan – ihr seid ebenfalls wie eine Familie für mich: James Fraser, der vom ersten Buch an solches Vertrauen in mich gesetzt hat; die liebe Nikki Christer (ein guter Kumpel und eine großartige Lektorin); Jane Novak (klug, witzig und eine wunderbare Reisebegleiterin). Und immer zur Stelle mit Rat und Freundschaft: Ross Gibb, Jeannine Fowler, Roxarne Burns. Ein weiterer Dank geht an die hart arbeitenden, engagierten Vertreter von Pan Macmillan.

Ian Robertson gilt ein besonderer Dank. Er tut so, als sei er mein Anwalt, in Wirklichkeit ist er jedoch ein großartiger Erzähler, hervorragende Gesellschaft beim Lunch und in jeder Hinsicht inspirierend.

Ich danke der Künstlerin Katie Clemson, wie auch Liz Adams, für ihre begeisterte Unterstützung und weil sie ein phantastisches Testpublikum ist.

Ein weiterer Dank geht an die zahlreichen Menschen im Manning Valley, die mir in vielerlei Hinsicht geholfen haben. Außerdem: an Mave und Eric Richardson, Graham und Chris Gibbons, Noël, Rachel, Jack und Madi Piercey, die Wingham Historical Society, Tom Wollard, Russell Saunders, Sue Mitchell (Manning Regional Art Gallery).

Einen besonderen Dank schulde ich Maurie Garland für die Erlaubnis, Auszüge aus seinem Buch The Trials of Isabella Mary Kelly (Brolga Books) über Isabella Kellys Leben zu verwenden.

DM

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Das Tal

Das Tal war ein kaum bekanntes Juwel. Eine sanft gewellte grüne Landschaft, durchzogen vom herrlichen Fluss auf seinem Weg zum Meer.

Wer das Tal kannte, kannte auch den Zauber dieser Landschaft.

Seit die ersten Bewohner über die Hügel, entlang des Flusses und durchs Tal streiften, war dies ein Land feierlicher Bräuche, des Korrobori und der Schöpfung. Dann kamen weiße Siedler mit Pferden und Vieh. Sie errichteten erste Holzhäuser im Busch, fanden und fällten die uralten Bäume. Es gab Morde und Geburten. Viele starben vor ihrer Zeit.

Zwei Jahrhunderte vergingen, doch das Tal blieb wenig bekannt. Diejenigen, die kamen – und blieben –, zog es in seinen Bann wie an eine Mutterbrust, hieß sie willkommen und schenkte ihnen Trost; hier fanden sie den Frieden, um ihr Leben leben zu können.

Das Tal war etwas ganz Besonderes, für alle, die es kannten.

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Prolog

Kelly’s Crossing, 1840

Die Wolken teilten sich wie ein plüschiger grauer Vorhang und gaben den Blick frei auf einen streifigen Winterhimmel hinter dichtbewaldeten Bergen. Auf der Mitte dieser Bühne zogen drei Gestalten – zwergenhaft in dieser Landschaft – über die schmale Schneise durch die uralten Bäume eines dichten Regenwalds. Der Pfad war zerfurcht. Ochsengespanne, Schlitten mit Baumstämmen und der eine oder andere Reiter hatten ihre Spuren hinterlassen.

Das Brausen eines rasch dahinfließenden Creeks wurde hörbar, und bald gelangten die Reisenden an eine normalerweise flache, felsige Furt. Sie machten an dem angeschwollenen Wasserlauf halt und betrachteten prüfend den Pfad, der in sanftem Winkel zum Fluss abfiel. Auf der anderen Seite stieg der Pfad steil an und führte über gefährlich lose Steine. Ross und Reiter mussten dort entschlossen und in vollem Galopp aus dem Wasser und die steile Böschung emporreiten.

Die drei Gestalten näherten sich dem Wasser noch ein Stück. Nur eine ritt – eine Frau. Die beiden Männer, die zu Fuß gehen mussten, waren auf den unebenen Pfad und die Durchquerung des eisigen Wassers schlecht vorbereitet – ihre Stiefel waren abgetragen, ihre Kleidung fadenscheinig. Einer von ihnen führte ein Packpferd, und beide Männer waren mit Seilen an das vorantrabende Pferd mit seiner Reiterin angebunden. Sie waren nicht auf dem Land geboren und betrachteten das Wasser voller Furcht.

»Zu Fuß kommen wir bei dem Hochwasser nie durch diesen Creek. Das Wasser ist bestimmt entsetzlich kalt. Und die Strömung stark, wie es aussieht«, murrte der jüngere der beiden Männer.

»Das ist was für’n kräftigen Seemann, der auf schwerer See zu Hause ist. Nicht für solche wie uns«, stimmte der ältere Mann zu.

Die Frau auf ihrem Pferd hörte die beiden. »Ich hoffe, Sie halten sich nicht für feine Herren aus der Stadt. Sie beide sind jetzt lange genug hier, um Schwielen zu entwickeln. Wir durchqueren diesen Creek. Wir müssen noch ein gutes Stück weiterziehen, bevor es dunkel wird. Halten Sie sich an den Seilen fest.« Der spöttische und zugleich gebieterische Ton lud nicht zu Widerspruch ein.

Der ältere der beiden Sträflinge, der auch das Packpferd führte, antwortete zögerlich in unterwürfigem Ton: »Ma’am, es ist wirklich gefährlich. Bei allem Respekt, seien Sie vorsichtig. Das kann einen mitreißen, wenn man nicht aufpasst.«

»Ich bin mir der Gefahr durchaus bewusst. Wir sind schnell hinüber, wenn wir uns sputen. Gehen Sie hinunter ans Ufer. Ich mache die Seile los.«

Geschickt löste die Frau die beiden Seile, die am Sattel befestigt waren und zu den Fesseln an den Knöcheln der beiden Sträflinge führten, die ihr für die letzten sechs Monate ihrer Haftstrafe zugeteilt worden waren.

Sie war keine Schönheit, aber eine bemerkenswerte Frau, und man sah sofort, dass sie nicht mit sich spaßen ließ. Wie die Etikette es verlangte, ritt sie im Damensitz und saß auf ihrem großen ledernen Stocksattel so komfortabel wie in einem Lehnstuhl. Ihren langen schwarzen Rock hatte sie über ihre Beine geworfen, und der mit einem Stiefel bekleidete Fuß steckte fest im Steigbügel. Die scharlachrote Jacke über ihrer dezenten Bluse war ein leuchtender Farbfleck an diesem grauen, nassen Tag. Auf dem Kopf trug sie einen Hut aus den geflochtenen Blättern der Keulenlilie, wie er bei den Männern der Gegend sehr beliebt war. Die Krempe beschattete ihr Gesicht, und ihre Haare lagen fest zusammengerollt unter dem Kopfteil. Für modische Damenhauben fehlte es ihr an Zeit oder Geschmack. In den behandschuhten Händen hielt sie die Zügel und eine Peitsche.

»Wenn Sie den Halt verlieren, halten Sie den Kopf über Wasser, und strampeln Sie kräftig. Halten Sie sich am Seil fest, dann werden Sie hinübergezogen.«

Der schwarze Hengst wappnete sich für den Ritt durch den Creek. Ross und Reiterin hatten schon früher überflutete Furten durchwatet.

Sie trieb das Pferd vorwärts, und es schritt sicher aus, während das Wasser um seine Brust wogte. Die Frau warf einen Blick zurück auf die besorgten Mienen der Männer, die unterdessen vorsichtig ins Wasser wateten, das ihnen bald bis zu den Achselhöhlen ging. Einer hielt das Seil über den Kopf, während das Packpferd mutig durch die Strömung schritt. Es war stark und ein recht geschickter Schwimmer, wenn es sein musste. Falls es den Halt verlor, würde der Mann es freilassen, damit es selbst aus dem Wasser klettern konnte. Selbst einem normalerweise schmalen Flüsschen wie diesem konnte man nicht trauen, wenn es nach einem Unwetter angestiegen und das Wasser schlammig war.

Ehe die Frau die Aufmerksamkeit wieder auf den Weg vor ihr richten konnte, stolperte der Hengst über einen Baumstamm unter seinen Hufen, und plötzlich trieben sie in einem tiefen Loch, in dem die Strömung in einem Strudel umherwirbelte. Das Pferd wurde zur Seite geschleudert, die Reiterin aus dem Sattel gerissen.

Die beiden Männer und das Packpferd standen auf festerem Untergrund und mussten hilflos mit ansehen, wie die Frau abgetrieben wurde. Der Hengst schwamm mit hocherhobenem Kopf und starken Beinbewegungen, bis er wieder Halt unter den Hufen fand. Immer wieder auf Steinen ausgleitend, gelangte er in flacheres Wasser und stürmte die steile Böschung hinauf, während Wasser vom Sattel herabströmte. Die Männer zerrte er hinter sich her. Klirrend schlugen die Hufe des Packpferdes gegen Steine, und dann kletterte es ebenfalls aus dem rasend dahinströmenden Wasser; der jüngere Mann umklammerte die Zügel, glitt auf der Böschung aus, kam aber wieder auf die Beine.

Beide Männer hielten Ausschau nach ihrer Herrin, doch die war nicht mehr in Sicht. Sie befreiten sich von den Seilen, stolperten am Ufer des Creeks entlang und hielten sich dabei an den Bäumen fest, bis sie einen roten Farbfleck entdeckten, der zwischen den Wurzeln eines von den Fluten umgeworfenen Baumes eingekeilt war. Die Frau suchte sich zu befreien, doch das Gewicht ihrer mit Wasser vollgesogenen Röcke sowie die reißende Strömung zogen sie immer wieder herab. Die Männer sahen einander an. Hier war die Gelegenheit, sich mit zwei Pferden in die Freiheit davonzumachen.

»Wir würden nicht weit kommen, Jungchen«, sagte der Ältere.

»Ich schätze, es würde ein böses Ende nehmen mit uns, wo wir unsere Zeit fast abgesessen haben«, räumte der Jüngere widerstrebend ein. »Was sollen wir tun?«

»Hol die kleine Axt vom Packpferd. Damit hacken wir uns einen Weg durch dieses Gestrüpp. Hol auch ein Seil, das wir ihr zuwerfen können.«

Die Männer arbeiteten rasch, während die Pferde mit peitschendem Schweif geduldig am Ufer standen und die Mähnen schüttelten.

»Wir kommen zu Ihnen hin, Ma’am, halten Sie durch«, rief der ältere Mann.

Die Miene der Frau war grimmig, und mochten ihre Arme auch ermüden, während das Wasser unentwegt an ihren Röcken zerrte, so klammerte sie sich doch entschlossen am Baumstamm fest.

Der ältere Mann warf ihr das Seil zu, und sie fing es auf. Das andere Ende des Seils befestigte er an einem nahe stehenden Baum, während der jüngere Mann sich mit der Axt rasch einen Weg durch die dicht wachsenden Sträucher und Schösslinge am steilen Ufer bahnte.

»Gut gemacht, Junge. Das reicht.« Er warf der eingezwängten Frau einen aufmunternden Blick zu. »Fertig?«, rief er.

Die Frau zögerte, ihren Halt loszulassen.

»Es ist stark, Ma’am. Das reißt nicht. Halten Sie sich fest.«

Da vertraute sie sich ihnen an, ließ den Baum los und wurde trotz des Gewichts ihrer vollgesogenen Röcke rasch an Land gezogen. Sie stolperte die Böschung hinauf und richtete sich dann hastig auf, bemüht, einen Rest an Würde und Autorität zu wahren. Die Männer beschäftigten sich angelegentlich damit, das Seil aufzurollen, die Axt in einer Satteltasche zu verstauen und ihre Kleidung auszuwringen.

»Das war Glück. Und gut mitgedacht. Ich bin Ihnen dankbar«, sagte die Frau knapp. »Ich muss eine trockene Jacke heraussuchen. Mein Rock trocknet beim Reiten.«

»Wir ziehen weiter?«, fragte der junge Mann überrascht.

Die Frau zog eine Augenbraue hoch. »Haben Sie geglaubt, wir würden hier an dieser elenden Furt lagern, nur weil wir nass geworden sind? Wir werden in Port Macquarie erwartet, und wir werden rechtzeitig dort sein.«

Sie ging zum Packpferd, und die Männer wechselten einen enttäuschten Blick.

»Wir hätten sie dalassen sollen. Weiterziehen. Hätten einfach einen Unfall melden sollen«, flüsterte der jüngere Mann zornig.

»Hättest du damit leben können? Ich nicht.«

»Aber sie wird uns doch jetzt sicher nicht auspeitschen lassen? Nach dieser Sache?« Das Gesicht des jungen Mannes war rot vor Zorn. Und vor Angst. Er war vom Pech verfolgt. Nun hatte er zum ersten Mal selbstlos gehandelt und dabei, wie er es sah, erfahren, dass Ehrlichkeit und Anständigkeit sich nicht auszahlten.

»Vielleicht verschont sie uns jetzt«, antwortete der ältere Mann.

»Und wenn nicht? Ist sie so eine hartherzige Frau?«

»Wenn nicht, dann ist es schnell genug vorbei«, meinte der alte Mann gleichmütig.

Als die Frau in einer trockenen Jacke zurückkehrte, wandte der junge Mann sich mit verdrossener Miene ab. »Jetzt müssen Sie uns wohl wieder an den Pferden festbinden?« Er riss am Seil.

»Habe ich Ihr Wort, dass Sie neben mir bleiben? Sie können abwechselnd auf dem Packpferd reiten. Wir müssen weiter. Ehe es dunkel wird, schlagen wir ein Lager auf. Holen Sie die Pferde.«

Sie wandte sich an den älteren Mann, während der jüngere zu den Pferden trottete. »Ich werde nicht vergessen, was Sie heute getan haben. Aber ich bin gezwungen, zu tun, was getan werden muss.«

Die Miene des Mannes war ausdruckslos. »Wie Sie meinen, Miss Kelly.«

Sie schwang sich in den Sattel und sah zu, wie er dem jüngeren Mann aufs Packpferd half. »Entscheiden Sie selbst, wann Sie sich abwechseln wollen.«

Sie trieb ihr Pferd weiter die Böschung hinauf, hielt an der Stelle an, wo der Pfad wieder eben wurde, und beobachtete, wie das Packpferd hinter ihr herkletterte. Der ältere Mann folgte zu Fuß und stützte sich auf einen dicken Stock, den er irgendwo gefunden hatte. Der junge Mann saß zusammengesunken und mit gesenktem Kopf auf dem Pferd und dachte grimmig an die Bestrafung, die ihn im Bezirksgefängnis erwartete.

Sie hatten ihrer Arbeitgeberin tatsächlich Schaden zugefügt, hatten Rinder ohne Brandzeichen umherstreunen lassen, so dass sie ohne weiteres eingefangen und heimlich »gekauft« werden konnten. Es war ihnen wie eine leichte Art, ein wenig Geld einzustreichen, erschienen. Auf den dichtbewaldeten Hügeln von Miss Kellys nicht eingezäuntem Besitz ging häufig Vieh verloren. Doch der Käufer war entdeckt worden, ehe er die Tiere mit seinem Brandzeichen versehen konnte. Er hatte keine Zeit verloren, sondern die beiden Schuldigen genannt und seine eigene Unschuld beteuert. Folglich sollten die Männer nun in Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Sträflingsarbeit für freie Siedler bestraft werden, wie es das Gesetz vorsah.

Doch Miss Isabella Kelly würde ihre Männer nicht dem örtlichen Richter ausliefern, einem Mann, von dem sie wusste, dass er sie verachtete. Sie zog die längere Reise nach Port Macquarie vor, wo die Männer ihre Strafe abgeleistet hatten, bis man sie ihr zugeteilt hatte. Im Jahre 1840 gab es noch keine Siedlungen zwischen ihrem Besitz am Mount George und Port Macquarie am Hastings River.

 

Acht Tage später kehrten sie auf demselben Weg zurück. Diesmal stellte die Durchquerung des Creeks kein Hindernis dar. Das Wasser war zurückgegangen, das Flüsschen gluckste freundlich und glitzerte im Sonnenlicht. Die Frau würdigte die Stelle stromabwärts, wo sie beinahe untergegangen wäre, keines Blickes. Auf die Männer wirkte das, als erinnerte sie sich nicht mehr an jenen Tag und wäre nur daran interessiert, recht bald nach ihrem Vieh auf den entlegenen, sanft gewellten Hügeln zu sehen, die sie als Teil ihres Traums, eine erfolgreiche Siedlerin in diesem weiten, bezaubernden Land zu werden, roden ließ.

In Port Macquarie erzählte man sich die Geschichte von Isabella Kellys Unfall und der Rettung durch ihre Sträflinge bald immer stärker ausgeschmückt, weit dramatischer als die Fassung des jungen Sträflings, den man dort vor Gericht gestellt und der nicht nur unter den Schmerzen durch die Peitschenhiebe gelitten hatte, sondern ebenso sehr unter dem, was ihm als große Ungerechtigkeit erschien.

Es gab viele, die abschätzig den Kopf schüttelten, als sie die Geschichte hörten. Die überwiegende Mehrheit der Männer in der Kolonie hegte eine Abneigung gegen Miss Isabella Kelly. Ihrer Meinung nach war es falsch von ihr, sich in Männerangelegenheiten zu mischen. Die Besiedlung des Landes und die Beaufsichtigung von Sträflingen waren Männersache. Isabella Kelly mochte eine stolze Frau sein, doch früher oder später würde sie straucheln oder scheitern. Es war nicht recht, dass eine alleinstehende Frau ohne Angehörige – eine Waise aus der alten Heimat – die Männer im Bezirk in der Vieh- und Pferdezucht ausstach. Sie war eine distanzierte und daher geheimnisvolle Person, die nicht zur landläufigen Lebensweise der neuen Siedler passte.

Doch die Legende, die sich um sie ranken sollte, nahm gerade erst ihren Anfang.

Sydney, 1998

Lara Langdon saß zusammengesunken im Sessel, als versuchte sie, mit dessen verblichenem Blumenmuster zu verschmelzen, um dem zu entgehen, was um sie herum geschah. Gedämpfte, besorgte Stimmen in einem Nebenraum. Autos, die ankamen und wieder davonfuhren. Das Klingeln eines Telefons.

Ihre Tochter kam, in düsteres Schwarz gekleidet, herein und wirkte besorgt und zaghaft.

»Bitte geh, Dani. Lass mich allein. Geh einfach«, sagte Lara.

»Mum, du kannst nicht hierbleiben. Ich weiß, du fühlst dich schrecklich, aber du musst zur Beerdigung gehen«, bat Dani sanft. »Es wird schon gehen. Ich lasse dich nicht eine Minute allein.« Ihr Blick war traurig, ihr Kummer offensichtlich. Ihre Mutter tat ihr leid, und sie kniete neben dem Sessel nieder, nahm ihre Hand und drückte sie tröstend.

Laras Mutter, Danis Großmutter Elizabeth, war gestorben. Dani versuchte, sich vorzustellen, wie sie sich fühlen würde, wenn sie selbst ihre Mutter verloren hätte, die dort zusammengesunken im Sessel saß, und ihr Herz krampfte sich zusammen.

»Mum, die Leute werden es ziemlich merkwürdig finden, wenn du zu Hause bleibst. Komm wenigstens zum Gottesdienst. Sie werden glauben, du hast sie nicht geliebt oder geachtet.«

»Ich habe mich nie darum geschert, was die Leute denken. Sie auch nicht.«

»Das stimmt nicht. Elizabeth war es unglaublich wichtig, was die Leute über sie gedacht haben. Sie hat bloß so getan, als wäre es ihr egal.«

»Dani, du verstehst mich nicht. Ich gehe nie zu Beerdigungen!« Laras Augen funkelten zornig.

Dani hätte beinahe gelächelt. Sie war froh, dass sie ihre Mutter endlich aus ihrer Lethargie gerissen hatte. Doch dann seufzte sie. Es stimmte. Lara ging Beerdigungen schon ihr ganzes Leben lang aus dem Weg. Wirklich sehr sonderbar. Sie hatte immer eine Entschuldigung, sei es, dass sie im Ausland oder in einem anderen Bundesstaat lebte, in Arbeit erstickte oder eine häusliche Krise bewältigen musste.

Wenn die Leute nur wüssten, welche Angst Lara vor dieser Beerdigung hatte. Die heitere, unbeugsame, starke Frau, die so viel erreicht hatte. Doch Lara, Danis Mutter, war unfähig, mit dem Tod umzugehen.

Dani musste an den Tag denken, an dem sie in den Ferien von der Universität nach Hause gekommen war und ihre Katze vor dem Gartentor gefunden hatte, von einem Auto überfahren. Lara hatte sich ins Haus geflüchtet, und Dani hatte den reglosen, weichen Körper aufheben müssen. Sie hatte ihr totes Haustier in den Armen gewiegt und war mit ihm im Garten umhergegangen, hatte ihm vorgesungen und zu ihm gesprochen. Als Gordon Langdon, ihr Stiefvater, nach Hause gekommen war, hatten die beiden die Katze unter einem hübschen Strauch begraben.

Später hatte Lara mit versteinerter Miene das Abendessen serviert und den Vorfall mit keiner Silbe erwähnt. Doch Dani hatte gewusst, dass sie alles durchs Fenster im ersten Stock beobachtet hatte.

In den vergangenen Jahren hatte Dani mehrfach versucht, ihrer Mutter zu helfen, sich der unausweichlichen Tatsache zu stellen, dass Elizabeth rasch schwächer wurde. Doch Lara hatte das Thema immer beiseitegeschoben: »Lass uns das jetzt nicht erörtern. Ich kann den Gedanken daran nicht ertragen.«

Lara hatte die Angewohnheit, von Unangenehmem abzulenken – mit einer abschätzigen Handbewegung, indem sie den Kopf wegdrehte, Blickkontakt vermied und mit einer heiteren Bemerkung das Thema wechselte. Jetzt hatte sie die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Doch dies ließ sich nicht einfach ignorieren.

Dani fragte sich, an welche besonderen Augenblicke Lara sich gerade erinnern mochte. »Mum, es bleibt noch genug Zeit, sich an alles zu erinnern … hinterher«, sagte sie sanft.

Lara öffnete die Augen. »Ich habe an den Mann gedacht, der die Markise auf der Veranda reparieren wollte. Er hat sich nicht wieder gemeldet, weißt du?«

Schockiert starrte Dani ihre Mutter an, dann stand sie auf. »Okay, das reicht, Mum. Wir müssen gehen.« Sanft, aber unnachgiebig zog sie Lara auf die Füße und schob sie ins Schlafzimmer. »Wo sind deine Schuhe und deine Jacke? Und deine Tasche?«

Lara stand ganz zahm da, mit so unbeteiligter Miene, als ginge sie das alles nichts an. Doch als Dani einen dunkelblauen Blazer aus dem Schrank zog, kehrte Lara zurück in die Gegenwart und schüttelte den Kopf. »Nein, den nicht.« Sie nahm eine schwarze Wildlederjacke vom Bügel und zog sie an, dann schlüpfte sie hastig in ihre Schuhe. »Komm, bringen wir es hinter uns.« Dann ging sie hinaus zu Danis Auto.

Dani hatte eigentlich nicht fahren wollen, doch alle anderen waren bereits fort, und nun blieb ihr keine andere Wahl.

Eine Weile fuhren sie schweigend dahin, dann fragte Lara plötzlich: »Hast du das Testament gesehen?«

»Nein. Aber ich weiß, was sie wollte. Erstaunlicherweise hat sie eines Tages mit mir darüber gesprochen. Wir haben alles so gemacht, wie sie es haben wollte. Ich hatte es dir erzählt, aber du hast es nicht richtig mitbekommen, ich weiß. Alles wird gutgehen, Mum.«

Dani hatte die Wünsche ihrer Großmutter erfüllt und einheimische Blumen, ein australisches Gedicht sowie einige schöne alte Lieder bestellt, und ihre Asche würde man auf einem stillen Seitenarm eines der zahlreichen Wasserwege Sydneys verstreuen. Dani kannte die Stelle, die Elizabeth ihr beschrieben hatte. Sie hatte ihr das alles bereits zehn Jahre zuvor versprochen, als sie erst fünfzehn Jahre alt gewesen war. Es war kein einfaches Gespräch gewesen, doch Elizabeth hatte auf ihren Wünschen bestanden, denn sie hatte in ihrer Enkelin ihre eigene innere Stärke erkannt. Lara war in Elizabeths Augen weich, schwach, ließ sich zu leicht von anderen beeinflussen. Dani hatte Rückgrat und trat furchtlos für ihre Überzeugungen ein. Elizabeth hatte gewusst, ihre Enkelin würde dafür sorgen, dass ihre Wünsche erfüllt wurden.

Lara war eine dieser Frauen, die Aufmerksamkeit erregten, die Blicke auf sich zogen, nach der die Männer sich umdrehten. Als junge Frau war sie sehr attraktiv gewesen, doch später hatte ihre Anziehungskraft zunehmend darin gelegen, dass sie zusätzlich zu ihrem guten Aussehen eine besondere Ausstrahlung entwickelt hatte. Die Menschen interessierten sich für sie, wollten sie kennenlernen. Lara hatte eben einfach dieses gewisse Etwas. Dani hatte es längst aufgegeben, zu ergründen, was genau die Leute zu ihrer Mutter hinzog.

Dani selbst war mehr als nur hübsch, sie war beeindruckend und strahlte Stärke und Persönlichkeit aus. Allerdings war ihr nicht klar, dass sie auf ihre eigene Art ebenso attraktiv war wie ihre Mutter.

Und so war es Dani, welche die Gäste begrüßte und allen für ihr Kommen dankte, die ihre unglückliche, geistesabwesende Mutter während des Gottesdienstes und der Beerdigungszeremonie physisch wie emotional stützte. Die Gäste sahen Laras verlorenen Blick, sahen, dass diese sich hilfesuchend an ihre Tochter wandte, wenn sie Fragen beantworten und Entscheidungen treffen musste, dass sie immer wieder zurückblieb, als hätte sie mit den Vorgängen des Tages nichts zu schaffen. Sie verspürten Mitleid mit Lara, und alle bewunderten sie die Gelassenheit ihrer Tochter, ihre Stärke und ihren Charme. Lara war dankbar, dass Dani die Zügel in die Hand genommen hatte.

Danis Ehemann nahm sie kurz beiseite. »Wie geht’s weiter? Fährst du deine Mutter zurück zu ihr oder zu uns?«

»Jeff, ich fahre sie nach Hause und bleibe bei ihr. Kannst du den Kleinen abholen und ihn mit seinen Sachen vorbeibringen? Vergiss aber nichts. Ruf mich an, bevor du losfährst, damit wir das vorher noch mal checken können.«

»Dani, das ist ein ganz ungünstiger Zeitpunkt. Tim schläft endlich durch. Wenn er bei deiner Mutter schlafen muss, wird ihn das nur aus seinem Rhythmus reißen.«

»Ja, meine Großmutter hat sich einen ungünstigen Zeitpunkt zum Sterben ausgesucht. Aber ich lasse meine Mutter nicht allein. Und ich werde nicht versuchen, Milch abzupumpen.«

Jeff sah das gefährliche Funkeln in den Augen seiner Frau. »Laras Ex-Mann ist hier. Gordon ist doch sehr nett. Er hat ihr jede erdenkliche Hilfe angeboten.«

»Ich glaube nicht, dass meine Mutter im Augenblick ihren Ex-Mann sehen will. Geh du mit ihm essen. Hol nur vorher Timmy beim Babysitter ab. Wir sehen uns dann bei Mum.«

Lara wartete im Auto. Es war ihr gleich, wohin sie fuhren, Hauptsache, jemand anderes kümmerte sich um alles. Sie dachte an ihr kühles weißes Schlafzimmer. Seit ihrer Scheidung war es dort stets so, wie sie es wünschte. Gordon war so unordentlich. Sie hatte es nicht ausstehen können, dass er seine Kleidung immerzu auf den Boden oder über einen Stuhl geworfen, Papiere oder Mappen übers Bett verstreut oder nasse Handtücher einfach auf dem Boden liegen gelassen hatte, oder wenn der Badezimmerspiegel voller Wasserspritzer gewesen war.

Lara hatte schon in so vielen Häusern gewohnt. Bilder dieser Häuser wirbelten ihr nun durch den Kopf: Amerika, Asien, das australische Outback, Perth, Sydney. Davor London, da war sie noch unverheiratet gewesen. Und als kleines Mädchen Cedartown, am Fluss, in einem Tal, das sie kaum kannte. Das alles schien so lange zurückzuliegen.

Als Dani ins Auto stieg, setzte Lara dem schnell an ihr vorbeiziehenden Bilderstrom aus der Vergangenheit ein Ende. »Manche Leute waren komisch angezogen, findest du nicht?«, bemerkte sie, als sie dem letzten Wagen mit Beerdigungsgästen zurück in den Stadtverkehr folgten.

Es war vorüber, und sie waren allein.

Laras Haus in einem Sydneyer Vorort war so wie immer … sauber, aufgeräumt, voller Blumen. Die Katze hatte sich auf ihrem Lieblingskissen zusammengerollt. Danis kleiner Sohn schlief in seinem Reisebettchen neben ihrem Bett. Sie hatte nochmals nach ihrer Mutter gesehen, doch die schlief, nachdem sie folgsam eine Schlaftablette eingenommen hatte. Draußen war alles still, im Haus ebenfalls.

Dani fragte sich, ob ihr Mann Jeff wohl gerade zu Hause oder noch mit Gordon Langdon, Laras charmantem, wenn auch langweiligem Ex-Mann, unterwegs war. Sie drehte sich auf die Seite. Sie könnte zwar nie wieder bei ihrer Mutter leben, doch es war schön, wieder einmal unter ihrem Dach zu schlafen. Lange Zeit war Lara Dani sicherer Hafen und Stütze gewesen, und eine Freundin, doch allmählich trat in ihrer Beziehung eine Veränderung ein. Dani spürte, wie die Last der Verantwortung sich nun auf ihre Schultern senkte. Sie hatte einen Sohn, um den sie sich kümmern musste, und die Mutter-Tochter-Rollen verschoben sich. Zudem wurde ihr mit aller Macht, jedoch ohne dass es sie beunruhigt hätte, klar, dass sie sich auch um sich selbst kümmern musste. Jeff war nicht so für sie da, wie sie es sich von ihrem Ehemann immer vorgestellt hatte. Unbewusst hatte sie das bereits während der Schwangerschaft erkannt. Falls sie geglaubt hatte, ein Baby würde ihre Ehe wieder kitten, so wusste sie nun, dass sie sich geirrt hatte. Es war tröstlich, zu wissen, dass ihre Mutter ihr durch die schwere Zeit, die unausweichlich vor ihr lag, hindurchhelfen würde.

Dani dachte daran, wie ihre Großmutter, die reizbare, entschlossene Elizabeth, ihre Tochter Lara in schwierigen Lebensphasen stets unterstützt hatte. Und Lara hatte oft von ihrer Großmutter Emily, Elizabeths Mutter, gesprochen. Emily war eine ebenso willensstarke Frau gewesen, eine englische Rose aus London, die nach dem Ersten Weltkrieg nach Australien gefahren war, um ihre Soldatenliebe zu heiraten. Sie hatten sich in einem kleinen Städtchen ein Stück die Küste hinauf niedergelassen. Cedartown. Es musste schwer für Emily gewesen sein, die nahe dem Zentrum einer der großen Weltstädte aufgewachsen war.

Dani selbst war nie in Cedartown gewesen, wo ihre Urgroßmutter Emily, ihre Großmutter Elizabeth und für kurze Zeit auch ihre Mutter Lara gelebt hatten. Vielleicht sollte sie Cedartown eines Tages einen Besuch abstatten, um zu sehen, wo ihrer aller Geschichten begannen. Vielleicht. Eines Tages.

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Kapitel eins

Sydney, 2006

Lara

Lara stand am Fenster und sah hinaus auf die tropfnassen Sträucher und Blumen. Der Regen war bitter nötig gewesen, Sydneys Wasserversorgung hatte einen kritischen Tiefstand erreicht. Doch nach beinahe einer Woche ergiebigem Dauerregen fühlte Lara sich ans Haus gefesselt und langweilte sich. Sie hatte das Gefühl, ihre Haut setze Schimmel an. Genau genommen hatte sie das Gefühl, ihr ganzes Leben stecke im Schlamm fest.

Ein Jahr zuvor hatte Lara ihre Arbeit als TV-Producerin von Dokumentarfilmen und Filmbeiträgen für diverse, von einem der führenden Privatsender am laufenden Band ausgestoßene Fernsehprogramme aufgegeben. Da war sie gerade sechzig Jahre alt geworden, und die Scheidung von ihrem zweiten Mann hatte neun Jahre zurückgelegen. Daher hatte sie beschlossen, zu reisen und die neu gewonnene Freiheit zu genießen.

Ihr Beruf war anfangs interessant gewesen, doch in den letzten Jahren hatte sie das Gefühl gehabt, in einer Tretmühle zu stecken, immer und immer wieder die gleichen Geschichten zu wiederholen. Daher hatte sie gekündigt, war ins Ausland gereist und hatte überall in Australien Freunde besucht. Doch nun war sie an einem toten Punkt angekommen und fragte sich, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte. Sie war noch immer arbeitsfähig und sah für ihr Alter gut aus, da sie viel Zeit hatte, um sich zu pflegen, viel Zeit fürs Fitnessstudio, für Tennis und regelmäßige Schönheits- und Massagebehandlungen – Dinge, zu denen sie als berufstätige Frau nie gekommen war.

Sie war nie der Typ für den morgendlichen Kaffeekranz mit den Mädels gewesen. In einem Buchclub hatte sie es drei Monate ausgehalten. Dann hatte sie wie eine Wahnsinnige im Garten gearbeitet, doch mittlerweile war auch die letzte freie Stelle bepflanzt. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, einige Kurse an einer Hochschule zu belegen – sie bedauerte immer noch, dass sie nie Gelegenheit gehabt hatte, zu studieren. Ihre verwitwete Mutter Elizabeth hatte es sich damals nicht leisten können, und Lara hatte sich zunächst ein wenig als Schauspielerin und Model versucht, ehe sie Arbeit bei einem Modemagazin gefunden hatte. Dort hatte sie hin und wieder Artikel geschrieben und bei Modeaufnahmen ausgeholfen. Sie hatte ein gutes Auge für Locations, Models mit markanten Gesichtern, ungewöhnliche Accessoires und ausgefallenes Styling bewiesen. Außerdem hatte sie ein Talent dafür gehabt, die Geschichte unter der Oberfläche zu entdecken, und war von einem großen Film- und Medien-PR-Unternehmen eingestellt worden, das sich um heißgehandelte Rockbands und neue Filme gekümmert hatte. Schließlich war sie beim Fernsehen gelandet, und es hatte nicht lange gedauert, bis sie das Videofilmen und -schneiden beherrscht hatte. Sie hatte auch Angebote erhalten, vor der Kamera zu arbeiten, doch das hatte sie erschreckt, da sie die Vorstellung, sich öffentlich zur Schau stellen zu müssen, nicht mochte. Dieses Spiel sollten andere spielen, häufig unter ihrer Leitung.

Laras erste Ehe mit einem amerikanischen Geologen, Joseph Moreland, Danis Vater, hatte dazu geführt, dass sie zunächst kurze Zeit im Ausland hatte leben und dann zusammen mit ihrem Mann an die entlegensten Stellen im australischen Outback ziehen müssen. Als er wieder in die Vereinigten Staaten zurückgegangen war, um an einem College in South Dakota zu lehren, war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie sich der amerikanischen Lebensweise nicht noch einmal stellen mochte. Selbst die schäbigsten Gemeinden im australischen Outback waren der amerikanischen Suburbia vorzuziehen: weiße, mit Dachschindeln gedeckte Häuser, die eins wie das andere aussahen, grüne Rasenflächen, bei denen jeder perfekte Grashalm mit der Nagelschere auf gleiche Höhe gebracht war, Sternenbanner über jeder Veranda. Sie hatten sich getrennt. Lara war mit ihrer zehnjährigen Tochter Dani zurück nach Australien gezogen, wo sie schließlich richtig beim Fernsehen Fuß gefasst hatte.

Als Dani auszog, um zur Universität zu gehen, war Lara überstürzt eine zweite Ehe mit Gordon Langdon eingegangen. Doch ihre Arbeit beim Fernsehen mit den langen Arbeitstagen sowie die Tatsache, dass es ihrem Mann an Arbeit und Ehrgeiz mangelte, hatten ihre Ehe verkümmern lassen.

Die darauffolgenden Jahre als alleinstehende Frau waren ruhig und – im Rückblick – fruchtbar gewesen. Gelegentlich setzte die Angst, allein auf ihrer Veranda alt zu werden, Lara zu. Sie hoffte, eines Tages werde es für sie erneut einen Liebhaber oder Gefährten geben, der sich in seinem eigenen Leben so wohl fühlte, dass er nicht in ihres eingreifen musste. Sie wünschte wirklich, dieser Mensch würde auftauchen. Im Augenblick war das Leben ziemlich eintönig.

Laras Haustür wurde geöffnet, und ihre Tochter rief vom Flur aus nach ihr. »Bist du da?«

Danis Hund sprang freudig bellend voraus. Dies war sein zweites Zuhause.

Laras Stimmung wechselte schlagartig. Wenn ihre energiegeladene Tochter Dani ins Haus stürmte, war das, als schaltete man den Strom ein. Dani stand immer unter Dampf, sie sprühte Funken vor Begeisterung, lachte viel und plauderte wie ein Wasserfall. Es sei denn, sie durchlebte gerade ein dramatisches Ereignis oder eine Katastrophe, denn dann entlud sich eine wahre Flut von Gejammer und Verzweiflung, die Lara häufig regelrecht überschwemmte. Ihre Tochter lud stets irgendetwas bei ihr ab, was sie gerade beschäftigte, wurde aufgemuntert, getröstet oder beraten und zog frischen Mutes wieder von dannen. Lara blieb dann meist emotional völlig ausgelaugt zurück.

Dani kam ins Wohnzimmer. »Warum bist du hier drin und bläst am Fenster Trübsal?«

»Hallo, Liebes. Ich blase eigentlich nicht Trübsal, ich sehe mir nur die völlig durchweichten Lagerstroemien an und denke: So fühle ich mich auch. Nass bis auf die Knochen, und zwischen meinen Zehen wächst Schimmel.«

»Keine schöne Vorstellung, Mum. Komm, hol die Teekanne raus. Ich habe Neuigkeiten.«

Lara sah das Funkeln in Danis Augen. Ihre schöne Tochter war eine bodenständige Frau von dreiunddreißig Jahren, die selbst einen kleinen Sohn hatte. Doch in ihrer allzu fröhlichen Stimme und der allzu strahlenden Miene nahm Lara eine Anspannung wahr, die sie an Dani als kleines Mädchen erinnerte, wenn diese sich darauf vorbereitet hatte, in einigen lapidaren Sätzen schlechte Neuigkeiten zu überbringen.

»Okay, was hast du angestellt?«

»Jolly, geh nach draußen, runter vom Sofa! Still!« Dani scheuchte den Hund hinaus auf die überdachte Veranda.

»Lass sie nicht mit schmutzigen Pfoten wieder ins Haus.« Lara ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen, und Dani folgte ihr. »Also, was gibt’s?« Sie zog eine Augenbraue hoch und schenkte ihrer Tochter einen wissenden Blick.

»Dir kann ich nichts vormachen, Mum«, sagte Dani lächelnd und setzte sich an den runden Tisch in der Frühstücksnische, einer normalerweise sonnenüberfluteten Ecke mit Blick auf die Blumen und Sträucher im gepflegten, wenn auch ein wenig dicht bepflanzten Garten ihrer Mutter. »Ich hab dir doch erzählt, dass ich über eine Veränderung nachdenke, mich irgendwie weiterentwickeln will? Tja, diesmal rede ich nicht nur davon. Ich habe gekündigt. Finito. Ich bin da weg. Jetzt fängt mein wahres Leben an.«

»Und das wäre?«, fragte Lara, während sie Tassen, Milch und Gebäck auf den Tisch stellte.

»Die Malerei. Ganztägig. Jetzt ist Schluss mit diesem mal hier ein bisschen, mal da ein bisschen Malen. Wenn ich es jetzt nicht versuche, werde ich nie wissen, wie gut ich sein kann«, sprudelte Dani, ohne Atem zu holen, hervor.

»Phantastisch! Wie schön für dich, Liebes. Earl Grey oder Irish Breakfast?«

»Mum! Was muss ich eigentlich tun, um dich zu schockieren?«, rief Dani erleichtert lachend. Zwar standen sie und ihre Mutter sich sehr nahe, sprachen über fast alles in ihrer beider Leben ganz offen miteinander und hatten mittlerweile eine eher freundschaftliche anstatt einer Mutter-Tochter-Beziehung zueinander, doch hin und wieder fielen sie in die alten Rollen zurück. »Ich hatte zumindest mit ein paar Pfeilen gerechnet. Zum Beispiel: Wovon willst du leben? Wie willst du dich in der Kunstwelt bekannt machen? Wo willst du denn malen, das macht doch so viel Dreck?«

»Ich schätze, das hast du dir alles schon überlegt, Jungfrau, die du bist. Ich bin nicht überrascht. Ich weiß, wie schwer es für dich war und wie unzufrieden du ganz allgemein mit deinem Leben warst. Und ich könnte mir vorstellen, dass eine Künstlerin die Arbeit einer Grafikerin als ziemlich einengend empfindet«, sagte Lara.

»Also, willst du meine Pläne hören?«, fragte Dani.

»Natürlich. Wie kann ich dir helfen? Wo komme ich ins Spiel?«

»Du bist zu gut, um wahr zu sein, Mum. Lieb von dir, aber ich komme schon zurecht, und ich will das allein schaffen.« Dani war ein wenig verdrossen. Ihre Mutter hatte sie stets unterstützt, auch in den Jahren im Tollhaus Fernsehen, das so viel Zeit und Aufmerksamkeit beansprucht hatte. Kein Wunder, dass die zweite Ehe mit Gordon nicht funktioniert hatte. Dani konnte für das Scheitern ihrer eigenen Ehe keine solche Entschuldigung anführen.

Lara sah die Verärgerung über das Gesicht ihrer Tochter huschen. Dani wirkte stets wie eine starke, gelegentlich starrsinnige junge Frau. Doch Lara wusste, im Inneren lebte immer noch ein bedürftiges, manchmal auch verletzliches kleines Mädchen. Ein Mädchen, das nun selbst Mutter war, dessen Leben einen Verlauf genommen hatte, der im Gegensatz zu dem stand, was sie wirklich wollte. Lara hatte Dani durch die anstrengende Zeit ihrer Scheidung hindurchhelfen können und war immer da, um sich um den achtjährigen Tim zu kümmern. Auch in finanzieller Hinsicht konnte sie Dani unterstützen. Sie war stolz darauf, wie Dani die Trennung bewältigt hatte, und sie erkannte, es war an der Zeit, dass Dani ihr Leben wieder in die Hand nahm. Lara beschloss, sich ein wenig zurückzunehmen.

»Klingt, als würdest du dein Schicksal ohne meine Hilfe meistern. Also, wann bekommst du dein letztes Gehalt und veranstaltest das Abschiedsessen?«

»In zwei Wochen. Dann habe ich noch Urlaubs- und Krankheitstage übrig. Die meisten in der Agentur halten mich für verrückt und glauben, ich falle auf die Nase damit. Wahrscheinlich, weil keiner von denen die Courage hat, es selbst zu versuchen. Ein paar von den Computerfreaks finden, es ist keine große Sache, die sehen keinen Unterschied zwischen der Kunst und ihrem Computer.«

»Und die anderen? Sind das eher frustrierte Maler als Designer von Logos und Websites oder was die da machen?«

Dani sah zu, wie ihre Mutter Tee in ihre großen Lieblingstassen goss – ihre war mit gelben Blumen bedruckt, die ihrer Mutter mit blauen. »Schwer zu sagen, wirklich. Zwei von ihnen haben einen Hochschulabschluss in Kunst, und wahrscheinlich entspricht die Arbeit in einer Agentur nicht dem, was sie sich von ihrer Karriere als Künstler versprochen hatten. Weil ich keinen Abschluss in Kunst habe, glauben sie, ich wäre ein bisschen weltfremd, und sie gehen davon aus, dass ich als Vollzeitmalerin nie viel Geld verdienen werde – der hungernde Künstler in der Dachstube und so.«

»Du wirst wahrscheinlich auch nicht viel Geld verdienen.«

»Das weiß ich. Darum geht es auch gar nicht.«

Lara lächelte. »Gut, dass ihr euer Haus zum richtigen Zeitpunkt verkauft habt, du und Jeff. Spielt dieser Notgroschen eine Rolle bei deiner Entscheidung, ins kalte Wasser zu springen?«

»Natürlich. Ich habe einen Sohn, für den ich sorgen muss. Und der Unterhalt für ihn reicht natürlich nicht für uns beide.«

»Jeff findet wahrscheinlich, du machst dir auf seine Kosten ein schönes Leben.«

»Es ist mir egal, was er denkt. Und bei der Scheidungsvereinbarung haben wir beide draufgezahlt. Die Regelung Hälfte-Hälfte war am Ende alles andere als wasserdicht.«

»Zum Beispiel, weil er die wertvollen Bücher und Bilder mitgenommen hat?«

Dani atmete tief durch, um die aufsteigende Niedergeschlagenheit zu bezähmen. »Mum, ich möchte das nicht mehr aufwärmen. Das habe ich hinter mir gelassen.«

Lara trank ihren Tee und dachte: Na, dann Gott sei Dank. Dani hatte wochenlang vor Wut mit den Zähnen geknirscht, weil ihr Ex-Mann als Erster unter ihren vermeintlich gemeinsamen Besitztümern hatte wählen dürfen. Sie wechselte das Thema. »Wissen diese Leute, mit denen du in den letzten zwei Jahren zusammengearbeitet hast, dass du zeichnest und malst, seit du laufen kannst?«

»Natürlich nicht. Alles, was für die zählt, ist das Zeugnis. Abgesehen davon denke ich, dass sie sich den Kunstbazillus auch schon eingefangen haben, als sie gerade alt genug waren, um einen Bleistift zu halten und Männchen zu malen.«

Lara erinnerte sich, wie Dani als Zweijährige erste Erfahrungen mit Fingerfarben und Ausmalen gemacht hatte. Zunächst hatte sie es für mütterlichen Stolz gehalten, doch als Dani vier war, hatte Lara eindeutig erkannt, dass Dani Talent hatte. Damals hatte Dani oft auf dem Boden gelegen, aus der Haustür ihres Hauses in South Dakota auf die Straße gesehen und in leuchtenden Kreidefarben oder mit zartem Bleistiftstrich Straßenszenen, Menschen, Hunde und Autos gezeichnet. Lara hatte die meisten ihrer Bilder bis heute aufbewahrt. Mit zunehmendem Alter waren Danis Zeichen- und Malfähigkeiten immer mehr erblüht.

»Tut es dir leid, dass du nicht Kunst studiert hast?«, fragte Lara. Danis Wahl ihres Studienfachs hatte eine kleine Familiendebatte ausgelöst. Im tiefsten Inneren hatte Lara gespürt, dass Dani ihr von Gott gegebenes Talent entwickeln sollte. Ihr Vater Joe hatte es abgetan, weil man es damit in der Welt zu nichts bringen könne, und argumentiert, sie solle die Kunst doch als »Hobby« betreiben. Er hatte Dani gedrängt, Kommunikationswissenschaften und Journalismus zu studieren. Am Ende hatte Lara ihn darin unterstützt, da es das war, was sie selbst getan hätte, wenn sie die Chance gehabt hätte. Lara hegte immer noch den Wunsch, eines Tages »irgendetwas« zu schreiben.

»Nein … leid tut es mir eigentlich nicht«, sagte Dani seufzend. »Man hört immer wieder, die akademische Herangehensweise engt den natürlichen Stil ein. Ich weiß es nicht. Jedenfalls, alles, was ich will, ist, mich da allein vorzutasten, ein Stück weit das Unbekannte zu erkunden, mal sehen, was dabei herauskommt. Ich habe genug von Kunstschulen, Sommermalkursen und Malkursen nach dem lebenden Modell. Es ist ja nicht so, als hätte ich überhaupt keinen Unterricht gehabt«, rechtfertigte sie sich.

»Aber kannst du dir vorstellen, dass du mal davon leben kannst?«

»Mum, wie gesagt, deshalb habe ich meinen Job nicht aufgegeben. Zum ersten Mal kann ich es mir leisten, eine Auszeit zu nehmen, um nur zu malen und zu experimentieren. Wenn mir das Geld ausgeht, werde ich sehen, wo ich stehe. Dann suche ich mir eben einfach wieder irgendeine Arbeit.«

»Vielleicht ja auch nicht«, meinte Lara heiter. »Es ist eine großartige Idee.« Sie versuchte, vor ihrem geistigen Auge in Danis winzigem Reihenhaus in Paddington Platz für ein Atelier zu schaffen. »Also, wo wirst du malen?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich brauche so was wie eine Garage mit viel Licht. Ich würde gerne ein paar große Leinwände malen. Und wie du ja weißt, Malen macht Dreck.«

In Laras Haus gab es nicht genügend Raum, und ein Atelier anzumieten, würde teuer sein. »Du kannst nicht allzu weit wegziehen, Jeff hat ja das Recht, seinen Sohn zu sehen … Es wird sich schon etwas ergeben«, fügte sie hinzu. Sie wollte nicht zu pessimistisch sein, doch sie sah Probleme voraus, sollte Tim zu weit von seinem Vater entfernt wohnen.

Dani antwortete nicht. Die optimistische, fröhliche Sicht ihrer Mutter auf das Leben konnte einem auch auf die Nerven gehen. Dani plante gern voraus und wusste, worauf sie sich einließ und was sie sich von etwas erwartete. Doch dieses eine Mal tat sie etwas ohne vorgefassten Plan. Es war, als hätte ihr lange unterdrücktes Talent rücksichtslos den vordersten Platz in ihren Gedanken erobert, so dass alles andere nun irrelevant und unwichtig erschien. Im Augenblick stellte sie sich alles, was sie sah, als fertiges Gemälde vor. Es juckte sie in den Fingern, einen Pinsel zu halten, sie sehnte sich nach dem Geruch von Ölfarbe, dem Gefühl von aufgezogener Leinwand unter den Fingern, der Erfahrung, sich in dem, was sie tat, zu verlieren, ohne auf die Zeit oder die Welt außerhalb ihrer Kunst zu achten – nur sie und der Pinsel.

Sie tranken ihren Tee aus.

»Ich hole Jolly lieber herein und trockne sie ab. Was hast du heute noch vor, Mum?«

»Ach, wenn es aufhört zu regnen, mache ich meinen Spaziergang. Idiotischerweise habe ich ein großes Vorhaben in Angriff genommen, das sprichwörtliche Vorhaben für einen verregneten Tag, und jetzt werde ich ewig brauchen, bis ich damit fertig bin«, sagte Lara und stellte die Tassen in die Spüle.

»Was denn?«, fragte Dani und ging ins Esszimmer. »Oh, verstehe.«

Der lange, polierte Tisch war mit Schuhkartons, Fotoalben und losen Fotos übersät.

»Die ganzen Familienfotos, die ich immer schon mal sortieren wollte, seit Mutter gestorben ist. Von vielen weiß ich gar nicht, wer die Leute darauf sind oder wo sie aufgenommen wurden. Besonders die aus den frühen Jahren meiner Großeltern.«

»Das sind aber keine Familienfotos.« Dani blätterte einen Stapel sepiafarbener Abzüge durch, die aussahen, als wären sie einmal gerahmt gewesen. Unter jedem Bild stand eine gedruckte Bildunterschrift. Außerdem waren da vergilbte Zeitungsausschnitte, Bündel von Briefen, die mit Gummibändern und Kordeln zusammengebunden waren, und einige alte Bücher. Obenauf lag ein Buch mit dem Titel Neugierige Blicke in die Vergangenheit.

»Poppy, dein Urgroßvater, hatte etwas von einem Archivar. Er und Nana haben alles aufgehoben. Faszinierende Lektüre. Die Fotos da stammen aus den alten Passagierzügen, die die Nordküste hochfuhren. Ich weiß noch, dass ich in den Ferien immer den alten Dampfzug nahm, um meine Großeltern zu besuchen. Das fand ich toll, auch wenn der Rauch und der Ruß durch sämtliche Ritzen drangen. Es gab einen alten Fußwärmer aus Blech für Fahrten im Winter, eine große Wasserflasche und ein paar Gläser in einer Halterung über der Tür, und unter dem Gepäcknetz hingen Fotos wie die da. Der Zug kam in den frühen Morgenstunden in Cedartown an, und Poppy war immer da, um mich abzuholen.«

Lara seufzte sehnsuchtsvoll bei dieser schönen Erinnerung. »Wir haben uns an den Händen gehalten und sind über die unbefestigte Straße nach Cricklewood gegangen – so hieß ihr Haus –, und da hat dann schon das Wasser für Tee auf dem Herd gestanden, und manchmal gab es Scones, die noch warm und in ein Geschirrtuch gewickelt waren. Diese Unterhaltungen am Küchentisch, ehe ich zu Bett ging und Nana später beim Frühstück sah, fand ich wunderbar. Als ich älter wurde und schon arbeitete, habe ich sie manchmal einfach überrascht. Ich habe auf der Veranda gewartet und bin ins Haus gegangen, wenn sie gerade aufstanden.« Lara lächelte in sich hinein, und Dani sah deutlich, dass sie glücklichen Erinnerungen nachhing.

Lara hatte diese Ferien bei ihren Großeltern geliebt. Besonders das langsame Erwachen, während schon der Geruch des im Herd brennenden Holzes zu ihr hereindrang und die Ofentür mit einem Knall zufiel, nachdem Poppy den Toast an einem langen Spieß aus Zaundraht über dem Feuer geröstet hatte. Das Brot war weiß und luftig-locker, es wurde täglich auf einem von Pferden gezogenen Bäckerwagen geliefert. Sie besaßen einen elektrischen Wasserkocher und einen gedrungenen kleinen elektrischen Toaster mit herunterklappbaren Seitenwänden, doch den ersten Tee und Toast am Morgen machte Poppy auf die alte Weise. Dann brachte er ihr den dampfenden Tee mit einem Stück Toast ans Bett. Die Kruste war knusprig, die Mitte weich mit zerlaufener Butter. Die Freude, die im Gesicht ihres Großvaters aufleuchtete, wenn sie hungrig nach dem Teller griff und sich im Bett aufsetzte, um zu essen, zeigte ihr, wie sehr er ihre Besuche genoss. Dann plauderten sie über ihre Pläne für den Tag, oder er erzählte ihr von etwas, das er beim Milchholen gesehen hatte.

Der Milchmann kam in den frühen Morgenstunden mit seinem Pferdewagen voller Milchkannen. Das Pferd trottete dahin und hielt automatisch an jedem Haus an, damit der Milchmann Milch in die sauberen Blechkannen schütten konnte, die am Tor hingen. Lara mochte es besonders, wenn die dickflüssige fette Milch stehenblieb, bis man die Sahne abschöpfen konnte, um sie für Poppys berühmten Biskuitkuchen zu schlagen. Das Rezept hatte er, wie er sagte, von einem französischen Soldaten bekommen, dem er im Ersten Weltkrieg in einem Militärkrankenhaus geholfen hatte. Poppy hatte ihr oft gezeigt, wie man einen Biskuitkuchen buk, doch sie erinnerte sich nur noch daran, wie er Butterstückchen in den Teig fallen ließ und dabei deklamierte: »Du beurre, du beurre, toujours du beurre.«

Während sie ihren Tee trank, ging ihr Großvater zurück in die Küche und schenkte Tee für ihre Großmutter ein, die kaum jemals ohne ihre Tasse Tee aufstand, der genau so sein musste, wie sie ihn mochte. Schließlich wurde die Tasse mit einem abschließenden Klirren wieder auf die Untertasse gestellt – das Zeichen, dass ihre Großmutter nun aufstand und nicht gestört werden durfte. Dann erschien sie in ihrem besten Morgenmantel in der Küche, die Haare sorgfältig gekämmt, und begrüßte Lara beim Porridge, das Poppy über Nacht eingeweicht und auf dem Herd gekocht hatte.

Während Lara in diesen kostbaren Erinnerungen schwelgte, sah Dani die alten Fotos durch: Der Kai von Cedartown. Der Cedartown Brush. Das Tal, vom Berg aus betrachtet. Vieh auf den Riverwood Flats. Ochsengespann bringt rote Zedern vom Berg herab. Die Hütte der Zedernfäller im Wald.

Dani riss Lara zurück in die Gegenwart: »Das war eine ganz andere Welt damals, Mum. Faszinierende Bilder.«

»Die rote Zeder war ziemlich schnell weg. Der Cedartown Brush, also der Wald von Cedartown, war nur eine kleine Regenwaldinsel am Fluss, aber man kann sich vorstellen, wie es einmal überall am Fluss ausgesehen haben muss. Zu meiner Zeit wurde der Cedartown Brush allmählich von Kletterpflanzen überwuchert, und die Baumkronen wuchsen zu einem richtigen Baldachin zusammen. Es war ziemlich dunkel und unheimlich da drin, aber ich fand es aufregend. Wer weiß, was jetzt noch davon übrig ist.« In Erinnerungen versunken, hielt Lara inne. »Poppy hat immer gesagt, der Cedartown Brush sei ein echter Schatz. Wir haben ein Bild, auf dem wir zwischen den Brettwurzeln einer riesigen Feige stehen, die wahrscheinlich mehrere hundert Jahre alt war. Als ich mit dir als kleinem Baby auf meiner ersten Heimfahrt aus Amerika wieder hinging, sah sie furchtbar aus, war von oben bis unten von Ranken überwuchert und stank, weil Millionen Flughunde sich darin niedergelassen hatten.« Sie lachte über diese Erinnerung. »Wahrscheinlich gehört sie immer noch ganz den Flughunden.«

Dani hörte nur halb zu. Sie war völlig in die alten Bilder vertieft, besonders in eines, auf dem man von einem Berg hinabsah auf ordentliche Milchviehweiden, die sich über eine üppige Flussebene bis hin zum an beiden Ufern von Bäumen gesäumten, breiten Fluss erstreckte. Das Bild strahlte eine Atmosphäre vollständigen Friedens aus. Langsam arbeitete sie sich weiter durch die Fotos, und ein seltsames Gefühl überkam sie.

 

Das sepiafarbene Bild verblasste, an seine Stelle trat eine dicht mit graugrünen, hoch aufragenden, gerade gewachsenen Eukalyptusbäumen bewachsene Fläche, und die hochgeschätzten roten Zedern, das »rote Gold«, standen als Farbsprenkel überall in den bewaldeten Senken und an den Hängen. In der am nächsten gelegenen Senke hörte sie das Echo eines Peitschenschlags und den eigentümlichen Singsang, mit dem ein Ochsentreiber sein Gespann aus zwanzig Ochsen antrieb, das einen mächtigen Zedernstamm zu Tal zog, dessen unteres Ende so breit wie ein Scheunentor war. Metall klirrte, Holz knarrte, die Ochsen atmeten schwer und schnaubten.

Bei der groben Holzhütte der Rotzedernfäller machten Männer Pause, tranken Tee aus der Blechkanne und aßen Buschbrot, während zwei Possums über dem Lagerfeuer brieten. Die Haut der Männer war sehr hell, da sie, abgeschirmt von der Sonne, so viel Zeit im grünen Halbdunkel verbrachten, während sie der gefährlichen Beschäftigung nachgingen, die Baumgiganten des Waldes zu fällen. Die Gesellschaft anderer Männer, der Genuss von Bier, Rum und Frauen, das alles würden sie bekommen, wenn sie sich nach getaner Arbeit auf den Rückweg nach Riverwood machten.

 

Ein anderes Bild: zu einem Floß zusammengebundene Baumstämme, die auf dem nach den letzten Regenfällen rasch dahinfließenden Wasserlauf stromabwärts in Richtung Sägemühle schaukelten. Man hatte die Stämme weiter stromaufwärts am Ufer gelagert, bis die Strömung stark genug war, und dann hatten alle mit angepackt und sie in den Fluss gestoßen. Die Rotzedernfäller zogen stets voraus, um die Stämme wieder flottzumachen, sollten sie sich in Flussbiegungen oder engen Flussabschnitten verkeilen. Die Männer riskierten ihr Leben, wenn sie auf den Stämmen balancierten und mit Äxten und Stangen Treibholz entfernten, damit die Flöße vorankamen. Manchmal schleuderte ein unvorhergesehener Strudel einen unglücklichen Holzfäller in die Fluten, wo er zwischen sich wälzenden Stämmen zermalmt wurde.

Entlang des Flusses beobachteten Siedlerfamilien das wertvolle Treibgut auf seiner Reise, an deren Ziel es vielleicht elegante Salons in England oder die Häuser reicher Kaufleute in Sydney möblieren würde.

 

»Dani! Bitte komm zurück auf die Erde. Woran denkst du?«

Dani blinzelte, grinste verwirrt und kämmte sich mit den Fingern durch die Haare. »Ach, ich habe nur versucht, mir vorzustellen, wie es damals wohl war. Diese Männer, die da im Regenwald gearbeitet haben, für die müssen diese großen alten Bäume doch gleichbedeutend mit Geld, Möbeln, Fortschritt gewesen sein. Ich frage mich, was sie dazu sagen würden, dass die Bäume alle weg sind …«

»Da ist eine ganze Lebensweise verschwunden. Poppy hat mir immer Geschichten von den Ochsentreibern erzählt, die die Baumstämme zu Tal gezogen haben, und von den Viehtreibern, die jedes Jahr die Viehherden zu den Verkaufsplätzen getrieben haben. So viele Geschichten.« Lara seufzte.

»Darüber haben wir in der Schule nicht viel gelernt«, sagte Dani. »Wie lange warst du nicht mehr in Cedartown?«

»Ach, ewig nicht mehr. Wahrscheinlich hat es sich nicht groß verändert. An dem Ort scheint alles vorbeigegangen zu sein. Das war immer schon ein verschlafenes Städtchen. Als die Milch- und die Holzindustrie weg waren, war nicht mehr viel übrig.«

»Kein Tourismus?«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Es gibt da einen hübschen Fluss und schöne Landschaft, aber nichts zu tun für die Touristen. Man kann vielleicht eine Nacht da zelten, ein bisschen angeln, einmal der Aussicht wegen auf den Berg fahren, aber dann zieht man weiter.«

»Klingt doch idyllisch. Gibt es da immer noch Leute, die unsere Familie kannten? Ob das Haus deiner Großeltern immer noch steht?«

»Ich war seit Jahren nicht mehr da. Einmal haben Gordon und ich auf der Rückfahrt nach Sydney dort haltgemacht. Er wollte sehen, wo meine Wurzeln lagen. Aber er war nicht sonderlich beeindruckt. Wir haben in einem der Lokale ein Steak-Sandwich gegessen und ein Bier getrunken und sind weitergefahren.«

»Aber du hast immer so ein herzerwärmendes, nostalgisches Bild von dem Haus gezeichnet.«

Lara zuckte die Achseln und wandte sich von dem mit Familienerinnerungen überladenen Tisch ab. »Für mich als kleines Mädchen war es etwas Besonderes. Aber nur wegen meiner Großeltern, und weil meine frühesten Erinnerungen von dort sind. Ich wurde dort geboren. Mit fünf bin ich weggezogen und nur in den Ferien zurückgekommen. Dann immer seltener. Ich wollte lieber in der weiten Welt herumreisen.«

Lara atmete tief durch und wechselte das Thema. »Komm, Jolly hat es satt da draußen. Schau nur, sie hat die ganze Scheibe mit ihrer Nase verschmiert. Aber es scheint aufzuklaren. Hast du Lust auf einen Spaziergang, um den Kopf freizubekommen?«

Dani widerstand dem Drang, ihre Mutter darauf hinzuweisen, dass auch ihre Großmutter Elizabeth immer das Thema gewechselt hatte, wenn sie über etwas nicht reden mochte. Wie hatte das Lara und Dani immer erbost! »Keine Zeit. Muss Tim abholen.«

Lara gab Dani im Wäscheraum ein altes Handtuch, damit sie den Hund abtrocknen konnte. Sie plauderten und verabredeten, gegen Ende der Woche ins Kino zu gehen. An der Tür küsste Dani ihre Mutter zum Abschied. Als sie schon halb bei ihrem Auto war, drehte sie sich unvermittelt noch einmal um.

»Ich habe gerade eine Entscheidung getroffen. Ich fahre rauf in dieses Tal und sehe mich da mal um. Das klingt wie ein Ort, an dem ich mir überlegen kann, wie es weitergeht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich eine Verbindung dahin habe.«

»Das sind vier Stunden Fahrt! Da kannst du nicht pendeln!«

»Ich bleibe nur für ein paar Wochen, bis mein Resturlaub aufgebraucht ist. Kann Timmy bei dir wohnen?«

»Natürlich, Liebes. Und Jolly auch. Ich denke ja, das ist vergebliche Liebesmüh, aber wenn du mal hier rauswillst, dann ist das der richtige Ort dafür.«

Dani verfrachtete den Hund ins Heck ihres Wagens und winkte fröhlich.

Lara sah dem Auto hinterher, dann stützte sie sich aufs Gartentor und dachte über Danis neuesten Einfall nach. Ein paar Wochen im Tal. Schnapsidee. Dani würde vermutlich schon nach drei Tagen wieder hier sein. Was störte sie also daran, dass ihre Tochter das Tal und die Stadt besuchen wollte, mit denen sie, Lara, so vieles verband?

Lara kehrte an den Esszimmertisch zurück und nahm ein Foto zur Hand. Es zeigte zwei Jungen von etwa zwölf oder dreizehn Jahren, die für die Kamera posierten. Der Fotograf, der eine Boxkamera in Höhe der Taille hielt, war die unsichtbare dritte Person, als Schatten vor ihnen auf dem Boden zu sehen. Die Jungen trugen weite kurze Hosen, und einer hatte über seinem kurzärmeligen Hemd eine Strickweste im Fair-Isle-Muster an. Sie waren barfuß, grinsten frech und wirkten wie gute Freunde oder Brüder, die sich sehr nahestanden. Lara drehte das Foto um. Mit Bleistift stand auf der Rückseite geschrieben: »Clem und bester Freund, 1932.«

Cedartown, 1932

»He, Clem, bist du fertig?«

»Klar. Musste den Melkschuppen sauber machen. Alles fertig. Also, was machen wir jetzt?«

»Hab ein paar gute Grünalgen. Schätze, es könnten Ludericks da sein.«

»Bist ein Goldjunge. Ich hole meine Angelrute.«

Mit ihren Angelutensilien liefen die beiden Jungen über die Milchviehweiden, die Clems Familie, den Richards’, gehörten. Im Vergleich zu manch anderer Farm an der Nordküste war diese klein, doch auf dem fruchtbaren Überschwemmungsland wuchs saftiges Gras, das es seinem Vater ermöglichte, mehr Jerseyrinder pro Weide zu halten, als es auf Farmen weiter landeinwärts möglich war. Die Jungen bahnten sich einen Weg durch niedrige Bäume und Unterholz und folgten dem Pfad zu ihrem Lieblingsplatz am Fluss, wo ein grober Anlegeplatz aus Holz vom Ufer in den Fluss hineinragte. Daneben stand ein Baum mit überhängenden Ästen. An einem hohen Ast war ein Seil befestigt worden, an dem die Jungen auf den Fluss hinausschwingen und sich dann fallen lassen konnten.

Es war später Vormittag. Eine leichte Brise kräuselte die Wasseroberfläche, doch die Frühlingssonne war warm.

»Ist ’ne gute Zeit zum Angeln, schätze ich«, sagte Clem fachmännisch. Wenige Minuten, nachdem er seine Angel ausgeworfen hatte, sank der Schwimmer sanft unter Wasser, und er zog heftig an seiner Angel. »Hab ihn«, zischte er, dann rief er ausgelassen: »Ein Prachtkerl!« Er holte einen tellergroßen Luderick an Land. »Erster! Der erste Fisch bekommt den Preis«, rief er und dachte an die zusätzlichen Minties – Pfefferminzbonbons –, die sie als Preis ausgesetzt hatten.

»Du hast auch ’ne gute Angel«, murrte Thommo. »Meine ist zu alt.«

»Nein, ist sie nicht. Keith hat gesagt, die Angel von deinem Opa ist was Besonderes. Ist aus England, meint er.«

»Haben die etwa Luderick da drüben? Angeln die nicht Forellen und so?«

»Weiß nich’. Ich frag ihn.« In Clems Augen war sein älterer Bruder Keith die Autorität in so ziemlich allen Dingen. Er fragte nicht, warum Thommo die alte Angel seines Großvaters benutzte, obwohl seine Familie ihm jederzeit in Davidsons Laden eine neue hätte kaufen können. Thommos Vater war Elektriker und hatte einen kleinen Betrieb, der Privathaushalte wie Geschäfte bediente. Außerdem betrieb Mr. Thompson die Kinovorführungen im Rathaus. Auf Clem wirkten die Thompsons wie vergleichsweise wohlhabende Städter. Clems Vater war zunächst Teilpächter gewesen, bis die Familie zwei Jahre zuvor durch eine kleine Erbschaft genug Geld beisammengehabt hatte, um die Farm vollständig zu kaufen, doch es war nicht leicht für sie, von den Erträgen zu leben. Die lang anhaltende Depression traf die Menschen in der kleinen Stadt und im Tal hart, und viele zogen fort.

Für die beiden Jungen war diese Depression, von der die Erwachsenen immerzu sprachen, weit weg und sehr abstrakt und zeigte sich hauptsächlich in den arbeitslosen Männern, die auf der Suche nach Arbeit – und sei es auch nur für einen Tag oder für ein bisschen Fleisch und Brot – über die Landstraßen zogen und an sämtliche Türen klopften. Aus Gesprächen, die die Jungen mit angehört hatten, wussten sie, dass viele dieser Landstreicher über eine gute Ausbildung und große Arbeitserfahrung verfügten; es waren Männer, die in Schulen unterrichtet, Büros geleitet oder in Fabriken gearbeitet hatten und wussten, wie man Maschinen und Geräte reparierte. Manche arbeiteten hin und wieder ohne Bezahlung auf der Farm und waren froh, wenigstens etwas zu essen und ein trockenes Bett im Viehstall zu haben. Doch die Regierungspolitik zwang die Arbeitslosen, immer in Bewegung zu bleiben. Die gesamte Tragödie war den Jungen ein völliges Rätsel.

Die beiden waren auf der kleinen Highschool von Cedartown gute Freunde geworden. Dort wurden Kinder aus dem ganzen Tal unterrichtet, nachdem sie die Grundschule in Ein-Lehrer-Buschschulen absolviert hatten. Hin und wieder übernachtete Thommo auf einer mit Heu gefüllten Matratze aus Maissäcken in dem abgetrennten Schlafbereich auf der Veranda, den Clem sich mit Kevin, seinem zweitältesten Bruder, teilte. Clem seinerseits durfte an manchen Samstagabenden bei Thommo übernachten, wo die Matratze mit Kapok gefüllt war und auf einem richtigen Bett lag. Im Gegensatz zu den mit Umherstreifen verbrachten Tagen auf der Farm von Clems Familie bedeutete ein Besuch bei Thommo unbegrenzte Zeit im abgedunkelten Rathaus, wo sie Serien und Wochenschauen ansahen. Sie waren die besten Freunde. Sie lebten nur für den Augenblick. Ihre Welt war klein.