Im Land der glühenden Sonne - Di Morrissey - E-Book

Im Land der glühenden Sonne E-Book

Di Morrissey

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Beschreibung

Als Barney Holton, Sohn eines wohlhabenden Schafzüchters, sich in die einfache Ally McBride verliebt und diese heiraten will, kann er nicht ahnen, welch dramatische Wendung sein Leben fortan nehmen wird. Denn sein dominanter Vater ist entschlossen, diese Liaison unter allen Umständen zu verhindern. Barney muss sich entscheiden zwischen seiner Familie und der Liebe seines Lebens. Doch dann kommt Abby ihm mit einer völlig unerwarteten Nachricht zuvor ...

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Seitenzahl: 358

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Di Morrissey

Im Land der glühenden Sonne

Ins Deutsche übertragen von Katharina Ganslandt

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelDanksagung
[home]

Dieses Buch ist den Familien dieser Welt gewidmet, deren Mitglieder für alle Zeiten miteinander verbunden sind – ob sie heute leben, ob sie gestorben sind und in unserer Erinnerung fortleben oder ob sie erst noch geboren werden. In der Hoffnung, dass die Achtung und die Liebe, die wir für unsere eigene Familie empfinden, uns über alle Grenzen hinweg zu einer einzigen großen Weltfamilie zusammenschweißen mögen.

 

Und in der Erinnerung an Poppys Lieblingssatz:

»Die letzte Meile bis nach Hause ist immer die längste … aber es ist so schön heimzukommen!«

[home]

Erstes Kapitel

1958

Ganz langsam öffnete sich die in die Bibliothek führende Flügeltür aus dunklem Holz, und durch den Spalt drang der etwas muffige Geruch von altem Samt, Leder und Möbelpolitur in den Korridor. Einen kurzen Moment lang wurde ein schmaler Lichtstreif sichtbar, ein Schatten huschte ins Zimmer, dann drückten kleine Hände die Messingklinken behutsam nach unten, um beim Zumachen möglichst kein Geräusch zu verursachen, und schlossen den Raum wieder von der Außenwelt ab.

Obwohl es drinnen dunkel war, bewegte sich die kleine Gestalt mit sicherem Schritt auf die üppigen bordeauxroten Vorhänge zu, griff nach einer der schweren Stoffbahnen und zerrte sie zur Seite. So unerwartet wie ein plötzlicher Gewehrschuss ergoss sich ein Schwall gleißendes Sonnenlicht ins Zimmer.

Der Strahl erhellte den Raum, sodass sich die Möbelstücke – ein sperriger Schreibtisch, eine Stehlampe und ein niedriger Beistelltisch – aus dem Dunkel hervorhoben. Zwei Wände des Raumes wurden vollständig von Bücherregalen eingenommen, an einer dritten standen zu beiden Seiten eines Kamins bleiverglaste Bücherschränke. Hinter den schweren Gardinen, die den Ausblick auf eine gepflegte Gartenlandschaft verborgen hatten, kam eine hohe Fensterwand zum Vorschein. Es war, als sei ein Bühnenvorhang aufgezogen worden, um für ein Publikum, das nie kommen würde, die Welt der Bibliothek und die Schönheit des Gartens zu enthüllen.

Die winzige Gestalt in kurzen Hosen, gestärktem Hemd und wollenen Kniestrümpfen schob die kleine Trittleiter vor eine der Bücherwände, kletterte dann auf die dritte Stufe, beugte sich vor und griff, ohne zu zögern, nach einem in rotes Leder gebundenen Buch mit goldenen Lettern auf dem Rücken. Drei Bücher weiter stand eines mit schwarzem Einband, und auch dieses wurde aus dem Regal gezogen. Der Junge ging zielstrebig auf einen der Bücherschränke neben dem Kamin zu, drehte den Schlüssel, um die Glastür zu öffnen, und fügte dem kleinen Stapel zu seinen Füßen drei weitere Beutestücke hinzu. Anschließend schleppte er den Bücherberg zum Fenster, wo er sich, eingerahmt vom lockeren Faltenwurf der Samtvorhänge, zurücklehnte und das oberste der Bücher ins Sonnenlicht hob, das über seine Schultern hereinfiel.

Zuerst hielt er es nur auf den Knien und ließ andächtig die Hände über den Einband gleiten. Dann schlug er den schweren Buchdeckel auf und beugte sich hinunter, um den würzigen Geruch von Leder und altem Papier einzuatmen und endlich mit erwartungsvoller Vorfreude bedächtig das dünne Seidenpapier zurückzuschlagen und das Bild auf der Titelseite freizulegen.

Ein verträumtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während er es eingehend betrachtete. Es zeigte eine um einen langen Küchentisch versammelte Familie mit einem vergnügt aussehenden Vater, der ein langes Tranchiermesser in der Hand hielt, mit dem er gleich den vor ihm stehenden knusprig gebratenen, dampfenden Truthahn zerteilen würde. Der Junge hatte sich die um den Tisch versammelten Menschen schon oft angesehen – die freundlich lächelnde Mutter, die gespannten Mienen der Kinder – und sich immer gefragt, wie sie wohl hießen und was sie zueinander sagten. Er schloss die Augen und atmete tief ein, nahm die Wärme der Küche in sich auf, den Duft des gebratenen Puters und der im Kamin gerösteten Kastanien, und einen kurzen Augenblick lang meinte er, sogar in der Stille der Bibliothek den Widerhall ihres fröhlichen Geplappers und Gelächters zu hören.

Er schloss das Buch, hob das nächste auf den Schoß und blätterte die Seiten aufmerksam durch, bis er unter den Federzeichnungen sein Lieblingsbild gefunden hatte. Diese Familie scharte sich um einen einfachen Herd, in dem ein helles Feuer brannte. Der Vater hielt eine henkellose Tasse in die Höhe, mit der er den anderen zuprostete. Ganz dicht neben ihm kauerte auf einem Hocker ein kleiner Junge. Er war krank, seine Beine mussten von Metallschienen gestützt werden, und zu seinen Füßen lag eine kleine Krücke. Der Mann umklammerte die schmale Hand seines Sohnes fest mit der seinen, als liebte er ihn so sehr, dass er ihn nie mehr loslassen wollte. Der kleine Junge sagte etwas zu seiner Familie und blickte dabei hingebungsvoll zu seinem Vater auf.

Unter dem Bild standen Buchstaben, die Wörter formten, und diese ergaben einen Satz: »Gott segne uns alle!«, sagte Tiny Tim. Aber für den Jungen mit dem Buch waren es Hieroglyphen. Wie gerne hätte er erfahren, was der kleine Junge gerade sagte. Wurde er wohl je wieder gesund? Aber auf die Antwort würde er warten müssen, bis er selbst lesen gelernt hatte und die zwischen den Buchdeckeln verborgenen Schätze bergen konnte.

Schuldbewusst blickte er auf, und als hätte er die Strafe heraufbeschworen, wurde die Tür zur Bibliothek aufgerissen.

»Hab ich dich erwischt! Du ungezogener Bursche!«, dröhnte eine wütende Stimme. Im Türrahmen stand eine bedrohlich aufragende Gestalt, und der Junge sprang eilig auf die Füße, wobei er gleichzeitig versuchte, die Bücher hinter seinem Rücken zu verstecken.

Ein hoch gewachsener Mann stürzte auf ihn zu und packte ihn am Kragen. »Du weißt ganz genau, dass du hier nichts zu suchen hast. Das sind wertvolle Bücher. Du hast hier nichts anzufassen.« Die Stimme des Mannes wurde noch lauter. »Mrs. Anderson«, rief er. »Mrs. Anderson!«

Er stieß das Kind auf die Tür zu. Im Korridor vernahm man jetzt Schritte, die eilig näher kamen, und eine besorgte Stimme. »Ich komme schon, Sir.«

Die Haushälterin hastete ins Zimmer, sie wirkte aufgeregt. Einzelne mit Grau durchsetzte Strähnen hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst, auf ihrem runden, rosa angelaufenen Gesicht glänzten Schweißperlen, und sie wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ach, Richie, was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?«, fragte sie tadelnd.

Phillip Holten hielt den Jungen am Kragen gepackt wie einen streunenden Welpen. Er schob ihn ihr entgegen. »Bringen Sie ihn auf sein Zimmer. Er darf erst wieder herunter, wenn ich es sage.« Dann drehte er den mit gesenktem Kopf vor ihm stehenden Jungen zu sich hin und starrte ärgerlich auf ihn nieder. »Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche, Richard.«

Zögernd hob der Junge, um dessen Mundwinkel es bereits verdächtig zuckte, das Kinn und sah aus blauen Augen eingeschüchtert zu ihm auf.

Der Mann senkte die Stimme und sprach langsam und deutlich. »Ich verbiete dir, diese Bücher anzufassen oder dieses Zimmer zu betreten. Hast du mich verstanden?«

Der Junge nickte.

»Antworte bitte, wenn ich mit dir spreche.«

»Ja, Sir«, sagte der Kleine mit bebender Stimme. »Ich wollte mir nur die Bücher mit den Bildern …«

»Das reicht. Du lernst lesen, wenn ich es dir sage, und dann wirst du Bücher lesen, die für Kinder geeignet sind. Du bekommst eine Hauslehrerin, die dich auf eine gute Schule vorbereiten wird. Bis dahin tust du, was dir gesagt wird. Verstanden?«

»Ja, Sir«, kam es unterwürfig zurück.

»Und jetzt entschuldige dich, mein Herzchen«, erinnerte ihn Mrs. Anderson, nahm dabei seine Hand und drückte sie liebevoll.

»Es tut mir Leid, Sir.«

»Ab nach oben. Sorgen Sie dafür, dass das Zimmer wieder in Ordnung gebracht wird, Mrs. Anderson.«

»Ja, Mr. Holten. Ich bringe ihn nur vorher noch auf sein Zimmer.«

Sie führte den Jungen an der Hand nach oben. Als sie hörte, wie die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen wurde, bückte sie sich und hob ihn hoch. »Warum bist du denn auch da hineingegangen, mein Spätzchen? Du weißt doch, dass du das nicht darfst. Du hast so viele Spielsachen und schöne Bücher im Kinderzimmer. Du kletterst wohl gern die Trittleiter hoch? Ich weiß ja, dass du dir nichts Böses dabei gedacht hast, aber der Spaß ist es doch nicht wert, dass er jetzt zornig und wütend auf dich ist.«

Der Junge schmiegte sein Gesicht an ihre warme Schulter. »Denk nicht mehr daran, Spätzchen. Ich bringe dir ein leckeres Abendessen aufs Zimmer, und wenn du brav bist, bekommst du vielleicht noch eine Überraschung.«

An der Tür zum Kinderzimmer setzte sie ihn keuchend wieder ab.

Zurück in der Bibliothek, zog Mrs. Anderson die Vorhänge wieder vor, stellte die Trittleiter an ihren Platz zurück und hob die Bücher auf. Sie blätterte ein wenig darin herum und fragte sich dabei, warum der Junge ausgerechnet diese ausgesucht hatte. Sie spürte einen Kloß im Hals, als sie die Bilder betrachtete. »Armer kleiner Spatz«, seufzte sie. »So ein Leben hätte er bestimmt selbst gern. Das wäre für uns alle schöner …« Sie schob die Bücher wieder ins Regal und ging das Abendessen vorbereiten.

 

Weit davon entfernt, sein einsames Mahl als Strafe zu empfinden, genoss es Richie sogar. Auf dem Tablett, das ihm Mrs. Anderson auf den niedrigen Tisch gestellt hatte, fand sich unter einem gestrickten Eierwärmer ein weich gekochtes Ei und daneben eine in schmale Streifen geschnittene Scheibe Toastbrot. Dazu ein Schälchen Pudding mit Apfelkompott, ein Becher mit heißer Schokolade, und als besondere Überraschung stand neben dem Ei ein mit bunten Zuckerstreuseln verzierter Muffin in einem Papierförmchen.

Dann ließ sie Richie allein, der langsam und mit Vergnügen zu essen begann und die Toaststreifen gerade so tief in das Ei stippte, dass das Eigelb nicht oben herausquoll, genau wie Mrs. Anderson es ihm gezeigt hatte. Er spielte mit seinem Essen, summte vor sich hin, leckte sich die Finger ab und ließ Blasen in seinem Kakao blubbern. Das war doch viel schöner, als im kalten, ungemütlichen Esszimmer zu essen, wie er es fast jeden Abend tat.

Normalerweise wurde er an den langen Esstisch aus Palisanderholz gesetzt, wo seine Beine in der Luft baumelten und die unangenehme Höhe es ihm noch zusätzlich erschwerte, mit Messer und Gabel zu hantieren. Am anderen Ende der Tafel saß Phillip Holten und verzehrte andächtig und aufmerksam sein Mahl. Gelegentlich legte er das Besteck zur Seite, nahm einen Schluck Rotwein und stellte dem kleinen Jungen eine Frage, der es jedoch schwierig fand, längere Antworten zu geben und gleichzeitig darauf zu achten, dass ihm die Erbsen nicht von der Gabel rollten. Er lernte, die Hände im Schoß zu falten, falls das Antworten mehr Zeit in Anspruch nahm, beim Sprechen dem strengen, ruhigen Blick seines Gegenübers nicht auszuweichen und seine Aufmerksamkeit anschließend wieder der komplizierten Angelegenheit der manierlichen Nahrungsaufnahme zu widmen.

Mrs. Anderson servierte die einzelnen Gänge, lächelte ihrem kleinen Burschen, wie sie ihn heimlich nannte, aufmunternd zu und gab ihm hilfreiche Fingerzeige. Wenn sie die Teller in die Küche zurücktrug, meinte sie häufig mit einem Seufzer zu ihrem Mann Jim: »Der arme kleine Wurm. In seinem Alter sollte er eigentlich noch auf dem Schoß von seiner Mama sitzen und sich nicht mit großen Silbergabeln und Messern abplagen müssen.«

»Wenn er da drinnen bestehen kann, dann wird er im Leben mit allem fertig«, antwortete Jim dann immer. »Misch dich nicht ein. Du kennst doch die Regeln – es hat keinen Zweck, darüber zu diskutieren, wie es anders sein könnte.«

Das allabendliche Essensritual wurde genauso streng eingehalten wie zu der Zeit, als Phillip Holten selbst ein Junge gewesen war, und er hielt an der Weiterführung dieser Tradition fest. Aber für den kleinen Richie, der sich in der feinen Kleidung und den geschnürten Schuhen unwohl fühlte und sich allergrößte Mühe gab, sich gut zu benehmen, bedeutete es jedes Mal eine Tortur. Gegen Ende der Mahlzeit, wenn Mrs. Anderson ihm durch ein leichtes Kopfnicken das Zeichen gegeben hatte, sagte Richie sein Sprüchlein auf: »Darf ich bitte aufstehen?« Phillip Holten zündete sich dann seine Zigarre an und nickte. Mrs. Anderson wartete diskret an der Tür, bis er vom Stuhl gerutscht war und gute Nacht gewünscht hatte, um dann eilig in sein Schlafzimmer zu entfliehen.

Aber heute, wo er das Abendessen ›zur Strafe‹ im Kinderzimmer einnehmen musste, trug er seinen Schlafanzug und kümmerte sich nicht darum, ob er krümelte oder mit dem Eigelb kleckerte. Jetzt war er ganz allein, konnte Weihnachten spielen und so tun, als säße er im Kreis seiner Familie und Freunde um den Tisch und würde Teller mit Truthahn und Plumpudding weiterreichen. Er lachte und freute sich über die fröhliche Stimmung, von der ihm nur die stummen Bilder in den verbotenen Büchern eine Vorstellung gaben.

Später dann kam Mrs. Anderson, um das Tablett wegzuräumen und dafür zu sorgen, dass Richie sich wusch und die Zähne putzte. Sie lächelte, als sie ihn so fröhlich fand.

»Soll ich dir noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen, Spätzchen?«

Richie nickte eifrig, kuschelte sich ins Bett und machte Platz für Mrs. Anderson, damit sie sich neben ihn setzen konnte.

Es ging etwas langsam und schwerfällig, als sie mit leiser Stimme jeden Satz nach und nach zusammensetzte, aber Richie folgte der Geschichte dennoch voller Aufmerksamkeit, fuhr mit dem Finger die Sätze nach, die sie vorlas, und merkte sich jeden einzelnen. Er hatte sie so oft gehört, dass er das Buch Wort für Wort schon alleine ›lesen‹ konnte.

Es stammte noch aus der Zeit, als seine Eltern Kinder gewesen waren, und gehörte zu der Art von Lektüre, die Phillip Holten für kleine Jungen als geeignet erachtete. Zu Weihnachten hatte Mrs. Anderson Richie einmal ein buntes Bilderbuch mit Abenteuergeschichten für Jungen geschenkt. Phillip Holten hatte sich zwar bedankt, ihr jedoch gleichzeitig zu verstehen gegeben, dass er es vorzöge, wenn Richie wertvolleren Lesestoff bekäme, und hinzugefügt: »Sie müssen dem Jungen nichts zu Weihnachten schenken. Er hat ohnehin schon genug.«

»Bald ist Weihnachten«, überlegte Mrs. Anderson laut und dachte an die Bücher, die sich Richie in der Bibliothek angesehen hatte. »Und dann ist schon wieder ein neues Jahr – 1959. Ich frage mich, was es uns wohl bringen wird. Du wirst dann zum Beispiel schon zur Schule gehen.«

Aber Richies Blick war traurig. »Warum gibt es bei uns eigentlich kein Weihnachtsfest wie bei den Leuten in den Büchern?«, wollte er wissen, denn in seinem Zuhause wurde Weihnachten nicht gefeiert.

Am Weihnachtsmorgen begleitete Richie Phillip Holten zur Kirche, wo er dem Gottesdienst zwar keine besonders große Aufmerksamkeit schenkte, sich aber trotzdem brav und still verhielt. Das Singen gefiel ihm, aber mehr noch faszinierte ihn die festlich dekorierte Kirche mit den bändergeschmückten Kränzen am Eingang, dem Lametta, dem Blumenschmuck und den brennenden Kerzen im Innenraum. An diesem Tag war es anders als bei der üblichen Sonntagsmesse, die Kirche war brechend voll mit gut gelaunten Menschen, die ihre besten Kleider trugen. Alle wünschten sich gegenseitig »Fröhliche Weihnachten«, und die Augen der anderen Kinder strahlten vor Aufregung.

Während des Gottesdiensts in der einfachen presbyterianischen Kirche stand Phillip Holten immer feierlich in der ersten Reihe, und wenn er sich anschließend von den verschiedenen Gemeindemitgliedern mit einem Nicken und vom Pfarrer mit Handschlag verabschiedete, blieb Richie dicht neben ihm.

Beim anschließenden Mittagessen servierte ihnen Mrs. Anderson zum Nachtisch ihren Plumpudding – weitere Zugeständnisse an den Festtag gab es nicht.

Einmal hatte sie angedeutet, der Junge würde sich sicherlich über einen Weihnachtsbaum und ein paar »kleine Geschenke« freuen.

»Vielen Dank, Mrs. Anderson, aber die Erziehung des Kindes können Sie getrost mir überlassen. Abgesehen davon ist er noch zu klein, um für den unsinnigen Flitter, von dem einige Leute nicht lassen können, einen Sinn zu haben … wie man sein hart erarbeitetes Geld nur so verschleudern kann.«

Mrs. Anderson hatte darauf wohlweislich nichts erwidert, sich aber bei ihrem Mann verärgert über Mr. Holtens gnadenlose Sparsamkeit ausgelassen und den Jungen wegen seiner freudlosen Kindheit bedauert.

Jim Anderson klopfte den Kopf seiner Pfeife gegen die Ofenklappe und leerte den Bodensatz dann in den Aschekasten unter dem Herd. »Tja, Rene, vielleicht ist er ja wirklich ein schäbiger Geizkragen, aber du darfst dich nicht in seine Angelegenheiten einmischen. Wenn er es so für gut befindet, dann wird es eben so gemacht. Außerdem kannst du dem Mann kaum zum Vorwurf machen, dass er an Weihnachten nicht gerade fröhlich gestimmt ist.«

Richie spürte instinktiv, dass ihm etwas entging. Irgendwo da draußen musste es noch eine andere Welt geben, und er hätte nur zu gern gewusst, wie man dort hinkam. Er sah zu, wie Mrs. Anderson das Buch weglegte. »Was haben Sie an Weihnachten gemacht, als Sie so klein waren wie ich?«, wollte er wissen.

Ohne weiter darüber nachzudenken, begann Mrs. Anderson von ihren Geschwistern zu erzählen, was für lustige Spiele sie immer gespielt hatten und wie schön es gewesen war, am Weihnachtsmorgen aufzuwachen und die mit Süßigkeiten und Spielzeug gefüllten Strümpfe zu finden. Als sie allerdings Richies traurigen Blick sah und die Sehnsucht in seinem Herzen spürte, biss sie sich auf die Zunge und fügte ohne viel Überzeugungskraft hinzu: »Unser Leben bestand natürlich nicht nur aus Spiel und Spaß. Die Zeiten waren schwer, und Geld war knapp. Wir lebten von der Hand in den Mund. Du hast es da schon viel besser, dass du in einem so herrschaftlichen Haus aufwachsen kannst. Und später wirst du auf die besten Schulen gehen und ein kluger Mann werden, und dann kannst du alle Bücher auf der ganzen Welt lesen. Vielleicht schreibst du dann ja sogar selbst eines!« Aber ihre Worte hatten einen hohlen Klang, und Richie schien nicht ganz überzeugt davon, dass er es besser hatte.

Mrs. Anderson deckte ihn zärtlich zu und drückte ihm dann einen Kuss auf die Wange.

In der Stille unter den kühlen, weißen Laken legte der kleine Junge die Arme um sein Kissen und drückte es fest an sich. Unter seinen zusammengepressten Lidern begannen die Bilder, die er sich in den Büchern der Bibliothek angesehen hatte, plötzlich lebendig zu werden. In jeder dieser Szenen sah er sich selbst, und immer lachte er.

Den Engeln oder den tanzenden Rentieren, die an Weihnachten über die im Mondenschein schlummernde Landschaft eilten, war es wohl kaum zu verübeln, dass sie bei dem großen Haus nicht Halt machten. Die Fenster blickten schwarz, und keine Kerze brannte darin, um sie willkommen zu heißen. Das Haus wirkte nicht einladend, es schien sich in sich selbst zurückzuziehen, sich von der Außenwelt abzuschirmen … versunken in Erinnerungen. Zwar war das düstere Herrenhaus nie ein fröhliches oder sonniges Heim gewesen, aber immerhin hatte darin einmal eine richtige Familie gelebt.

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Zweites Kapitel

1953

Die Sonne strahlte auf das frisch gemähte Grün der eingezäunten Weide nieder, die als Spielfeld für das vierteljährlich stattfindende Kricketmatch der Graziers gegen die Townies diente. Aus der Ferne betrachtet wirkte es, als seien die weiß gekleideten Gestalten Schachfiguren auf einem Stück groben Flanellstoffs, der von Autos, Lastwagen, Pferden und den Ehefrauen, Freundinnen und Kindern in bunt gemusterten Kleidern farbig umsäumt wurde. Die Zuschauer saßen auf Wolldecken oder hockten auf Motorhauben, und manche schützten sich mit Sonnenschirmen vor der Hitze des späten Nachmittags. Die Bäume ließen ihre Blätter hängen, so schwül war es, und die Szenerie wirkte friedlich wie ein Ölgemälde, dem man den Titel »Sommernachmittag« geben könnte. Wenn von Zeit zu Zeit ein gut platzierter Sechserschlag den Ball ohne Bodenberührung außerhalb des Spielfelds landen ließ, richtete die Menge ihre Aufmerksamkeit auf das Spiel und applaudierte höflich. Der Doktor ließ dem letzten Schlagmann des gegnerischen Teams keine Chance und entschied das Spiel damit zuletzt für die Townies. Als die beiden Mannschaften vom Spielfeld schlenderten, wartete Phillip Holten bereits auf seinen hoch gewachsenen Sohn, der ihm mit großen Schritten entgegeneilte.

»Nicht übel, Barney. Gutes Spiel«, lobte er und reichte ihm förmlich die Hand.

»Danke. War ganz gut, obwohl wir verloren haben.«

»Immer den Sieg im Auge, ohne den Spaß zu verlieren. Darum geht es beim Sport«, sagte Phillip Holten und wandte sich einem der anderen Spieler zu, um zu gratulieren.

Barnard Holten wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn und rieb ihn dann an seinen beigen Flanellhosen trocken, während er auf die kleine Gruppe von Frauen zusteuerte, die sich in der Nähe des Wagens der Holtens versammelt hatte. Seine Mutter stand nicht bei ihnen: Sie setzte sich ungern länger der Sonne aus und kam aus demselben Grund auch selten zu seinen Polospielen.

Die Frauen, die sich immer noch über das Match unterhielten, musterten den gut aussehenden jungen Mann, der jetzt neben seinem Vater vor dem geöffneten Kofferraum des Autos stand. Phillip Holten war groß und kräftig gebaut, und wäre sein Gesicht nicht von der Sonne verbrannt und vom Wetter gegerbt gewesen, hätte er noch wesentlich vornehmer ausgesehen, als es dank seiner römischen Nase, den geschwungenen Augenbrauen und den scharf gezeichneten Lippen ohnehin schon der Fall war.

Barnard hatte graugrüne Augen und war mit seinen vierundzwanzig Jahren größer und auch etwas schlanker als sein Vater. Im Gegensatz zu diesem hatte er auch kein rötliches, sondern sonnengebleichtes hellbraunes Haar. Sein Vater galt als ziemlich mürrisch, wohingegen Barney, wie er von allen genannt wurde, immer fröhlich und zu Scherzen aufgelegt war. Unter den Mädchen des Landkreises hatte er zahlreiche Verehrerinnen, und da sein Vater mit seinem Besitz Amba eine der einträglichsten Schaffarmen der Gegend besaß, war er außerdem noch eine gute Partie.

Spieler und Zuschauer hatten sich inzwischen vor der provisorisch aufgebauten Teeküche eingefunden, wo freiwillige Helferinnen heißen Tee verteilten. Alle taten sich an den Platten mit selbst gebackenen Torten, Keksen, süßen Brötchen und warmem, mit Butter bestrichenem Teegebäck gütlich, fachsimpelten über das Spiel und trafen Verabredungen für den Abend. Doch schon bald verlagerte sich das Gesprächsthema auf den rekordverdächtigen Wollpreis und die Frage, wie lange der Wirtschaftsboom wohl noch anhalten würde.

»Das Geschäft mit der Wolle ist so sicher wie nur irgendwas, Frank. Ohne Wolle wäre das Land aufgeschmissen.«

»Wolle wird auf der ganzen Welt immer gebraucht.«

»Davon kann's überhaupt nicht genug geben, Kumpel.«

Die Optimisten bildeten die Mehrheit, und die Stimmung war glänzend. Obwohl keiner offen zugegeben hätte, bei einem Preis von etwas über einem Pfund pro Pfund Wolle sogar einen noch höheren Gewinn gemacht zu haben als erwartet, ließen doch alle durchblicken, dass das Geschäftsjahr nicht übel gewesen war.

Der Landkreis war wohlhabend, und es gab genug Arbeit. Mit dem durch den Verkauf der Wolle verdienten Geld konnten neue Maschinen, Zäune und Vieh angeschafft werden, die Löhne stiegen, man verreiste ins Ausland oder steckte die Einkünfte in die Renovierung der Häuser.

Barney brachte seine Tasse in die Küche zurück, wo gerade zwei der Frauen, die weite Küchenschürzen über Bluse und Rock trugen, mit dem Abwasch beschäftigt waren.

»Danke, Barney. Wie geht's deiner Mutter?«

»Danke gut, Mrs. Graham. Und bei Ihnen zu Hause?«

»Da steht alles bestens«, antwortete sie rasch. Was sich vermutlich vor allem auf ihre zwanzigjährige Tochter bezog. »Gehst du heute Abend zum Tanz zu den Frenchams?«

»Weiß ich noch nicht so genau, aber ich denke schon. Hat mich gefreut, Sie zu sehen, Mrs. Andrews.« Er nickte den beiden Frauen zu und machte sich dann schnell aus dem Staub.

»So ein netter Junge. Ganz anders als sein Vater.«

»Das hat er wahrscheinlich von der Mutter. Enid muss in ihrer Jugend wirklich hübsch gewesen sein.«

»Ich dachte eigentlich weniger an sein Aussehen als an seinen Charakter. Barney wirkt so ungezwungen und natürlich.«

»Nicht so überheblich wie sein Vater, meinst du?«, sagte Mrs. Andrews unverblümt.

»Ich würde es nicht einmal überheblich nennen. Phillip Holten kommt mir so kalt vor. Barney ist viel herzlicher, falls du verstehst, was ich meine.«

»Ja, ich weiß. Dabei ist das eigentlich verwunderlich. Ich bezweifle nämlich, dass das Leben auf Amba besonders lustig ist.« Bettina Andrews trocknete sich die Hände ab und zog die Schürze aus. »Nach allem, was man so hört, muss es dort ziemlich traurig zugehen. Ich will ja nicht tratschen, aber …«

 

Nachdem Barney und sein Vater ein paar höfliche Sätze über das Match ausgetauscht hatten, fuhren sie beinahe schweigend nach Hause.

»Ich überlege mir, ob ich dieses Jahr zur Royal Easter Show fahren soll«, erklärte Barney beiläufig, als sie von der Straße in den Feldweg einbogen, der an ihren Weiden vorbei nach Amba führte.

»Pure Zeit- und Geldverschwendung«, knurrte sein Vater. Jeder in der Gegend fuhr auf die alljährliche Landwirtschaftsausstellung nach Sydney, nur Phillip Holten widersetzte sich beharrlich. Er fand es unerträglich, wie sich die ›Bushies‹ bei ihrem Besuch in der großen Stadt zusammentaten und verbrüderten. Er war ein Einzelgänger, führte seine Geschäfte, wie es ihm gefiel, und hätte niemals mit anderen über seine Pläne gesprochen.

»Es ist doch immer gut, auf dem Laufenden zu bleiben. Vielleicht könnten wir ja einen oder zwei Zuchtböcke kaufen und ein paar neue Bekanntschaften machen«, sagte Barney.

»Genau wie ich gesagt habe – Geld ausgeben und Zeit verschwenden. Von einem Nachmittag wie heute hast du viel mehr. Von manchen der erfahreneren Züchter aus der Gegend kannst du noch einiges lernen, und junge Leute triffst du da genauso. Halte dich an deinesgleichen, Barnard.«

Barney antwortete nicht. Er hielt die alteingesessenen Schaffarmer der Gegend, von denen sein Vater sprach, für konservativ, und das nicht nur im politischen Sinne, sondern in ihrem gesamten Denken. Alles Neue musste sich für sie erst einmal gründlich bewährt haben, bevor sie es akzeptierten. Und was die Gleichaltrigen anging, so hatten sich tatsächlich einige Töchter wohlhabender Familien das Spiel angesehen, aber die kannte er alle, und sonderlich interessiert war er an keiner von ihnen. Barney war sich darüber im Klaren, dass die Mütter aller heiratsfähigen Mädchen in der Umgebung von ihm als zukünftigem Schwiegersohn träumten. Er wusste, dass sein Leben genau vorgezeichnet war – da er keine Geschwister hatte, würde er in die Fußstapfen seines Vaters treten.

Sie bogen in die am Garten entlangführende Auffahrt zum Haus ein, und Phillip lenkte den Wagen auf den überdachten Stellplatz neben dem Vordereingang.

Barney stieg aus und ging mit federnden Schritten seitlich um das mit einer großzügigen Veranda ausgestattete Haus herum in den Rosengarten, dessen gepflegte Beete von hohen Blumenrabatten und gestutzten Sträuchern gesäumt wurden.

Von der gebückten Gestalt seiner Mutter, die damit beschäftigt war, die Beete zu säubern und verwelkte Blüten abzuschneiden, sah man lediglich den Strohhut. Sobald ihre ständigen Begleiter, zwei unablässig kläffende und quirlige weiße Spitze, die vertraute Gestalt sahen, die in das Territorium ihrer Herrin eingedrungen war, begannen sie aufgeregt zu springen und zu Japsen. Enid Holten blickte auf, als Barney ihr zuwinkte und auf den Seitenflügel zusteuerte, wo sein Schlafzimmer, sein Bad und ein eigener kleiner Wohnraum lagen. Sie winkte ihrem Sohn flüchtig mit der Gartenschere zu und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit.

Im Schlafzimmer zog Barney seine verschwitzten hellen Hosen und das Hemd aus, schnappte sich von einem hölzernen Handtuchhalter ein frisches Handtuch und stellte sich unter die Dusche. Er spürte, wie sich seine verkrampften Muskeln langsam entspannten, als der Strahl wie spitze Nadeln auf Nacken und Schultern prasselte.

Er blieb länger als gewöhnlich unter der Dusche, ohne sich ein schlechtes Gewissen zu machen, weil er so verschwenderisch mit dem Wasser umging. Schließlich drehte er den Hahn zu, schlang sich das Badetuch um die Hüften und tappte in sein Zimmer, um sich etwas Frisches zum Anziehen herauszusuchen. Er war froh, seinen eigenen Flügel zu haben, wo er tun und lassen konnte, was er wollte. Phillip Holten hatte bei allen Entscheidungen das letzte Wort, aber es war Enid gewesen, die den Anbau für Barney angeregt hatte. Schließlich arbeitete er so viel und so hart auf der Farm.

Schon zu Internatszeiten hatte sich Barney während der Schulferien nach und nach in alle Aufgabengebiete der väterlichen Schafzucht eingearbeitet, um sie später kompetent verwalten zu können. Mittlerweile besaß er seinen eigenen Verantwortungsbereich, aber die Entscheidungsgewalt lag letztlich immer noch bei seinem Vater, und so würde es bleiben, bis er sich zur Ruhe setzte oder eines Tages tot umfiel. So war es immer schon gewesen. Der Gedanke, dass es auch anders sein könnte, kam Phillip einfach niemals in den Sinn. Sein Leben und das seines Sohnes waren bis ins kleinste Detail vorgezeichnet.

Nachdem Barney sich geduscht und umgezogen hatte, ging er auf der Suche nach der Haushälterin Mrs. Anderson in die Küche.

»Meinen Sie, ich könnte vielleicht eine Tasse Tee bekommen?«

»Ich hätte eigentlich gedacht, dass du schon nach dem Match welchen bekommen hast. Hat das Frauenkomitee euch etwa nicht mit Tee versorgt?«, fragte sie lächelnd und füllte den Wasserkocher.

»Schon. Aber das ist doch über eine Stunde her.«

»Ich mache gleich eine ganze Kanne, vielleicht möchte deine Mutter ja auch eine Tasse. Ich bringe den Tee dann auf die Veranda.«

»Ist Vater im Arbeitszimmer?«

»Ja. Er möchte nicht gestört werden.«

Barney nickte. Sein Vater zog sich bei Sonnenuntergang immer in sein Arbeitszimmer zurück und tauchte dann bis zum Abendessen nicht mehr auf. Barney nahm sich einen Apfel, bevor er zur Küche hinaus und ein zweites Mal durch den Garten ging. Seine Mutter begutachtete gerade die neuen Triebe der Kletterhortensien, die sich an der Außenwand des Schlafzimmerflügels emporrankten. Die beiden Hunde stürzten sich auf ihn, als hätten sie ihn noch nie im Leben gesehen. Seine Mutter drehte sich um.

»Hallo, Schatz. Gutes Spiel gehabt?«

»Ja, obwohl wir verloren haben. Aber nur ganz knapp. Mrs. Anderson macht uns Tee. Komm doch auf die Veranda, wenn du auch eine Tasse möchtest.«

Enid hob ihre beiden Hündchen hoch, die vergnügt mit den flauschigen Schwänzen wedelten und verzückt zu ihr aufsahen. »Habt ihr das gehört? Es gibt Tee. Möglicherweise können wir da ja ein oder zwei Kekse für euch stibitzen. Das würde euch gefallen, hm? Vielleicht bekommen wir sogar ein Stückchen Schokolade … hhmmmm!« Sie strich über die schwarz glänzenden Nasen und machte sich dann, unter jedem Arm ein Tier, auf den Weg zum Haus. Aus der Rocktasche ragten ihre Arbeitshandschuhe und die Gartenschere hervor.

Barney folgte ihr etwas irritiert. Aber eigentlich war er schon daran gewöhnt, dass seine sonst so schweigsame Mutter mit ihren Hunden Diet und Tucker in Babysprache plauderte. Wenn Besucher beobachteten, wie die normalerweise so zurückhaltende und unverbindlich wirkende Mrs. Holten mit ihren Hunden umging, hatten sie oft Mühe, ihre Belustigung und Verwunderung zu verbergen. Da ihr Sohn ihr nie Probleme bereitete und sie eine Haushälterin hatte, musste sie kaum je einen Finger rühren. Jetzt, wo ihr einziges Kind erwachsen war, widmete sie sich mit Leib und Seele ihren Hunden. Sogar Barney hatte gelegentlich den Eindruck, dass ihr an ihnen mehr zu liegen schien als an Menschen.

Als Barneys Mutter sich die Hunde angeschafft hatte, war er noch im Internat gewesen, sodass er nicht mitbekommen hatte, wie es ihr überhaupt gelungen war, seinen Vater dazu zu überreden, der ihre beiden Spielkameraden aus tiefstem Herzen verabscheute. In seinen Augen waren die beiden keine richtigen Hunde, und er duldete sie nicht einmal in der Nähe seiner Hütehunde. Er hatte ihr prophezeit, die beiden würden über kurz oder lang ohnehin von einem Fuchs oder einem Dingo verschleppt. Weil sie sich allerdings nur selten vom Haus oder der Seite ihrer Herrin entfernten, waren sie diesem Schicksal bereits seit etlichen Jahren erfolgreich entronnen. Nachts schliefen sie in einem großen Weidenkorb in der Waschküche. Sobald sie morgens Geräusche aus der Küche hörten, sprangen sie auf und warteten geduldig auf der Fußmatte vor der Tür darauf, dass Mrs. Anderson sie hereinließ. Anschließend trippelten sie den Korridor hinunter zum Schlafzimmer, wo sie ausharrten, bis Phillip Holten die Tür öffnete und auf dem Weg ins Badezimmer über sie stolperte. Sie sprangen zu Enid ins Doppelbett und wurden dort gestreichelt und leise gehätschelt, bis Mrs. Anderson kam und Tee und Toast servierte. Beide wurden mit kleinen Toasthäppchen gefüttert und schließlich vom Schlafzimmer aus in den Garten hinausgelassen.

Enid achtete sorgsam darauf, dass die Hunde ihrem Mann nicht im Weg waren, und dieser weigerte sich, sie zu sehen oder anzusprechen oder ihre Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie ihm nicht gerade ganz besonders auf die Nerven gingen. In der Regel tat er so, als seien sie unsichtbar, obwohl Mrs. Anderson einmal zufällig beobachtet hatte, wie er gerade aus der Bibliothek kam, als die Hunde auf der Suche nach Enid an ihm vorbeiliefen. Er hatte rasch ausgeholt und Diet mit einem Tritt seines Stiefels winselnd den Korridor hinuntergejagt. Mrs. Anderson hatte sich weggedreht, auf den Stapel Bügelwäsche auf ihrem Arm hinabgesehen und so getan, als ob sie den Vorfall und das grimmige, zufriedene Lächeln auf seinem Gesicht nicht bemerkt hätte.

Am Abend kam Barney ins Wohnzimmer, wo seine Eltern vor dem Essen noch einen Sherry zu sich nahmen. Sein Vater saß in dem Ledersessel, der seinem Großvater gehört hatte, während seine Mutter auf dem Sofa Platz genommen hatte. Rechts und links von ihr lagerten Diet und Tucker mit den Schnauzen in ihrem Schoß und beäugten gierig das mit Leberpastete bestrichene Kanapee, an dem sie knabberte. Barney trug dunkelgraue lange Hosen, ein hellblaues Hemd und die Krawatte seines Internats, der Kings School. Das Haar, das durch die Brillantine dunkler wirkte als sonst, hatte er glatt zurückgekämmt. Seine Schuhe waren wie immer auf Hochglanz poliert. Phillip Holten hatte ihm beigebracht, dass ein Mann, gleichgültig, wo er sich befand oder was er gerade tat, einen gewissen Standard zu wahren habe, der sich nicht zuletzt im Glanz seiner polierten Schuhe ausdrückte. Selbst vor einem harten und schmutzigen Arbeitstag auf Amba mussten die Reitstiefel gewichst und gewienert werden. Für Barney war es zu einem Ritual geworden, jeden Morgen vor dem Frühstück die Schuhcreme aus der an der Hintertür aufbewahrten Holzkiste zu holen, sie mit einem Lappen auf die angezogenen Stiefel aufzutragen, dann die Schuhbürste herauszunehmen, den Deckel wieder herunterzuklappen und den Fuß darauf abzustützen, während er das runzlige Leder mit der Bürste bearbeitete und wieder zum Glänzen brachte.

»Ich fahre zu den Frenchams rüber. Heute ist doch das Fest dort. Scheint eine ziemlich große Angelegenheit zu werden.«

»Du wirst einen langen Rückweg haben … außerdem wird es recht spät werden, wie ich annehme. Ich hoffe, du fährst vorsichtig. Und hältst dich deshalb auch mit dem Trinken zurück«, mahnte sein Vater und blickte ihn über den Rand der Zeitung hinweg an.

»Ich dachte, ich übernachte gleich dort. Die meisten anderen bleiben auch. Morgen soll es ein großes Frühstück geben. Ich nehme meinen Schlafsack mit.«

»Das klingt aber nicht sehr gemütlich«, bemerkte seine Mutter, brach ein Kanapee durch und gab jedem Hund eine Hälfte.

»Es wird bestimmt lustig. Das Ganze ist bestens organisiert. Sie haben ein Festkomitee gebildet, und alle helfen mit«, sagte Barney und dachte an all die Familien, die das Fest gemeinsam ausrichteten. Phillip und Enid nahmen selten an solchen gemeinschaftlichen Veranstaltungen teil.

»Vergiss nicht, dass die Schafe bald geschoren werden müssen. Am Montag kannst du anfangen, das Team für das Scheren zusammenzustellen.« Sein Vater vertiefte sich wieder in seine Zeitung.

»Gut. Dann verschwinde ich jetzt mal.«

Sein Vater gab keine Antwort, und seine Mutter redete leise auf die Hunde ein.

»Auf Wiedersehen, Mutter.«

Sie blickte nicht auf. »Ach ja, auf Wiedersehen, Barney. Nicht so gierig, Tucker, sei ein braver Junge«, ermahnte sie den Hund und griff nach einem weiteren Kanapee, als Barney das Zimmer verließ.

Er warf seinen Schlafsack und einen Rucksack mit legerer Kleidung zum Wechseln hinten in den Pick-up und fuhr im Licht der Abendsonne los. Vorbei an den Äckern, den staubigen roten Feldweg entlang bis zur Abzweigung zur benachbarten Farm der Pembertons, die durch eine an einem Pfosten hängende rostige Milchkanne gekennzeichnet war, auf der ANGLESEA geschrieben stand. Anschließend ging es durch ein Eukalyptuswäldchen, in dem sich ein kleines, selten benutztes Sägewerk versteckte, vorbei an den Kängurubäumen, die das Ufer des Bachbetts säumten, über die breite Furt, in der sich bei heftigen Regenfällen das Wasser sammelte, und weiter, bis der Weg nach drei Meilen schließlich auf die asphaltierte Straße traf. Eine Stunde und vier Briefkästen später bog er in die Auffahrt zu den Frenchams ein.

Das Tageslicht löste sich allmählich auf, und die blasse Leinwand des abendlichen Himmels begann sich mit den Aquarelltönen des Sonnenunterganges zu färben. Als er das Tor zur Farm der Frenchams erreichte, brannten in der Dämmerung bereits Lichter, man hörte, wie die Band ihre Instrumente stimmte, und zwischen dem Haupthaus und dem Wolllager huschten die Scheinwerfer von Fahrzeugen hin und her, mit denen Speisen, Getränke, Gäste, zusätzliche Tische, Stühle und Geschirr von einem Gebäude zum anderen transportiert wurden.

 

Weiter draußen auf dem verlassenen Highway bog zur selben Zeit ein alter Buick mit Anhänger, aus der Richtung von Glen Innes kommend, mit knatterndem Motor in die unbefestigte Straße ein, die nach Anglesea zur Farm der Pembertons führte.

Der große Wagen, der bald zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte und dessen durchgesessene Sitze mittlerweile kaum mehr gefedert, dafür aber so weich waren, dass man gemütlich in ihnen versank, schien aus allen Nähten zu platzen. Drinnen ein Durcheinander von Menschen, dazu ein Hund, Gepäckstücke, Gelächter und Gesang. Der Buick quälte sich unermüdlich weiter, während seine Scheinwerfer über unbekanntes Terrain glitten. Bob McBride ließ beim Fahren einen Arm zum Fenster heraushängen und gab der Wagentür sanfte Klapse, wie ein Jockey, der seinen Vollblüter antreibt.

»Na los, Betsy, wir sind fast da. Du schaffst es.«

Die Zwillingsmädchen auf dem Rücksitz hüpften auf und ab und sangen dazu: »Zippety doo da, zippety ay, my oh my what a wonderful day …«

»Es ist aber schon Abend«, kam es altklug von einem vierzehnjährigen Jungen.

»Psst, Kev. Lass sie doch singen. Das ist immer noch besser als das ständige ›Wie weit ist es noch?‹«, beschwichtigte ihn eine junge Frau flüsternd.

»Na los, zählt die Briefkästen«, schlug die Mutter fröhlich vor. »Es sind nur vier, haben sie gesagt.«

Das ganze Auto zählte mit. »Eins …« Und dann, nach einer Zeitspanne, die allen unendlich lang erschien, plötzlich der Jubelschrei: »Vier! Wir sind da!«

»Nicht ganz. Wir müssen noch unser Haus finden«, erklang die Stimme der jungen Frau. Köpfe streckten sich zum Fenster hinaus, der Hund bellte, und der Wagen bog in die Abzweigung nach Anglesea ein.

»Das Gatter mach ich auf!« Kevin sprang aus dem Wagen, als im Licht der Scheinwerfer ein Holztor auftauchte. Der Motor gab im Leerlauf ein unheilvolles müdes Husten von sich, während der Junge sich mit dem im Schlamm feststeckenden Gatter abmühte.

»Hilf ihm mal, Abby«, sagte der Vater und strich mit den Händen beschwörend über das breite Lenkrad, als versuche er, dem Wagen für diese letzte Hürde Kraft einzuflößen. Die schlanke Zwanzigjährige, die ihr langes dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte und zu ihrem ausgeblichenen Blümchenkleid alte Segeltuchschuhe trug, half ihrem Bruder, das Gatter hochzuhieven, und trat dann erwartungsvoll zur Seite.

Aber Betsy, wie der Buick liebevoll genannt wurde, war erledigt. Sie hatte es bis hierher geschafft, und das war nah genug. Als wäre der Wagen eine fette Matrone, die unvermittelt von ihrem engen Korsett befreit wird, platzten die Türen auf, und die Passagiere wälzten sich ins Freie, während Betsy in der kühlen Abendluft vor sich hin dampfte und keuchte und einfach nicht mehr starten wollte.

Bob McBride kannte ihre Launen. »Das war's. Die rührt sich vor morgen Früh nicht mehr.«

Das aufgeregte Geplapper und Gelächter verstummte, und die Kinder begannen zu quengeln. Gwen McBride trug einen kleinen, müden Jungen auf dem Arm, der Kopf des Dreijährigen lehnte schläfrig an ihrer Schulter. In der anderen Hand hielt sie den unruhigen Collie straff an der Leine. »Und was jetzt? Wie weit ist es wohl bis zum Haus, was denkst du?«

»Tja, ich fürchte, es gibt nur einen Weg, das rauszufinden. Mach das Gatter wieder zu, Kev. Jeder schnappt sich eine Tasche. Und kurbelt die Fenster hoch. Ab hier geht's auf Schusters Rappen weiter. Betsy wird morgen Früh nachgeholt.«

»Nehmt auch etwas zu essen mit, in der Vorratsdose im Kofferraum sind Brot und Eier«, ordnete Gwen McBride an. »Nur für den Fall, dass nichts im Haus ist. Mrs. Pemberton hat zwar gesagt, dass sie alles für uns vorbereiten wird. Aber man weiß ja nie, was das bedeutet.«

Unter Murren und Jammern, Ermahnungen und unterdrücktem Kichern begann die siebenköpfige McBride-Sippe mitsamt Hund und einem Schuhkarton voller Seidenraupen den Feldweg entlangzutrotten. Der Mond stand inzwischen am Himmel und leuchtete ihnen den Weg. Schon bald hatte Bob McBride sie so weit, dass sie alle aus voller Kehle sangen: »If I knew you were coming I'd have baked a cake …« Und so stapften sie auf ihr unbekanntes neues Zuhause zu.

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Drittes Kapitel

Barney fuhr am späten Sonntagvormittag wieder zurück nach Amba. Und was für ein Bilderbuchsonntag das war: sonnig, warm, wie geschaffen zum Faulenzen. Trotzdem wusste er, dass sein Vater darauf bestehen würde, alles vorzubereiten, damit sie am nächsten Tag die Scherer aussuchen konnten.

Die Party bei den Frenchams war fantastisch gewesen. Sie hatten die ganze Nacht bis zum morgendlichen Barbecue durchgefeiert. Obwohl einige der Jungs zu tief ins Glas geschaut und am nächsten Morgen einen ziemlichen Kater gehabt hatten, hielt dies keinen davon ab, sich großzügig von den Würstchen, Koteletts und gebratenen Eiern mit Speck zu bedienen, die in einem kleinen Eukalyptuswäldchen auf dem Grill brutzelten. Die Teller auf dem Schoß, hockten sie auf gefällten Baumstämmen, die Mädchen hielten Stecken mit aufgespießtem Brot ins Feuer, um es zu rösten, oder sie reichten dicke, mit Grillfett voll gesogene Scheiben an die anderen weiter, und alle stimmten darin überein, dass es ein großartiges Fest gewesen war.

Die zwei Dutzend Partygäste kannten einander schon seit Jahren. Sie hatten die Gelegenheit genutzt, um alte Freundschaften aufzufrischen, nachdem sie ihre Internatszeit hinter sich gebracht, sich eine Zeit lang im Ausland aufgehalten oder außerhalb des Landkreises gearbeitet hatten. Die meisten von ihnen würden von nun an in der Gegend bleiben, wieder bei den Eltern wohnen und beginnen, eigene Familien zu gründen. Die Mädchen zogen nach der Hochzeit üblicherweise dorthin, wo ihre Ehemänner herkamen, doch man konnte davon ausgehen, dass die meisten sich innerhalb dieser Gruppe verheiraten würden.

Barney blickte zu den rosafarbenen Trieben der Eukalyptusbäume auf, die im blauen Licht des Vormittags beinahe durchsichtig zu sein schienen. Das war sein Australien. Wie sehr hatte er diese Klarheit des Lichts, den Duft des Buschs und den Gesang der einheimischen Vögel während seiner Jahre in der Stadt doch vermisst!