Das Land der goldenen Tempel - Di Morrissey - E-Book

Das Land der goldenen Tempel E-Book

Di Morrissey

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Beschreibung

In Australien stößt die junge Natalie inmitten alter Unterlagen auf ein kostbar erscheinendes Schriftstück, das einem ihrer Vorfahren gehört haben muss. Neugierig spürt sie anhand seiner hinterlassenen Briefe der Geschichte dieser Antiquität nach und folgt den Spuren des Geheimnisses bis ins abenteuerliche Burma, das Land der Pagoden, Paläste und uralten Riten …

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Di Morrissey

Im Land der goldenen Tempel

Roman

Aus dem australischen EnglischvonSonja Schuhmacher, Robert A. Weißund Gerlinde Schermer-Rauwolf,Kollektiv Druck-Reif

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelEpilogDank
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Für Daw Aung San Suu Kyi,

deren beharrliches ethisches Engagement die Welt inspirierte.

 

Und für das Volk von Myanmar, das sich gerade anschickt, seinen Traum zu verwirklichen – Freiheit und Demokratie für sein wunderschönes Land.

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1

1885, Burma

Im kühlen Schatten des hölzernen Klosters mit der hohen Decke hockte der junge Mönch. Er hatte den Kopf geneigt und kaute an der Unterlippe, während er mit größter Sorgfalt seinen Stift über das rotlackierte Rechteck führte, das vor ihm auf dem Boden lag. Hin und wieder rückte er seine Baumwollrobe auf der Schulter zurecht und strich die Falten des Gewandes glatt, unter dem seine nackten braunen Füße hervorlugten. Er saß im Schneidersitz da und runzelte konzentriert die Stirn. Wegen seiner herausragenden künstlerischen Fähigkeiten hatte ihn der Abt des Klosters damit betraut, den heiligen Text des Kammavacas zu illustrieren, das dem König überreicht werden sollte.

Ye Aungs Begabung war kurz nach seiner Ankunft im Kloster entdeckt worden. Seine verarmte Familie hatte ihn als achtjährigen Jungen in die Obhut des Klosters gegeben, weil sie hoffte, dass ein angesehener, gelehrter Mönch aus ihm werden würde. Im Gegenzug konnten sie erwarten, dass ihnen das Opfer als Verdienst im spirituellen Sinn angerechnet würde.

Zusammen mit den anderen Novizen lernte Ye Aung in langen Unterrichtsstunden, den buddhistischen Kanon auf Pali zu singen, jener uralten Sprache, die Buddha gesprochen hatte. Viele Stunden verbrachten sie im Gebet, mit Meditation und dem Lesen der alten Schriften, die sich im Besitz des Klosters befanden. Durch diese Lektüre lernte Ye Aung viel über das Leben Buddhas, er las Legenden und Erzählungen aus der Geisterwelt, die zwischen Mythos und Glauben angesiedelt war, und beschäftigte sich mit der Geschichte der großen Könige von Burma.

Ye Aung war ein stiller Junge, der gern für sich blieb. Wenn die anderen jungen Mönche spielten, draußen hinter dem langen Speisesaal Bambusbällen hinterherjagten oder ihre Roben abwarfen, um im weichen braunen Wasser des Irrawaddy zu tauchen und zu planschen, saß Ye Aung gern im Schatten eines Baumes, betrachtete das alte Kloster mit seinen breiten Korridoren und den hohen, schweren Türen, dem geschwungenen Stufendach und den kunstvoll geschnitzten Turmspitzen, die von mythischen Tieren getragen wurden.

In den gut hundert Jahren, die das Kloster inzwischen auf der stillen, abgeschiedenen Dschungellichtung stand, war das Teakholz des Gebäudes dunkelgrau geworden. Der Innenhof zwischen dem Hauptgebäude und den beiden kleineren Häusern war mit feiner weißer Erde bedeckt und wurde täglich von den Mönchen gekehrt, ganz gleich ob der Hof von der Sonne erwärmt wurde oder der Monsun glänzende Pfützen hinterlassen hatte. Die Gebäude wirkten freundlich und verwittert und anmutig, ganz anders als die vergoldeten Pagoden und Stupas in den Dörfern der Umgebung und der Stadt Mandalay.

Dieser Ort war so friedlich, dass man ihn für unbewohnt hätte halten können, wäre da nicht das unaufhörliche Flattern tiefroter Roben gewesen, die auf einer Leine im Hof oder auf Geländern und vor Fenstern zum Trocknen aufgehängt waren. Hinzu kam das raunende Summen der Gebete, das aus dem Innern des Klosters drang und an einen Bienenschwarm denken ließ.

Ye Aung hatte schon immer Bilder vor seinem inneren Auge gesehen, und es drängte ihn, den prächtigen Bildteppich der Geschichten aus seinen Lektionen in feine, detailreiche Illustrationen zu verwandeln. Schüchtern erzählte er seinem Lehrer Sayadaw von seinem Traum, und Sayadaw begann ihn zu fördern. Obwohl er keine künstlerische Ausbildung genossen hatte, tat Ye Aung nichts lieber, als mit Pinsel oder Stift zu zeichnen.

Die jungen Mönche teilten sich einen Schlafsaal. Jeder hatte eine Matte auf dem Fußboden und eine Bettdecke; als Kopfkissen diente ihnen die zusammengefaltete Robe. In einem kleinen Kasten bewahrten sie ihr persönliches Hab und Gut auf, darunter eine Schiefertafel und die Pali-Texte, die sie auswendig lernten, um sie im Sprechgesang vorzutragen.

Ye Aung hockte gern allein in seiner Ecke, während die anderen ungestümen Jungen sich draußen austobten. Ihm gefiel die Einsamkeit in dem stillen Raum, wo der warme Wind vom Fluss durch die geöffneten Holzläden der Fenster hereinwehte. Hier zeichnete er winzige Bilder von allem, was er rund um sich sah: wunderbare Tiere, herrliche Pflanzen, schöne Vögel und sogar die Mönche selbst. Manchmal zeichnete er auch die Geschöpfe der Geisterwelt oder die Tiere für die verschiedenen Geburtswochentage.

Schließlich wurde Ye Aung damit betraut, Kammavacas zu schreiben – heilige buddhistische Texte auf Palmenpapier. Die Palmwedel wurden geglättet und geräuchert, ehe man sie beschriftete, wobei zwischen den Zeilen immer wieder Raum für beziehungsreiche Illustrationen blieb. Dann wurden die fertigen Blätter sorgfältig mit Seidenschnüren gebunden und zwischen lackierte Buchdeckel aus Teakholzrinde gelegt. Zuweilen wurden die Buchdeckel mit Blattgold verziert.

Häufig wurden Kammavacas von Familien in Auftrag gegeben und dem Kloster geschenkt, sobald ein Sohn dem Orden beitrat. Die Palmblattmanuskripte wurden dann in schmucken Kästen aufbewahrt oder ruhten in Tücher gehüllt in der kunstvoll verzierten Büchertruhe, die sich in der Wohnung des Abts im Halbdunkel des inneren Klosterbereichs nahe dem Allerheiligsten befand. Ye Aungs Familie war zu arm gewesen, um ein Kammavaca in Auftrag zu geben, und der Junge hoffte, für seine Eltern Verdienst sammeln zu können, indem er, so gut er nur konnte, die Schriften für andere illustrierte.

Eines Tages rief Sayadaw ihn in den Meditationsraum, der den älteren Mönchen vorbehalten war. Hier beteten und meditierten die Mönche umgeben von Reliquien, den sogenannten Sariras, Thangka-Rollbildern, Buddhafiguren und Bibliothekstruhen mit uralten Palmblattmanuskripten, deren altertümliche Schrift fast niemand mehr lesen konnte.

Erfüllt von Ehrfurcht, weil er diesen Kultraum betreten durfte, stand Ye Aung reglos da, den Kopf geneigt, die Finger unter seiner Robe verschränkt, während sein Lehrer eine Truhe öffnete und eine Mönchsrobe herausnahm. Dass sie sehr alt war, wusste der Junge in dem Augenblick, als Sayadaw sie ihm in die Hände legte. Nun sagte ihm sein Lehrer, die Robe habe einem angesehenen und hochverehrten Mönch gehört. Statt gewöhnlichem Palmenpapier würden manchmal Stücke dieser Robe verwendet, um besondere Kammavacas herzustellen. Zuerst musste der Stoff mit Lack behandelt werden, so dass eine glatte, aber biegsame Oberfläche entstand, dann würde er in Stücke geschnitten und von den Mönchen mit heiligen Texten beschriftet. Danach würden die Stoffstücke mit Hilfe von schmalen polierten Bambusspänen gebunden. Abschließend sollte Ye Aung das Werk mit seinen Zeichnungen illustrieren; der Lack dafür würde aus erhitztem Lacksaft gewonnen und dann schwarz eingefärbt.

»Darf ich fragen, für wen dieses besondere Kammavaca bestimmt ist?«, wollte Ye Aung wissen.

Sayadaw lächelte. »Es ist ein Geschenk für König Thibaw.«

Dass man ihn mit diesem besonderen Projekt betraute, lag wie eine schwere Bürde auf Ye Aungs Schultern. Während er zeichnete, dämmerte ihm, dass der Text wohl mehr enthielt als nur buddhistische Lehren. Er bat Sayadaw, ihm die uralten Pali-Texte zu übersetzen, doch sein Lehrer schüttelte den Kopf.

»Die alten Mönche haben ein außerordentliches Wissen, das sie manchmal weitergeben in der Hoffnung, irgendjemand könnte imstande sein zu entziffern, was sich in dem Text verbirgt. Und bis dahin ist es sicher aufbewahrt.«

»Wie ein Geheimnis?«

Sayadaw zuckte die Schultern. »Ja, so wie bestimmte verehrungswürdige Reliquien, Kostbarkeiten und Objekte versteckt werden. Vielleicht ist es klösterliche Tradition. Und wer auch immer den Text entziffern kann, erlangt einen besonderen Status, Karma und Verdienst.«

»Kannst du lesen, was in diesem Kammavaca geschrieben steht?«, fragte Ye Aung.

Sayadaw schüttelte den Kopf. »Die älteren Mönche schreiben jeweils nur einen Teil der Geschichte. Niemand darf das ganze Manuskript lesen.«

»Wer kennt denn die ganze Geschichte?«, wollte Ye Aung wissen.

»Das kann ich dir nicht sagen«, erwiderte Sayadaw.

Ye Aung wusste nicht, ob sein gebildeter Lehrer die Antwort nicht kannte oder sie ihm nur nicht verraten wollte. Also fragte der junge Mann, ob er einige weiße Elefanten in dieses Kammavaca malen dürfe, ähnlich den geschnitzten Elefantenfiguren unten an der Treppe des Klosters.

Sayadaw lächelte. »Ich bin sicher, dem König wird das sehr gefallen. Die weißen Elefanten sind wahrhaftig heilig.«

 

Als Ye Aung vor den Abt gerufen wurde, fürchtete er schon, er habe Missfallen erregt. Doch da Sayadaw, der ebenfalls zugegen war, ein erfreutes Gesicht machte, war der junge Mann beruhigt. Tatsächlich war der Abt mit Ye Aungs Arbeit so zufrieden, dass er ihm erlaubte, die älteren Mönche nach Mandalay zu begleiten, um dort dem König das vollendete Kammavaca zu überreichen.

In aller Frühe zogen die heiligen Männer mit ihren Almosenschalen feierlich durch die Tore des Klosters in den kühlen Morgen hinaus. In seiner Schultertasche trug der Abt das Geschenk für den König, an dem Ye Aung viele Monate lang mitgearbeitet hatte. Als Ye Aung die Baumwolltasche sah, lächelte er in sich hinein, denn er wusste, was sich darin befand. Er erinnerte sich an die von ihm gemalten weißen Elefanten, die juwelenbesetzte Halsketten und reich bestickte Tücher mit Goldringen um die Stoßzähne trugen und unter einem weißen Baldachin mit goldenen Quasten gingen, begleitet von Musikern und Magiern.

Tagelang wanderten die Mönche von Dorf zu Dorf und rasteten an Garküchen und Häusern, wo sie Wasser und Essen erhielten. Einmal kamen sie an den Leichen von zwei Banditen vorbei, die als Strafe für einen Überfall auf ein Dorf auf einem Hügel gekreuzigt worden waren. Ye Aung schauderte, als er sie sah. Hastig wandte er den Blick ab, obwohl er im Stillen einräumte, dass die Dorfbewohner das Recht hatten, sich vor Räubern zu schützen. Auf dem Land war das Banditenwesen weit verbreitet, das wusste er. Deshalb fühlte er sich sicherer, als die Mönche in die Außenbezirke von Mandalay gelangten.

Je näher sie zum Königspalast kamen, desto belebter wurden die Straßen, und es waren nicht nur Menschen unterwegs, sondern auch Schweine, die sich scharenweise durch die Menge drängten.

»König Mindon, der Vater von König Thibaw, fütterte täglich tausend Schweine, um Verdienst zu sammeln, aber nach seinem Tod wurden sie ausgesetzt«, erklärte Sayadaw seinem Schüler.

Die Mönche erreichten die ausgedehnte Palastanlage, überquerten die fünfte Brücke, die über den breiten Burggraben führte, passierten im Gänsemarsch den Wachturm und wurden in einen schönen, großen Pavillon geführt. Drinnen teilten geschnitzte Holzwände den kühlen, luftigen Saal in mehrere Empfangsbereiche. Die Mönche traten in einen kleinen Raum und warteten auf die Ankunft des Königs.

Ye Aung konnte den Blick nicht von dem Thron wenden, der mit kunstvollen Schnitzereien verziert am anderen Ende des Saals stand. Die Decke hoch über ihnen war mit Szenen und Ereignissen aus dem Leben von König Mindon, dem Erbauer des prachtvollen Palastes, ausgemalt.

König Thibaw trat ohne jeden Prunk ein, er wurde nur von zwei Töchtern begleitet. Die Mädchen trugen seidene Longyi, bodenlange Sarongs in leuchtenden Farben, schmal geschnittene, langärmlige Seidenblusen und Spangen mit Edelsteinblumen in ihrem langen, glatten Haar. Ye Aung fand, dass sie wie wunderschöne Schmetterlinge aussahen, und er versuchte den Stolz zu unterdrücken, den er empfand, als die jüngere von ihnen das Kammavaca kurz in der Hand behielt, ehe sie es ihrem Vater zurückgab.

Es war eine kurze, förmliche Begegnung, und wären nicht die beiden Prinzessinnen dabei gewesen, hätte Ye Aung sie sehr langweilig gefunden. Anschließend folgte er den älteren Mönchen in den zentralen Schrein des Palasts, um zu beten. Die Frage, ob der König die Seiten des Kammavacas studieren und Ye Aungs Illustrationen bemerken würde oder ob es einfach in der königlichen Bibliothek verstaut und in Vergessenheit geraten würde, ließ ihn nicht los. Dennoch sprach er ein Gebet für das Wohlergehen des Königs und seiner Familie.

 

Einen Monat später kam es zu dramatischen Veränderungen in Mandalay, die sogar Auswirkungen auf das ruhige Klosterleben hatten. Britische Truppen waren aus den Küstenregionen Burmas vorgedrungen, dem Irrawaddy gefolgt und zogen nun durch die Dörfer zum Palast von Mandalay.

Die Novizen wurden angewiesen, das Gebäude nicht zu verlassen, während die älteren Mönche ausschwärmten, um ihre Schreine und Reliquien in der ländlichen Umgebung zu schützen. Die Invasoren zeigten keinerlei Respekt vor der burmesischen Kultur und nahmen sich einfach, was ihnen gefiel. Auf den Märkten wurden Reis und andere Lebensmittel knapp, und die Gaben, die die Mönche auf ihrer täglichen Runde durch die Garküchen, Läden und Häuser der Gläubigen erhielten, fielen dürftig aus. Wenn sie ins Kloster zurückkehrten, waren ihre Almosenschalen oft leer.

Ye Aung fragte Sayadaw einmal, wie es dem König und seinem Hofstaat ergangen sei, besonders den Prinzessinnen. Sayadaw erwiderte, die Briten hätten sie in Ochsenkarren aus dem Palast gefahren und nach Indien gebracht, wo sie nun irgendwo lebten. Die Briten herrschten jetzt über ganz Burma.

Schließlich beschloss der Abt, sich selbst ein Bild zu machen, was in der Stadt vor sich ging. Als er aus Mandalay zurückkam, war er verzweifelt. Wie er gehört hatte, hieß der Palast jetzt Fort Dufferin – nach dem Vizekönig von Indien –, und die britischen Offiziere benutzten ihn als Club. Die Briten hatten Kleinodien aus dem Palast geraubt und die größten Edelsteine an Königin Victoria geschickt. Der prächtige burmesische Thron befand sich nun in einem Museum in Kalkutta.

Einige Tage später machte frühmorgens ein kleines Fischerboot an der Anlegestelle unterhalb des Klosters fest. Eine Gestalt in einer Mönchsrobe eilte den Weg zum Kloster hinauf, wo noch alles in Dunkel gehüllt war.

Ye Aung lauschte. Auf seiner Matte im Schlafsaal ausgestreckt, hatte er das Plätschern eines Ruders im Fluss gehört, und jetzt tappten leise Schritte auf der Treppe. Holzdielen knarzten, als der Besucher durch den Außenkorridor eilte. Stimmen flüsterten. Dann hörte Ye Aung, dass mehrere Mönche dem Besucher zum Zayat folgten, dem Pavillon auf dem Klostergelände, den die Mönche tagsüber zur Meditation nutzten und in dem Besucher übernachten konnten.

Ye Aung war jetzt hellwach und neugierig. Er erhob sich, schlich an den anderen schlafenden Jungs vorbei und tappte durch dunkle Räume, vorbei an den Säulen des Hauptkorridors und hinaus durch die hohe geschnitzte Tür. Dann lief er die Steintreppe an der Rückseite des Klosters hinunter.

Ihm war klar, dass man nicht lauschen durfte, aber er wusste auch, dass die Mönche wegen der Briten in Sorge waren. Im Mondlicht sah er einige ältere Mönche, die dicht nebeneinander im Kreis auf dem Boden des Pavillons saßen und leise miteinander sprachen. Da er sich nicht näher heranwagte, schlich er zu seinem Schlafplatz zurück und hoffte, später mehr zu erfahren.

Sayadaw enttäuschte ihn nicht und nahm ihn nach der Morgenmeditation beiseite. Der Blick seines Lehrers verriet, dass ihm Ye Aungs nächtlicher Streifzug durch das Kloster nicht verborgen geblieben war.

»In der Stadt herrscht große Unruhe«, erklärte Sayadaw sehr ernst. »Alle sind zutiefst verzweifelt. Die britischen Soldaten haben die königliche Schatzkammer niedergebrannt.«

»Dann sind jetzt das ganze Geld und die Edelsteine verloren?«, fragte Ye Aung.

»Ich glaube, dass lediglich ein Teil des Geldes dort war. Sehr viel ist bereits geraubt worden, und der König hat in der kurzen Frist vor seiner Abreise aus Burma so viel an sich genommen, wie es ihm möglich war. Es heißt, er habe außerdem einen Großteil verstecken lassen.« Sayadaw schüttelte den Kopf. »Aber nicht das ist es, Ye Aung, was die Mönche beunruhigt. In der Schatzkammer wurden die Ahnentafeln des Geburtsadels aufbewahrt. Diese wichtigen Dokumente waren in goldgebundenen Palmblattmanuskripten niedergeschrieben und in bestickte Seidentücher gehüllt.«

»So schön wie meines?«, fragte Ye Aung, und Sayadaw lächelte leise.

»Keiner kann so viel Hingabe und Phantasie in seine Arbeit gesteckt haben wie du. Leider wurde auch die königliche Bibliothek geplündert, und viele kostbare Bücher und Zeugnisse unserer Kultur wurden vernichtet.«

Entsetzt darüber, dass womöglich Tausende Manuskripte, viele davon Hunderte Jahre alt, verloren waren, starrte Ye Aung seinen Lehrer an. »Warum tun die britischen Soldaten so etwas?«, flüsterte er.

Sayadaw zuckte die Schultern. »Sie wollen uns ihr Gesetz aufzwingen. Aber sie werden nicht ewig bleiben. Wir sind seit Jahrhunderten hier, und eines Tages werden die Briten abziehen müssen. Dann werden wieder unsere weisen, friedlichen Leute regieren.«

Ye Aung besann sich auf die Lehren des Buddha und versuchte den unwissenden Soldaten zu vergeben, die ein solches Werk der Zerstörung angerichtet hatten. Aber er fürchtete, dass auch das Kammavaca, das er für den König illustriert hatte, vernichtet worden war. Unvermittelt sagte er: »Wenn in dem Kammavaca des Königs ein Geheimnis verborgen war, ist es jetzt für immer verloren!«

»Dann sollte dieses Geheimnis nicht entdeckt werden«, erwiderte Sayadaw philosophisch.

Ye Aung vernahm Sprechgesang, der Unterricht hatte begonnen. Er eilte über das Gelände. Am Fuß der Treppe zum Kloster berührte er den geschnitzten Elefanten und flüsterte rasch ein Gebet in der Hoffnung, dass sein einzigartiges Manuskript durch einen gesegneten Zufall überlebt hatte.

1913

Die Farben des Abendhimmels verblassten über den glatten braunen Fluten des ruhig dahinströmenden Irrawaddy, als das Tuckern eines Motors die Stille durchbrach. Er gehörte zu einem großen Schaufelraddampfer, der Kurs auf Mandalay nahm. Auf den glänzenden Teakplanken des oberen Freiluftdecks, das für die Passagiere erster Klasse reserviert war, wurden Aperitifs serviert. Die dunkelhäutige bengalische Crew der Irrawaddy Flotilla Company bediente die Passagiere, offenbar durchwegs Briten, die es sich auf ihren Planters’ Chairs unter den Topfpalmen bequem machten und ihren Sundowner schlürften. Die Männer, in makelloses Weiß gekleidet, diskutierten über Handelspreise, die Gründung einer neuen britischen Handelsgesellschaft für Teakhölzer, die anhaltende Expansion der Erdölfelder von Yenangyaung, die gute Reisernte und Nachrichten aus der Heimat. Sie senkten die Stimme, als die Sprache auf die anhaltenden Machenschaften von König Thibaw und Königin Supayalat kam, die nach wie vor im Exil in Ratnagiri schmachteten.

»Man muss sie mit Argusaugen beobachten. Ständig schmieden sie Intrigen, um nach Burma zurückzukehren«, meinte ein Plantagenbesitzer.

»Man muss vor allem die Königin im Auge behalten. Sie stand doch hinter der Ermordung der Angehörigen des Königs, sogar einiger seiner Halbgeschwister. Alle, die seinem Anspruch auf den Thron gefährlich werden konnten, wurden umgebracht«, bemerkte ein anderer.

»Zu Tode geprügelt in roten Samtsäcken«, warf schaudernd ein Dritter ein.

»Von einem britischen Offizier, dessen Freund den Hinrichtungen beigewohnt hat, habe ich gehört, dass alles sehr zeremoniell und respektvoll durchgeführt wurde. Die Hiebe waren exakt plaziert, um den Tod schnell herbeizuführen«, erwiderte der Plantagenbesitzer.

»Die Leute schätzten Thibaw nicht sonderlich. Ein blutrünstiger Bursche, dabei spielte er sogar Kricket«, meinte sein Freund lachend.

»Verdammt primitive Sippschaft, wenn ihr mich fragt«, bemerkte ein anderer aus der Gruppe. »Gott sei Dank haben wir jetzt das Land annektiert. Die sollten sich glücklich schätzen, dass sie nicht alle in Samtsäcke gesteckt werden.«

»Wenn es nicht um die Loyalität zum Mutterland ginge und um die Chancen, die sich hier bieten – ich weiß nicht, wie viele von uns es hier länger aushalten würden«, meinte ein Colonel a.D.

»Ich finde diese Rubinminen, Ölfelder und Teakholzwälder ziemlich attraktiv.« Der Kapitän des Dampfers lächelte milde. »Ebenso wie die burmesischen Damen. Der Lohn, der uns hier winkt, ist durchaus ein paar Unannehmlichkeiten wert.«

Ein wenig abseits von der Gruppe saß Andrew Hancock, der mit halbem Ohr den Gesprächen seiner Mitreisenden lauschte. Dabei blickte er über den Fluss zum dicht bewaldeten Ufer und dachte darüber nach, wie unglaublich es war, hier in Burma zu sein. Reisen und Abenteuer – das war ein Leben, das er sich nicht hatte träumen lassen. Sein Vater arbeitete in einer Bank in Brighton, und Andrew hatte geglaubt, dass er denselben Beruf ergreifen würde, obwohl Fotografie seine Leidenschaft war. Für ihn war es wunderbar, etwas oder jemanden auf ein Bild zu bannen und diesen Augenblick damit für immer festzuhalten. Unglücklicherweise sah er keine Chance, sich als Fotograf seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch dann war ihm überraschend das Glück hold gewesen. Ein entfernter Onkel war gestorben und hatte alles, was er besaß, Andrew hinterlassen. Es war zwar kein Vermögen, doch Andrew konnte sich nun etwas Zeit nehmen, um herauszufinden, ob er das Zeug zum Profifotografen hatte.

Rasch merkte Andrew, dass es ziemlich langweilig und öde war, Brighton zu fotografieren. Ihm wurde klar, dass ihn im Grunde das Abenteuer ebenso reizte wie das Fotografieren. Also brach er nach Indien auf. Er bereiste das Land, hielt in seinen Aufnahmen das Dorfleben fest, schaffte es aber auch zum Durbar in Neu-Delhi, wo er der Krönung von George V. zum Kaiser von Indien beiwohnte. Dann begann er Geschichten zu seinen Fotos zu schreiben und stellte fest, dass verschiedene Zeitschriften Interesse zeigten und seine Fotoreportagen kauften. Das hieß, dass er noch länger in Asien bleiben konnte.

Eines Morgens hörte Andrew beim Frühstück in Kalkutta, wie sich Leute über Burma unterhielten. Seine Neugier war geweckt, und er beschloss, sich das Land mit eigenen Augen anzusehen. Und nun war er hier, wie Mr. Kipling sagen würde: »On the road to Mandalay«.

Während er nachdenklich auf seinem Planters’ Chair an Deck saß, gesellte sich ein kleiner, dicker Schotte im weißen Tropenanzug zu ihm, musterte Andrew durch seinen Kneifer und stellte sich vor.

»Guten Abend. Ich bin Ian Ferguson. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen schon einmal begegnet bin. Ist das Ihre erste Reise nach Mandalay?«

Andrew erhob sich und streckte Ferguson die Hand entgegen. »Ich bin zum ersten Mal überhaupt in Burma. Offenbar ein wunderschönes Land. All diese Tempel! Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwo anders auf der Welt so viele gibt.«

»Stimmt«, erwiderte Ferguson. »Die Burmesen sind fromme Buddhisten. Was führt Sie nach Burma? Staatsdienst? Handel?«

»Weder noch«, erklärte Andrew. »Ich bin Fotograf und verkaufe meine Reportagen an Zeitschriften in der Heimat. Darf ich fragen, was Sie in Burma machen, Mr. Ferguson?«

Der kleine Schotte strahlte. »Ich bin ein Kunstexperte. Ich wage sogar zu behaupten, dass ich der Experte für burmesische Kunst bin.«

Andrew Hancock war beeindruckt. »Also bereisen Sie das Land und erforschen die Kultur der Menschen?«

»Tja, mein Junge, die Sache ist die, dass die Burmesen ihre Kultur nicht wirklich wertschätzen. Ihre Tempel sind vollgestopft mit Kunstgegenständen, um die sich die Mönche nicht scheren. Auf den Märkten kann man unzählige schöne Dinge für einen Spottpreis kaufen. Die Burmesen haben mehr für Geld übrig als für ihre religiösen Objekte.«

»Vielleicht brauchen sie es einfach sehr dringend«, meinte Andrew.

»Unsinn, mein Junge. Wenn Sie erst mal eine Weile hier sind, so wie ich, dann werden Sie merken, dass wir Briten die lokale Kultur sehr viel mehr wertschätzen, als es die Burmesen tun.«

»Sie bewahren also ihre Kultur?«, fragte Andrew.

»Allerdings. Ich sammle die besten Stücke und schicke sie nach Großbritannien.«

»An Museen?«

»Und an Privatsammler, die burmesische Kunst schätzen.« Der Schotte lachte kurz auf.

Dann ging Ian Ferguson weiter, um mit anderen Reisenden zu plaudern, und Andrew dachte über das Gesagte nach. Zwar war er selbst noch nicht lange in Burma, und sicherlich war er nicht der Experte, als der sich Ferguson ausgab, aber es schien ihm befremdlich, dass die Burmesen ihrer Kultur angeblich so gleichgültig gegenüberstanden. In Indien hatte er eine ganz andere Einstellung beobachtet, dort hatte der Prunk der Radschas bei ihm den Eindruck erweckt, dass das Volk die indische Kultur sehr wohl hochschätzte. Er fragte sich, warum das für Burma nicht gelten sollte. Nun, vielleicht würde er selbst herausfinden, ob Fergusons Behauptungen zutrafen.

Der Irrawaddy war nun anderthalb Kilometer breit, die Ufer verschwammen in der Ferne. Hin und wieder steuerte das Schiff eine tiefere Fahrrinne an, um dem Wurzelgeflecht im Wasser auszuweichen. Ein paar Mal sah Andrew ein kleineres Ruderboot mit Fischern, und einmal lockte der Anblick von Delphinen, die aus dem Wasser sprangen, die staunenden Reisenden an die Reling. Andrew hätte die kleinen dunkelgrauen Tiere mit den stumpfen Nasen gern fotografiert, aber sie bewegten sich zu schnell.

Dann wurde der Fluss schmaler, eingezwängt zwischen den steilen Hängen von Vulkanen, die mit dichtem Dschungel bewachsen waren. Die Ufer bestanden nicht mehr aus weichem braunen Lehm, sondern aus erstarrter Lava, die im Nachmittagslicht glänzte. Am Rand des Flusses hatten sich große Tümpel gebildet, umgeben von geschützten Lichtungen mit hohen Felswänden im Hintergrund. Der Kapitän erzählte Andrew, dass in diesen Becken manchmal Elefanten badeten, doch als sie vorbeifuhren, regte sich dort nichts.

Plötzlich teilte eine kleine, völlig von Pflanzen überwucherte Insel die Fluten des Flusses. Auf der einen Seite erhob sich jäh eine Felswand, an der das Wasser vorbeischoss. Der Dampfer nahm die ruhigere Route um die Insel herum, so dass Andrew freien Blick auf ein Kloster hatte, das oben auf der Felswand thronte, offenbar verlassen und verfallen, aber immer noch atemberaubend imposant.

Als sie weiterfuhren, fesselte ein aufblitzendes Licht hoch oben in den Bergen Andrews Aufmerksamkeit. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass sich der Schein der untergehenden Sonne auf dem Dach einer Pagode spiegelte, die an der Kante eines Steilhangs stand. Wie um alles in der Welt, fragte sich Andrew, schafften die Leute den Aufstieg dorthin? Es schien unmöglich. Und wie viel Blattgold war wohl für die Pagode verwendet worden, dass sie so wunderbar glänzte? Wenig später erblickte er einen weiteren Tempel oder Stupa, wie manche dieser Gebäude offenbar hießen, deren typisch rundliche Glockenform ebenfalls prachtvoll schimmerte.

Alles, was Andrew gelesen und gehört hatte, schien lebendig zu werden: Geschichten über Kammern aus duftendem Sandelholz und Adlerholz, die in das legendäre Haus aus Gold führten. Seine Wände waren vergoldet, die Säulen verziert mit geschnitzten Reben, an denen Früchte und Blätter aus hühnereigroßen Smaragden und Rubinen prangten; drinnen stand ein Schrein aus Gold auf einem güldenen Tisch, mit kostbaren Edelsteinen gefüllt und von Götterbildern aus purem Gold bewacht, auch sie besetzt mit glitzernden Edelsteinen. Wie viel Wahrheit in dieser Legende stecken mochte?

Jetzt begriff er, warum Burma als das Land der goldenen Tempel galt – ein Land, das sich angeblich rühmen konnte, mehr und prachtvollere Pagoden, Tempel und Schreine zu besitzen als jedes andere auf der Welt. Ein Land, reich an buddhistischer Kultur, reich an natürlichen Ressourcen und reich an bewegter Geschichte. Und hier war er nun, bereit, all dies zu erforschen und zu fotografieren.

1926, Rangun

Andrew bog vom Strand – der Straße, die am Flussufer verlief – in eine schmale Gasse, gesäumt von den soliden Kolonialgebäuden der Post, des Gerichts und der Schifffahrtsgesellschaften, die den belebten Hafen von Rangun bedienten. Er kam an Straßenhändlern und ihren kleinen Garküchen vorbei, wo ihn appetitanregende Düfte von gebratenen Nudeln und pikanten Pfannkuchen daran erinnerten, dass sein Frühstück schon eine Weile zurücklag. Eine Reihe schmaler Torwege führte in dunkle vollgestopfte Kabuffs, in denen alles verkauft wurde, von Fahrradersatzteilen über Kochutensilien bis zu handgefertigten Strohhüten. Auf halbem Weg die Gasse hinunter war ein Eingang, an dem Zeitschriften, Postkarten und kolorierte Zeichnungen lockten. Andrew trat in den kleinen Laden. Der schottische Inhaber trug ein weißes Hemd zu einem traditionellen grün-violett karierten Longyi aus Baumwolle, der um die Taille geknotet war. Er hockte im Schneidersitz auf einem niedrigen Hocker und las in einem Buch.

Andrew sah sich die gebrauchten Bücher in den Regalen an, einige zerlesene englische Romane und Fachbücher, teils auf Englisch, teils in der geschwungenen burmesischen Kalligrafie verfasst. Dann wandte er sich an den Ladeninhaber.

»Guten Morgen, Mr. Watt.«

Der Buchhändler schaute ihn über die Brille hinweg an, sprang auf und streckte ihm die Hand entgegen.

»Mr. Hancock. Welche Überraschung! Sie habe ich ja schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«

»Es ist bestimmt einige Jahre her. Man hat mir gesagt, dass ich Sie immer noch hier finde. Schön, Sie wiederzusehen, Mr. Watt.«

»Ja. Seit Kriegsbeginn nicht mehr, glaube ich. Nehmen Sie sich doch einen Hocker oder ein Kissen.« Mr. Watt klatschte in die Hände, und ein junger indischer Assistent tauchte hinter den Bücherreihen auf. »Vinay, das ist ein alter Bekannter von mir. Bitte geh zur Teestube und hol uns Tee. Jetzt erzählen Sie, Mr. Hancock, was haben Sie die ganze Zeit getrieben? Ich dachte, Sie hätten inzwischen geheiratet und eine Familie gegründet.«

»Nein. Vielleicht bin ich nicht der Typ dafür. Mein Leben war zu unsicher. Bei Kriegsausbruch bin ich heimgefahren und habe die nächsten vier Jahre in den Schützengräben an der Westfront verbracht.«

»Keine angenehme Erfahrung.«

»Das war es wirklich nicht, aber zum Glück bin ich relativ unbeschädigt wieder rausgekommen, was man von vielen anderen nicht behaupten kann. Nach dem Krieg wusste ich nicht so recht, wie es weitergehen sollte. Mein Vater war gestorben, und meine Schwester Florence heiratete einen australischen Soldaten, den sie kennengelernt hatte, als er auf Urlaub in Brighton war. Sie sind zusammen nach Australien gezogen. Da ich meine Mutter nicht allein lassen wollte, besorgte ich mir einen Job als Fotograf im Presseimperium von Lord Beaverbrook. Ich versuchte, einen Roman zu schreiben, aber er war nicht besonders gut, und niemand wollte ihn verlegen. Als dann meine Mutter von uns ging, hielt mich nichts mehr in England, und ich dachte mir, dass ich gern wieder in den Osten reisen würde. Und da bin ich also, auf der Suche nach neuen Reportagen über dieses wunderbare Land und seine Menschen.«

»Ich habe gehört, dass Ihre Beiträge mit den exzellenten Fotos in London sehr gut angekommen sind.«

»Ja. Diese Arbeit hat mich wirklich interessiert. Was ich von der Tätigkeit als Zeitungsfritze in London nicht sagen kann. Aber wie steht’s bei Ihnen? Wie ist es Ihnen all die Jahre ergangen?«

»Bin immer noch glücklich mit Moe«, erwiderte Mr. Watt, der mit einer Burmesin verheiratet war. »Ich glaube nicht, dass ich je mit ihr in die alte Heimat zurückkehren werde. Uns beiden wäre die Kälte unerträglich.«

Andrew stimmte zu. Wobei Mr. Watt wohl weniger das Wetter als den frostigen Empfang meinte, der ihm und seiner Frau in Schottland blühte. Als Vinay mit dem Tee wiederkam, fragte Andrew, wie das Geschäft laufe.

»Recht gut. Was haben Sie für Pläne?«

»Ich werde mein unstetes Wanderleben wieder aufnehmen, im Vertrauen auf die Freundlichkeit und Großzügigkeit anderer, nicht zuletzt verschiedener Londoner Zeitschriften. Statt einer Almosenschale werde ich eben eine Kamera und ein Notizheft dabeihaben«, erwiderte Andrew mit einem Lächeln. »Aber mir geht es nicht nur um Reiseberichte für die Magazine. Ich will unter die Oberfläche dieses Landes blicken. In Großbritannien weiß man sehr wenig über Burma und seine Menschen.«

Der Buchhändler nickte ernst. »Ja, die Briten haben wirklich keine Ahnung, was im Osten ihres Empire passiert. Uns stehen Umwälzungen bevor. Sogar hier in Burma gibt es antibritische Umtriebe. Die Burmesen sind ein geduldiges Volk. Aber wie lange noch? Die Jugend wird unruhig. An einer Universität hat es einen Aufstand gegeben.«

»Ich finde, dass unser Land Burma ausbeutet«, sagte Andrew vorsichtig.

»Mag ja sein, dass ich aus Schottland stamme, aber ich habe mich auf die Seite der Burmesen geschlagen. Inzwischen verabscheue ich die Arroganz unserer Soldaten und Beamten, die glauben, sie seien den Menschen überlegen, die sie regieren und über die sie sehr wenig wissen. Leute, die in der britischen Gesellschaft wenig gelten würden, spielen sich hier in Burma als die Herren auf. Manchmal schäme ich mich zu sagen, dass ich Brite bin«, platzte Mr. Watt heraus.

Andrew nickte nachdenklich. Sein Blick fiel auf einige schöne Fotos, die an der Wand hingen. Eines zeigte Burmas berühmteste Pagode, den Shwedagon. Das wunderbare Monument mit der goldenen Kuppel und den juwelenbesetzten Turmspitzen war Ranguns Wahrzeichen – ebenso spektakulär wie die berühmtesten Bauwerke Indiens oder Istanbuls. Nicht nur Burmesen, auch Fremde kamen dorthin, um ihre Ehrerbietung zu zeigen. Auf einem anderen Foto war George V. zu sehen. Daneben hing ein offizielles Porträt des verstorbenen Königs Thibaw mit Königin Supayalat, aufgenommen in einem prächtigen Thronsaal. Ein viertes Bild zeigte ein fernes Kloster an einem See mit einem goldenen glockenförmigen Stupa, umgeben von nebelverhangenen Bergen.

»Das ist sehr gut.« Andrew nahm das Bild von der Wand, um es eingehender zu betrachten.

»Ja, schön, nicht wahr? Es überrascht mich nicht, dass es Ihnen aufgefallen ist. Philip Klier hat die Aufnahme gemacht«, erklärte Mr. Watt. »Er hat auch das Königspaar fotografiert.«

»Ach ja.« Andrew studierte die stoischen Gesichter der gekrönten Häupter, die mit starrer Miene darauf warteten, dass die Belichtungszeit verstrich. »Er war ein hervorragender Fotograf. Sagen Sie mal, Mr. Watt, wissen Sie, was aus der königlichen Familie geworden ist, nachdem sie nach Indien verbannt wurde? Ich erinnere mich an Geschichten, die erzählt wurden, aber vielleicht waren das nur Gerüchte.«

»Der arme Thibaw. Ein schmachvolles Schicksal, so weit fort ins Exil geschickt zu werden. So viel ich weiß, haben sie ziemlich isoliert gelebt. Sie wissen, dass die Königin nach dem Tod ihres Mannes vor ein paar Jahren nach Burma heimgekehrt ist? Aber die Rückkehr nach Mandalay hat man ihr nie erlaubt.« Mr. Watt nahm Andrew das Foto aus der Hand und hängte es wieder an die Wand. »Letztes Jahr ist auch sie gestorben. Aber wenigstens hat sie in Rangun ein angemessenes Begräbnis erhalten. Sie wurde in der Shwedagon-Pagode beigesetzt.«

»Und seine Töchter? Wie ist es ihnen ergangen?«, fragte Andrew.

»Eine hat einen Bürgerlichen geheiratet, was das Königspaar sehr verärgert hat. Sie leben in den Bergen – in Darjeeling, glaube ich. Auch die anderen Prinzessinnen mussten auf eigenen Beinen stehen, vor allem als das Geld und die Edelsteine der Familie zur Neige gingen.«

»Haben Sie den König und die Königin je persönlich getroffen?« Andrew wies mit einer Kopfbewegung auf das Foto.

Mr. Watt sah Andrew über den Brillenrand hinweg an. »So alt bin ich auch wieder nicht – der König wurde vor über vierzig Jahren abgesetzt. Obwohl ich tatsächlich schon lange in Burma lebe.«

»Und deshalb wissen Sie so viel über das Leben, die Kultur und die Geschichte dieses Landes«, bemerkte Andrew.

»Ich weiß einiges, weil ich mich damit beschäftige, anders als die meisten unserer Landsleute, die niemals über ihren eigenen Horizont hinausblicken«, erwiderte Mr. Watt. »Als ich nach Burma kam, war ich im indischen Staatsdienst tätig, aber als ich in Mandalay arbeitete, habe ich mich in ein burmesisches Mädchen verliebt. Da musste ich mich zwischen meiner schönen Moe und dem Staatsdienst entscheiden. Und jetzt bin ich immer noch in Burma, lerne immer mehr über dieses Land und über den Buddhismus und liebe weiterhin meine Frau. Mein Leben ist einfach, und so gefällt es mir.«

Mr. Watt wies auf das Foto der königlichen Familie. »Für sie war es schwierig, ihr Leben zu ändern. Sie haben sich nie damit abgefunden, was wohl verständlich ist. Der König hoffte immer auf eine Rückkehr, aber es sollte nicht sein. Eine Halbschwester von ihm lebt hier in der Nähe, aber ihr Leben ist längst nicht mehr das, was es einmal war.«

»Das wusste ich nicht. Kennen Sie sie?«, fragte Andrew.

Der Buchhändler nahm einige Bände und stellte sie ins Regal zurück. »Ja, ich kenne Prinzessin Tipi Si. Sie kam mit der alten Königin nach Burma zurück. Jetzt schaut sie gelegentlich bei mir vorbei, um sich Bücher auszuleihen. Sie lebt sehr einfach. Als Buddhistin akzeptiert sie ihre veränderten Lebensumstände vielleicht nicht mit Anmut, aber mit innerer Kraft.«

»Hat sie nie geheiratet?«

»O doch, als sie in Indien war. Sie hat ein bewegtes Leben hinter sich! Ich habe sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, denn sie schickt ihren Diener, um die Bücher zu holen. Mir fehlen unsere Gespräche, obwohl sie hohe Ansprüche an ihr Gegenüber stellt«, fügte er mit hochgezogenen Brauen und einem leisen Lächeln hinzu.

»Ich würde sie sehr gern kennenlernen. Glauben Sie, dass sie mich empfangen würde?«, fragte Andrew. »Das wäre eine großartige Geschichte für eine meiner Zeitschriften, vor allem wenn sie mir erlauben würde, eine Aufnahme von ihr zu machen. Glauben Sie, sie würde einwilligen? Sie bekäme von mir natürlich ein Honorar.«

»Warum interessieren Sie sich für sie? Sie gehört zum alten Burma. Das Land hat sich verändert. Die Monarchie ist Geschichte. Niemand vermisst die Auswüchse der königlichen Dynastien.«

»Die Leute interessieren sich immer für ein interessantes Leben, das Leben von Menschen, die einmal Macht besaßen, aber jetzt ganz anders dastehen.« Andrew hätte beinahe hinzugefügt, dass sich die Menschen mit ihrer eigenen Lebenslage vielleicht besser abfinden konnten, wenn sie vom Missgeschick anderer erfuhren. Doch stattdessen sagte er: »Ich würde gern etwas über die Zeit im Exil und die letzten Lebensjahre der alten Königin in Rangun erfahren. Mir scheint, man weiß sehr wenig über sie, und ich bin mir sicher, dass meine englischen Leser gern darüber lesen würden.«

»Wenn ich Tipi Si das nächste Mal sehe, werde ich sie fragen, aber es kann sein, dass sie ablehnt«, erwiderte Mr. Watt. »Wo wohnen Sie hier in der Stadt?«

»Im Strand Hotel. Ein kleiner Luxus, bis ich mich entschieden habe, wo ich als Nächstes hinfahre. Sie können in Rangun aber auch bei Bourne und Shepherd eine Nachricht für mich hinterlassen.«

»Das Fotoatelier. Die kenne ich.«

»Ich werde gelegentlich für sie arbeiten, solange ich hier bin.«

Mr. Watt nickte. »Sie fotografieren dann wohl auf diesen Veranstaltungen nur für Weiße? Freut mich, dass Sie vorhaben weiterzuziehen. Für alle, die mehr sehen wollen als nur goldene Stupas, gibt es in Burma verborgene Schätze zu entdecken.«

Andrew wusste nicht recht, was mit dieser kryptischen Bemerkung gemeint war, aber der Gedanke an die Abenteuer, die vor ihm liegen mochten, versetzte ihn in Erregung. Er dankte Mr. Watt, versprach, ihn bald wieder zu besuchen, und erstand einen abgegriffenen Roman von Somerset Maugham, bevor er den Laden verließ.

Dann schlenderte Andrew über den Fytche Square, wo die Statue von Queen Victoria streng auf die Passanten herabblickte, und weiter zu dem belebten Uferbereich. Er beschloss, sich eine Kanne englischen Tee zu gönnen, und ging zur Kolonnade des Strand Hotel.

Dort setzte er sich an einen kleinen Rattantisch und blätterte in dem Roman, den er gekauft hatte. Eigentlich aber dachte er darüber nach, was ihm Mr. Watt über die verbannte Prinzessin erzählt hatte. Er versuchte sich auszumalen, wie ihr Leben verlaufen sein mochte und wie es jetzt aussah. Diese Frau schien ihm so exotisch wie eine Figur aus Maughams Romanen. Falls sie sich auf ein Interview einließ, würde er seine Fotos mit einem kurzen Bericht mit Sicherheit an eine Londoner Zeitschrift verkaufen können.

Deshalb war er hocherfreut, als ihm ein paar Tage später der Empfangsportier, ein großer, stattlicher Sikh, einen Brief überreichte.

Tipi Si ist bereit, Sie zu empfangen. Hier ist ihre Adresse, schrieb Mr. Watt. Sie ist eine Dame, die immer für Überraschungen gut ist. Eine bemerkenswerte Person. Kann sein, dass sie eine Gegenleistung erwartet.

Andrew machte es sich in einer Rikscha bequem und verstaute seinen Kamerakoffer neben sich auf dem Sitz. Der drahtige Fahrer passierte belebte Märkte, gut besuchte Teestuben, Garküchen und ein Gewirr windschiefer Shop Houses. Ihr Weg führte sie durch enge Gassen, die prächtige Straßen mit Geschäftsgebäuden im Kolonialstil kreuzten. Während die Rikscha über kopfsteingepflasterte Plätze ratterte, erhaschte Andrew hin und wieder einen Blick auf die Pagoden und Tempel der Stadt, die allesamt von der Pracht der Shwedagon-Pagode überstrahlt wurden.

Der Fahrer bog in die University Avenue und dann in eine Straße mit hohen Bäumen und großen Wohnhäusern ein, die vor vielen Jahren für die Briten erbaut worden waren. Hier befanden sich auch die Anwesen reicher indischer, chinesischer, burmesischer und europäischer Geschäftsleute. Die Villen von ehemaligen Botschaftern und Angestellten der abgesetzten Königsfamilie lagen in weitläufigen Gärten mit Blick auf den Inya-See.

Andrew staunte über die vornehmen Häuser, und einen Moment lang dachte er, Mr. Watt hätte ihm die eingeschränkten Verhältnisse der Prinzessin falsch beschrieben. Doch dann hielt der Fahrer vor einem Herrenhaus und deutete auf ein kleines Häuschen daneben, das mitten in einem verwilderten Garten stand.

Beladen mit seiner Kameraausrüstung öffnete Andrew das Tor und ging unter regennassen, tief hängenden Ästen über einen ungepflegten Rasen, über dem sich Moskitoschwärme tummelten, auf das Gebäude zu. In der Ferne sah er den weißen Säulenvorbau des Herrenhauses. Ein zweiter Blick auf das große Haus vermittelte ihm den Eindruck, dass es unbewohnt war. In den oberen Stockwerken hingen Fensterläden, deren Farbe abblätterte, schief in den Angeln. Die Stufen waren moosbewachsen und mit Laub bedeckt, und unter den Regenrinnen, in denen Gras wucherte, nisteten Vögel. Das kleine Häuschen, das wohl dem Pförtner gehörte, sah ebenso heruntergekommen aus.

Andrew klopfte an die Tür des Häuschens, und es schien eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis er endlich schlurfende Schritte hörte. Die Tür wurde von einem hochgewachsenen jungen Mann geöffnet, der ein weißes Herrenhemd zu seinem Longyi trug. Wegen seiner hellen Hautfarbe vermutete Andrew, dass der Junge ein Shan aus dem nördlichen Bergland war. Freundlich, aber erstaunt sah er Andrew aus dunklen Augen an.

In gebrochenem Burmesisch stellte sich Andrew vor: »Guten Tag. Ich bin Andrew Hancock. Ich bin gekommen, um Prinzessin Tipi Si zu besuchen. Das hat Mr. Watt vereinbart.«

Der junge Mann nickte und erwiderte ein bisschen stockend auf Englisch: »Ja. Die Prinzessin erwartet Ihren Besuch. Bitte kommen Sie herein.« Er hielt die Tür auf, während Andrew seine Schuhe auszog, seinen Kamerakoffer schulterte und das dunkle Häuschen betrat. Andrew vermutete, dass der Mann, dem er folgte, nicht einfach nur ein Houseboy war, denn er schien gebildet und hatte eine selbstsichere Haltung, frei von der Unterwürfigkeit, die bei Dienstboten anzutreffen war.

Das Haus war klein, hatte aber hohe Decken und wirkte, weil Möbel fehlten, größer, als es war. Es roch modrig und machte einen verstaubten und tristen Eindruck. Als sie das Empfangszimmer betraten, registrierte Andrew den blanken Fliesenboden und den langsam rotierenden Ventilator an der Decke. In dem Raum standen nur wenige Möbel: zwei Sessel, ein niedriger Tisch, ein Spiegel mit geschnitztem Rahmen und ein hölzerner Wandschirm, der eine Ecke abtrennte. Durch die Hintertür sah Andrew einen Anbau, offenbar die Küche, daneben ein Badehaus. Im Empfangszimmer saß auf einigen bestickten Polstern eine ältere Burmesin.

Sie hielt sich gerade, hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet, das Kinn erhoben und den Blick direkt auf Andrew gerichtet, obwohl sie ihn weder mit einem Nicken noch mit einer Geste begrüßte. Zu ihrem seidenen Longyi trug sie eine eng geschnittene langärmlige Bluse aus lavendelfarbener Seide. Ihr einziger Schmuck war ein kunstvoller Haarkamm in ihrem glatt zurückgesteckten, graumelierten Haar.

Andrew deutete eine Verbeugung an, aber bevor er etwas sagen konnte, geruhte die Prinzessin, seine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.

»Guten Tag. Mr. Watt hat mir mitgeteilt, dass Sie mich kennenlernen möchten. Da er ein alter Bekannter ist, habe ich zugestimmt.« Ihr Englisch war korrekt, aber nicht akzentfrei.

»Vielen Dank. Es ist mir eine Ehre.«

»Keine Ursache. Ich bin keine königliche Prinzessin mehr. Bitte nehmen Sie Platz.«

Sie deutete auf den anderen Sessel, und als Andrew sich niederließ, drehte sie sich ein wenig, so dass sie ihm direkt gegenübersaß. Jetzt, da er die Prinzessin besser sehen konnte, war er beeindruckt von ihrer majestätischen Erscheinung und ihrem kühlen, gebieterischen Blick. Ihre Haut hatte die weichen Falten einer überreifen Frucht, aber ihre glitzernden dunklen Augen verrieten brennendes Interesse, als sie den Mann vor sich musterte. Dass sie verarmt war, brachte sie offenbar weder in Verlegenheit noch bereitete es ihr Sorge.

»Worüber wollen Sie mit mir sprechen?«

»Ihre Geschichte fasziniert mich. Vielleicht hat Mr. Watt Ihnen erzählt, dass ich Artikel schreibe und Fotografien von interessanten Orten und Menschen in Asien mache, die ich an englische Zeitschriften verkaufe. Als mir Mr. Watt von Ihnen erzählt hat, habe ich mich gefragt, ob Sie mir wohl erlauben würden, einen Artikel über Ihr Leben zu schreiben.«

»Ich bin nicht mehr interessant, Mr. Hancock.«

Andrew lächelte höflich. »Ich glaube nicht, dass das stimmt. Darf ich fragen, in welcher Weise Sie mit dem verstorbenen König verwandt waren?«

»Ich bin, besser gesagt war, seine Halbschwester. Wir hatten denselben Vater, aber verschiedene Mütter.«

»Sind Sie deshalb mit ihm nach Indien gegangen?«

»Ja, als die gesamte königliche Familie verbannt wurde.«

»Das muss schwer für Sie gewesen sein.«

»Für den König und die Königin durchaus. Mir war eher langweilig. Ratnagiri war ein Provinznest. Der König beschäftigte sich vor allem mit dem Bau seines neuen Palastes, was mich nicht interessierte, also verkleidete ich mich als Dienerin und wanderte durch die Stadt. Dort fand ich heraus, dass es Inder gab, die die Briten ebenso wenig mochten wie ich. Ich besuchte Versammlungen, um sie reden zu hören. Bald engagierte ich mich ebenfalls bei ihrem Vorhaben, Indien von der britischen Herrschaft zu befreien, denn ich hatte alle Achtung vor den Briten verloren, nachdem sie so mit meiner Familie umgesprungen waren.« Sie hielt inne und setzte anklagend hinzu: »Meine Abneigung gegen sie ist um ein Vielfaches gewachsen.«

Andrew machten ihre deutlichen Worte verlegen, und er versuchte das Gespräch wieder auf ihre Lebensgeschichte zu lenken. »Soviel ich weiß, waren Sie einmal in England?«

»Ich wollte mehr über meinen Feind erfahren, also habe ich mein bisschen Schmuck und was ich sonst besaß, verkauft und bin mit einem charismatischen Inder, einem Dichter, Philosoph und Kämpfer für die Unabhängigkeit Indiens, nach England gefahren. Er hat mir die Augen geöffnet, wie sehr wir in Burma von den Briten ausgebeutet worden waren. Aber ich blieb nicht lange. Zwei Jahre später heiratete ich einen Saopha von einem Bergstamm der Shan.«

»Einen Shan-Fürsten. Das erscheint angemessen«, bemerkte Andrew.

Die Prinzessin zuckte die Schultern. »Wir waren niedriger Adel, wurden aber 1903 zum Durbar in Delhi anlässlich der Krönung von Edward VII. zum Kaiser von Indien eingeladen. König Thibaw wollte teilnehmen, aber die Briten schlugen ihm seine Bitte ab. Ich hingegen ritt an der Spitze der Shan-Anführer in einem goldenen Howdah auf einem weißen Elefanten, der mit Edelsteinen und Pfauenfedern geschmückt war.«

»Das klingt sehr beeindruckend«, erwiderte Andrew höflich.

»Das hätte es sein können, wenn ich mehr Geld gehabt hätte, aber mein Mann war geizig und, wie Sie wissen, besaß meine Familie nichts.«

»Was haben Sie gemacht? Wie haben Sie sich über Wasser gehalten?«

»Ich bin Geschäftsfrau geworden. Erst habe ich mit Elefanten gehandelt, dann boten sich Expansionsmöglichkeiten in andere Branchen. Es machte mir Spaß, und ich war ziemlich erfolgreich, aber mein Mann war nicht einverstanden. Er meinte, so etwas zieme sich nicht für eine burmesische Prinzessin. Also habe ich mich scheiden lassen.«

»Wann sind Sie nach Burma zurückgekehrt?« Andrew versuchte seine Ungeduld angesichts ihrer allzu knappen Wiedergabe dieser einschneidenden Erfahrungen zu verbergen. Zu gern hätte er alle Details erfahren.

»Wie Sie vielleicht wissen, ist der König schließlich in Indien gestorben, worauf man der Königin und anderen Mitgliedern seiner Familie gestattete, nach Burma zurückzukehren. Die Königin durfte zwar nicht nach Mandalay, ich aber erhielt die Genehmigung, mich dort niederzulassen. Ich kannte die Stadt gut und hatte dort Freunde, die mir helfen konnten. Als Erstes stieg ich in den Holzhandel ein. Außerdem verkaufte ich Elfenbein nach China. Auch Opium. Aber dann stellte ich fest, dass Rangun für mich ein lohnenderes Pflaster war, und erwarb dort ein Anwesen. Es gelang mir, im Straßenbau und für Teakholzlieferungen an die Briten lukrative Verträge abzuschließen. Die Briten mochten mich nicht, weil ich sehr hart verhandeln konnte.« Zum ersten Mal lächelte die Prinzessin, dann streckte sie die Hand aus und schlug einen kleinen Gong an, der auf dem Tisch stand.

Rasch und lautlos erschien der junge Mann, und die Prinzessin sprach mit ihm in einem Dialekt, den Andrew nicht verstand.

»Ich habe Tee bestellt«, erklärte sie.

»Darf ich fragen, ob der junge Mann ein Shan ist?«

»Ja. Die Shan sind ein sehr stolzes Volk. Sie waren immer unabhängig und unterstanden nie der Herrschaft der burmesischen Könige. Sein Vater war ein Freund von mir, doch er wurde ermordet. Jetzt kümmere ich mich um seinen Sohn, der mir hilft. Zwar ist er nicht von meinem Blut, aber mehr Familie als ihn brauche ich nicht.«

Der junge Mann kam mit einer Kanne burmesischen Rauchtees wieder, schenkte beiden eine Tasse ein und verließ dann leise den Raum. Während Andrew an seinem Tee nippte, sah er sich um. Ihm war unbegreiflich, dass eine erfolgreiche Geschäftsfrau in so ärmlichen Verhältnissen lebte.

Die Prinzessin beobachtete ihn. »Sie fragen sich, wie es sein kann, dass ich hier wohne«, bemerkte sie verbittert. »Ich muss Ihnen sagen, dass es das Werk der Briten ist. Sie sahen, wie meine Geschäfte florierten, und sie dachten, weil ich aus der königlichen Familie stamme und mein Reichtum wuchs, würde ich zum Brennpunkt der Rebellion und eine Bedrohung ihrer Herrschaft werden. Also schmiedeten sie ein Komplott, um mich um meinen Reichtum zu bringen.«

»Aber die Briten mussten doch wissen, dass Sie keine Bedrohung darstellen.«

»Sie wissen nichts! Im britischen Geheimdienst wimmelt es von Lügnern und unfähigen Idioten, die in die eigene Tasche wirtschaften. Aber selbst denen ist klar, dass es Rebellen gibt, die die Briten loswerden wollen. Sogar einige Mönche sind zum Aufstand bereit! Viele Burmesen sind es leid, mitanzusehen, wie die Schätze des Landes aus unseren Schreinen und Pagoden gestohlen werden. Außerdem wollen die Burmesen nicht von einem anderen Land beherrscht werden. Wir wollen unsere Angelegenheiten selbst regeln. Die Briten wussten, dass ich mich in Indien in der Unabhängigkeitsbewegung engagiert habe, also wollten sie kein Risiko eingehen.«

»Die Briten haben viel Wohlstand nach Burma gebracht. Sie haben Handelsmöglichkeiten eröffnet, Straßen und Häfen gebaut. Dieses Land hat von ihnen profitiert«, entgegnete Andrew steif. Als Engländer glaubte er die Erbauer des Empire verteidigen zu müssen.

»Sie bedienen sich hier zum Vorteil Großbritanniens, nicht zum Vorteil der Burmesen«, entgegnete die Prinzessin.

»Wie haben die Briten Sie um Ihr Vermögen gebracht?«, fragte Andrew, der nicht glauben wollte, dass etwas so Hinterhältiges geschehen konnte.

»Sie verweigerten mir Verträge und gaben der Konkurrenz, die es nicht verdient hatte, den Zuschlag. Meine Waren wurden in den Häfen festgehalten. Frachtbriefe kamen abhanden. Zollbeamte ließen sich Zeit. Banken forderten Kredite zurück. Dergleichen lässt sich leicht organisieren, wenn man die Macht hat. Nach und nach, Stück für Stück, musste ich meinen Besitz verkaufen, nur um nicht auch noch dieses elende Dach über meinem Kopf zu verlieren.«

»Aber Sie sind doch nicht der Meinung, dass jeder Brite Ihnen Unrecht zugefügt hat? Es muss doch auch welche geben, die nicht so gierig waren.«

»Wenn Sie von dem netten Mr. Watt sprechen, haben Sie recht. Er ist ein rechtschaffener Mann, doch seine Frau ist Burmesin, und deshalb versteht er die Lage besser. Aber er ist der Einzige. Sie nehmen und nehmen. Unlängst musste ich etwas, das mir viel bedeutete, einem aufgeblasenen kleinen Schotten mit einem albernen Zwicker überlassen. Es wäre weniger ärgerlich gewesen, wenn ich von einem Einheimischen beraubt worden wäre, der stiehlt, um sich etwas zu essen zu kaufen.«

»Was haben Sie ihm überlassen?«

»Vielleicht ist ›überlassen‹ nicht das richtige Wort.« Die Prinzessin hob die Schultern. »Er war ein Überredungskünstler. Und ich brauchte Geld. Jetzt bereue ich es zutiefst und bin sehr traurig deswegen. Ich hatte mir geschworen, den letzten Gegenstand, den ich von meinem Bruder habe, unter keinen Umständen zu verkaufen. Doch ich wurde unter Druck gesetzt und eingeschüchtert. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es nicht unter Wert verkauft habe.«

»Was war es denn?«, fragte Andrew leise.

»Ich habe mich von einem Kammavaca getrennt. Wissen Sie, was das ist? Ein buddhistischer Text, wie er normalerweise auf Palmblätter geschrieben wird, aber für dieses wurde kein Palmenpapier benutzt. Dieses Kammavaca wurde von den Mönchen eigens für meinen Bruder gemacht, und es verbindet sich eine große Geschichte damit.« Sie seufzte. »Ein Kammavaca sollte mit Respekt behandelt werden.« Traurig hob sie die Hand. »Und jetzt habe ich es verkauft, nur um zu überleben.«

Andrew rutschte unbehaglich auf seinem Sessel hin und her. Ihm dämmerte, wer das Kammavaca der Prinzessin gekauft haben konnte. Denn er erinnerte sich noch an Ferguson, den selbstgefälligen Kunsthändler, dem er bei seiner ersten Burmareise begegnet war. Andrew war dem Schotten noch nicht begegnet, seit er wieder im Land war, doch er hatte nicht vergessen, wie Ferguson großspurig erklärt hatte, er sei Experte für asiatische Kunst. Prinzessin Tipi Sis Beschreibung hörte sich ganz so an, als sei der Mann noch immer in Burma und verdiene nach wie vor sein Geld mit dem Ankauf von Altertümern und Kunstgegenständen.

»Das ist sehr bedauerlich. Es tut mir leid, dass Sie sich gezwungen sahen, etwas aus dem Besitz Ihres Bruders zu veräußern. Welche Geschichte steht denn hinter dem Kammavaca?«, fragte Andrew.

»Es ist mit solcher Ehrerbietung und Geduld von den Mönchen angefertigt worden. Und es war meine letzte Verbindung zu meiner Familie. Mein Bruder gab es mir kurz vor seinem Tod und sagte, das Kammavaca enthielte das Geheimnis, wie meine Familie wieder an die Macht gelangen könnte. Jetzt ist es fort, und meine Familie bleibt ohnmächtig. Deshalb ist mein Hass auf die Briten größer denn je«, sagte sie ruhig.

»Ich verstehe, dass Sie so empfinden. Vielleicht gelingt es Ihnen ja eines Tages, es zurückzubekommen«, sagte Andrew. Aus einem Impuls heraus fügte er hinzu: »Und wenn ich es für Sie wiederbeschaffen könnte?«

Sie erwiderte sein leises Lächeln mit einem zornigen Blick. »Speisen Sie mich nicht mit hohlen Phrasen ab«, gab sie zurück.

Andrew begriff, dass sie nicht nur auf die britische Verwaltung und Leute wie Ferguson wütend war, sondern auch auf sich selbst, weil sie so etwas Wertvolles verkauft hatte. »Wenn Sie mir mehr von Ihrer Geschichte erzählen, würde das meinen Lesern in England helfen, Burma und seine Menschen etwas besser kennenzulernen und zu verstehen, warum Sie so empfinden. Ich kann Ihren Zorn gut nachvollziehen. Denn ich schäme mich oft für das Betragen meiner Landsleute«, schloss er.

»Ich würde Ihnen gern glauben. Ich würde auch gern glauben, dass mein Kammavaca wiederbeschafft werden kann. Dem König war es so wichtig. Aber warum sollte ich Ihnen trauen?« Die Prinzessin hielt inne. »Genug. Ich habe bereits genug gesagt.« Damit schlug sie auf den kleinen Gong, und als der junge Shan eintrat, wies sie ihn an, den Besucher zum Eingangstor zu begleiten.

 

»Ich wollte mich dafür bedanken, dass Sie mich bei der Prinzessin eingeführt haben«, sagte Andrew, als er nach dem abrupten Ende der Audienz wieder Mr. Watts Buchladen betrat.

Mr. Watt kicherte. »Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie das Interview überleben. Hat sie Ihnen wegen uns Kolonialisten die Leviten gelesen?«

»Allerdings. Ich verstehe ihre Wut, aber ich habe mich zurückgehalten.«

»Aha, ein weiser Schachzug. Hat sie denn Einzelheiten aus ihrem bewegten Leben erzählt?«

»Nicht so viele, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich habe sie auf dem falschen Fuß erwischt. Und ich muss sagen, dass mir unbehaglich zumute war. Ich fühlte mich sogar schuldig, weil sie kürzlich von einem ziemlich widerwärtigen Schotten übervorteilt worden ist, der sie unter Druck gesetzt hat, das letzte noch verbliebene Erbstück ihres Bruders zu verkaufen. Ich glaube, es war nicht nur von emotionalem Wert, sondern hat große kulturelle Bedeutung.«

»Das ist eine Schande. Doch Sie können nicht für das Verhalten anderer verantwortlich gemacht werden, ob es nun Briten sind oder Bolivianer«, entgegnete Mr. Watt. »Aber ich gebe Ihnen recht, die britischen Herrscher hier sind ein habgieriges Völkchen. Sie schnappen sich alles, was nicht niet- und nagelfest ist, und wenn doch, klauen sie noch die Nägel. Die Burmesen können sich kaum dagegen wehren, und so ein Verhalten schafft viel böses Blut.«

»Die Prinzessin ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit, aber die Welt hat sie vergessen. Sie lebt in größter Armut«, meinte Andrew. »Ich staune, dass sie gar nichts mehr besitzt, nachdem sie so reich war. Der Eindruck drängt sich auf, dass sie tatsächlich hereingelegt wurde, deshalb habe ich ihr angeboten, das Kammavaca wiederzubeschaffen. Der Käufer könnte ein gewisser Ferguson sein. Ich bin ihm einmal begegnet, als ich vor dem Krieg hier war.«

»Ich kenne Ferguson. Ein gieriger kleiner Kerl. Keinerlei Achtung vor der burmesischen Kunst. Na ja, das stimmt nicht ganz, immerhin kennt er ihren Marktpreis und weiß, was sie einbringt. Vermutlich hat er mit dem Verkauf von Kunstgegenständen und Statuen in Europa und Amerika ein Vermögen gemacht.«

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das, was er ihr abgekauft hat, so wertvoll ist«, sagte Andrew.

»Wenn dieses Kammavaca für den König gemacht wurde, ist das ein Gütesiegel. Damit hat es einen einzigartigen Herkunftsnachweis«, erwiderte Mr. Watt. »Sollten Sie es wirklich wiederbeschaffen können, ist Ihnen der Dank der Prinzessin sicher. Vielleicht erzählt sie Ihnen dann mehr aus ihrem Leben – und Sie bekommen eine großartige Geschichte, glauben Sie mir.«

»Sie stacheln meinen Eifer noch an. Einerseits kann ich ein wenig die Ehre meines Landes retten, wenn ich das Kammavaca zurückbringe, das der Prinzessin so viel bedeutet, und die Reportage kommt dann noch dazu«, sagte Andrew. »Ich bin sicher, dass ich Ferguson aufspüren kann, und unterwegs stoße ich bestimmt auf interessante Geschichten für die Zeitschriften daheim.«

Mr. Watt schüttelte Andrew die Hand. »Viel Glück, und seien Sie vorsichtig. Abseits der Städte kann es in Burma heutzutage gefährlich sein. Ich bin schon gespannt, was Sie mir über Ihre Fortschritte berichten werden.«

»Wir sehen uns, wenn ich wieder da bin. Und mit etwas Glück habe ich dann auch einen guten Grund für einen zweiten Besuch bei der Prinzessin.«

 

Andrew suchte den British Pegu Club auf, eine nach kolonialen Standards eher bescheidene Einrichtung. Als er das Aufschlagen von Tennisbällen hörte, wunderte er sich über den Irrsinn der Mitglieder, die sich in der Hitze des Tages so verausgabten. Er verzichtete auf den Pegu Cocktail des Clubs und bestellte sich einen Gin, mit dem er sich auf die Terrasse begab, wo er die unter der Obhut des indischen Gärtners üppig blühenden englischen Blumen bewunderte. Andrew ließ sich in dem Ranguner Club eher selten blicken, weil ihn der Tratsch der dort versammelten weißen Männer rasch langweilte. Und ihn störten ihre Sticheleien über die Unzulänglichkeiten der Burmesen und ihre Klagen über die Faulheit der indischen und chinesischen Kulis.

Andrew fand den herrischen Ton der britischen Staatsdiener entsetzlich. Die britischen Polizeibeamten machten häufig hetzerische Bemerkungen über die Einheimischen. Andrew hatte in den Schützengräben der Westfront neben indischen Kompanien gekämpft, er wusste also, was für tapfere, zuverlässige Soldaten sie waren. Viele der Kommentare, die er hörte, waren einfach Unsinn, aber er schwieg und behielt seine Meinung für sich.

Tipi Sis Geschichte hatte wieder einmal sein Unbehagen über das Verhalten der Briten in Burma bestätigt. Dennoch plauderte er ein wenig mit den Stammgästen des Clubs und dem Sekretär und erfuhr schließlich, dass sich Ferguson tatsächlich in Burma aufhielt. Unlängst war er Richtung Norden aufgebrochen, wahrscheinlich um weitere Kunstgegenstände an sich zu bringen. Aufgemuntert durch diese Information, verließ Andrew den Club und schickte sich an, seine eigene Reise in den Norden vorzubereiten.

 

Andrew merkte, wie seine Knie bebten, als er mit federndem Schritt die schmale Planke betrat, die von dem alten Boot zur Anlegestelle führte. Eingeklemmt zwischen der Ladung und den anderen Passagieren war er der einzige Europäer an Bord gewesen, seit das Boot im Morgengrauen in dem belebten Hafen von Sittwe abgelegt hatte. Der Nebenarm war seicht, und der Schlamm glänzte im letzten Tageslicht. Nach der beschwerlichen Reise den Kaladan flussaufwärts wirkte das schlichte Dorf Thantara sehr einladend.

Andrew ließ sich den Weg zu einem kleinen Gästehaus zeigen, wo er übernachtete. Dort traf er Vorkehrungen für seine Weiterfahrt mit dem Ponywagen nach Mrauk-U, dem Ort, wo Ferguson angeblich arbeitete.

Seit Wochen war Andrew dem Schotten auf der Spur, er reiste ihm über Land und auf Flüssen hinterher. Dabei hatte er Aufnahmen von der Landschaft mit den alten Tempeln und den kleinen Dörfern gemacht, und auch von den Menschen, die dort lebten. An jedem Ort schien es eine berichtenswerte Geschichte zu geben, und Andrew wusste, dass er die meisten an den Mann bringen würde. Mrauk-U war nicht leicht zu erreichen, aber dass es den Schotten dorthin zog, überraschte Andrew nicht, denn in der uralten Hauptstadt gab es unzählige verfallene Tempel und Pagoden.

Während das kleine Pony an Ruinen vorübertrottete, sah Andrew, dass das Dorfleben inmitten der bröckelnden Stupas sehr lebendig war. Ziegen rupften Gras auf den Hügeln rund um die Pagoden, und das Dorf selbst war ringförmig um das Areal des einstigen Königspalastes angelegt. Wenig später erfuhr er, dass Ferguson einige Einheimische angeheuert hatte, um ihm bei der Arbeit in der Shitthaung-Pagode zu helfen.

 

Am folgenden Tag machte sich Andrew gleich nach Sonnenaufgang auf den Weg zu dem Hügel, wo die ausgedehnte Anlage im Morgenlicht glänzte. Die Pagode war von glockenförmigen Stupas umgeben, die so groß wie Bauernkaten waren und buddhistische Reliquien beherbergten. Bestürzt sah Andrew, dass der grandiose Tempel völlig verwahrlost und verlassen wirkte.

Er ging hinein, umrundete Haufen aus trockenem Laub und Tierkot und schrak vor dem Gestank einer Fledermauskolonie zurück, die sich hier eingenistet hatte. So gut es ging, tastete er sich einen schmalen Korridor entlang und versuchte, den Weg in das zentrale Heiligtum zu finden. In einem fahlen Lichtstreifen saß eine Reihe großer geschnitzter Buddhafiguren an der Innenwand und starrte schweigend in die Schatten. Andrew zählte sie rasch, es waren achtundzwanzig.

Als er ein leises Pochen hörte, hielt er inne. Er bog um die Ecke und betrat einen Raum, in dem es heller war. Die Wände und die Decke des Tempels waren mit in den Stein gemeißelten Figuren bedeckt. Die fein gearbeiteten Details der Tiere, Göttinnen und Szenen aus der Geisterwelt sowie aus dem Leben Buddhas versetzten ihn in Erstaunen. Bei näherer Betrachtung erkannte er, dass sie teilweise bemalt gewesen waren. Inzwischen waren die Farben verblasst, aber Andrew konnte sich vorstellen, wie prächtig und vor Leben sprühend diese Galerie nach ihrer Vollendung gewesen sein musste.