Das Jüngste Gericht - Terry Pratchett - E-Book

Das Jüngste Gericht E-Book

Terry Pratchett

3,9
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Zauberer der Unsichtbaren Universität haben im Rahmen eines besonders großen Experiments eine Brücke zur Rundwelt geschaffen – und damit eine Erdenbewohnerin auf die Scheibenwelt geholt. Im Gegenzug sollen der Erzkanzler und Rincewind auf der Rundwelt nach dem Rechten sehen – die Reise sollte nicht allzu gefährlich sein, schließlich gibt es keine Dinosaurier mehr, allenfalls noch ein, zwei Kriege und ein wenig globale Erwärmung. Doch als Rincewind auf der Rundwelt eintrifft, nimmt das Unheil seinen Lauf ... Und auf der Scheibenwelt streiten die Zauberer derweil mit der Kirche von Om um die Eigentumsrechte an der Rundwelt – der letzte Tag unserer Erde ist angebrochen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
3,9 (22 Bewertungen)
8
6
6
2
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Entdecke die Welt der Piper Fantasy:

Übersetzung aus dem Englischenvon Andreas Brandhorst und Erik Simon

Andreas Brandhorst übersetzte die erzählenden, Erik Simon die wissenschaftlichen Kapitel.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96420-3

© 2013 Terry und Lyn Pratchett, foat Enterprises, Jack Cohen Titel der englischen Originalausgabe: »The Science of Discworld 4: Judgement Day«, Colin Smythe, London 2013 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2013 Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Katarzyna Oleska Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Und wie die schwangre Phantasie Gebilde

von unbekannten Dingen ausgebiert,

gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt

das luft’ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.

WILLIAM SHAKESPEARE

Ein Sommernachtstraum

Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind.

Wir sehen sie so, wie wir sind.

ANAÏS NIN

Philosophie bedeutet Fragen, die vielleicht nie beantwortet werden. Religion bedeutet Antworten, die vielleicht nie infrage gestellt werden.

Anonym, aus DANIEL DENNETT

Den Bann brechen: Religion als natürliches Phänomen

Selbst die Wissenschaftler glauben an Gott. Sie haben Ihn im Großen Hadronen-Kaleidoskop gefunden.

KLINKENPUTZER-MISSIONAR

erwähnt im New Scientist

»Ich habe die Welt nicht erschaffen«, betonte Om. »Warum sollte ich die Welt erschaffen? Es gab sie doch schon. Und wenn mir etwas daran läge, eine neue Welt zu erschaffen, so gäbe ich ihr bestimmt nicht die Form einer Kugel. Eine kugelförmige Welt? Die Bewohner fielen herunter. Und die Meere würden unten abfließen.«

Einfach göttlich

»Kommt mit zur Bibliothek. Sie hat ein geerdetes Kupferdach, weißt du. Die Götter verabscheuen so etwas.«

PROLOG

Welten, scheibenförmig und rund

Es gibt eine vernünftige Art, eine Welt zu erschaffen.

Sie sollte flach sein, damit niemand zufällig herunterfällt* [* Absichtliches Herunterfallen ist eine andere Sache, und dabei sind dem Einfallsreichtum keine Grenzen gesetzt. Siehe Das Licht der Phantasie und Wahre Helden.], es sei denn natürlich, jemand kommt dem Rand zu nahe – in dem Fall ist er selbst schuld.

Sie sollte kreisförmig sein, damit sie sich ruhig drehen und den langsamen Wechsel der Jahreszeiten erzeugen kann.

Sie sollte gut gestützt sein, damit sie nicht fallen kann.

Die Stützen sollten ein festes Fundament unter sich haben.

Damit keine weiteren stabilisierenden Elemente nötig sind, sollte das Fundament den erwarteten Zweck erfüllen und aus eigener Kraft an Ort und Stelle bleiben.

Die Welt sollte eine Sonne haben, von der sie Licht empfängt. Die Sonne sollte klein und nicht zu heiß sein, um Energie zu sparen, und sie sollte die Scheibe umkreisen, damit es Tag und Nacht gibt.

Die Welt sollte bewohnt sein, denn welchen Sinn hat die Erschaffung einer Welt, wenn dort niemand lebt?

Alles sollte geschehen, weil die Bewohner es wollen (Magie) oder weil die Kraft der Geschichte (Narrativium) es verlangt.

Diese vernünftige Welt ist die Scheibenwelt: flach, kreisförmig, von vier großen Elefanten getragen, die auf dem Rücken einer durchs All reisenden Schildkröte stehen, bewohnt von gewöhnlichen Menschen, Zauberern, Hexen, Trollen, Zwergen, Vampiren, Golems, Elfen, der Zahnfee und dem Schneevater.

Aber …

Es gibt auch eine dumme Art, eine Welt zu erschaffen, und manchmal ist sie nötig.

Als auf dem Squashplatz der Unsichtbaren Universität ein Experiment in fundamentaler Thaumaturgie außer Kontrolle geriet und das Universum zu zerstören drohte, musste der Computer HEX große Mengen Magie in sehr kurzer Zeit verwenden. Die einzige Möglichkeit bestand darin, das Rundwelt-Projekt in Angriff zu nehmen und ein magisches Kraftfeld zu erzeugen, das paradoxerweise Magie außen vor hält. Als der Dekan der Unsichtbaren Universität den Finger hineinsteckte und sehen wollte, was passieren würde, da entstand die Rundwelt.

Die Rundwelt weiß nicht genau, auf welchen ihrer Teile sich der Name bezieht. Manchmal ist damit der Planet gemeint, bei anderen Gelegenheiten das ganze Universum. Abgesehen von einigen kleinen Pannen verlief ihre Entwicklung – eingeleitet von einem bärtigen alten Mann – über einen Zeitraum von inzwischen dreizehneinhalb Milliarden Jahren recht erfolgreich.

Da es dem Rundwelt-Universum an Magie und natürlichem Narrativium fehlt, basiert es auf Regeln. Nicht auf von Menschen gemachten Regeln, sondern auf Regeln, die es sich selbst zugelegt hat. Was seltsam ist, denn die Rundwelt hat gar keine Ahnung, wie ihre Regeln aussehen sollten. Einiges deutet darauf hin, dass sie einfach improvisiert.

Zweifellos weiß die Rundwelt nicht, welche Größe sie haben sollte. Von außen gesehen, während sie in Rincewinds Arbeitszimmer in einem Regal liegt und Staub ansetzt, hat sie einen Durchmesser von etwa zwanzig Zentimetern und sieht aus wie eine Mischung aus einem Tritt-den-Ball und einer Schneekugel für Kinder. Von innen betrachtet scheint sie größer zu sein: eine Kugel mit einem Radius von etwa 400Sextillionen Kilometern. Soweit die einzigen bekannten* [* Dies könnte irreführend sein, denn es ist die Meinung der betreffenden Bewohner.] Bewohner wissen, könnte sie sogar noch viel größer sein, vielleicht sogarunendlich.

Ein so großes Universum scheint des Guten zu viel zu sein, denn seine Bewohner bewohnen nur einen winzigen Teil dieses Ehrfurcht gebietenden Volumens, nämlich die Oberfläche eines weitgehend runden Körpers mit einem Durchmesser von etwa zwölftausend Kilometern.

Die Zauberer nennen auch diese Kugel »Rundwelt«. Ihre Bewohner nennen sie »Erde«, denn daraus besteht die Oberfläche (bis auf die nassen, felsigen, sandigen und eisigen Teile) – eine recht provinzielle Vorgehensweise. Bis vor einigen Jahrhunderten hielten sie ihre Erde für den Mittelpunkt des Universums und den Rest, der sich darum drehte oder ziellos über den Himmel wanderte, für unwichtig, weil er sie nicht enthielt.

Der Rundwelt-Planet ist rund, wie schon der Name nahelegt. Nicht rund wie eine Scheibe, sondern rund wie ein Tritt-den-Ball. Er ist jünger als das Rundwelt-Universum und hat nur etwa ein Drittel seines Alters. Wenn man kosmische Maßstäbe anlegt, erscheint der Planet winzig, aber für die Bewohner ist er ziemlich groß, sogar groß genug, um von den Dummen unter ihnen für eine Scheibe gehalten zu werden.

Damit sie nicht herunterfallen, hat sich die Rundwelt eine Regel ausgedacht, der zufolge eine geheimnisvolle Kraft die Menschen festhält. Zum Glück gibt es dort keine welttragenden Elefanten. Gäbe es sie, könnten die Bewohner um ihre Weltenkugel herumgehen und die Stelle erreichen, wo sie auf einem Elefanten ruht. Für sie sähe es aus, als läge dieses riesige, ihre Welt tragende Geschöpf auf dem Rücken, mit den Füßen hoch oben in der Luft. (Mit gelb angemalten Füßen wäre der Elefant in einer Schüssel mit Vanillesoße nicht zu sehen – vorausgesetzt, die Schüssel wäre groß genug.)

Die Regeln der Rundwelt sind demokratisch. Die geheimnisvolle Kraft hält nicht nur die Menschen fest, sondern auch Tiere und alle losen Gegenstände. Aber sie ist schwach, was bedeutet: Die festgehaltenen Dinge können sich bewegen, was sie auch tun, die meiste Zeit zumindest.

Das gilt auch für den Rundwelt-Planeten. Er hat eine Sonne, die ihn aber nicht umkreist. Stattdessen verhält es sich umgekehrt: Der Planet umkreist die Sonne. Schlimmer noch: Dadurch entstehen nicht etwa Tag und Nacht, sondern Jahreszeiten, weil die Achse des Planeten geneigt ist. Außerdem ist die Umlaufbahn nicht genau kreisförmig, sondern ein bisschen eingedrückt, typisch für die allgemeine Schlampigkeit bei der Konstruktion der Rundwelt. Also, um Tag und Nacht zu bekommen, muss sich auch der Planet drehen. Es funktioniert, in gewisser Weise: Echte Dummköpfe können sich zu der Annahme verleiten lassen, die Sonne umkreise den Planeten. Aber – es leuchtet ja ein, dass es auch bei dieser Sache einen Haken gibt – die Drehung hindert die Rundwelt auch daran, zu einer richtigen Kugel zu werden, denn im geschmolzenen Zustand plattet sie oben und unten ein wenig ab. Man könnte auch sagen, dass die Kugel eingedrückt ist, ähnlich wie ihre Umlaufbahn um die Sonne. Ein klarer Fall von noch mehr Schlampigkeit.

Wegen dieser hoffnungslos verpfuschten Anordnung muss die Sonne riesig, sehr weit entfernt und außerdem auch noch absurd heiß sein: so heiß, dass neue Regeln erforderlich sind, damit sie brennt. Und fast ihre gesamte gewaltige Energiemenge wird vergeudet und nur dazu verwendet, leeren Raum zu erwärmen.

Die Rundwelt hat weder Stützen noch ein Fundament. Sie scheint sich für eine Schildkröte zu halten, denn sie schwimmt durchs All, gezogen von einer weiteren geheimnisvollen Kraft. Die menschlichen Bewohner staunen offenbar nicht über eine Kugel, die ohne Schwimmflossen schwimmt. Allerdings erschienen die Menschen erst vor etwa vierhunderttausend Jahren, und das ist nicht mehr als ein Hundertstel Prozent des Alters der Kugel. Sie scheinen durch Zufall entstanden zu sein, als kleine Kleckse, die sich spontan zu höheren Lebensformen entwickelten – worüber die Menschen oft streiten. Um ganz ehrlich zu sein: Sie sind nicht besonders intelligent, und mit dem Austüfteln moderner wissenschaftlicher Regeln für das Universum begannen sie erst vor vierhundert Jahren. Es liegt also noch reichlich Arbeit vor ihnen.

Mit viel Optimismus nennen sich die Bewohner der Rundwelt Homo sapiens, was in einer angemessen toten Sprache »kluger Mensch« bedeutet. Ihre Aktivitäten werden nur selten dieser Beschreibung gerecht, doch gelegentlich gibt es wunderbare Ausnahmen. Eigentlich sollten die Menschen Pan narrans heißen, »Geschichten erzählender Affe«, denn nichts reizt sie mehr als eine richtig schöne, knackige Geschichte. Sie sind verkörpertes Narrativium und derzeit damit beschäftigt, ihre Welt so umzugestalten, dass sie der Scheibenwelt ähnelt und Ereignisse eintreten, die dem menschlichen Willen Folge leisten. Sie haben ihre eigene Art der Magie erfunden, mit Zauberformeln wie »Mach einen Einbaum«, »Schalt das Licht ein« und »Login bei Twitter«. Diese Art von Magie mogelt, indem sie auf die Regeln hinter den Kulissen zurückgreift. Aber ausreichend Dummheit vorausgesetzt, kann man glauben, dass es sich tatsächlich um Zauber handelt.

Im ersten Buch, Die Gelehrten der Scheibenwelt, wird dies alles und noch mehr erklärt. Unter anderem geht es um große Napf- beziehungsweise Wellhornschnecken und die vom Pech verfolgte Zivilisation der Krabben und ihren großen Sprung zur Seite. Eine endlose Folge von Naturkatastrophen verdeutlichte, was der Instinkt der Zauberer gleich zu Anfang erkannt hatte: Eine runde Welt ist keine besonders sichere Örtlichkeit. Eine Art schneller Vorlauf durch die Geschichte der Rundwelt beförderte sie von nicht sonderlich vielversprechenden Affen, die sich um einen schwarzen Monolithen drängten, zum Versagen der Weltraumaufzüge, die zeigten: Einigermaßen intelligente Geschöpfe hatten endlich den Durchblick gehabt und beschlossen, den Planeten zu verlassen, um einer weiteren Eiszeit zu entkommen.

Von Affen konnten jene Bewohner nicht abstammen, oder? Die Affen schienen sich nur für zweierlei zu interessieren: für Sex und Prügeleien.

In Die Philosophen der Rundwelt stellten die Zauberer überrascht fest, dass die intelligenten Raumfahrer tatsächlich von den Affen abstammten, wobei der Begriff »Abstammung« (beziehungsweise Ab- und Aufstieg) später zu neuen Problemen führte. Sie fanden heraus: Weil die Rundwelt bei der Hose der Zeit ins falsche Hosenbein geraten war, hatte sie sich von ihrer ursprünglichen Zeitlinie entfernt. Die von Affen abstammenden Menschen waren Barbaren mit einer grausamen, von Aberglauben beherrschten Gesellschaft geworden. Diese Menschen waren nicht in der Lage, ihren Planeten rechtzeitig zu verlassen und dem Verhängnis zu entrinnen. Irgendetwas hatte die Geschichte der Rundwelt verändert.

Die Zauberer fühlten sich in gewisser Weise verantwortlich für das Schicksal des Planeten und waren leicht besorgt – wie etwa über einen kranken Hamster. Als sie ihrer Schöpfung einen Besuch abstatteten, fanden sie dort Elfen vor. Die Elfen der Scheibenwelt sind keineswegs die edlen Geschöpfe aus den Mythen der Rundwelt. Wenn man von einem Elfen aufgefordert wird, den eigenen Kopf zu essen, so kommt man dieser Aufforderung nach. Die Zauberer kehrten in der Zeit zurück, zu der Stelle, an der die Elfen auf der Rundwelt eingetroffen waren, und vertrieben sie, aber dadurch wurde alles schlimmer. Das Böse war fort, doch es hatte alle Neuerungen mitgenommen.

Auf der Suche nach der korrekten Zeitlinie untersuchten die Zauberer die Geschichte der Rundwelt und fanden heraus: Zwei Schlüsselpersonen, die bei den wenigen Klugen hohes Ansehen genossen, waren nie geboren worden. Dieser Punkt musste in Ordnung gebracht werden, damit der Planet in die richtige Entwicklungslinie zurückkehrte. Es handelte sich um William Shakespeare, dessen Werke einen echten Geist der Menschlichkeit schufen, und Isaac Newton, der die Wissenschaft voranbrachte. Mit erheblichen Mühen und trotz einiger interessanter Fehlschläge – unter anderem mussten Decken schwarz gestrichen werden – gelang es den Zauberern, die Menschheit wieder auf den richtigen Weg zu bringen und sie vor der Auslöschung zu bewahren. Shakespeares Ein Sommernachtstraum gab den Ausschlag, indem er die Elfen der Lächerlichkeit preisgab. Newtons Principia Mathematica zeigte der Menschheit die Sterne und erledigte damit den Rest. Problem gelöst.

Aber nicht auf Dauer.

In Darwin und die Götter der Scheibenwelt geriet die Rundwelt erneut in Schwierigkeiten. Sie hatte einigermaßen sicher das viktorianische Zeitalter erreicht, in dem es jede Menge Innovation geben sollte, kam dabei aber erneut vom rechten Entwicklungsweg ab. Zwar wurden neue Technologien entwickelt, allerdings im Schneckentempo. Ein wichtiger Ansporn für Erneuerung fehlte, und der Hamster der Menschheit erkrankte erneut. Diesmal hatte eine Schlüsselperson das falsche Buch geschrieben. Theologie der Arten von Pfarrer Charles Darwin erklärte die Komplexität des Lebens mit göttlichem Eingriff und war so positiv aufgenommen worden, dass Wissenschaft und Religion zu einer Einheit fanden. Es fehlte der kreative Funke rationaler Debatten.* [* Will heißen: Beleidigungen, Beschimpfungen und schamloses Anbiedern.] Als Pfarrer Richard Dawkins schließlich Die Entstehung der Arten(durch natürliche Auslese usw.) schrieb, war es zu spät für die Entwicklung der Raumfahrt rechtzeitig vor Beginn einer neuen Eiszeit.

Diesmal bestand das Problem nicht darin, Darwins Geburt zu gewährleisten. Dafür zu sorgen, dass er das richtige Buch schrieb … An dieser Stelle ging alles daneben, und es erwies sich als äußerst schwierig, die schlingernde Geschichte wieder auf den richtigen Kurs zu bringen. Im Gegensatz zur Redensart vom fehlenden Nagel im Hufeisen eines Pferds, durch den schließlich ein ganzes Königreich fällt, genügt es nicht, diesen einen fehlenden Nagel zu finden, um alles in Ordnung zu bringen. Das Pferd hat es dadurch vielleicht ein bisschen bequemer, aber ansonsten ändert sich nicht viel, denn wichtige Ereignisse haben meistens nicht nur eine Ursache. Eine große Gruppe von Zauberern nahm mehr als zweitausend sorgfältig vorbereitete Änderungen vor, um Darwin auf die Beagle zu bringen und ihn daran zu hindern, über Bord zu springen, als ihm von der Seekrankheit hundeelend war. Außerdem musste sein Interesse an Geologie geweckt werden, damit er bei der Expedition blieb* [* Grob gesprochen. Er blieb wann immer möglich an Land, während etwa 70Prozent der ganzen »Reise«.], bis die Galapagosinseln erreicht waren.

Vermutlich wäre den Zauberern trotzdem ein Erfolg versagt geblieben, wenn sie nicht gemerkt hätten, dass sich etwas aktiv ihren Bemühungen widersetzte, die Geschichte auf ihre Herstellerangaben zurückzusetzen. Die Revisoren der Realität sind gewissermaßen die obersten Gesundheits- und Sicherheitsbeauftragten. Am liebsten ist ihnen ein Universum, in dem nie etwas Interessantes geschieht, und sie sind zu extremen Maßnahmen bereit, um die erwünschte Ereignislosigkeit durchzusetzen. Diese Revisoren stellten sich den Zauberern entgegen.

Es war eine knappe Sache. Selbst als es den Zauberern schließlich gelang, Darwin auf die Galapagosinseln zu bringen, damit er dort die Finken, Spottdrosseln und Schildkröten bemerkte: Es dauerte Jahre, bis ihm die Bedeutung jener Geschöpfe klar wurde. Bis dahin waren alle Schildkrötenpanzer über Bord geworfen und ihr Inhalt verspeist, und die Finken hatte er einem Vogelexperten überlassen. (Er hatte erkannt, dass die Spottdrosseln etwas Besonderes darstellten.) Noch länger dauerte es, bis er sich endlich dazu aufraffte, Die Entstehung der Arten anstatt Theologie der Arten zu schreiben. In der Zwischenzeit hatte er Lehrbücher über Rankenfüßer verfasst. Als er schließlich mit Die Entstehung der Arten fertig war, baute er Mist beim Titel für die Fortsetzung, indem er sie Abstieg des Menschen nannte. Er meinte die Zurückführung des Menschen auf seinen Ursprung, den Affen, aber es wäre wohl besser von einem Aufstieg die Rede gewesen. In einem vernünftigeren Universum hätte der Titel vermutlich Die Abstammung des Menschen (und die geschlechtliche Zuchtwahl) gelautet.

Jedenfalls setzten sich die Zauberer letztendlich durch und fanden sogar eine Möglichkeit, Darwin auf die Scheibenwelt zu bringen, damit er dort dem Gott der Evolution begegnete und die Räder an seinem Elefanten bewundern konnte. Mit der Veröffentlichung von Die Entstehung der Arten wurde die betreffende Zeitlinie zur einzigen, die jemals existiert hatte. (So ist das eben mit der Hose der Zeit.) Die Rundwelt war erneut gerettet, konnte ungestört in ihrem Regal liegen und wieder Staub ansetzen.

Bis …

EINS

Ein sehr großes Ding

Jede Universität muss früher oder später ein großes oder – noch besser – ein Sehr großes Ding haben. Nach Ponder Stibbons, dem Leiter der Abteilung für unratsame angewandte Magie in der Unsichtbaren Universität, war es praktisch ein Naturgesetz. Es musste sich um ein Ding handeln, und es konnte eigentlich gar nicht groß genug sein. Kleine Dinge kamen einfach nicht infrage.

Die alten Zauberer beäugten die Schokoladenkekse auf dem Tablett, das die Teedame gerade hereingebracht hatte, und hörten mit so viel Aufmerksamkeit zu, wie man von Zauberern erwarten konnte, die gerade von Heißhunger auf Schokolade abgelenkt waren. Ponders sorgfältig formulierter Vortrag wies auf Folgendes hin: Bei genauen Untersuchungen des Bibliotheksraums – beziehungsweise B-Raums, wie man ihn oft nannte – hatte sich herausgestellt, dass es beklagenswert gewesen wäre, kein Sehr großes Ding zu haben. Die Unsichtbare Universität lief Gefahr, dadurch im akademischen Universum belächelt und von Leuten verspottet zu werden, die sich schämen würden, in diesem Zusammenhang von akademischen Kollegen zu sprechen. Besagter Spott, betonte Stibbons, komme von Leuten, die tatsächlich wussten, was »sardonisch« bedeutete.

Als er alle gut geschliffenen Argumente vorgetragen hatte, legte Erzkanzler Mustrum Ridcully seine Hand schwer auf den letzten umkämpften Schokoladenkeks und sagte: »Nun, Ponder, wie ich dich kenne – und inzwischen kenne ich dich gut genug –, legst du nie ein Problem dar, ohne irgendwo eine Lösung parat zu haben.« Ridcully kniff die Augen zusammen. »Ich bin ziemlich sicher, dass du bereits einen Sehr großen Kandidaten für uns hast. Habe ich recht?«

Ponder machte sich nicht die Mühe zu erröten. »Im FHM* [* FHM: Forschungstrakt für hochenergetische Magie.] sind wir davon überzeugt, dass uns das Universum viele Rätsel präsentiert, die gelöst werden sollten«, erwiderte er. »Denn wenn sie nicht gelöst werden, könnten sie, äh, eines Tages kommen und uns an den Kragen gehen.«

Auf die letzten Worte war Ponder stolz. Der Erzkanzler kannte ihn, und er kannte den Erzkanzler: Mustrum Ridcully war ein geborener Kämpfer, noch dazu einer, der am liebsten mit bloßen Händen kämpfte. »Ich denke nur an den Umstand, dass wir noch immer nicht wissen, warum es ein drittes Graupel-Derivat gibt, was rein theoretisch bedeutet, dass das Universum in der ersten Nanosekunde nach seiner Geburt mit einer Reise rückwärts durch die Zeit begann. Nach Von Zweisteins Experiment lässt sich daraus schließen: Wir, äh, kommen und gehen gleichzeitig, sozusagen. Haha!«

»Ja, gut, das glaube ich gern«, sagte Ridcully verdrießlich und mit einem Blick auf die anderen Zauberer. Weil er der Erzkanzler war, fügte er hinzu: »Gab es da nicht eine Katze, die gleichzeitig lebendig und tot war?«

Auf eine Frage dieser Art war Ponder vorbereitet. »Ja, Herr, aber es war eine hypothetische Katze, Herr, keineswegs ein Fall, um den sich Katzenliebhaber Sorgen machen sollten. Und ich darf hinzufügen, dass sich die Theorie von den elastischen Schnüren als eine weitere unbewiesene Hypothese herausstellte, wie auch die Blasentheorie von den verbundenen Horizonten.«

»Erstaunlich.« Ridcully seufzte. »Wie schade. Das mit den Blasen gefiel mir. Ich schätze, während ihrer kurzen Existenz hat jene Theorie einige Wissenschaftler beschäftigt und für ihren Lebensunterhalt gesorgt – ihr Dasein war also nicht ganz vergeudet. Mein lieber Stibbons, im Lauf der Jahre habe ich dich oft über verschiedene Theorien, Hypothesen, Konzepte und Spekulationen in der Welt der Naturwissenschaften sprechen gehört. Weißt du was? Ich frage mich, ja, ich frage mich wirklich, ob das Universum – das natürlich von Natur aus dynamisch und möglicherweise auch intelligent ist – nicht vielleicht versucht, deiner beharrlichen Neugier zu entkommen und dich zu noch größeren intellektuellen Kraftakten anzutreiben. Welch ein Scherzkeks!«

Als die anderen Zauberer das Wort »Keks« hörten, richteten sich ihre Blicke sogleich auf das Tablett. Ponder Stibbons hingegen erstarrte, und für einen Moment sah er aus wie eine Bronzestatue. Dann sagte er: »Welch bemerkenswerte Schlussfolgerung, Erzkanzler. Kompliment! Es ist allgemein bekannt, dass die Unsichtbare Universität jede Herausforderung annimmt. Mit deiner Erlaubnis, Herr, mache ich mich sofort daran, ein Budget zu bestimmen. Das Rundwelt-Projekt war erst der Anfang. Mit dem neuen … Herausforderungsprojekt werden wir die fundamentale Basis der Magie in unserer Welt erforschen.«

Er lief zum Forschungstrakt für hochenergetische Magie, so schnell, dass er zu einem Schemen wurde und die Luft hinter ihm zischte.

Und das war vor sechs Jahren …

An diesem Tag sah Lord Vetinari, Herrscher von Ankh-Morpork, zum Sehr großen Ding hoch, das leise vor sich hin summte, ohne besondere Aktivitäten zu entfalten. Es schwebte in der Luft, verschwand gelegentlich, kehrte wieder zurück und wirkte dabei selbstgefällig, wie Vetinari fand, was eine erstaunliche Leistung war für etwas, dem ein Gesicht fehlte.

Das SGD präsentierte sich als recht amorpher Klecks, in dem sich magische Gleichungen mit geheimnisvollen Symbolen und Schnörkeln wanden, offenbar voller Bedeutung für Leute, die sich mit dergleichen auskannten. Der Patrizier hielt nach eigener Aussage nichts von Dingen, die sich drehten und dabei summten. Er mochte auch keine seltsamen Schnörkel. Er sah darin etwas, mit dem man weder verhandeln noch streiten konnte; es war auch nicht möglich, sie zu hängen oder auf kreative Weise zu foltern. Natürlich kam ihm wie immer der Grundsatz Noblesse oblige zu Hilfe – obwohl alle, die Havelock Vetinari kannten, sehr wohl wussten, dass er es mit solchen Grundsätzen manchmal nicht so genau nahm.

Bei dieser Gelegenheit wurde Lord Vetinari aufgeregten und teilweise pickeligen jungen Zauberern vorgestellt, die weiße Kutten trugen – wobei sie natürlich nicht auf ihre spitzen Hüte verzichteten – und hinter dem Klecks an einer großen Ansammlung geistloser, summender Apparate herumwuselten. Der Patrizier gab sich alle Mühe, interessiert zu wirken, und es gelang ihm sogar, ein Gespräch mit dem Erzkanzler Mustrum Ridcully zu beginnen, der ebenso im Dunkeln zu tappen schien wie er selbst. Er gratulierte Ridcully, denn das hielt er für angemessen, was auch immer das Ding machte.

»Bestimmt bist du sehr stolz, Erzkanzler. Dies ist außerordentlich, ganz klar ein Triumph, kein Zweifel!«

Ridcully lachte leise. »Hab sehr großen Dank, Havelock, und weißt du was? Einige Leute haben behauptet, wir könnten mit unserem Experiment das Ende der Welt heraufbeschwören. Ist das zu fassen? Wir! Die magischen Beschützer der Stadt und der ganzen Welt, seit Beginn ihrer Geschichte.«

Lord Vetinari wich einen Schritt zurück. »Und was hat es mit dem Experiment auf sich, wenn ich fragen darf? Derzeit scheint das … Ding recht zufrieden vor sich hin zu summen.«

»Da du es erwähnst, Havelock … Das Summen wird gleich aufhören. Das Geräusch, das du hörst, stammt von einem Bienenschwarm im Garten dort drüben. Der Quästor fand leider noch keine Zeit, die Bienen zur Wiederaufnahme ihrer Arbeit aufzufordern. Übrigens haben wir gehofft, dass du uns nach dem Essen die Ehre erweist, wenn du nichts dagegen hast.«

Für einige Sekunden war das Gesicht des Patriziers ein Bild für die Götter, gemalt von einem sehr modernen Künstler, der etwas geraucht hatte, das die Gehirnmasse in Käse verwandelte.

Doch Noblesse oblige war ein starker Imperativ, selbst für den Herrscher von Ankh-Morpork – wenn er Wert auf seine Selbstachtung legte –, und so kam es, dass Lord Vetinari zwei Stunden später zwar mit gut gefülltem Magen, aber doch recht sorgenvoll vor dem summenden großen Ding stand. Er hielt eine kurze Rede über das Thema, dass die Menschheit ihr Wissen um das Universum unbedingt mehren müsse.

»Solange es noch existiert«, fügte er hinzu und maß Ridcully mit einem herausfordernden Blick.

Und dann, nachdem er für die Linsen des Ikonografen posiert hatte, betrachtete er den großen roten Knopf auf dem Pult, vor dem er stand, und dachte: Ob was Wahres dran ist an den Gerüchten, wonach dies das Ende der Welt sein könnte? Na ja, jetzt ist es zu spät für Einwände, und ein Rückzieher an dieser Stelle sähe dumm aus, nicht wahr? Er munterte sich mit einem weiteren Gedanken auf: Wenn ich es bin, der die bekannte Welt in die Luft jagt … Meinem Ruf kann es gewiss nicht schaden.

Er drückte den Knopf und erhielt dafür jenen Applaus, wie er von Leuten gespendet wird, die zwar wissen, dass etwas Wichtiges geschieht, die aber keine Ahnung haben, warum sie eigentlich klatschen. Vetinari vergewisserte sich, dass alles noch existierte, bevor er den Erzkanzler ansah und sagte: »Offenbar habe ich das Universum nicht zerstört, Mustrum, was mich ein wenig beruhigt. Sollte nichts anderes passieren?«

Der Erzkanzler klopfte ihm auf den Rücken. »Keine Sorge, Havelock. Das Herausforderungsprojekt wurde gestern Abend von unserem Ponder Stibbons bei einer Tasse Tee eingeleitet, nur um ganz sicher zu sein, dass es auch wirklich eingeleitet werden konnte. Und als es einmal warmgelaufen war, ließ Stibbons es an. Was natürlich in keiner Weise deine Rolle bei der Zeremonie herabwürdigt, wie ich dir versichern darf. Die Förmlichkeit der bedeutungsvollen Eröffnung ist schließlich Kern der ganzen Sache und hat bestens geklappt.«

Und das war vor sechs Minuten …

ZWEI

Sehr Großes Denken

Von Sehr Großen Dingen geht eine Versuchung aus, gegen die die Gelehrten der Rundwelt keineswegs immun sind. Ein Großteil der Wissenschaft kommt mit relativ wenig Ausrüstung aus, ein Teil ist von Natur aus teuer, und der Finanzbedarf eines Teils würde für einen kleinen Staat ausreichen. Weltweit sind die Regierungen süchtig nach großer Wissenschaft und tun sich oft weniger schwer bei der Genehmigung eines Projekts, das zehn Milliarden Dollar kostet, als bei einem für zehntausend – ebenso wie ein Ausschuss in fünf Minuten den Bau eines neuen Gebäudes durchwinkt und dann eine Stunde lang über den Preis von Keksen diskutiert. Den Grund kennen wir alle: Man muss Fachmann sein, um Entwurf und Preis eines Gebäudes einschätzen zu können, aber jeder kennt sich mit Keksen aus. Die Finanzierung großer Wissenschaft verläuft oft auf niederschmetternde Weise ähnlich. Außerdem ist große Wissenschaft der Karriere von Beamten und Politikern förderlicher, sie ist prestigeträchtiger als kleine Wissenschaft, weil es dabei um mehr Geld geht.

Es kann jedoch auch ein lobenswerteres Motiv für sehr große wissenschaftliche Vorhaben geben: Große Probleme erfordern manchmal große Antworten. Einen Überlichtantrieb aus alten Konservendosen auf dem Küchentisch zusammenzubauen, mag vielleicht in einer Science-Fiction-Geschichte funktionieren, in der Wirklichkeit klappt das jedoch selten. Manchmal kriegt man, wofür man bezahlt hat.

Die Große Wissenschaft kann auf das Manhattan-Projekt im Zweiten Weltkrieg zurückverfolgt werden, bei dem die Atombombe entwickelt wurde. Das war eine außerordentlich komplexe Aufgabe, die Tausende von Mitarbeitern mit unterschiedlichen Fähigkeiten erforderte. Das Projekt beanspruchte Wissenschaft, Technik, vor allem aber Organisation und Logistik aufs Äußerste. Wir wollen damit nicht sagen, es sei wirklich ein vernünftiges Erfolgskriterium, ob man wirksame Methoden zum Zerstäuben von Menschen findet, aber das Manhattan-Projekt überzeugte viele davon, dass große Wissenschaft erhebliche Auswirkungen auf den ganzen Planeten haben kann. Regierungen haben die große Wissenschaft seither immer gefördert; die Apollo-Mondlandungen und das Humangenomprojekt sind bekannte Beispiele dafür.

Manche Gebiete der Wissenschaft können ohne Sehr Große Dinge überhaupt nicht funktionieren. Das prominenteste davon ist wohl die Teilchenphysik, die der Welt eine Reihe gigantischer Maschinen namens Teilchenbeschleuniger beschert hat, mit denen die Struktur der Materie bei kleinsten Größenordnungen erforscht wird. Die mächtigsten davon sind jene Beschleuniger, die subatomare Teilchen auf stationäre Targets (Ziele) oder aber frontal aufeinanderschießen, um zu sehen, was dabei herauskommt. In dem Maß, wie die Teilchenphysik voranschreitet, sagen die Theoretiker immer exotischere Teilchen voraus, die immer schwerer zu entdecken sind. Man braucht einen energiereicheren Zusammenprall, um sie zu erzeugen, dazu mehr mathematische Detektivarbeit und leistungsfähigere Computer, um die Beweise zu sammeln, dass diese Teilchen einen fast unendlich kurzen Augenblick lang tatsächlich vorhanden waren. Also muss jeder neue Beschleuniger größer und somit teurer sein als seine Vorgänger.

Der neueste und größte ist der Large Hadron Collider (LHC), deutsch als »Großer Hadronen-Speicherring« bekannt. Den »Collider« bzw. Beschleuniger, der Teilchen beschleunigt und kollidieren lässt, hatten wir eben; »Hadronen« heißt eine Klasse von subatomaren Teilchen, und »Groß« kann man das Ding mit Fug und Recht nennen. Der LHC ist in zwei kreisförmigen Tunneln tief unter der Erdoberfläche untergebracht. Diese Tunnel befinden sich größtenteils in der Schweiz, reichen aber unter der Grenze hindurch nach Frankreich hinein. Der Haupttunnel hat einen Durchmesser von acht Kilometern, der andere ist ungefähr halb so groß. Die Tunnel enthalten zwei Röhren, in denen die interessierenden Teilchen – Elektronen, Protonen, Positronen usw. – von 1624 Magneten fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden. Die Magneten müssen auf einer Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt gehalten werden, wofür 96Tonnen flüssiges Helium benötigt werden, sie selbst sind riesig, und die meisten wiegen über 27Tonnen.

Die Röhren kreuzen sich an vier Stellen, wo die Teilchen aufeinandergeschossen werden können. Das ist die herkömmliche und probate Methode, wie Physiker die Struktur der Materie sondieren, weil die Zusammenstöße einen Schwarm von anderen Teilchen erzeugen, die Splitter und Bruchstücke, aus denen die ursprünglichen Teilchen bestanden. Sechs ungeheuer komplexe Detektoren, die sich an verschiedenen Punkten entlang der Tunnel befinden, sammeln Daten über diesen Schwarm, und leistungsfähige Computer analysieren die Daten, um herauszufinden, was vor sich geht.

Der Bau des LHC hat 7,5Milliarden Euro gekostet. Wie zu erwarten, ist er ein multinationales Projekt; also kommt auch die große Politik ins Spiel.

Ponder Stibbons hat zwei Gründe, ein Sehr Großes Ding zu wollen. Einer ist der Wissensdurst, der geistige Treibstoff des Forschungstrakts für hochenergetische Magie. Die aufgeweckten jungen Zauberer, die dieses Gebäude bewohnen, wollen die tiefsten Grundlagen der Magie entdecken, eine Suche, die sie auf so esoterische Theorien wie die Quantenthaumodynamik und das dritte Graupel-Derivat gebracht hat, aber auch auf das verhängnisvolle Experiment zur Spaltung des Thaums, wodurch seinerzeit versehentlich die Rundwelt entstand. Der zweite Grund steht am Beginn des vorangehenden Kapitels: Jede Universität, die auch als Universität gelten will, braucht ihr ureigenstes Sehr Großes Ding.

Auf der Rundwelt ist es ganz ähnlich – und nicht nur bei Universitäten.

Die Teilchenphysik nahm ihren Anfang mit kleinen Gerätschaften und einer großen Idee. Das Wort »Atom« bedeutet »unteilbar«, eine Begriffswahl, die vom ersten Tage an auf der Kippe stand. Kaum dass die Physiker die Annahme von der Existenz der Atome geschluckt hatten – was sie erst vor reichlich einem Jahrhundert taten –, fragten sich einige von ihnen, ob es nicht vielleicht falsch wäre, den Namen wörtlich zu nehmen. 1897 zeigte Joseph John Thomson, dass an den Zweifeln etwas dran war, als er die Kathodenstrahlen entdeckte, winzige Teilchen, die von Atomen ausgesandt wurden. Die Teilchen wurden Elektronen genannt.

Man kann herumlungern und darauf warten, dass Atome neue Teilchen aussenden, man kann sie dazu ermuntern oder ihnen ein Angebot unterbreiten, das sie nicht ablehnen können, indem man sie gegen Dinge schießt, um zu sehen, was dabei absplittert und wo es hinfliegt. 1932 bauten John Cockroft und Ernest Walton einen kleinen Teilchenbeschleuniger und schrieben Geschichte, indem sie »das Atom spalteten«. Bald stellte sich heraus, dass Atome aus drei Arten von Teilchen bestehen: Elektronen, Protonen und Neutronen. Diese Teilchen sind äußerst klein, und nicht einmal das stärkste bisher erfundene Mikroskop kann sie sichtbar machen – allerdings kann man jetzt Atome mithilfe sehr empfindlicher Mikroskope »sehen«, die Quanteneffekte ausnutzen.

Alle Elemente – Wasserstoff, Helium, Kohlenstoff, Schwefel und so weiter – bestehen aus diesen drei Teilchen. Ihre chemischen Eigenschaften unterscheiden sich, weil ihre Atome Teilchen in unterschiedlicher Anzahl enthalten. Es gibt ein paar grundlegende Regeln. Insbesondere haben die Teilchen elektrische Ladungen: negativ beim Elektron, positiv beim Proton und null beim Neutron. Also müsste die Anzahl der Protonen gleich der der Elektronen sein, damit die Gesamtladung null ist. Ein Wasserstoffatom ist das denkbar einfachste, es hat ein Elektron und ein Proton, Helium hat zwei Elektronen, zwei Protonen und zwei Neutronen.

Die wichtigsten chemischen Eigenschaften eines Atoms hängen von der Zahl der Elektronen ab, also kann man unterschiedliche Anzahlen von Neutronen zugeben, ohne dass sich die Chemie gravierend ändert. Ein wenig ändert sie sich aber doch. Das erklärt die Existenz von Isotopen: Varianten eines bestimmten Elements mit einer geringfügig anderen Chemie. Ein Atom der häufigsten Form von Kohlenstoff hat beispielsweise sechs Elektronen, sechs Protonen und sechs Neutronen. Es gibt andere Isotope, die zwei bis sechzehn Neutronen haben. Kohlenstoff-14, den Archäologen zur Datierung sehr alten organischen Materials benutzen, hat acht Neutronen. Ein Atom der häufigsten Form von Schwefel hat sechzehn Elektronen, sechzehn Protonen und sechzehn Neutronen. Es sind 25Isotope bekannt.

Für die chemischen Eigenschaften des Atoms sind Elektronen besonders wichtig, weil sie zu anderen Atomen Verbindung aufnehmen und so Moleküle bilden können. Die Protonen und Neutronen sind dicht im Zentrum des Atoms zusammengeballt und bilden seinen Kern. Einer frühen Theorie zufolge sollten die Elektronen den Kern umkreisen wie Planeten die Sonne. Dann wurde dieses Bild von einem anderen ersetzt, bei dem ein Elektron eine unscharfe Wahrscheinlichkeitswolke ist, die uns nicht sagt, wo sich das Teilchen befindet, sondern wo man es wahrscheinlich findet, wenn man es zu beobachten versucht. Heute hält man sogar dieses Bild für eine allzu vereinfachte Beschreibung von ziemlich hoch entwickelter Mathematik, der zufolge sich das Elektron gleichzeitig überall und nirgends befindet.

Diese drei Teilchen – Elektronen, Protonen und Neutronen – vereinheitlichten die Gesamtheit von Physik und Chemie. Sie erklärten die ganze Liste der chemischen Elemente vom Wasserstoff bis zum Californium, dem komplexesten natürlich vorkommenden Element, und sogar verschiedene kurzlebige, künstlich erzeugte Elemente von noch größerer Komplexität. Um die Materie in ihrer ganzen glorreichen Vielfalt zu bekommen, brauchte man nichts als eine kurze Liste von Teilchen, die »elementar« waren in dem Sinn, dass man sie nicht in noch kleinere Teilchen aufspalten konnte. Es war einfach und geradlinig.

Natürlich blieb es nicht einfach. Zunächst musste die Quantenmechanik eingeführt werden, um ein breites Spektrum experimenteller Beobachtungen der Materie im Bereich kleinster Größenordnungen zu erklären. Dann tauchten mehrere ebenso elementare Teilchen auf, darunter das Photon, das Lichtteilchen, und das Neutrino, ein elektrisch neutrales Teilchen, das so selten mit etwas anderem wechselwirkt, dass es Tausende von Kilometern dickes, kompaktes Blei mühelos durchdringen könnte. Jede Nacht durchdringen zahllose Neutrinos, erzeugt von Kernreaktionen in der Sonne, die Erde und auch Sie, und kaum eines davon bewirkt irgendetwas.

Neutrinos und Photonen sind erst der Anfang. Binnen weniger Jahre gab es mehr Elementarteilchen als chemische Elemente, was etwas lästig war, denn die Erklärung wurde allmählich komplizierter als das, was erklärt werden sollte. Doch schließlich kamen die Physiker darauf, dass manche Teilchen elementarer als andere sind.* [* Man findet neuerdings auch den Begriff »fundamentale Teilchen«, vor allem in Artikeln, die wortwörtlich aus dem Englischen übersetzt sind. – Anm. d. Übers.] Das Proton beispielsweise besteht aus drei kleineren Teilchen, die Quarks genannt werden. Das Gleiche gilt fürs Neutron, aber die Zusammensetzung ist anders. Elektronen, Neutrinos und Photonen bleiben jedoch elementar; soviel wir wissen, bestehen sie nicht aus einfacheren Teilen.* [* Schon seit den 1970er-Jahren spekulieren die Physiker, dass Quarks und Elektronen aus noch kleineren Teilchen bestehen könnten, die sie abwechselnd Alphonen, Haplonen, Helonen, Maonen, Primonen, Quinks, Rishonen, Subquarks, Tweedles und Y-Teilchen nennen. Die allgemeine Bezeichnung für solche Teilchen lautet momentan »Präonen«.]

Einer der Hauptgründe für den Bau des LHC war das Bedürfnis, die letzte fehlende Zutat für das Standardmodell zu erforschen, welches ungeachtet seines bescheidenen Namens so ziemlich alles in der Teilchenphysik zu erklären scheint. Dieses Modell nimmt an – und hat starke Belege dafür –, dass alle Teilchen aus sechzehn wirklich elementaren Teilchen bestehen. Sechs werden Quarks genannt und treten in Paaren mit abgedrehten Namen auf: up/down, charmed/strange und top/bottom.* [* Die englischen Bezeichnungen wurden seinerzeit ganz willkürlich gewählt und dienen nur der Bequemlichkeit, sie haben nichts mit der üblichen Bedeutung der Wörter zu tun und werden daher für gewöhnlich auch nicht übersetzt. Nur der Vollständigkeit halber: Die normalen Wortbedeutungen wären aufwärts/abwärts, bezaubert/seltsam und oben/unten. Den Quarks werden übrigens auch Farben zugeordnet, obwohl sie garantiert keine haben, aber man kann als Physiker ja nicht immerzu von »Eigenschaft Nr.7« oder »Kriterium B« reden, ohne die Übersicht zu verlieren. – Anm. d. Übers.] Ein Neutron besteht aus einem Up-Quark und zwei Down-Quarks, ein Proton ist ein Down-Quark plus zwei Up-Quarks.

Dann kommen sechs sogenannte Leptonen, ebenfalls paarweise: das Elektron, das Myon und das Tauon (meist einfach Tau genannt) mit ihren zugehörigen Neutrinos. Das ursprüngliche Neutrino heißt jetzt Elektronen-Neutrino und bildet ein Paar mit dem Elektron. Diese zwölf Teilchen – Quarks und Leptonen – werden zusammen als Fermionen bezeichnet, nach dem großen, in Italien geborenen amerikanischen Physiker Enrico Fermi.

Die restlichen vier Teilchen stehen in Beziehung zu den Kräften, sie also halten alles zusammen. Die Physiker kennen vier Grundkräfte in der Natur: die Schwerkraft, den Elektromagnetismus, die starke Kernkraft und die schwache Kernkraft. Die Schwerkraft spielt im Standardmodell keine Rolle, weil sie noch nicht ins quantenmechanische Bild eingepasst worden ist. Die anderen drei Kräfte hängen mit speziellen Teilchen zusammen, die (nach dem indischen Physiker Satyendra Nath Bose) Bosonen genannt werden. Der Unterschied zwischen Fermionen und Bosonen ist wichtig: Sie haben unterschiedliche statistische Eigenschaften.

Die vier Bosonen »vermitteln« die Kräfte, etwa so wie zwei Tennisspieler durch ihre wechselseitige Aufmerksamkeit für den Ball zusammengehalten werden. Die elektromagnetische Kraft wird vom Photon vermittelt, die schwache Kernkraft vom Z-Boson und vom W-Boson, die starke Kernkraft vom Gluon. Das also wäre das Standardmodell: zwölf Fermionen (sechs Quarks, sechs Leptonen), die von vier Bosonen zusammengehalten werden.

Sechzehn Elementarteilchen.

Oh, und das Higgs-Boson – siebzehn Elementarteilchen.

Natürlich unter der Voraussetzung, dass das berühmte Higgs (wie es in der Umgangssprache genannt wird) tatsächlich existiert. Was bis 2012 fraglich war.

Trotz seines Erfolgs ist das Standardmodell nicht imstande zu erklären, warum Teilchen eine Masse haben. Das Higgs machte in den 1960er-Jahren von sich reden, als mehrere Physiker erkannten, dass ein Boson mit ungewöhnlichen Eigenschaften dieses Rätsel lösen könnte. Zu ihnen gehörte Peter Higgs, der einige von den hypothetischen Eigenschaften des Teilchens herausfand und vorhersagte, dass es existieren müsse. Das Higgs-Boson erzeugt ein Higgs-Feld: ein Meer von Higgs-Bosonen. Die wesentliche ungewöhnliche Eigenschaft besteht darin, dass die Feldstärke des Higgs-Feldes nicht gleich null ist, nicht einmal im leeren Raum. Wenn sich ein Teilchen durch dieses allgegenwärtige Higgs-Feld bewegt, tritt es mit ihm in Wechselwirkung, und das Ergebnis kann als Masse interpretiert werden. Eine Analogie wäre es, wenn man einen Löffel durch Sirup bewegt, aber das hieße, Masse als Widerstand fehlzudeuten, und Higgs hält diese Art, seine Theorie zu beschreiben, für unangebracht. Eine andere Analogie besteht darin, das Higgs-Boson als eine Berühmtheit zu betrachten, um die sich auf einer Party die Bewunderer scharen.

Die Existenz (oder Nichtexistenz) des Higgs-Bosons nachzuweisen, war der wichtigste, aber beileibe nicht der einzige Grund, Milliarden Euro für den LHC auszugeben. Und im Juli 2012 lieferte er das Verlangte, indem zwei Forschergruppen unabhängig voneinander die Entdeckung eines bis dahin unbekannten Teilchens verkündeten. Es war ein Boson mit der Masse von etwa 126GeV* [* Ein Giga-Elektronenvolt ist eine Milliarde Elektronenvolt, eine Standardeinheit, die in der Teilchenphysik verwendet wird.], und die Beobachtungen passten insoweit auf das Higgs, als die Eigenschaften, die gemessen werden konnten, den von Higgs vorhergesagten entsprachen.

Die Entdeckung des lange gesuchten Higgs-Bosons, die das Standardmodell abrundete, wäre ohne große Wissenschaft nicht möglich gewesen, und sie stellt einen gewaltigen Triumph für den LHC dar. Die Wirkung war jedoch bisher größtenteils auf die theoretische Physik beschränkt. Die Existenz des Higgs hat keine großen Auswirkungen auf die restliche Wissenschaft, die schon davon ausgeht, dass Teilchen Masse haben. Man könnte also argumentieren, dass dieselbe Summe Geldes, für weniger spektakuläre Projekte ausgegeben, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Ergebnisse von größerem praktischem Nutzen gezeitigt hätte. Es liegt jedoch in der Natur der Sehr Großen Dinge, dass das Geld, wenn man es nicht für sie ausgibt, auch nicht für kleinere wissenschaftliche Projekte ausgegeben wird. Kleine Projekte wirken sich nicht so förderlich auf Karrieren in Verwaltung und Politik aus wie große.

Die Entdeckung des Higgs-Bosons verdeutlicht gewisse grundlegende Züge der wissenschaftlichen Weltsicht und der Natur wissenschaftlicher Kenntnisse. Der eigentliche Beweis für das Higgs ist eine winzige Ausbuchtung – ein Huckel – auf einer statistischen Kurve. In welchem Sinn können wir sicher sein, dass der Huckel tatsächlich für ein neues Teilchen steht? Die Antwort ist äußerst fachspezifisch. Es ist unmöglich, das Higgs-Boson direkt zu beobachten, weil es spontan und sehr schnell zu einem Schwarm anderer Teilchen zerfällt. Diese stoßen mit wiederum anderen Teilchen zusammen und erzeugen ein großes Durcheinander. Man braucht sehr schlaue Mathematik und sehr schnelle Computer, um aus diesem Durcheinander die charakteristische Signatur des Higgs-Bosons herauszukitzeln. Um sicher zu sein, dass man nicht einfach ein zufälliges Zusammentreffen beobachtet hat, muss man eine große Anzahl von diesen higgsartigen Ereignissen beobachten. Da sie sehr selten vorkommen, muss man die Experimente viele Male machen und eine raffinierte statistische Analyse durchführen. Erst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass der Huckel ein Zufall ist, unter eins zu einer Million fällt, erlauben sich Physiker, das Higgs für unstrittig real zu halten.

Wir sahen »das« Higgs, aber es gibt alternative Theorien, denen zufolge es mehr als ein higgsartiges Teilchen gibt – macht achtzehn Elementarteilchen. Oder neunzehn oder zwanzig. Aber inzwischen wissen wir, dass es mindestens eins gibt, während es vorher auch gar keins hätte sein können.

Um das alles zu verstehen, braucht man erhebliches Fachwissen auf esoterischen Gebieten der theoretischen Physik und der Mathematik. Um das Experiment erfolgreich durchzuführen, bedarf es einer Reihe technischer Fertigkeiten, dazu einer soliden Erfahrung mit Experimentalphysik. Selbst das Wort »Teilchen« hat eine fachspezifische Bedeutung, es hat nichts mit dem bequemen Bild von einer Art kleinem Kugellager zu tun. In welchem Sinn also können Wissenschaftler angeblich wissen, wie sich das Universum auf der Ebene so geringer Größenordnungen verhält, dass kein Mensch es unmittelbar wahrnehmen kann? Das ist nicht so, als ob man durch ein Fernrohr blickt und sieht, dass da vier kleinere Körper um den Jupiter kreisen, oder als ob man beim Blick durch ein Mikroskop erkennt, dass Lebewesen aus winzigen Zellen bestehen. Der Beweis für das Higgs wie für die meisten grundlegenden Aspekte der Wissenschaft liegt nicht klar auf der Hand.

Um uns über diese Fragen Klarheit zu verschaffen, wollen wir einen Blick auf das Wesen wissenschaftlicher Kenntnisse werfen und dabei vertrautere Beispiele als das Higgs verwenden. Dann werden wir zwei grundlegend verschiedene Arten unterscheiden, über die Welt zu denken, und das wird das durchgehende Thema dieses Buches sein.

Die Wissenschaft wird oft für eine Sammlung von »Fakten« gehalten, die eindeutige Aussagen über die Welt machen. Die Erde umkreist die Sonne. Prismen spalten das Licht in die Farben auf, aus denen es sich zusammensetzt. Wenn es schnattert und watschelt, ist es eine Ente. Man braucht nur die Fakten herauszufinden, das Fachkauderwelsch zu lernen (hier Orbit, Spektrum, Anatidae), die Kästchen anzukreuzen, und man versteht die Wissenschaft. Die Verwaltungsleute in der Regierung, die für die Bildung zuständig sind, befleißigen sich oft dieser Sichtweise, weil sie die Kreuzchen zählen können.

Sonderbarerweise kommt der heftigste Widerspruch gerade von den Wissenschaftlern. Sie wissen, dass Wissenschaft nichts dergleichen ist. Es gibt keine Fakten, die ein für alle Mal feststehen. Jede wissenschaftliche Aussage ist vorläufig. Politiker verabscheuen das. Wie soll man den Wissenschaftlern trauen? Wenn neues Beweismaterial auftaucht, ändern sie ihre Meinung.

Natürlich sind manche Teile der Wissenschaft weniger provisorisch als andere. Kein Wissenschaftler erwartet, dass sich die gängige Beschreibung der Erdgestalt über Nacht von »rund« zu »flach« ändert. Aber sie haben schon mitangesehen, wie sie sich von einer flachen Ebene zu einer Kugel wandelte, von einer Kugel zu einem an den Polen abgeplatteten Sphäroiden und von einem perfekten Sphäroiden zu einem huckeligen. Unlängst war in der Presse zu lesen, dass die Erde die Form einer knolligen Kartoffel hat.* [* Unter der Voraussetzung, dass alle Unregelmäßigkeiten um den Faktor 7000 übertrieben werden.http://www.newscientist.com/article/dn20335-earth-is-shaped-like-a-lumpy-potato.html.] Andererseits wäre niemand überrascht, wenn neue Messungen ergäben, dass die siebzehnte sphärische Harmonische der Erde – ein Bestandteil der mathematischen Beschreibung ihrer Gestalt – um zwei Prozent vergrößert werden muss. Die meisten Veränderungen in der Wissenschaft schreiten allmählich voran und haben keinen Einfluss auf das Gesamtbild.

Manchmal jedoch ändert sich die wissenschaftliche Weltsicht radikal. Aus vier Elementen wurden 98 (jetzt 118, nachdem wir gelernt haben, neue zu erzeugen). Newtons Gravitation, die Kraft, die auf rätselhafte Weise aus der Entfernung wirkte, wandelte sich zu Einsteins gekrümmter Raumzeit. Elementarteilchen wie das Elektron wurden von winzigen festen Kugeln zu Wahrscheinlichkeitswellen, und heute gelten sie als örtlich begrenzte Anregungszustände eines Quantenfeldes. Das Feld ist ein Meer von Teilchen, und die Teilchen sind isolierte Wellen in diesem Meer. Das Higgs-Feld ist ein Beispiel: Hier sind die zugehörigen Teilchen Higgs-Bosonen. Das eine gibt es nicht ohne das andere: Wenn man Teilchenphysiker sein will, muss man auch die Physik des Quantenfeldes verstehen. Und so bekommt das Wort »Teilchen« notwendigerweise eine andere Bedeutung.

Wissenschaftliche Revolutionen verändern nicht das Universum. Sie verändern die Art, wie Menschen es interpretieren. Die meisten wissenschaftlichen Streitpunkte drehen sich um Interpretationen, nicht um »die Fakten«. Beispielsweise bestreiten viele Kreationisten nicht die Ergebnisse der DNS-Sequenzierung* [* Statt DNS (für Desoxyribonukleinsäure) wird neuerdings oft auch die englische Abkürzung DNA (mit A für acid) benutzt. – Anm. d. Übers.]; vielmehr bestreiten sie die Interpretation dieser Ergebnisse als Beweise für die Evolution.

Menschen verstehen sich gut auf Interpretationen. Damit können sie sich aus unangenehmen Situationen herauswinden. 2012 zitierte während einer Diskussion über Sexismus in der Religion und die vertrackte Frage nach weiblichen Priestern in der Anglikanischen Kirche einer der Teilnehmer den ersten Brief an Timotheus, Kapitel 2, Verse 12 bis 14: »Einem Weibe aber gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie des Mannes Herr sei, sondern stille sei. Denn Adam ist am ersten gemacht, danach Eva. Und Adam ward nicht verführt; das Weib aber ward verführt und hat die Übertretung eingeführt.« Man kann das schwerlich anders deuten als die Feststellung, dass Frauen weniger wert sind als Männer, dass sie dienstbar sein und den Mund halten sollten und dass zudem die Erbsünde allein Schuld der Frauen, nicht der Männer ist, weil Eva der Versuchung der Schlange erlag. Ungeachtet dieser anscheinend eindeutigen Lesart beharrte ein anderer Diskussionsteilnehmer felsenfest darauf, die Verse bedeuteten nichts dergleichen. Es war nur eine Frage der Interpretation.

Die Interpretationen sind wichtig, weil »die Fakten« selten erklären, wie sich das Universum in Bezug auf uns verhält. »Die Fakten« sagen uns, dass die Wärme der Sonne aus Kernreaktionen stammt, hauptsächlich aus der Fusion von Wasserstoff zu Helium. Aber wir verlangen mehr. Wir wollen wissen, warum. Ist die Sonne entstanden, damit wir mit Wärme versorgt werden? Oder ist es andersherum: Sind wir auf diesem Planeten, weil die Sonnenwärme eine Umgebung schuf, in der Wesen wie wir uns entwickeln konnten? Die Fakten sind in jedem Fall dieselben, doch ihre Bedeutung hängt davon ab, wie wir sie interpretieren.

Unsere standardmäßige Interpretation besteht darin, die Welt in menschlichen Begriffen zu betrachten. Wenn eine Katze einen Blickpunkt hat, dann betrachtet sie die Welt sicherlich in Katzenbegriffen. Aber die natürliche Vorgehensweise der Menschheit hatte schon immer nachhaltige Auswirkungen darauf, wie wir über unsere Welt denken und welche Art von Erklärungen wir überzeugend finden. Sie hat auch nachhaltige Auswirkungen darauf, über welche Welt wir nachdenken. Unsere Gehirne nehmen die Welt in menschlichem Maßstab wahr und interpretieren diese Wahrnehmungen in Begriffen, wie sie für uns wichtig sind – oder einmal waren.

Dass wir auf den menschlichen Maßstab fokussiert sind, mag ganz vernünftig erscheinen. Wie sonst sollten wir unsere Welt betrachten? Aber rhetorische Fragen verdienen rhetorische Antworten, und anders als für das übrige Tierreich gibt es für uns Alternativen. Das menschliche Gehirn kann seine eigenen Denkmuster bewusst abwandeln. Wir können uns beibringen, in anderen Größenordnungen zu denken, sowohl kleiner als auch größer. Wir können uns die Fähigkeit antrainieren, psychologische Fallen zu vermeiden, also beispielsweise nicht zu denken, was wir gern denken wollen, weil wir es wollen. Wir können sogar auf noch fremdartigere Arten denken: Mathematiker betrachten routinemäßig Räume mit mehr als drei Dimensionen, Formen, die so kompliziert sind, dass sie kein sinnvolles Volumen haben, Flächen mit nur einer Seite und unterschiedliche Größen der Unendlichkeit.

Menschen können unmenschliche Gedanken denken.

Diese Art des Denkens wird analytisch genannt. Es ergibt sich vielleicht nicht natürlich, und seine Ergebnisse sind nicht immer besonders tröstlich, aber es ist möglich. Es ist seit geraumer Zeit der Hauptweg für die Welt von heute, in der analytisches Denken immer wichtiger für unser Überleben geworden ist. Wenn man seine Zeit damit zubringt, sich bequem einzureden, die Welt sei so, wie man sie haben will, dann erlebt man ein paar hässliche Überraschungen, und es kann zu spät sein, etwas dagegen zu unternehmen. Leider errichtet die Notwendigkeit, analytisch zu denken, eine hohe Barriere zwischen der Wissenschaft einerseits und vielen menschlichen Wünschen und Glaubensvorstellungen andererseits, die in jeder Generation wieder zum Vorschein kommen. Schlachten, von denen die Wissenschaftler kühn glaubten, sie hätten sie im 19.Jahrhundert gewonnen, müssen immer wieder von Neuem geschlagen werden; Rationalität und Beweismaterial allein können sich möglicherweise nicht durchsetzen.

Es gibt einen Grund für unsere natürlichen Denkmuster. Sie haben sich zusammen mit uns entwickelt, weil sie einen Wert fürs Überleben hatten. Vor einer Million Jahre durchstreiften die Vorfahren des Menschen die afrikanischen Savannen, und ihr Leben hing tagaus, tagein davon ab, genug Nahrung zu finden und zu vermeiden, dass sie selbst Nahrung wurden. Das Wichtigste in ihrem Leben waren ihre Mitmenschen, die Tiere und Pflanzen, die sie aßen, und die Tiere, von denen sie sich nicht essen lassen durften.

In ihrer Welt gab es auch viele Dinge, die nicht lebten: Felsen, Flüsse, Seen und Meere, das Wetter, Brände (wahrscheinlich von Blitzschlägen ausgelöst), Sonne, Mond und Sterne. Doch selbst diese schienen oft über manche Eigenschaften des Lebens zu verfügen. Viele von ihnen bewegten sich, manche änderten sich ohne ersichtliches Muster, als handelten sie aus eigenem Antrieb, und manche konnten töten. Es ist also nicht verwunderlich, dass wir im Lauf der Entwicklung der menschlichen Kultur dahin kamen, unsere Welt als das Ergebnis bewusster Aktionen lebender Wesenheiten zu betrachten. Sonne, Mond und Sterne waren Götter, sichtbare Beweise für die Existenz übernatürlicher Wesen, die im Himmel wohnten. Ein Donnergrollen, ein Blitz waren Anzeichen für den Unmut der Götter. Die Anzeichen dafür umgaben uns tagtäglich, also war daran nicht zu zweifeln.

Besonders Tiere und Pflanzen waren von zentraler Bedeutung für das Leben der frühen Menschen. Man braucht nur ein Buch mit ägyptischen Hieroglyphen durchzublättern, um zu sehen, wie viele davon Tiere, Vögel, Fische, Pflanzen sind … oder Teile von Tieren, Vögeln, Fischen und Pflanzen. Die ägyptischen Götter wurden mit Tierköpfen dargestellt, in einem Extremfall, beim Gott Chepri, war der Kopf ein kompletter Mistkäfer, schön ordentlich auf einem ansonsten kopflosen Menschenkörper angebracht. Chepri war ein Aspekt des Sonnengottes, und der Mistkäfer (oder Skarabäus) hatte damit zu tun, weil Mistkäfer Kugeln von Mist umherrollen und sie im Boden vergraben. Darum wird die Sonne, eine riesige Kugel, von einem riesigen Mistkäfer umhergerollt. Der Beweis dafür ist die Tatsache, dass die Sonne auch jeden Abend bei Sonnenuntergang im Boden (der Unterwelt) verschwindet.

Der Physiker und Science-Fiction-Autor Gregory Benford hat viele Artikel mit einem gemeinsamen Thema geschrieben: Grob gesagt neigen menschliche Denkweisen dazu, einer von zwei Kategorien anzugehören.* [* Gregory Benford: A creature of double vision. In: Gary Westfahl und George Slusser (Hrsg.): Science Fiction and the Two Cultures. Essays on Bridging the Gap between the Sciences and the Humanities. McFarland Publishers 2009, S.228–236.] Die eine betrachtet die Menschheit als den Kontext – das Bezugssystem – fürs Universum, die andere das Universum als den Kontext für die Menschheit. Natürlich kann ein und dieselbe Person auf beiderlei Art denken, doch die meisten von uns neigen dazu, eine davon vorzuziehen. Die meisten Methoden, die Menschen in zwei Arten zu unterteilen, sind Unsinn. Wie es in dem alten Witz heißt, gibt es zwei Arten von Leuten: diejenigen, die glauben, es gebe zwei Arten von Leuten, und diejenigen, die das nicht glauben. Aber Benfords Unterscheidung erhellt vieles und birgt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.

Wir können es auch so formulieren: Viele Leute betrachten die Welt ringsum – das Universum – als eine Ressource für die Nutzung durch die Menschen; sie betrachten es auch als Widerspiegelung ihrer selbst. Das Wichtigste ist bei dieser Sichtweise immer auf den Menschen bezogen. »Was kann das für mich (oder: für uns) bewirken?« – dies ist die wichtigste, oft sogar die einzige Frage, die zu stellen sich lohnt. Aus diesem Blickwinkel heraus heißt etwas zu verstehen, es in Begriffen menschlicher Angelegenheiten auszudrücken. Wesentlich an einer Sache ist der Zweck, und der wird dadurch bestimmt, wozu wir diese Sache verwenden. In dieser Weltsicht gibt es Regen, damit die Saat gedeiht und wir frisches Trinkwasser haben. Die Sonne existiert, um unsere Körper zu wärmen. Das Universum ist mit Blick auf uns entworfen worden, so aufgebaut, dass wir darin leben können, und wenn es uns nicht gäbe, wäre es bedeutungslos.

Es ist ein kurzer und natürlicher Schritt, Menschen als die Krone der Schöpfung zu betrachten, als Beherrscher des Planeten, Herren des Universums. Zudem kann man das alles tun, ohne sich bewusst zu sein, wie eng menschenbezogen diese Weltsicht ist, und man kann darauf beharren, man verhalte sich doch bescheiden statt überheblich, da man doch dem Schöpfer des Universums zu Diensten sei. Dieser Schöpfer ist im Grunde eine übermenschliche Version von uns selbst – ein König, ein Kaiser, ein Pharao, ein Lord –, dessen Macht bis an die Grenze unserer Vorstellungskraft ausgedehnt wird.

Die alternative Sichtweise betrachtet Menschen als eine einzige, winzige Erscheinung in einem riesengroßen Weltraum, der größtenteils nicht in menschlichen Größenordnungen funktioniert und keinerlei Notiz von unseren Wünschen nimmt. Die Saat gedeiht, weil es Regen gibt, aber der Regen existiert aus Gründen, die praktisch nichts mit der Saat zu tun haben. Regen gibt es seit Jahrmilliarden, die Saat seit zehntausend Jahren. Im kosmischen Gesamtbild sind Menschen nur ein winziges, zufälliges Detail auf einem unbedeutenden Felsbrocken, dessen Geschichte sich zum größten Teil zugetragen hat, ehe wir auftauchten und uns wunderten, was da vor sich geht. Wir mögen das wichtigste Ding im Universum sein, soweit es uns selbst betrifft, doch nichts, was sich außerhalb unseres winzigen Planeten ereignet, hängt von unserem Dasein ab, ausgenommen ein paar Dinge wie allerlei kleine, aber komplizierte Metall- und Kunststoffteile, die mittlerweile auf den Oberflächen von Mond und Mars herumliegen, Merkur, Jupiter und Saturn umkreisen oder die Außenbezirke des Sonnensystems durchstreifen. Wir könnten sagen, das Universum sei uns gegenüber gleichgültig, doch sogar diese Aussage ist zu sehr auf uns bezogen – sie schreibt dem Universum die menschliche Eigenschaft der Gleichgültigkeit zu. Das System der Welt funktioniert aber nicht nach menschlichen Begriffen.

Wir wollen diese Denkweisen »menschenbezogen« und »universumbezogen« nennen. Viele schlagzeilenträchtige Diskussionen beruhen mehr oder weniger auf den gravierenden Unterschieden zwischen ihnen. Statt anzunehmen, eine der beiden Denkweisen müsse der anderen überlegen sein, und dann vehement zu streiten, welche es wohl ist, sollten wir zunächst lernen, den Unterschied zu erkennen. Beide haben Vorzüge – in ihrem jeweils angemessenen Einflussbereich. Schwierigkeiten ergeben sich, wenn sie einander auf die Zehen treten.

Vor dem frühen 20.Jahrhundert glaubten Wissenschaftler für gewöhnlich, Erscheinungen wie das Licht könnten entweder Teilchen oder Wellen sein, aber nicht beides. Sie stritten sich – oft recht erbittert –, was von beidem richtig sei. Als die Quantentheorie erfunden wurde, erwies sich, dass die Materie über beide Aspekte verfügt, die untrennbar miteinander verwoben sind. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als alle Wissenschaftler von Rang wussten, dass das Licht eine Welle ist, tauchten die Photonen auf, und das waren Lichtteilchen. Von den Elektronen, die zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung offensichtlich Teilchen waren, stellte sich heraus, dass sie auch über wellenartige Eigenschaften verfügen. Also gewöhnten sich die Quantenphysiker an den Gedanken, dass Dinge, die Teilchen zu sein schienen, in Wahrheit winzige Klümpchen von Wellen waren.

Die Quantenfeldtheorie stellte sich ein, und die Wellen klumpten nicht mehr. Sie konnten sich ausbreiten. Also müssen sich Teilchenphysiker inzwischen mit Quantenfeldern auskennen, und unsere beste Erklärung, warum »Teilchen« Masse haben, besteht in der Existenz eines allgegenwärtigen Higgs-Feldes. Andererseits stützen die gegenwärtigen Messergebnisse nur die Existenz des teilchenartigen Aspektes dieses Feldes: des Higgs-Bosons. Das Feld selbst ist nicht beobachtet worden. Möglicherweise existiert es nicht, und das wäre interessant, denn es würde die Art und Weise umkrempeln, wie Physiker gegenwärtig von Teilchen und Feldern zu denken pflegen. Es wäre auch ziemlich ärgerlich.

Im Alltag begegnen wir festen, kompakten Gegenständen wie Steinen, und das macht es uns leicht, über winzige Teilchen nachzudenken. Wir begegnen unscharfen, unsteten, aber wohldefinierten Strukturen, die sich auf dem Wasser fortbewegen, und haben keine Probleme mit Wellen. In der menschenbezogenen Weltsicht gibt es keine unsteten, unscharfen Steine, weshalb wir annehmen – fast ohne es infrage zu stellen –, dass nichts zugleich Teilchen und Welle sein kann. Aber universumbezogenes Denken hat aufgezeigt, dass diese Annahme außerhalb des menschlichen Bereiches falsch sein kann.

Die menschenbezogene Sichtweise ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie scheint für die meisten von uns das vorgegebene Denkmuster zu sein, und das aus gutem evolutionärem Grund. Die universumbezogene Sichtweise erschien erst später. In dem Sinn, den wir meinen – Wissenschaft und die wissenschaftliche Methode –, hat universumbezogenes Denken erst in den letzten drei-, vierhundert Jahren weitere Verbreitung gefunden. Es ist immer noch die Sichtweise einer Minderheit, aber sehr einflussreich. Um den Grund dafür zu finden, müssen wir zweierlei verstehen: wie die Wissenschaft ihr Geschäft betreibt und was einen wissenschaftlichen Beweis ausmacht.

Denjenigen unter uns, die es zur Kenntnis nehmen wollen, hat die universumbezogene Sichtweise offenbart, wie groß, wie uralt und wie Ehrfurcht gebietend das Universum ist. Selbst in der menschlichen Bezugsebene ist es ein sehr beeindruckender Ort, aber unsere beschränkten Wahrnehmungen verblassen zur Bedeutungslosigkeit, wenn sie mit der überwältigenden Wirklichkeit konfrontiert werden.

Als die frühen Menschen durch die Ebenen Afrikas streiften, muss ihnen die Welt riesig erschienen sein, doch in Wahrheit war sie äußerst klein. Eine große Entfernung war die Strecke, die man in einem Monat zu Fuß zurücklegen konnte. Die Welterfahrung eines Einzelnen war auf das unmittelbare Gebiet beschränkt, in dem er lebte. Für eine derart kleine Welt funktioniert die menschenbezogene Weltsicht in der Regel sehr gut. Die wichtigen Pflanzen und Tiere – jene, die für bestimmte Gruppen von Menschen einen Nutzen hatten – waren relativ gering an Zahl und befanden sich in unmittelbarer Nachbarschaft. Ein Mensch konnte sie alle erfassen, ihre Namen lernen, wissen, wie man eine Ziege melkt oder ein Dach aus Palmblättern anfertigt. Die tiefere Botschaft der ägyptischen Hieroglyphen besagt nicht, wie vielfältig Flora und Fauna jener Kultur waren, sondern wie eng ihre Symbolik auf die Organismen ausgerichtet war, die Bedeutung für den ägyptischen Alltag hatten.

Als wir zu einem tieferen Verständnis unserer Welt gelangten und neue Fragen stellten, ergaben bequeme Antworten in Begriffen, die wir intuitiv verstanden, immer weniger Sinn. Bildlich gesehen könnte die Sonne von einem unsichtbaren riesigen Mistkäfer umhergerollt werden, aber die Sonne ist eine gewaltige Kugel sehr heißen Gases, und kein gewöhnlicher Käfer würde die Hitze überleben. Entweder regelt man das, indem man dem Käfer übernatürliche Kräfte zuschreibt, oder man akzeptiert, dass ein Käfer es nicht bringt. Dann muss man akzeptieren, dass die Bewegung der Sonne aus Gründen erfolgt, die kaum etwas mit einem Käfer zu tun haben, der Nahrung für seine Larven sammelt. Und es erhebt sich die interessante Frage: Warum oder wie bewegt sie sich denn nun? Ebenso die untergehende Sonne: Obwohl es so aussieht, als verschwände sie unter der Erde, kann man schließlich verstehen, dass sie von der rotierenden Erdmasse verdeckt wird. Anstatt eine Geschichte zu erzählen, die wenig wirkliches Verständnis bietet, hat man etwas Neues über die Welt gelernt.

Die Menschheit brauchte Zeit, das alles zu erkennen, weil unser Planet viel größer ist als ein Dorf. Ginge man jeden Tag 40Kilometer, würde man drei Jahre benötigen, um die Welt zu umrunden, nicht gerechnet Ozeanüberquerungen und andere Hindernisse. Der Mond ist zehnmal so weit entfernt, die Sonne 360mal so weit wie der Mond. Um zum nächsten Stern zu gelangen, muss man diese Zahl abermals mit 65000 multiplizieren. Der Durchmesser unserer Heimatgalaxis ist wiederum 25000-mal so groß. Die nächstgelegene Galaxis von vergleichbarer Größe, die Andromeda-Galaxis, ist 25-mal so weit entfernt. Die Entfernung von der Erde bis zum Rand des sichtbaren Universums beträgt mehr als das 18000-fache davon. Es sind rund 100000000000000000000000Kilometer.

Einhundert Trilliarden. Das ist schon ein Dorf.

Für etwas derart Großes haben wir kein intuitives Gefühl. Eigentlich haben wir kaum ein intuitives Gefühl für Entfernungen von mehr als ein paar Tausend Kilometer, und das auch nur, weil viele von uns mittlerweile solche Entfernungen in der Luft zurücklegen – was die Welt auf eine Größe schrumpfen lässt, die wir erfassen können. Von London aus ist New York nur eine Mahlzeit entfernt.

Wir wissen, dass das Universum so groß und so alt ist, weil wir eine Technik entwickelt haben, die die menschenorientierte Weltsicht bewusst und absichtlich beiseitelässt. Sie tut das, indem sie nicht nur nach Beweismaterial sucht, welches unsere Ideen bestätigt – das haben Menschen seit Anbeginn der Zeiten getan –, sondern nach Beweismaterial, welches sie widerlegen könnte. Das ist ein neuer und ziemlich verwirrender Gedanke. Besagte Technik wird Wissenschaft genannt. Sie ersetzt blinden Glauben durch sorgfältig auf ein Ziel ausgerichteten Zweifel. In ihrer gegenwärtigen Form existiert sie erst seit ein paar Jahrhunderten, obwohl Vorläufer etliche Tausend Jahre zurückreichen. In gewisser Hinsicht ist »wissen« ein zu starkes Wort, denn Wissenschaftler betrachten alles Wissen als vorläufig. Doch was wir dank der Wissenschaft »wissen«, ruht auf erheblich sichereren Fundamenten als alles andere, was wir zu wissen behaupten, denn diese Fundamente haben jedem Zerstörungsversuch widerstanden.