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Ein Gullydeckel ist nur ein Stück Metall im Asphalt. So dachte es auch Tim, bis er eines Tages darin verschwand. Er fiel nicht in Dunkelheit und auch nicht in Wasser, sondern in eine Welt, die keinen Himmel kennt und in der selbst der Boden gegen dich arbeitet. Die Luft ist süß und macht dich gefügig. Die Kinder dort rollen in ihren Stühlen und haben Gesichter, die einmal anders aussahen. Sie kennen nur ein Ziel und sie spüren, wenn du neu bist. Zwischen verbrannten Brothügeln und goldener Zuckererde kämpft Tim um jeden Meter. Er hört das Kratzen der Verfolger, riecht den Duft, der seine Gedanken weich werden lässt, und sieht in der Ferne Türme aus erstarrter Zuckerwatte. Die Würmer hier sind länger als ein Mensch groß und schneller als ein Peitschenhieb. Manche wollen dich verschlingen, andere wollen nur dein Rad, doch alle bringen dich tiefer hinein. Es ist ein Ort, der dich süßer macht, bis nichts von dir bleibt. Wer hier landet, muss entscheiden, ob er gegen den Hunger kämpft oder ihm nachgibt. Tim hat noch nicht verloren. Aber in dieser Welt verliert jeder, der stehenbleibt.
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Seitenzahl: 90
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Vorwort
Kapitel 1 – Der Gullideckel
Kapitel 2 – Die Gummibärwölfe
Kapitel 3 – Der Baum der Kaugummibälle
Kapitel 4 – Die Kinder vom Kinderheim
Kapitel 5 – Der Berg aus Luftschokolade
Kapitel 6 – Das Meer aus verbranntem Toastbrot
Kapitel 7 – Der Mann vor mir
Kapitel 8 – Das Feld aus verbranntem Brot
Kapitel 9 – Die Stimme im verbrannten Himmel
Kapitel 10 – Das letzte Knistern
Hey – cool, dass du hier bist.
Vielleicht hast du das Buch einfach so in die Hand genommen. Vielleicht hat dich der Titel neugierig gemacht. Oder das Cover. Oder irgendwas hat in dir gekribbelt und gesagt:
„Komm, schau mal rein.“
Egal, was es war – jetzt bist du hier.
Ich könnte dir erzählen, worum es geht. Mach ich aber nicht. Nicht wirklich. Denn mal ehrlich: Wo bleibt der Spaß, wenn man alles vorher weiß?
Stattdessen will ich dir nur sagen: In diesen Seiten wirst du Orte finden, die es offiziell gar nicht gibt.
Dinge sehen, die du nicht sehen solltest. Und Menschen treffen, bei denen du nicht sicher bist, ob sie dich retten oder kaputtmachen wollen.
Es wird Momente geben, in denen du dich fragst, ob das alles noch Spaß ist – oder ob du längst zu tief drinsteckst. Vielleicht wirst du lachen.
Vielleicht kriegst du Gänsehaut. Vielleicht denkst du irgendwann: „Oh nein, das hätte ich nicht lesen sollen.“
Aber dann wirst du doch weiterlesen.
Versprochen.
Denn hier drin gibt es eine Welt, die sich nicht darum schert, ob du bereit bist.
Eine Welt, die dich reinlässt – und dann prüft, ob du bleiben kannst.
Manchmal musst du rennen. Manchmal stillhalten. Manchmal entscheiden, wem du vertraust.
Und manchmal… musst du dich selbst austricksen, um heil rauszukommen.
Also, schnapp dir was zu trinken. Mach es dir bequem. Oder lieber nicht zu bequem – hier drin kann Bequemlichkeit gefährlich werden.
Atme tief ein.
Und dann lass uns zusammen rausfinden, wie weit du wirklich gehen würdest.
Der Nachmittag war still wie ein Flur im Krankenhaus, wenn alle Türen geschlossen sind.
Das Licht im Zimmer war stumpf und grau, als hätte die Sonne die Vorhänge nicht finden können. Auf dem Nachttisch stand ein Glas mit schalem Wasser, daneben lag die halb geöffnete Tube mit der Creme, die gegen die Schmerzen helfen sollte. Nichts in diesem Raum versprach Bewegung oder Veränderung. Nur die Uhr an der Wand tat so, als gäbe es so etwas wie Zeit. Ihr leises Ticken klang wie eine Erinnerung an etwas, das wenige Minuten zuvor zerbrochen war.
Tim saß auf der Bettkante und starrte auf den Teppichboden, als könnte er dort Antworten finden. Die Worte des Arztes hingen noch im Zimmer. Die Operation müsse verschoben werden, hieß es. Vielleicht Wochen, vielleicht Monate. Keiner konnte sagen, wann ein neuer Termin frei würde. Die einzige Aussicht, vielleicht eines Tages wieder laufen zu können, war mit einem Mal in eine unbestimmte Ferne gerückt.
Die Sätze hatten scharfe Ränder gehabt. Sie waren in sein Ohr geglitten wie kalte Klingen und hatten sich dort festgesetzt.
Er fühlte den Druck in der Brust wie einen Stein. Er atmete tief durch die Nase, als könne er den Stein mit Luft polieren und dadurch kleiner machen. Aber er blieb. Er dachte an das Geräusch seiner Schritte, von dem er manchmal träumte. Er erinnerte sich an ein Hallenbad, an den Tag, an dem er zum Beckenrand ging und das Wasser still war, als höre es zu. Die Erinnerung brach an der Gegenwart wie Glas an einer Tischkante.
Vor ihm stand der Rollstuhl. Schwarz lackiertes Stahlrohr, an manchen Stellen blank gescheuert, weil der Lack vom ständigen Anfassen abgeplatzt war. Die Sitzfläche aus dunklem Kunstleder glänzte speckig, eine Naht war aufgeplatzt, die Polsterung stand wie ein weißes Auge hervor. Die großen Räder waren sauber, die Speichen glänzten, weil er sie oft wischte.
Nicht aus Stolz, sondern weil klebrige Speichen ihn wütend machten. Das rechte Vorderrad quietschte, wenn er enge Kurven fuhr. Der linke Bremsgriff war lose und musste mit zwei Fingern gehalten werden, sonst hatte er keine Wirkung.
Mit einer Bewegung, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war, zog er den Rollstuhl dicht an das Bett. Seine Beine hingen schlaff über der Kante, als gehörten sie nicht zu ihm. Er griff unter die Oberschenkel, hob sie vorsichtig an und setzte sie auf die Fußstützen. Dann schob er den Oberkörper vor, stützte sich mit den Armen ab und glitt in den Sitz. Die Räder knackten leise, als wollten sie ihm zuflüstern, dass sie bereit waren.
Er wollte raus. Nicht, um Freunde zu treffen oder etwas zu erledigen. Er wollte raus, weil die Luft im Zimmer sich in Falten legte, die ihm den Atem nahmen. Draußen gab es zumindest Geräusche, die nicht von der Uhr kamen. Draußen konnte er so tun, als gäbe es ein später.
Er stieß sich kräftig von der Wand ab. Die Reifen summten über den Teppich, dann dumpf über den Flur. Hand vor, fester Griff, kräftiger Schub, Hände zurück, wieder vor. Der Rhythmus beruhigte ihn. Er kannte jede kleine Unebenheit an der Wand, gegen die er sich abstieß, jede Stelle, an der die Farbe rau wurde. Unten vor der Haustür rollte er über die Rampe, spürte das kurze Schweben, als die Vorderreifen frei waren, und das dumpfe Aufsetzen auf dem Gehweg.
Die Luft draußen roch nach nassem Asphalt. Ein früher Regen hatte die Straße abgekühlt. In den Rinnen stand Wasser, in dem sich Wolken spiegelten, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie weiterziehen wollten. Irgendwo plätscherte ein Rest Regen in eine Metallrinne. Ein Spatz hüpfte mit hochgezogenen Schultern auf einem Zaun, als wisse er, dass man an grauen Tagen besser nicht auffällt.
Tim bog in den schmalen Weg hinter den Häusern ein. Hier wuchsen Moose zwischen den Plattenfugen und die Kanten waren unregelmäßig. Wenn er schnell fuhr, spürte er das Rütteln in den Handgelenken, fast wie ein Flattern. Er mochte das. Es erinnerte ihn an Geschwindigkeit, ohne dass er sie hatte. Er kannte die Stellen, an denen die Platte noch eine alte Narbe hatte, wo die Kante etwas höher stand und die Vorderrollen kurz abhoben. Ein kleiner Flug, nicht der Rede wert, aber spürbar.
Und dann sah er ihn.
Mitten auf dem Gehweg lag ein Gullideckel.
Nicht aus Eisen, nicht grau, sondern bernsteinfarben und glatt, als hätte jemand flüssigen Zucker gegossen und in einer kreisrunden Form erstarren lassen. Ein feiner Dampf stieg davon auf. Er roch süß, mit einer Spur von Karamell und etwas Zimt. Die Wärme, die davon ausging, war nicht die feuchte Wärme eines Abwasserschachtes, sondern die trockene Wärme von frischem Gebäck.
Tim bremste und ließ den Rollstuhl ausrollen. Er beugte sich vor und legte die Handfläche auf den Deckel. Er war warm und gab minimal nach.
In der Tiefe vibrierte etwas, nicht laut, eher wie ein Herzschlag unter dem Boden. Tim sah die eigene Hand, die auf dem bernsteinfarbenen Kreis lag, und bemerkte, wie sehr sie zitterte. Er wollte sich wegschieben, zurück in die bekannte Schwere. Doch dann knackte es. Ganz fein, wie das Brechen einer Schokoladentafel. Noch ein Knacken, dann ein weiteres, als würden sich unsichtbare Risse bilden, geordnet und zielstrebig.
Der Deckel gab nach.
Das rechte Vorderrad rutschte. Der Rollstuhl kippte vornüber. Der lose Bremsgriff glitt ihm aus den Fingern. Der Boden zog ihn nach unten, als würde eine handgroße Kraft von unten an der Drehung ziehen. Für den Bruchteil eines Augenblicks dachte Tim an die Uhr im Zimmer.
Dann war der Gedanke weg.
Er fiel.
Die Luft schmeckte nach Zucker und Milch.
Farben schossen an ihm vorbei, Rosa wie Erdbeerbrause, Orange wie Pfirsichringe, Braun wie warme Schokoladensauce, Weiß wie aufgeschlagene Sahne. Irgendwo klapperte Metall, irgendwo rieben Speichen an einer Kante.
Er suchte Halt, fand keinen. Ein kurzer Schmerz zuckte durch die Schulter, dann war alles nur noch Rauschen. Es war kein gewöhnliches Fallen.
Es war, als würde er in eine Schachtel voller Süßigkeiten kippen, in der die Schwerkraft andere Wege kannte.
Stille.
Ein weicher Aufprall. Warm. Ein federndes Nachgeben. Ein sanftes Knistern.
Als er die Augen öffnete, lag er auf einem weißen Untergrund, der unter seinem Gewicht ganz leicht nachgab und immer wieder kleine Luftbläschen entließ. Es roch nach Vanille, Zimt und der frischen Kühle von eben aufgeschlagener Sahne. Über ihm spannte sich kein Himmel, wie er ihn kannte, sondern eine helle Kuppel, in der winzige Kristalle schwebten.
Es war, als hätte jemand Zucker über Glas gestreut und das Licht gebeugt.
Er bewegte die Finger. Der Untergrund fühlte sich an wie ein Marshmallow, groß wie ein Bett. Er richtete sich auf. Der Rollstuhl hatte neben ihm einen Abdruck hinterlassen, als hätte sich das Material an ihn erinnert. Tim schob den Stuhl zum Rand. Das Marshmallow gab nach und ließ ihn sacht hinab. Er rollte auf einen Boden aus feinem, feuchtem Zucker. Die Reifen zogen Spuren, die gleich wieder in sich zusammenfielen, als wollten sie keine Landkarten sein.
Er blieb einen Moment stehen und hörte. Die Welt klang anders. Es gab kein Motorengeräusch, kein Rufen, kein Hupen. Es gab ein Summen, das von überall kam. Es war ein freundlicher Ton, nicht lauter als eine zweite Atmung. Ab und zu mischte sich ein leises Prasseln dazu, als würden kleine Kugeln eine gläserne Rinne hinunterrollen.
Er sah sich um. Links standen Bäume mit Stämmen aus Lakritz, deren Rinde schwarz glänzte und in spiralförmigen Linien um den Stamm lief. Die Blätter waren aus dünnem Zuckerpapier, so zart wie Libellenflügel. Wenn der Wind durch sie strich, raschelte es wie die Seiten eines Heftes, das gleich umgeblättert wird.
Manche Blätter trugen winzige Schrift, als hätte jemand Zutatenlisten in eine Sprache gedruckt, die niemand liest, aber jeder riecht.
Rechts wucherte Farn, jeder Wedel ein goldbrauner Churro, frisch gebacken, an den Spitzen mit Zimtzucker bestäubt. Wenn der Wind die Wedel bewegte, rieselte es warm und leise.
Auf den Farnzungen lagen Zuckerkristalle wie Tau. Weiter vorn lag ein See aus warmer Milch. Es war keine gewöhnliche Milch. Sie roch nach Zimt und knusprigem Getreide. Auf der Oberfläche trieben kleine Zimtschiffchen, knusprig am Rand, weich in der Mitte. Wenn eine Welle sie hob, zogen sie dunkle Kringel hinter sich her, die sich sanft wieder auflösten.
Ein Schwarm gebratener Hähnchen flog über den See. Ihre Haut war goldbraun und knusprig, die Flügel schlugen ruhig. Der Wind trug Gewürzduft herüber. Die Hähnchen flogen in Formationen, die an Bilder erinnerten, die er nicht kannte, aber sofort verstand. Eines verlor im Flug eine winzige Kruste, die in der Luft zu einem funkelnden Krümel wurde und verglühte, bevor sie den Boden erreichte.
Tim berührte den Zuckerboden mit der Hand. Er blieb an den Fingerkuppen kleben und wurde im nächsten Augenblick wieder trocken. Er hob die