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Im Sommer des Jahres 1970 verwandelte sich der Kummerower See in ein unbegreifliches Schauspiel der Natur. Innerhalb weniger Tage war die Wasserfläche von unzähligen Haubentauchern bedeckt. Niemand wusste, woher sie kamen, niemand konnte erklären, warum sie blieben. Die Tiere bestimmten das Leben des ganzen Dorfes. Ihre Schreie legten sich wie ein dröhnender Teppich über jede Stunde, ihr Schwarmverhalten ließ den Himmel verdunkeln, ihre Präsenz nahm den Menschen jede Ruhe. Die Bewohner von Kummerow kämpften nicht mit Waffen, sondern mit Erschöpfung, mit Angst, mit wachsender Verzweiflung. Augenzeugenberichte, nächtliche Versammlungen und die hilflose Bürokratie in Berlin zeigen ein Panorama aus Ohnmacht und Starrsinn. Der See wurde zum Spiegel menschlicher Schwäche und zum Mahnmal für die Macht der Natur. Dieser Roman erzählt von der großen Haubentaucherplage, die kam wie aus dem Nichts und verschwand ohne jede Erklärung. Ein Dorf wurde aus der Ordnung gerissen, zurück blieb ein Schweigen, das bis heute nachhallt.
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Seitenzahl: 80
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Vorwort
Kapitel 1 – Die ersten Sichtungen
Kapitel 2 – Erste Mutmaßungen
Kapitel 3 – Der Bericht nach Berlin
Kapitel 4 – Das Schweigen der Behörden und die Unruhe im Dorf
Kapitel 5
Kapitel 6 – Das seltsame Verschwinden
Kapitel 7 – Die Zerreißprobe
Kapitel 8 – Die Rückkehr Kedings und die unerwartete Stille
Kapitel 9 – Die zweite Plage
Kapitel 10 – Das Ende der Plage
Impressum
Zwischen den unscheinbaren Kleinanzeigen einer längst vergilbten Regionalzeitung, irgendwo zwischen „Zwei Fahrräder Herren, wenig gefahren“ und „Zimmer für Lehrling gesucht“, findet sich eine Notiz, datiert auf den 5. Mai 1970.
Sie lautet:
Achtung!
Am Kummerower See ist ein übermäßiges Auftreten von Haubentauchern festgestellt worden. Fischer und Bootsleute werden gebeten, Vorsicht walten zu lassen.
Landesamt für Wasserwirtschaft, Bezirksstelle Neubrandenburg.
Tel. 43-171
Das war alles. Keine Erklärung, kein Bild, keine Folgemeldung. Wer heute das Archiv durchblättert, würde leicht darüber hinwegsehen. Nur ein Vogel, nur ein Hinweis.
Doch wer damals dort lebte, der erinnert sich. An die Schwärme, die das Wasser bedeckten, so dicht, dass man den See kaum noch sah. An die Nächte, in denen die Rufe wie ein ständiges Wispern über den Schilfinseln lagen. An das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte, dass Natur über ihre Grenzen hinauswuchs und sich gegen uns stellte.
Die Chronik, die nun folgt, ist keine Legende. Sie ist gesammelt aus Erzählungen, Notizen, vergilbten Briefen und Erinnerungen von Menschen, die noch heute zögern, wenn man sie fragt. Denn was im Sommer 1970 über den Kummerower See kam, war nicht nur eine Plage. Es war eine Erscheinung.
Und wie bei jeder Erscheinung bleibt offen, ob sie aus der Natur kam, aus der Geschichte – oder aus dem, was wir nicht benennen können.
Der Morgen über dem Kummerower See roch nach kühlem Eisen und jungem Gras. Ein dünner Dunst hing über dem Wasser, so fein, dass er die Schilfhalme in weiche Schatten wickelte. Von den Höfen klirrten Eimer, Hähne krähten, und aus den niedrigen Küchenfenstern stieg der Geruch von Malzkaffee. Es war ein Dienstag im Mai des Jahres 1970, so gewöhnlich, dass er beinahe verschwinden wollte, wäre nicht etwas Ungewöhnliches aufgewacht, leise zuerst, dann in einem Ton, den keiner im Dorf kannte. Wilhelm Krüger, Fischer, stieß sein Boot vom Steg. Die Planken seines Kahns trugen noch die Spuren des Winters, Risse, die mit Pech verschlossen waren, und eine hingetupfte Initiale, G, für Greta, den Namen seiner Frau. Er ruderte hinaus, den Rücken gegen das Ufer, die Arme im Trott eines Mannes, der mehr Wasser kennt als Land. Die Ruderblätter griffen in eine Oberfläche, die glatt war wie Glas. Von fern rief ein Reiher, zweimal, kurz und hohl.
Dann kam ein Laut unter der Haut des Sees. Kein Schrei, kein Flügelschlag. Ein Summen, das aus vielen Kehlen zu kommen schien, tief und rund, an- und abschwellend, als atmete der See. Krüger legte die Ruder an, hielt inne. Der Dunst zerriss in Fetzen, und dahinter bewegte sich etwas wie eine dunkle, lebendige Fläche.
Zuerst dachte er an Enten. Dann an Nebel, der sich als Bewegung tarnte. Doch als die Sonne über den Rand der Pappeln kroch und auf die Wasserhaut fiel, sah er lange Hälse, weiße Wangen, rotbraune Federhauben, die Funken in das frühe Licht warfen. Haubentaucher. Nicht zwei, nicht zwanzig. Hunderte. Hinten noch mehr, ein wabender Teppich, der die Bucht füllte, als hätte jemand sie ausgeschüttet.
Er stieß die Ruder wieder ein, doch die Kraft in den Armen verfehlte ihren Weg. Das Boot trieb einen Augenblick quer. Er hörte, wie die Vögel tauchten, kurze, nasse Laute, dann ein Gluckern, wenn ein Leib die Fläche wieder brach. Die Geräusche waren überall. Er fühlte sie in den Rippen.
Am Ufer stand Ernst Boll, der Nachbar, die Hände zum Schirm gefaltet. Krüger drehte den Kahn, ließ ihn an den Pfahl schlagen, sprang ans Land. „Hast du’s gesehen?“
Boll nickte. „Der See lebt“, sagte er, und die Worte hatten etwas wie Furcht und wie Ehre. Bis zum Vormittag hatte das Dorf es gehört. Kinder ließen Ranzen fallen und liefen barfuß den Deich hinauf. Zwei Bäuerinnen, die gerade Butter tauschten, stellten ihre Körbe ab und vergaßen sie. Alte Männer, die sonst vor der Kaufhalle Karten klopften, wanderten schweigend zum Ufer. Alle sahen hinaus, und eine Weile lang sprachen sie nicht.
Das Wasser war ein Bild mit zu vielen Figuren. Überall Köpfe, Hälse, Rücken. Immer wieder tauchte etwas, verschwand, schoss unter der Fläche voran wie ein Pfeil, kam zu früh wieder hoch oder genau dort, wo man nicht hinblickte. Ein paar Tiere schwammen dicht ans Schilf, so nah, dass man den roten Schimmer der Hauben roch, feucht und warm wie frisch geschnittenes Holz.
„So etwas gab’s hier nie“, sagte die Lehrerin Dora Ruge, die eigentlich mit ihrer Klasse zum Strand wollte. Sie zählte automatisch, bis sie die Zahlen verlor.
„Zurück, Kinder.“ Sie drehte um, als wäre die Welt hinter ihr leichter als diese flüssige Menge vor ihr.
Im Gasthaus Zur Fähre, das abends nach Bier, Seife und Heizöl roch, war am selben Tag kein anderes Thema. Der junge Lehrer Hans Lüdke, der seit dem Frühjahr im Dorf wohnte, sah aus, als wolle er das Phänomen gleich in einen Aufsatz verwandeln. „Ein Sturm hat sie abgetrieben“, sagte er. „Skandinavien vielleicht. Ein Wetter, wie man es in Tabellen findet.“
„Ein Sturm hat keine Hände für so viele“, erwiderte Krüger. „Das da ist zu ordentlich. Als hätte jemand sie hergerufen.“
Eine alte Frau schlug ein Kreuz. „Das sind Seelen aus dem See“, sagte sie. „Jeder Vogel ein Name, den keiner mehr sagt.“ Die Männer lachten, aber ihre Schultern blieben hart.
Nachts trugen die Fenster das Gurren in die Schlafstuben. Es klang nicht wie ein Ruf, der endet, es klang wie ein Teppich, der aus Tönen gewoben ist, ohne Kante. Manche wachten auf mit einem Gefühl, als stünde jemand neben dem Bett. Andere behaupteten am Morgen, sie hätten ein grünes Licht über der Wasserfläche gesehen, so knapp über den Köpfen der Vögel, als wäre dort eine zweite, fremde Ebene.
Am zweiten Tag standen die Fischer im Wasser und fluchten leise. Netze kamen leer hoch oder mit Fetzen aus Schilf und Schuppen. Haubentaucher glitten mitten hindurch, drehten sich, zogen flach weg, ohne Eile. Wenn sie tauchten, sah man für Sekunden die weiße Linie der Unterseite, dann nur noch das Zittern der Ringe.
„Sie fressen uns das Jahr“, sagte Boll, und Krüger nickte schweigend. Er kannte die Mathematik des Seejahres. Es war eine Rechnung aus Kälte, Laich, Glück, Windrichtungen, die er im Blut trug. In dieser Rechnung gab es keine Stelle für eine Zahl, die plötzlich alles bedeckte.
Am dritten Tag kamen Männer vom Rat des Kreises, graue Mäntel, Klemmbretter, Fragen. Sie standen am Steg, hielten die Augen schmal, als könne man weniger sehen, wenn man weniger sehen wollte.
„Übermäßiges Auftreten“, sagte einer und schrieb es auf, als sei die Sache damit benannt. „Gefährdung wahrscheinlich gering“, sagte ein anderer ohne Blick auf das Wasser. „Wir melden weiter.“
Die Dorfbewohner hörten ihre eigenen Geräusche jetzt anders. Das Schließen einer Tür klang plötzlich fremd, weil draußen etwas war, das keine Türen kannte. Kühe scheuten am Tränkeplatz, ein Kalb sprang, riss sich am Strick, stürzte in den flachen Rand, kam schnaufend wieder hoch. Ein Junge ließ einen Kiesel übers Wasser springen, und die Vögel fächerten auf, schlossen sich wieder, als gehörte jede Bewegung schon zum Muster. Gerüchte krochen durch die Häuser. Jemand sagte, die Russen hätten neue Antennen aufgebaut und die Vögel magnetisch verstellt. Jemand sagte, ein Chemiewerk habe Abwässer in einen Fluss gelassen, weit, weit weg, und die Tiere seien vor etwas geflohen, das man nicht riechen könne. Jemand sagte gar nichts und sah nur länger aus dem Fenster, als ob jeder Blick eine Antwort verliehe.
Am vierten Tag schwamm ein Kalb hinaus, warf den Kopf, als suche es eine Glocke. Die Vögel wichen nicht. Später lag die Kuh am Schilfrand, die Augen weit, die Zunge blau. Die Männer holten sie mit Stangen an Land. Niemand sagte, dass die Vögel Schuld seien. Niemand sagte, dass sie es nicht seien. Die Stille nach dem Ziehen war schwer wie nasses Fell. Nachmittags setzte ein Regen ein, der nur tat, als wäre er Regen. Er hing in der Luft wie Atem, ohne zu fallen. Die Vögel schienen ihn nicht zu merken. Sie formten plötzlich eine Linie, schmal, langgezogen, als folgten sie etwas Unsichtbarem quer über den See. Dann lösten sie die Linie wieder auf und wurden ein Teppich. Alles ohne Hast, ohne erkennbaren Befehl. Lüdke sagte: „Schwarmintelligenz“, und es klang, als spräche er über Drähte und Lampen.
Am fünften Tag stand am schwarzen Brett vor der Kaufhalle ein Blatt Papier mit Stempel. Warnung an Fischer und Bootsleute: Übermäßiges Auftreten von Haubentauchern im Kummerower See. Vorsicht. Landesamt für Wasserwirtschaft. Darunter eine Telefonnummer, die niemand wählte, weil niemand glaubte, dass ein Hörer helfen könne gegen etwas, das kein Wort hatte für Ende.
In der Nacht hörte Dora Ruge Schritte auf dem Flur, obwohl sie allein wohnte. Sie stand auf, ging ans Fenster. Der See lag dunkel, aber das Dunkel war nicht leer. Das Gurren war leiser, tief wie ein Pfeifen im Brustkorb eines Schlafenden. Sie legte die Stirn an die Scheibe und spürte, wie die Kälte ihr eine klare Linie auf die Haut zog. Später schrieb sie in ein Heft: Sie waren da wie Gedanken, die man nicht denken will, die aber bleiben.