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Stralsund im Jahr 1665. Über der Reede stehen Erscheinungen am Himmel, die keine Segel tragen und keine Vögel sind. Fischer reden von einer Luftschlacht, die Stadt versucht das Geräusch der Gerüchte mit Ordnung zu übertönen. Inmitten dieser Tage hebt ein Böttchergeselle am Schilfrand etwas aus dem Wasser, das nicht von hier ist. Was folgt, ist kein Spektakel, sondern eine leise Verabredung zwischen Menschenpflicht und Fremdem. Der Roman erzählt in der Stimme der Stadt. Ein Meister, der Stille hält. Ein Offizier, der lernt wegzusehen. Ein Prediger, der einen Glockenschlag zu viel schenkt. Ein Apotheker, der Wasser beruhigt. Ein Kupferstecher, der Platz sticht, damit Wahrheit hineinpasst. Und Hans, der Geselle, der begreift, dass Rettung selten Lärm macht. Rat und Garnison zählen, schreiben, ziehen Netze. Die See antwortet mit Höflichkeit. Am Ende steht keine Heldentat, sondern eine Entscheidung, die eine Stadt bewahrt, ohne sie zu rühmen. Basierend auf zeitgenössischen Stimmen, Chroniken und Spuren entfaltet sich die Chronik einer Begegnung mit Gästen von den Sternen. 1665 Die Luftschlacht von Stralsund ist ein dokumentarischer Roman über Maß und Mut, über das Schweigen, das schützt, und die Augenblicke, in denen eine Gemeinschaft sich selbst treu bleibt, während etwas aus einer anderen Ordnung an ihre Kante tritt.
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Seitenzahl: 205
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Alle Rechte bei dem Autoren.
Prolog – Aus der Chronik des Himmels über Stralsund
Kapitel 1 – Stralsund am Morgen danach
Kapitel 2 – Ratsstube, Kanzel und Kai
Kapitel 3 – Augen und Stimmen
Kapitel 4 – Die Karte des Himmels
Kapitel 5 – Nachwirkungen
Kapitel 6 – Der Fund im Schilf
Kapitel 7 – Die Kammer
Kapitel 8 – Suche und Zeichen
Kapitel 9 – Der Ring
Kapitel 10 – Die Sprache der Kreise
Kapitel 11 – Näherkommen
Kapitel 12 – Die Nacht auf der Reede
Kapitel 13 – Die Scheibe
Kapitel 14 – Die Fragen
Kapitel 15 – Die Vorladung
Kapitel 16 – Die Netze
Kapitel 17 – Die Einladung
Kapitel 18 – Die Entscheidung auf der Reede
Kapitel 19 – Epilog: Geordnetes Schweigen
Am achten Tage des April, im Jahre des Herrn sechzehnhundertfünfundsechzig, gegen die zweite Stunde nach Mittag, öffnete der Himmel über der See vor Stralsund sein stilles Tuch und zeigte Dinge, die nicht von den Gewohnheiten der Menschen waren.
Fischerboote lagen auf der Hering, die Netze waren draußen, die Stadt atmete nach winterlanger Enge endlich wieder Salz und Handel. Das Wasser stand ruhig, als wollte es verhandeln, und die Möwen führten das übliche Gezeter über Brotkrumen und Fischköpfe.
Sechs Männer, deren Namen der Markt kannte und deren Schultern die Riemen der Netze trugen, blickten zuerst hinauf. Zuerst waren es kleine Punkte, wie Vogelscharen, die in großer Höhe die Ordnung der Winde schreiben. Dann wurden die Punkte schwärzer, dichter und doch schärfer, schoben sich zu Linien, zu Keilen, zu Körpern, die keine Flügel zu brauchen schienen. Aus dem Flirren der Mittagsluft formten sich Gebilde, die mehr an Schiffe erinnerten als an Vögel, mit Flanken, die das Licht nahmen und zurückwarfen, und mit Flächen, die keine Segel brauchten.
Es blieb nicht bei der Erscheinung. Über den Schiffsformen standen Gestalten, die wie Menschen aussahen, aber zu entfernt waren, um benannt zu werden. Zwischen den Formen lösten sich Lichter, stoben in kurzen Strichen auseinander, als ob jemand Funken durch ein Glas ziehen würde. Ein Donnern begann, nicht rollend wie ein Wetter, sondern stückweise, in Schlägen, die den Bauch trafen und doch kein Echo an den Häuserwänden fanden.
Rauchfahnen zogen, rissen, vergingen. Etwas wie Pulverdampf, doch ohne Geruch, hing einen Herzschlag lang über dem Wasser, dann wieder klare Luft.
Die Dinge am Himmel manövrierten. Sie drehten voreinander ab, stießen wieder aufeinander zu und hielten in Positionen, die jedem Seemann die Sprache genommen hätten. Eine Zeitlang sah es aus, als ob die oberen, größeren Körper die kleineren einkreisten.
Dann schien die Ordnung zu zerfließen, und es war, als ob zwei Schwärme, die sich nicht leiden konnten, in einander hinein- und wieder herausfuhren. Ein Kupferstecher hätte Linien gesucht, um dies festzuhalten; ein Prediger hätte Worte gesucht, um es zu deuten; die Fischer hielten nur die Augen offen, weil Wegsehen zu spät gekommen wäre.
Gegen den späten Nachmittag, als die Schatten in der Stadt länger wurden, trat eine neue Form auf. Über Sankt Nikolai, dort, wo der Turm die Glocke hält, hing auf einmal eine Fläche, dunkelgrau, vollkommen rund und ohne sichtbaren Halt. Sie lag nicht, sie schwebte, ohne zu zittern, ohne zu sinken, ohne den Luftzug der Möwen zu stören. Das Licht der Sonne stand an ihrer Kante wie an einem Messer, das keiner zieht. Unter dieser Scheibe wirkten die Ziegel des Daches stumpfer, die Luft hörte für einen Moment auf, ein Gespräch zu führen.
Die Bewegung am Himmel ließ allmählich nach. Die fernen Körper trennten sich, wurden blasser, schoben sich auseinander wie Rauch, der eine Form gehabt hat. Das Donnern verlor seine Takte, die kurzen Lichter wurden seltener, und der See gab seine Spiegelung wieder frei. Die dunkle Scheibe über der Kirche hob sich kaum merklich, bis sie nur noch ein grauer Fleck war vor dem bleichen Blau, und schließlich blieb dort nichts als Himmel.
So war es zu sehen für alle, die an diesem Nachmittag hinaufblickten; so war es zu berichten, ohne Eifer und ohne Schminke. Was es war, sagt dies Protokoll nicht.
Es sagt nur, dass der Himmel über Stralsund an jenem Tag keine Flächenmalerei war, sondern ein bewegtes Werk, das nicht nach irdischen Regeln entstand.
Der Morgen tat, was Morgen tun: Er tat so, als wüsste er nichts. Die Glocke von Sankt Nikolai fuhr ihre Schläge durch die Gassen, die Krähen saßen wie immer auf den Balkenköpfen, und über dem Hafen brannte das dünne Blau, das ein klarer Tag sich leistet, wenn der Wind nach Osten steht. Die Stadt nahm ihre Ordnungen auf, als hätte niemand vom Wasser her mit erhobenen Augen gestanden: Fässer wurden gerollt, Luken verschraubt, Türen aufgestoßen, Besen ins Pflaster gerieben, bis der Staub kurz dunkler wurde.
Der schwedische Posten vor dem Tor wechselte die Männer, die Stiefel polterten in derselben Strenge wie gestern. Weit hinten klirrte ein Harnisch, mehr Metall als Mann, und in den Höfen redeten Frauen mit den Eimern in der Hand die erreichten Preise herbei, die der Markt noch nicht beschlossen hatte. Man sah die Dinge, die man immer sah: die Tücher, die über Seile geworfen wurden, um Salz und Schweiß aus der Nacht zu ziehen; die Pferde, die ihre Köpfe schüttelten, als wollten sie die Fliegen davon überzeugen, die Fliegen zu lassen; den Bäckerjungen, der schon beim dritten Korb aus dem Gleichgewicht kam.
Und doch lag in dieser Geschäftigkeit ein anderes Gewicht. Man sprach leiser, und wenn man lachte, brach das Lachen zu früh ab. Die Männer, die hinter den Tresen der Brauhäuser standen, polierten Krüge, als könnte man in blankem Zinn erkennen, was einem entgangen ist. Die Händler, die mit Tüchern handelten, ließen die Finger etwas länger als nötig über die Stoffe hinken, als prüften sie nicht nur die Ware, sondern die Welt. Als die ersten Wagen aus dem Umland auf den Markt rollten, traten Köpfe in den Toren nach, um zu sehen, ob von dort dieselben Gesichter kämen wie immer, oder ob die Nacht andere geschickt hätte.
In einer Werkstatt am Wasser stand ein junger Mann, den die Stadt nur im Vorübergehen kannte, so wie sie alle kennt, die verlässlich sind. Hans Tidemann, Geselle beim Fassbinder und Holzhändler Bartold, wischte die Bank frei, hob Nussbaum- und Eichenleisten aus dem Stapel und prüfte mit dem Daumen die Faser, als könnte der Daumen bereits wissen, was die Hand später arbeiten würde. Er hörte die Stimmen draußen, aber sie legten sich nur wie dünne Farbe auf seine Gedanken. Das Holz hatte seine eigenen Sätze, und wenn man ihnen nicht zuhörte, rächten sie sich in Splittern.
„Du bist früh“, sagte Meister Bartold, als er den Kopf unter dem Balken hindurch steckte. Er trug das Gesicht, das er morgens trug, bevor ihn jemand um Preisnachlass bat. „Die Stadt ist auch früh. Wenn einer vom Himmel erzählt, stehen drei auf, um hinaufzusehen, und fünf, um zu bestreiten, was die drei gesehen haben.“
Hans nickte. „Man sagt vieles“, sagte er und strich den letzten Span vom Brett.
„Man sagt immer vieles“, erwiderte der Meister. „Heute verkauft man trotz allem. Setz die Reifen an, wir haben eine Ladung Hering, die noch heute raus muss. Die Schiffe fragen nicht nach Zeichen.“
Vor ihren Fenstern zog das Hafenleben vorbei. Männer mit Stricken, die mehr Knoten kannten als Worte, Schiffer, die an den Kanten ihrer Felle ihre Herkunft trugen, Gesichter, die der Wind gezeichnet hatte, ohne je eine Feder in die Hand genommen zu haben.
Ein Böttcher gegenüber prüfte die Dichtheit seiner Dauben, indem er die Fuge mit dem Ohr suchte, so wie ein Musiker nach dem leisen Falschen sucht. Ein Karren mit Teer rollte, langsam, als fürchte man, die Luft könne die Last anzünden.
Die Kunde vom Himmel war noch taufrisch. Ein Prediger hatte schon in der Frühe an einer Ecke gestanden und davon gesprochen, dass Zeichen nicht für Staunen gemacht seien, sondern für Umkehr. Ein Ratsherr – Merten, der mit dem ungeduldigen Bart – war im Rathaus zu sehen gewesen, wie er einem Schreiber erklärte, dass die Stadt keine Bekanntmachung herausgebe, weil die Stadt keine Wunderverwaltung sei. Vor Sankt Nikolai hatten zwei alte Seemänner um die Wette geschworen, was sie gesehen hatten. Der eine hielt auf Vögel mit nassen Federn, die das Licht breche, und der andere auf schwedische Geheimübungen. Ein dritter schwieg und sah auf seine Hände, als stünde dort eine Antwort, die niemand verdiene.
Hans trug Fässer aus dem Hof, zwei Mann pro Tonne, und spürte in den Handflächen die körnige Wahrheit der Arbeit. Zwischen den Gängen fing er Fetzen von Erzählungen auf, die an ihm hängen blieben wie Fäden: „…wie Schiffe, nur ohne Wasser…“, „…die Luft hat geschlagen im Bauch…“, „…eine runde Platte über der Kirche, wie aufgenagelt…“. Er legte die Arme in den Rhythmus der Last und merkte, dass sein Schritt sich dem ernsten Takt der Glocke anpasste, obwohl sie gerade schwieg.
Am Markt standen die Fischweiber wie immer mit den Füßen fest, die Körbe vor dem Bauch, die Tücher straff, das Urteil in der Stirn. Aber wenn jemand das Wort „gestern“ sagte, bekam es Raum, als hätte es jeder in Reserve mitgebracht. „Gestern, sagt ihr?“ – „Gestern haben die Netze gezittert, ohne Wasser.“ – „Gestern war das Licht zu hell, wo Schatten sein sollten.“ Da und dort fuhr sich jemand über die Arme, als wäre Wind gegangen, den nur er gespürt hatte.
Die Garnison, deren Aufgabe es war, Ordnung zu sein, war ordentlicher als üblich. Ein Offizier ließ eine Kolonne in der Nähe des Hafens antreten, sah hinauf, als könne er das Geschehene herabordern, und gab dann den Befehl, auseinanderzugehen, um zu zeigen, dass nichts war. Zwei junge Soldaten diskutierten mit den Augen und schwiegen mit dem Mund; wer redet, wenn ein Vorgesetzter schweigt, redet zu lang.
In der Apotheke am Külpeltor polierte der Apotheker die Glasballons, als seien es die Kugeln einer anderen Wahrheit. Er rückte die Mörser, wog ein Pulver und sagte der Kundin, dass Schlaf ein Kraut sei, das der Himmel nicht austeile, auch wenn er Zeichen gebe.
Beim Schmied in der Fährstraße wurde der Blasebalg so gleichmäßig getreten wie sonst, aber der Schmied sah einmal zu oft nach der Tür. Und am Nikolai-Kirchplatz blieb eine Gruppe von Kindern stehen und zeichnete mit Kreide Kreise auf das Pflaster, weil jemand erzählt hatte, dass runde Dinge den Himmel anziehen.
Hans brachte die letzte Tonne an den Kai. Das Wasser roch nach Tang, und auf der Oberfläche lag eine dünne, hellere Haut, als habe sich nachts etwas darauf ausgeruht, das nicht fischen wollte. Ein Klüverbaum schob sich langsam an ihm vorbei, und der Mann auf der Back rief kurz und knapp, wie man ruft, wenn man alles schon tausendmal gerufen hat. Hans wischte die Hände an der Schürze ab und blieb einen Atemzug länger stehen, als nötig gewesen wäre. Die See stand da, als hinge in ihr ein Gedanke, der zu schwer war, um zu sinken.
„Hans!“, rief der Meister. „Reifen!“ – „Komme!“ Er drehte sich um, und die Arbeit nahm ihn wieder in Besitz. Das Holz, der Zapfen, die Nut, der Schlag, die kleine Bewegung mit dem Handgelenk, die das Ganze zusammenhält. In den Pausen rieb er das Harz aus den Fingern, ohne hinzusehen, und manchmal – nicht oft – fühlte er einen ganz leichten Druck in der Brust, kein Schmerz, eher ein Echo, als hätte jemand den Raum gestern gemessen und seine Maße in ihm gelassen.
Der Tag setzte seine Bilder fort. Ein Kaufmann aus Greifswald stritt mit einem Stralsunder über die Qualität eines Tuches, beide lagen falsch und doch obsiegte einer. Eine Magd ließ eine Schüssel fallen, die klirrte, als wäre sie aus zwei Metallen zugleich. Ein alter Mann blieb mitten im Gehen stehen und sah lange in die Luft, und als man ihn fragte, sagte er nur: „Ich prüfe, ob sie noch leer ist.“ Ein Junge malte die runde Form mit dem Ruß vom Ofen an eine Hauswand, bekam dafür einen Klaps und ein Lachen, das er nicht verdient hatte.
Am späten Vormittag nahm die Stadt den ersten tiefen Atemzug, wie sie ihn immer nimmt, wenn der Handel in Gang gekommen ist und das Mittag nicht mehr fern ist.
Die Gerüchte legten sich, nicht weil sie geringer wurden, sondern weil sie in die Körper einsickerten und dort einen Platz fanden. Die Worte wurden wieder kürzer. Man wog, man zahlte, man fluchte, man trug.
Sogar die Möwen, die sich am Morgen heiser geschrien hatten, fanden zu ihrem unverschämten Gleichmaß zurück.
Hans zog den letzten Reifen dicht und prüfte die Fuge mit dem Finger. „Gut“, sagte der Meister, ohne hinzusehen. „Nimm dir eine Stunde, wenn du willst. Der Kopf arbeitet nicht, wenn er von Arbeit heißt.“ Es war eine seiner Sätzen, die man erst beim dritten Mal verstand. Hans nickte, legte das Werkzeug ordentlich hin, wusch die Hände in einer Schale mit kaltem Wasser und trat vor die Werkstatt.
Die Luft am Hafen hatte einen Beigeschmack, den er nicht benennen konnte. Kein Teer, kein Fisch, kein Salz, kein fauliges Holz. Etwas Reines, das nicht hierher gehörte, wie der Geruch, der in einer Kirche steht, wenn niemand darin ist. Er ging ein Stück den Kai entlang, ohne Ziel. Ein alter Netzflicker, der am Rand saß, hob den Kopf: „Hast’s auch gesehen?“ – „Nein“, sagte Hans. „Gehört.“ – „Hören ist sehen, wenn man nicht lügen will“, murmelte der Alte und senkte den Kopf wieder. Seine Finger fanden den Rhythmus, den sie seit fünfzig Jahren kannten.
An der Ecke, wo die Palisade einen Schatten warf, blieb Hans stehen. Im Wasser trieb, halb verborgen, ein Bündel Tang, das an einer Stelle heller schimmerte als das übrige. Er beugte sich vor, sah nur Wasser und sein eigenes Gesicht und einen Himmel, der sich nichts mehr anmerken ließ. Er richtete sich auf, sah hinauf zur Spitze von Sankt Nikolai und blinzelte gegen das Licht, das dort heute völlig gewöhnlich war.
Der Tag ging in seine Mitte, und die Stadt ließ ihn.
Wenn man die Gassen von oben betrachtet hätte, wären sie Striche gewesen, zwischen denen Körner wanderten, stetig, zweckmäßig, ohne Hast. Doch zwischen all den Strichen steckte seit gestern ein anderer Faden, den man mit Augen nicht sah. Er spannte sich von Blick zu Blick, von Frage zu Frage, vom Turm der Kirche bis in den flachen Schlick am Ufer.
Er war kein Zeichen, das einer setzte; er war die Leere zwischen den Dingen, die auf einmal Bedeutung tragen konnte.
Hans kehrte in die Werkstatt zurück, als hätte er nichts gesehen, weil er nichts gesehen hatte. Die Welt, die er kannte, brauchte ihn, und er gab sich ihr, weil man sonst keinen Platz in ihr hat. Aber als er den ersten Schlag mit dem Holzhammer tat, war da in der Tiefe seiner Brust ein leiser Rückschlag, ein Ton, so tief, dass man ihn nur bemerkt, wenn der eigene Atem einen Augenblick aussetzt. Er dachte nicht weiter darüber nach. Er machte die Arbeit, die anstand. Und irgendwo jenseits der Palisade, wo das Wasser der See in die flache Bucht glitt, trieb etwas, das nicht trieb wie Holz, und wartete, ohne zu wissen, dass es wartete.
Der Vormittag war kaum zur Hälfte geworden, da tat die Stadt, was Städte tun, wenn etwas Größeres an ihnen vorbeigegangen ist. Sie begann zu reden, als wollte sie das Geschehene durch viele Münder so lange wenden, bis es wieder in eine vertraute Form passte. Stralsund hatte für solche Dinge seine Orte. Da war die Ratsstube mit ihren schweren Bänken, die Kanzel von Sankt Nikolai, die ihren Schatten auf die Köpfe legte, und der Kai, wo Worte schneller und salziger sind als anderswo. Zwischen diesen drei Punkten spannte sich an diesem Tag ein unsichtbares Seil, an dem die Stadt wie eine Glocke hing.
Im Rathaus roch es nach Wachs, Tinte und alter Geduld. Ratsherr Merten saß am Kopf der Tafel und strich die Finger an einem Tuch ab, das stets zu sauber war, um wirklich gebraucht zu werden. Der Schreiber tauchte die Feder zu oft, als müsse er die Stille beschweren. „Wir geben keine Bekanntmachung“, sagte Merten, ohne Zorn, als lese er eine Regel, die keiner je niedergeschrieben hatte und die doch galt.
„Was wir wissen, reicht nicht, um es zu sagen. Was wir sagen, reicht nicht, um es zu wissen. Der Handel geht vor.“ Ein älterer Rat nickte, ein jüngerer hob die Brauen, als hätte er nicht damit gerechnet, dass Worte so dicht nebeneinander stehen können.
„Die Fischer“, warf jemand ein, „klagen über Zittern, über schwere Köpfe, über Glieder, die nicht tun, was man ihnen sagt.“ Merten sah auf, kurz nur. „Dann sollen sie zur Apotheke gehen. Der Rat heilt keine Hände. Er hält nur die Stadt.“ Ein Windstoß fuhr gegen die kleinen Scheiben, als wolle die See an die Tür erinnern. Der Schreiber schrieb, was er nicht begriff, denn Schreibende schreiben, wenn sie atmen.
Nur eine Gasse weiter bereitete der Prediger von Sankt Nikolai die Worte, die er den Leuten geben wollte, damit ihnen das Staunen nicht in Angst umkippe. Er war ein Mann mit einem Gesicht, das mehr Furchen kannte als Jahre, und mit einer Stimme, die zu groß war für den Körper. „Wer Zeichen sucht“, murmelte er, „findet sich selbst und hält es für den Himmel.“ Er legte eine Bibelstelle zur anderen, als lege er Steine so, dass ein Bach leiser wird. Als er die Kanzel bestieg, war die Kirche voller als an gewöhnlichen Tagen, doch die Stille war nicht die der Andacht, sondern die eines Marktes, der wartet, was geboten wird.
„Gestern“, begann er, und das Wort füllte das Gewölbe mehr als alle anderen, „hat der Himmel über unserer Stadt getan, was er selten tut. Er hat uns etwas gezeigt, das unsere Zunge nicht hat. Wer von euch Vögel sah, der sah Vögel. Wer Schiffe sah, der sah Schiffe. Wer Kampf sah, der sah Kampf. Wer Gott sah, soll Gott danken, dass er ihn nicht fürchtet. Wer den Feind sah, soll bedenken, dass Furcht einen Feind wachsen lässt, wo keiner ist. Ich sage euch nicht, was ihr gesehen habt. Ich sage euch, was ihr sehen sollt: den Nächsten, der heute das Brot braucht, das ihr habt.“ Er sprach noch eine Weile, und die Sätze fielen wie Korn auf Stein, und doch blieb etwas hängen, weil Worte, die eine Stadt braucht, nie vergeblich sind.
Am Kai saß der Arzt der kleinen Leute, der Apotheker, mit einer Schale neben der Bank, als müsse er den Tag messen. Er nahm die Fischer einzeln, wie man Netze nimmt, die man flicken will. Die sechs, die am Vortag zuerst hinaufgesehen hatten, sahen heute hinab auf ihre Hände, die nicht still werden wollten. „Es ist, als ob die Muskeln anders auf Befehl hören“, sagte Hinrich, der sonst Netze flickte, die zu stur sind. „Der Kopf brummt, aber nicht wie vom Bier.“ Der Apotheker nickte, setzte Kalmus und wenige Tropfen Opium auf die Zunge, wies ihnen einen dunklen Schlaf an und riet zur Ruhe, die keiner bezahlen kann. „Es geht vorüber“, sagte er leise und wusste nicht, ob er ihnen oder sich selbst sprach.
Unterdessen arbeitete die Stadt an einem Bild, das bleiben sollte, wenn die Worte sich erschöpft hatten. In einer Werkstatt, in der Metall zu Linien wird, beugte sich der Kupferstecher über die Platte. „Wie groß“, fragte er den Mann, der gesehen haben wollte, „und wie rund.“
Er zog Kreise, die keine waren, er setzte Striche, die schon gestern zitterten, er ließ im Raum zwischen zwei Linien das Licht entstehen, das keiner je gesehen hat und das doch jeder im Kopf hat. Als die erste Probe vom Papier aufstieg, stand eine runde Form über einem Turm, der jeder sein konnte, der Sankt Nikolai heißt, und darunter war der See, der jeder ist, der vor Stralsund liegt. Der Stecher nickte, nicht zufrieden, aber einverstanden. Wahrhaftigkeit ist in solchen Blättern selten, aber Einverständnis ist viel.
Hans trug Holz. Er tat es, wie er alles tat, mit jenem stillen Gehorsam, den die Arbeit in Männer schreibt, die nichts haben als die Arbeit. Zwischen zwei Gängen kam er an der Tür vorbei, hinter der der Stecher hantierte, und blieb einen Atemzug stehen, weil das Geräusch der Nadel im Metall an etwas in ihm rührte.
„Komm“, sagte der Meister, „die Reifen warten.“ Hans legte die Schulter wieder unter die Last. Er hörte die Stadt reden, er hörte sie ordnen, er hörte sie zweifeln, aber er machte, was anstand. Als er später, kurz vor dem Mittag, an der Kirche vorbeikam, hing die Luft dort kühl und hoch, und ein Kind rannte mit einer Kreide in der Hand davon, die Finger weiß, die Augen voll.
Am Nachmittag nahm die Garnison die Stadt wie in die Armbeuge. Zwei Trupps Soldaten standen an den Enden des Marktes, nicht mit gezogenem Zorn, sondern mit geliehenem Ernst. Ein Offizier mit weichem Haar und hartem Mund sah über die Köpfe hinweg und sagte nichts. Schweigen ist eine Waffe, die Städte kennen. Auf der Mauer zum Wasser hin standen zwei Männer mit der Haltung von Wachposten und der Ungeduld von Jungen. Sie sahen aufs Meer, als sei dort noch etwas zu holen. „Nichts“, sagte der eine nach einer Weile. „Alles“, sagte der andere. Beide hatten Unrecht und beide recht.
Gegen die dritte Stunde kam ein Blatt in Umlauf, das man nicht kaufen musste, weil es sowieso überall war.
Darauf stand viel, was keiner brauchte, und wenig, das einer konnte, aber es hatte die Wirkung, die solche Blätter haben: Es machte das Gerücht schneller und schneller. Dass in Greifswald am selben Abend Lichter gesehen worden seien. Dass in Barth die Tiere unruhig geworden seien. Dass ein Seemann in einem Wirtshaus geschworen habe, er kenne diese Lichter, und dass man ihn ausgelacht habe, weil er immer schwört. Hans las nicht. Er sah auf Hände und Holz und hielt die Kanten bündig.
Als die Sonne sich neigte, liefen die Schatten wieder dorthin, wo sie zu Hause sind. Der Rat schloss die Sitzung, ohne das Geschehen benannt zu haben, der Prediger schloss die Kirche, ohne den Himmel in die Predigt gezwungen zu haben, und am Kai schlossen die Händler ihre Kisten, als könnte man mit Holz und Eisen das Staunen einsperren. In der Luft lag eine Müdigkeit, die nicht vom Tun kam, sondern vom Denken, das zu viel getan hatte.
Hans blieb einen Augenblick am Wasser stehen, länger als ein Mann, der keine Zeit hat, stehen bleiben darf.
Auf der glatten Fläche lief eine feine Falte, als wäre weit draußen etwas Kleines gefallen. Kein Boot hatte diese Falte gemacht. Kein Wind. Er hob den Kopf, sah hinauf, sah nichts als Abend. Er senkte den Blick, sah in die Tiefe, sah nur seine Spiegelung, die nicht fragte.
Hinter ihm rief der Meister, und der Ruf war ein Netz, das ihn an Land hielt.
In einer Kammer hinter einer anderen Werkstatt, in einem Haus, in dem die Stadt sich selten umsah, bereitete jemand eine Schale vor, stellte Tücher zusammen, legte Dinge zurecht, die nach nichts aussahen, und tat dies, ohne zu wissen, wozu. An einem anderen Ort, nicht weit und doch in einer Entfernung, die nicht in Schritten zu messen ist, glomm etwas in einer Tiefe, die kein Mensch taucht, und blieb still. Der Tag schloss die Augen in dem Glauben, er habe nichts vergessen. Die Nacht öffnete sie, als wollte sie etwas holen, das ihr am Vortag entgleitet war.
Spät, als der Wind drehte und vom Land her kam, zog über dem Hafen eine Lautlosigkeit auf, die nicht leer war, sondern besonnen. Hans lag auf seiner Pritsche, ohne zu schlafen, und hörte die Stadt atmen, dieses alte, unaufgeregte Holen und Lassen, das Häuser zu Häusern macht. In dieses Atmen mischte sich, so schwach, dass man es auch für ein Bild hätte halten können, ein Ton, der keiner war, sondern ein Drücken auf die Brust von innen, eine Erinnerung an den gestrigen Himmel. Er setzte sich auf, hielt die Hände offen in der Dunkelheit, als könnten sie etwas fangen, das durch die Ritzen ging, und blieb so, bis die Glocke die erste Nachtstunde nahm.
Draußen, dort wo der Kai ein Ende hat und das Schilf beginnt, stand jemand, den niemand bestellt hatte. Er stand so, dass sein Schatten keinen Grund fand und seine Augen keinen Halt. Er sah, wie das Wasser an einer Stelle ruhiger wurde, als sei darunter eine Hand, die es glättet. Er machte einen Schritt vor und dann doch zurück, als hätten die Bretter seines Lebens noch nicht entschieden, ob sie ihn tragen wollen. Und irgendwo auf der Platte eines Kupferstechers trocknete eine Tinte, die ein Himmel sein wollte, und darunter eine Stadt, die es war.