Das Steinfeld - Thomas Reich - E-Book

Das Steinfeld E-Book

Thomas Reich

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Beschreibung

Als die Kinder die Steine verrücken, ahnen sie nicht die Konsequenzen. Unwissentlich haben sie die geheimnisvolle Kraft des Steinfelds erweckt. Karlheinz fürchtet sich, denselben Fehler zu begehen wie damals. Als Onulf der Hohepriester das kleine Dorf Argenau um Fingersbreite vor einer Katastrophe bewahrte. Linien brechen auf, Zeiten verschwimmen. Erinnert er sich rechtzeitig, wie sie einst den Dämon bezwungen? IM INNEREN KREIS Erneutes FLACKERN, dieses Mal so durchdringend, dass es die dünne Haut der Realität nicht nur ablöste, sondern in Fetzen riss. Rainer schrie, als er zum ersten Mal Onulfs Stimme hörte. Und das schlimmste war, dass sie in ihrer Färbung und Lautstärke Karlheinz so ähnlich war. Warum auch nicht? In diesem Moment hätte man beide austauschen können, so dicht waren die sublimen Unterschiede unter die Erde gerutscht. Die Bahnhofskneipe war verschwunden. In einer langen Reihe roher Fichtendielen standen metallene Becher, angelaufen vom Dunst der Tavernen. Unter ihnen ein Boden aus gestampfter Erde, gut geölt. Wenn Rainer den Kopf schräg hielt, konnte er die Luft wabern sehen. Den Fliesenboden. Den Stammtischaschenbecher. Die auf den Kopf gestellte Flasche Asbach, in ihrem Spender. Onulf hatte es auf einen Showdown angelegt, wie Karlheinz ihn vielleicht aus den Westernfilmen kannte, die Sonntagmorgen immer im Fernsehen liefen. Lieh seinen früheren ich seine Erfahrungen, sein Wissen. Ihre beiden Körper verschmolzen an der Stelle, wo es ihre Seele bereits war. Rugan stand so sicher auf den Beinen, wie Rafael es nie vermocht hätte. "Wie hast du mich genannt?" "Bei dem Namen, den dein Vater dir gegeben hat. Und nun verschwende nicht unsere Zeit! Wenn ich die Zeichen gesehen habe, dann auch du. Oder zählst du dich neuerdings den Blinden zu?" Flackern, und die Welt kam mit einem atemberaubenden Flügelschlag wieder zurück. Rafael musterte ihn sehr, sehr lange. "Ihr steckt tiefer in der Scheiße, als ihr ahnt." "Dann hast du die Lichter am Himmel gesehen?" "Bei meiner Seel, das habe ich. Verzeih mir, wenn ich dich in der Hülle des Kindes gesehen habe." "Dieses eine Mal sei es dir gewährt. Doch vergiss niemals, wer du einmal warst. Ein Priester des Steinkreises. Du trägst nicht weniger Verantwortung als ich." "Ich versuche dir zu dienen, so gut ich kann." Rainer, der mit offenem Mund dastand, erkannte seinen Freund nicht wieder. Wenn je ein Zweifel bestanden hatte, war dieser ausgeräumt. Karlheinz konnte all dies weder erträumen noch wissen. "Dann verrate mir, wie wir damals den Kreis geschlossen haben."

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Thomas Reich

Das Steinfeld

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Das Steinfeld

Das Steinfeld

 

 

 

 

 

Thomas Reich

Text Copyright © 2010 Thomas Reich

Alle Rechte vorbehalten.

 

Cover © https://www.flickr.com/photos/number7cloud/29826606653/ mit Änderungen

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

Über das Buch:

 

Als die Kinder die Steine verrücken, ahnen sie nicht die Konsequenzen. Unwissentlich haben sie die geheimnisvolle Kraft des Steinfelds erweckt. Karlheinz fürchtet sich, denselben Fehler zu begehen wie damals. Als Onulf der Hohepriester das kleine Dorf Argenau um Fingersbreite vor einer Katastrophe bewahrte. Linien brechen auf, Zeiten verschwimmen. Erinnert er sich rechtzeitig, wie sie einst den Dämon bezwungen?

Heiligabend, in der Gegenwart

„Gibst du mir mal die roten Kugeln?“

„Tut mir Leid, ich kann sie nicht finden.“

„Hast du schon unter dem Couchtisch gesucht?“

Eifrig krabbelte das kleine Mädchen unter die festlich geschmückte Tischdecke. Gisela und Karlheinz hatten beschlossen, ihre Nichte an diesem Weihnachten zu sich zu nehmen. Die Kleine vermisste ihre Mutter, mit der sie bisher jedes Fest zusammen verbracht hatte. Aber Giselas jüngste Schwester lag im Kreisklinikum mit einer akuten Blinddarmentzündung. Wie um seine Sorgen wieder auf dieses Thema zu lenken, sprach Jasmin das Thema an.

„Glaubst du, meine Mutter kommt durch?“

„Selbstverständlich! Ein Blinddarm ist heutzutage reine Routine. Außerdem arbeitet dort ein ganzes Team erfahrener Ärzte.“

„Dann bin ich ja beruhigt.“

Ein dunkler Schatten lag über ihrem Weihnachtsfest. Da war Corinnas Krankheit. Und die Frage, warum er und Gisela nie eigene Kinder bekommen hatten. Dabei hatte er es ihr verschwiegen. Dass er sich sterilisieren hatte lassen. Ob sie ihn verlassen hätte, wenn er es ihr erzählte? Er wusste es nicht. Irgendwie schien ihm dieser Schritt richtig zu sein. Bei all den schrecklichen Dingen, die Kindern zustoßen konnten, war es vernünftig, keine in die Welt zu setzen. Er hätte es nicht übers Herz gebracht.

Woher aber kam diese innere Stimme, die ihm zur Vasektomie geraten hatte? Jedes Mal, wenn er ihr nachfolgte, prallte er gegen eine solide Mauer aus grauen Ziegeln, die er nicht überwinden konnte. Eine Barriere in seinem Verstand.

„Kann ich dir das Lametta reichen?“

„Nein, lieber die Fertiggirlande.“

„Lametta sieht aber besser aus.“

„Macht auch mehr Arbeit zum Rausklauben nach den Feiertagen. Tante Gisela war dagegen.“ „Schade.“

„Fast hätte ich es vergessen. Da müsste ein vergilbter Karton liegen, den brauche ich auch noch.“

„Was sind denn das für Kugeln?“

„Die stammen von deinem Urgroßvater Eberhard.“

„Kenne ich nicht.“

„Das war auch vor deiner Zeit. Wenn du ein braves Mädchen bist, können sie eines Tages einmal dir gehören.“

„Ich werde vorsichtig mit ihnen umgehen. Besonders mit ihrer bunten Innenseite.“

Während er konzentriert mit seiner Nichte an der Dekoration der Nordmanntanne arbeitete, zog der würzige Duft von Kasseler und Kartoffelsalat ins Wohnzimmer. Gisela klapperte mal wieder mit den Tellern, als gäbe es keine Andacht. Karlheinz Magen reagierte knurrend auf die Geräusche in der Küche. Jasmin faltete das mürbe Butterbrotpapier zusammen, das Eberhards Christbaumkugeln als schützende Hülle gedient hatte. Billiger Zierrat vom Jahrmarkt. Ihr Wert wurde hauptsächlich durch den sentimentalen Grad bestimmt. Was allerdings nie an einem ihrer Weihnachtsfeste zu hängen kommen würde, waren die Hakenkreuzanhänger aus mattpoliertem Kruppstahl, die Eberhard wohl besonders witzig gefunden hatte. Es gab Aspekte in der Geschichte einer Familie, die verdrängte man besser.

„Essen ist fertig!“

Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Den großen Stern konnten sie auch später noch aufsetzen. Ehrlicher Hände Arbeit machte hungrig. Für Karlheinz war jedes Weihnachtsfest eine Offenbarung, konnte er sich doch selbst kaum an die Tage in seinem Elternhaus erinnern. Verschwommene Aufnahmen auf VHS, die seinen Vater in der Rolle des Weihnachtsmanns zeigten. Er konnte sich genau so lange erinnern, wie diese Dokumente zurückreichten. Von der panischen Angst beschlichen, nichts von Dauer in den Händen halten zu können, war ein begeisterter Hobbyfilmer aus ihm geworden. Letztes Jahr hatte er alle VHS-Kassetten per Grabber digitalisiert. Es würde der Tag kommen, wo all seine gesammelten Erinnerungen keinen Pfifferling mehr wert waren, weil kein Abspielgerät mehr existierte, das sie wiedergeben konnte. Also baute er vor, konvertierte jedes Jahrzehnt in ein neues Format, um sie nicht zu verlieren. Die Technik war der Menschheit Fluch und Segen zugleich. Kamen die Neandertaler noch mit Steinschriften aus, die Ägypter mit Papyrusrollen, so waren sie mit der Vergänglichkeit der neuen Medien geschlagen. Tausende von Jahren widmeten die Bibliophilen dem Stein. Wieder tausende von Jahren, auf Papier, das in der Sonne zerfiel. Tinte, die sich zersetzte. Erst im letzten Jahrhundert wurde eine neue Revolution eingeleitet, die die Geschwindigkeit des Zerfalls noch weiter beschleunigte. Karlheinz konnte nur darauf bauen, dass sein Leben nicht lange genug andauern würde, um die Rückkehr zu den Steinen zu erleben.

„Musst du denn immer die Kamera draufhalten?“

„Es ist Weihnachten, was erwartest du?“

„Das du die Kamera wenigstens eine Minute weglegst.“

„Na schön.“

Karlheinz war nicht wirklich gewillt, die Kamera aufzugeben. Daher schnallte er sie auf das Standobjektiv. Die Kamera blieb also dezent im Hintergrund, hielt aber weiterhin drauf, während sie sich Kartoffelsalat aufschöpften.

*

Die Teller waren abgeräumt, die Spülmaschine füllte den Raum mit geschäftigem Brummen. Gisela schickte sich an, die Stube abzudunkeln und sie beide in den Garagenvorhof zu schicken.

„Sonst kommt das Christkind nicht zu Besuch.“

„Ach, Gisela…“

Doch in dieser Hinsicht duldete seine Frau kein Pardon. Jasmins Glaube an das Christkind war seit Langem ins Wanken geraten. Etwa um die gleiche Zeit herum, als ihre Mutter sich scheiden ließ. Auch wenn es die Erwachsenen im Allgemeinen nicht wahrhaben wollten, war sie für ihr Alter reifer, als ihr gut tat. So unglaublich ernst. Als ob sie begriffen hatte, dass ihre Kindheit zu Ende war. Gisela versuchte, ein wenig Normalität in ihr Leben zu bringen. Damit sie darüber hinwegkam.

Sie schickte Karlheinz und Jasmin vor die Tür, während sie die Geschenke kunstvoll unter dem Baum drapierte. Karlheinz bibberte in der Kälte. Warum hatte er keine Jacke übergezogen? Weil er damit gerechnet hatte, dass Gisela die Lüge des Christkinds schneller von den Lippen ging. Jasmin tat so, als suchte ihr Blick den Schlitten des Weihnachtsmanns am Himmel. Entweder aus alter Gewohnheit, oder um ihrem Onkel einen Gefallen zu tun. Sie hatte ihm ihr Gesicht abgewandt, wartend. Wie eine Sirene, die mit ihrer unheimlichen Botschaft hinter dem Berg hielt, bis der rechte Zeitpunkt gekommen war. Ein unheimlicher Gedanke, während schneidender Wind um die Häuserkante pfiff. Karlheinz versuchte, ihn vehement abzuschütteln. Sie war nur ein kleines Mädchen, nichts weiter. Noch dazu seine Nichte. Was sollte sie ihm da schon Böses wollen?

Endlich klingelte das silberne Glöckchen, erklärtes Signal für sie beide, dass die Bescherung begonnen hatte. Karlheinz wurde sich der Doppeldeutigkeit des Wortes klar, bevor ihn die trockene Heizungsluft wie eine warme Dusche empfing. Bescherung: Siehe auch Eintreffen eines Unglücks.

*

All die Mühen, die sie beim Schmücken des Baums auf sich genommen hatten, waren es eindeutig wert gewesen. Auch Gisela lobte die beiden. Im Hintergrund lief Zarah Leander, eine alte Schallplatte aus Schellack, die sie von Giselas Großtante geerbt hatten. Ein bisschen zu dramatisch, aber es war eben Familientradition. Was einem Außenstehenden eher die Nasenhaare aufgerollt hätte, galt ihnen als völlig normal. Unter dem Baum waren drei Haufen aufgeschichtet wie heidnische Grabmale. In Giselas ordnungsliebender Manier allesamt mit Namenskärtchen beschriftet. Wie… aber da war sie wieder, die graue Steinmauer in seinem Kopf. Sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. So lästig wie essentiell.

Ihrer beiden Geschenke enthielten wenig Überraschungspotential. Sie waren sich über so viele Jahre vertraut, miteinander verwachsen wie die Wurzeln eines alten Baumes, dass ihnen nichts mehr zu schenken einfiel. Flache Umschläge verhießen Gutscheine, bei Gisela für den Friseur, bei Karlheinz für den lokalen Baumarkt. Wenn sie besonders originell sein wollten, wurde es ein Set bunter Badekugeln für die Dame, ein Schnickschnack von Mediamarkt für den Herrn. Doch dazu kam es selten. Meistens wiegten sie sich in der Sicherheit unproblematischer Geschenke, mit denen man nichts falsch machen konnte. So auch dieses Jahr. Auch wenn voluminöse Päckchen auf lang überlegte Ideen schließen ließen, verriet ihr geringes Gewicht doch ihren eigentlichen Inhalt. Voller Neugier widmeten sie sich also den Geschenken, die ihre Nichte für sie bereithielt. Gisela dankte ihr für die Brosche, die eine Katze mit einem Wollknäuel darstellte. Neugierig fummelte Karlheinz an den Tesastreifen, die sein Päckchen zusammenhielten.

„Schwer, nicht wahr?“

Dann fiel das Papier zu Boden, und alle Farbe wich aus Karlheinz Gesicht. Es war der Runenstein, ohne Zweifel. Sein Muster aus in sich verschlungen Linien und Kreisen erkannte er unter allen möglichen Exponaten wieder. Nach all den Jahren war er zurückgekehrt, um sein grausiges Werk zu vollenden.

„Woher hast du das?“

„Gefunden.“

„Und wo hast du es gefunden?“

Seine Hand schloss sich so hart um ihren Oberarm, dass ihr das Blut in die abgeschnürte Hand schoss. Karlheinz Knöchel hingegen waren so weiß wie sein Gesicht.

„Ich habe es im Wald gefunden.“

„Karlheinz, du tust ihr weh!“

„Entschuldige.“

„Was ist nur in dich gefahren?“

Karlheinz spürte, wie die graue Steinmauer in seinem Verstand erbebte. Etwas Gewaltiges versuchte, sich seinen Weg auf die andere Seite zu bahnen. Mit einem Mal erkannte er den Segen, sich an nichts erinnern zu können. Gleich einem Baby, dessen Mutter es mit einem Wiegenlied in den Schlaf lullte. Er rang um Fassung; und versuchte dabei, sich so wenig wie möglich anmerken zu lassen.

„Nichts. Muss wohl schlecht geschlafen haben.“

Karlheinz gab seiner Nichte einen dicken Schmatzer auf die Stirn, und ihre kleine heile Welt war wieder in Ordnung. Zumindest dem äußeren Schein nach. Nichts war derzeit wichtiger als der äußere Schein. Nicht die Lichterkette am Baum, nicht Giselas Kartoffelsalat nach altem Geheimrezept, nicht die traute Geborgenheit, die ihre Familie bis zu diesem Tag gekannt hatte. Karlheinz schenkte sich und seiner Frau ein Glas Perlwein ein, Anstoßen auf Jahrzehnte einer Ehe, und doch kannte sie ihn kaum. Wie denn auch? Wenn er selbst so wenig von sich wusste. In seinem Verstand brachen die ersten Steine aus der Mauer, gingen krachend zu Boden und hinterließen eine kleine Wolke aus Staub und Schutt. Erinnerungen kehrten zurück wie Polaroidaufnahmen, blitzten vor seinen Augen, dass er für Augenblicke blind wurde, geblendet von ihrer bestechenden Klarheit. Als der Moment für Jasmin gekommen war, zu Bett zu gehen, hätte er fast vor Erleichterung aufgestöhnt. Er wollte für sich alleine sein. Verdammt, er musste es sogar! Sonst würde er den Verstand verlieren.

„Kommst du auch ins Bett?“

„Nein danke, ich ziehe mich noch ein wenig ins Arbeitszimmer zurück.“

„Der Nikolaus hat ein Geschenk unter den Laken versteckt, das nur du auspacken darfst.“

„Ist nett gemeint, aber ein ander Mal.“

Karlheinz gab seiner Frau einen Gutenachtkuss direkt auf die Nase, wie er es seit Teenagerzeiten nicht mehr gemacht hatte.

„Wirklich schade. Ist schon wieder geraume Zeit her. Dachte, heute wäre ein passender Anlass.“

„Ich liebe dich, mein Schatz.“

Seine Frau war verwirrt. Das hatte er lange nicht mehr zu ihr gesagt. Und selbstlos, ohne Aufforderung schon gar nicht. Weil sie sich ihrer Gefühle so sicher waren, dass sie sich ihrer nicht mehr versichern brauchten.

*

Der Hobbyraum lag im Erdgeschoss und diente Karlheinz als Spielzimmer. Jedenfalls war das der abschätzige Ausdruck, den seine Frau dafür übrig hatte. Es hatte Zeiten gegeben, da galt es als mögliches Kinderzimmer. Damals waren sie ein junges Paar voller Hoffnungen gewesen, das sein erstes eigenes Heim bezog. In den folgenden Jahren wurden mehrere Möglichkeiten für die Nutzung des ansonsten überflüssigen Raumes diskutiert. Gisela schlug vor, es solle ein Gästezimmer werden. Er plädierte für einen Partykeller, mit angeschlossener Bar und Tischbillard. So als wollte er an alte Zeiten anknüpfen, bevor all seine Freunde verheiratet waren. Als sie die Nächte durchmachten und das Leben selbst eine einzige Party zu sein schien. Wem machte er etwas vor? Sie trugen die ersten Falten mit der unsicheren Würde eines Klosterschülers, und bei einigen lichtete sich der Haarschopf erheblich. Man fand immer weniger Zeit zueinander. Die Frau. Die Kinder. Die Karriere. Verpflichtungen, denen man sich beugen musste.

Am Ende einigten sie sich auf einen Kompromiss. Karlheinz große Bahnanlage von Märklin dominierte zwar den Raum, aber gleichzeitig musste sie auch einer Wand für ein ausklappbares Schlafsofa Platz machen. Nicht, das dieses wirklich genutzt wurde. Jasmin schlief im ausgebauten Dachstock wie so viele andere Besucher zuvor. Weil es dort oben geräumiger war. Und auch gemütlicher. Karlheinz hatte in unseliger Nachtarbeit zusätzliche Wasserrohre verlegt, Stromkabel gezogen und Paneele verkleidet. Schließlich war der Dachstock eine kleine Wohnung innerhalb der Wohnung geworden, inklusive Dusche und allem weltlichen Komfort. Die Sache hatte nur einen Haken: Keinen separaten Eingang. Sonst hätten sie ohne zu zögern untervermieten können. Mehrfach wurde diese Möglichkeit ausdiskutiert, und schließlich doch verworfen. Der Aufwand rechtfertigte nicht die Kosten. In Wahrheit scheute Karlheinz sich vor dem Papierkrieg der Behörden, den eine solche bauliche Maßnahme nach sich gezogen hätte. Außerdem war er der Ansicht, dass ein Treppengeländer die Außenfassade unwiderruflich verschandelt hätte.

So standen am heutigen Tag der große Resopaltisch, der von grünen Kunststofflocken überzogen wurde, das Sofa, ein Schreibtisch und die Überreste eines Jugendzimmers, das ihr Nachbar auf den Sperrmüll werfen wollte, und seinen Weg in ihr Arbeitszimmer gefunden hatte. Als Stauraum waren sie genauso gut wie jede andere Möglichkeit auch. Einer der Schränke diente ihm als private Hausbar. Seine Frau tat so, als ob sie nichts davon wusste, und er tat sein Möglichstes, diese Möglichkeit der Entspannung nicht über die Maßen auszunutzen. Nun suchte er zwischen den Flaschen nach dem Kräutergeist, der von der letzten Betriebsfeier übrig geblieben war. Bislang hatte er ihn nur gelegentlich als Verdauungsschnaps eingesetzt, wenn Gisela wieder ihre Schweinshaxe mit krosser Kruste machte.

Karlheinz füllte ein großes Trinkglas randvoll, und leerte es in einem Rutsch. Wie ein Güterzug raste die brennende Flüssigkeit seine Kehle hinunter, füllte ihm den Rachen mit einem grünen Geschmack und hinterließ ein wohliges Feuer in seiner Magengrube. Wie ein stummer Beobachter lag der Runenstein auf seinem Schreibtisch. Schien ihn zu verspotten. Ich war schon da, bevor du in deine ersten Windeln geschissen hast. Was also willst du gegen mich unternehmen?

Der Kreis öffnet sich

Um das Spiel spannend zu machen, gab es zwei Räuber auf einen Gendarmen. Damit bestand allerdings die Gefahr, dass das Böse die Oberhand gewann. Karlheinz schlich mit seinem Holzschwert durch das Unterholz. Mit der freien Hand verscheuchte er ein paar gierige Mücken. Ein einzelner Spatz zog wütend tschilpend durch die Baumkronen. Genervt verfolgte Karlheinz seine Flugbahn. Für einen Moment war er unachtsam gewesen. Zu spät hatte er das Knacken kleiner Zweige vernommen, die vom Moos gedämpft wurden. Er sollte sie auch nicht hören. Als er sich umdrehte, sah er Bärbel und Rainer auf ihn zustürmen. Sie hatten zum Angriff geblasen. Wenn er nicht gefangen und an den Marterpfahl gebunden werden wollte, musste er die Beine in die Hand nehmen.

„Geronimo!“

Den Fluchtweg in den sicheren Wald hatten sie ihm abgeschnitten. Vor ihm lag die Lichtung mit den großen Steinen. Die Steine waren tückisch. Er musste aufpassen, dass er sich im Rennen nicht das Schienbein stieß. Er lockte seine Freunde in ein Labyrinth, dessen Gefahr nicht in seiner Unübersichtlichkeit bestand, sondern in der Gefahr der Selbstüberschätzung. Denn die Steine waren gerade hoch genug, um einen nicht zu verbergen, aber flach genug, dass man sie in der Eile übersehen konnte, und sich schwer verletzte.

„Bleib stehen du Lump, wir kriegen dich!“

Karlheinz wand sich an der anderen Seite des Steinkreises heraus wie eine Schlange. Ließ seine Freunde hinter sich zurück. Fast glaubte er, das Spiel gewonnen zu haben, da rannte er frontal gegen einen Baum. Er hatte sich nur kurz umgedreht, um ihren Abstand einzuschätzen. Nun tanzten Sterne vor seinen Augen, und er blutete aus einer kleinen Schürfwunde auf der Stirn. Bärbel half ihm vom Boden auf, der Blick voller Sorge.

„Hast du dir auch nichts getan?“

„Was soll er schon haben, die Heulsuse. Verloren hat er.“

„Sei nicht so grob. Er blutet!“

„Dann lass uns ins Baumhaus zurückkehren.“

*

Das Baumhaus war eine späte Zuflucht. Davor hatte es die Scheune gegeben, abseits des großen Feldes. Eigentlich nur zu erreichen über einen halbverwilderten Waldweg, von jedem Förster oder Bauer aufgegeben. Eine Außenwand war vor langer Zeit eingestürzt. Ich mal das Haus vom Nikolaus.Mit drei Wänden, und einem Dach. Morsche Latten, die den Blick zum Himmel freigaben. Jedem Erwachsenen wäre das Herz in die Hose gefahren, wenn er sie dort entdeckt hätte. Aber die Scheune war ihnen lieber als jedes Klettergerüst. Sie liebten das Abenteuer, spielten Jonas, der vom großen Wal verschluckt wurde. Und das Leben verschluckte sie wie einen Teller frisch geschossener Tauben, die einem Feinschmecker zu Tische getragen wurden. Unsichtbar für den Dunstkreis der Erwachsenen, der sich um seine eigenen Belange scherte.

Auf Bollerwägen schleppten sie alles daher, was sie zum Spielen brauchten. Seile und Decken. Holzschwerter. Alte Matratzen vom Sperrmüll, aus denen sie eine Art Sitzecke bastelten. Die Matratzen waren durchgelegen und muffig, aber für ihre Zwecke taten sie es. Mit Hilfe von Seilen, die sie über einen Balken warfen, gelangten sie in den zweiten Stock. Unten hatten sie Stroh aufgeschichtet, das ihrem alltäglichen Sprungwettbewerb diente. Als könnten sie nur in der Höhe ihre Freiheit ahnen. Entgegen aller Geschlechterrollen war es vor allem Bärbel, die sich hier besonders hervortat. Majestätisch breitete sie die Arme aus, dass man einen Adler glauben mochte, der sich in den Himmel aufschwingt, oder einen anderen Raubvogel. Auch am Boden zeigte sie eine Grazie, die die Jungs zwar zu kopieren versuchten, aber nie erreichten. Was sie einte war das unglaubliche Gefühl, wenn sie wie Seiltänzer die Balken abschritten, die einst einen Boden getragen haben mochten, und die ganze Scheune schwankte wie ein Schiff auf hoher See.

Oft waren sie in den nahen Bäumen, die wie Trauben dem Boden entgegen wucherten und die herrlichsten wilden Kirchen trugen. Alles in allem war es eine schöne Zeit, auch wenn es die ganze Zeit dem Tanz auf dem heißen Vulkan glich. Und es brauchte auch nicht mehr als eine gewittrige Nacht, um ihre Träume wegzuwischen. Denn eines Morgens, als sie voller Tatendrang aus dem Haus zogen, fanden sie nur noch die Trümmer ihrer Existenz vor.

„Ich glaube, ich habe es diese Nacht gehört. Wie sie zusammengekracht ist, meine ich.“

„So eine Scheiße. Und wo spielen wir jetzt?“

„Kommt, lasst uns wenigstens die Trümmer durchsuchen, ob es noch etwas zu retten gibt.“

Zu allem Übel waren viele der großen Bauteile heil geblieben, so dass sie zu zweit oder zu dritt anpacken mussten, um das freizulegen, was darunter lag. Wie durch ein Wunder war ihr UKW-Radio nahezu unbeschädigt geblieben, wenn auch das Gehäuse einen Sprung hatte. Solange es noch spielte, konnte ein Tesafilm gerne für Abhilfe sorgen. Was sie nicht befreien konnten, waren die Matratzen, die steckten zu tief im Schutt fest. Mit allen Kräften schafften sie nicht mehr als einen Zipfel abzureißen, der sie mit Schwung auf den Hosenboden setzte. Staub wirbelte auf und kitzelte sie in den Nasenhöhlen, brachte sie zum Niesen. Frustriert ließen sie sie an Ort und Stelle. Sollten sie doch im aufkeimenden Regen verrotten!

„Und wohin nun mit all dem Plunder?“

„Wir brauchen einen neuen Unterschlupf.“

„Lasst es uns erstmal zum Forststand schleppen. Darunter ist es wenigstens vor Regen geschützt.“

„Und dann?“