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Sechs Märchen und Geschichten aus der Mongolei, fünf Geschichten aus der Nachbarschaft und ein Theaterstück über die Nöte eines Zwölfjährigen, geschrieben für Kinder ab neun Jahren, ihre Eltern und Großeltern.
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Seitenzahl: 74
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Kurt David
Das weiße Pony
Märchen und Geschichten von nah und fern
ISBN 978-3-96521-864-2 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1989 in Der Kinderbuchverlag Berlin.
Für Leser von 9 Jahren an.
© 2023 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Es war einmal ein Riesenvogel, der Khan Gardi hieß, also König der Vögel genannt wurde, und über alle Vögel der Erde mit Strenge herrschte. Noch heut erzählt man in den mongolischen Bergen, er sei grausam und unbarmherzig gewesen.
Eines Tages ließ Gardi die Wespe zu sich kommen und befahl ihr: „Flieg sofort zur Erde hinab und koste von dem Blut jedes Lebewesens. Ich will wissen, welches Blut das süßeste ist!“ Während die Wespe schon aufgeregt zu summen anfing und wie wild hin und her flog, rief Gardi ihr noch zu: „Hüte dich aber, jemandem zu sagen, wer dich geschickt hat und warum du geschickt wurdest!“
Die Wespe versprach’s eilig, flog davon und freute sich sehr, dass ausgerechnet sie von Khan Gardi erwählt worden war, von allen Lebewesen dieser Erde das Blut kosten zu dürfen.
Zunächst begab sie sich nach Afrika, weil es dort schön heiß war, danach suchte sie Südasien und Amerika heim, verschonte auch nicht Australien. Obgleich sie inzwischen längst herausgefunden hatte, wessen Blut am süßesten schmeckte, flog sie, um den König aller Vögel nicht zu verärgern, auch zum kalten Norden hinauf. Vielleicht lebte dort ein Lebewesen, dessen Blut noch süßer als süß war? Da das nicht der Fall war, trat die Wespe sehr bald den Heimflug an, um Khan Gardi das Ergebnis zu melden.
Unterwegs begegnete ihr eine Schwalbe, die neugierig neben ihr herflatterte und freundlich fragte: „Woher kommst du, wohin fliegst du?“
Die Wespe schwieg ängstlich, freilich nicht lange; denn die Schwalbe bedrängte sie immer wieder mit der Frage nach dem Woher und Wohin.
„Und wenn ich’s nicht verraten darf?“
„Dann muss es etwas Schlimmes sein, etwas Schlechtes, und es ist besser, ich fresse dich gleich auf!“, sagte die Schwalbe, umschwirrte die Wespe, die zitternd hervorstieß: „Khan Gardi hat mich zur Erde gesandt!“
„Dacht ich mir’s doch! Und warum?“
„Ich sollte herausfinden, wessen Blut das süßeste ist!“
„Und hast du es herausgefunden?“, bohrte die Schwalbe weiter.
„Nichts einfacher als das: Schließlich habe ich von jedem Lebewesen gekostet.“
Obwohl die Schwalbe bereits ahnte, wessen Blut das süßeste wäre, fragte sie: „Und welches war es?“
„Das des Menschen“, antwortete die Wespe, worauf die Schwalbe sich, ohne zu zögern, auf die Wespe stürzte und ihr die Zunge ausriss, weil sie voraussah, welches Missgeschick den Menschen drohte.
Sodann flogen die beiden gemeinsam zu Khan Gardi. Als die Wespe später den strengen und unbarmherzigen König der Vögel nur summend umkreiste, weil sie nicht mehr sprechen konnte, wurde Gardi äußerst böse und fragte die Schwalbe: „Weißt du denn, was sie andauernd sagt?“
„Natürlich weiß ich das“, erwiderte die Schwalbe. „Sie meldet dir, mein König, dass das Blut der Schlange am allersüßesten schmeckt!“
Seitdem hat Khan Gardi immer eine Schlange im Schnabel, auf Bildern und in den Geschichten der Vorzeit. Die Schwalbe hingegen wurde der Lieblingsvogel der Menschen. Wo sie ihr Nest baut, zieht das Glück ein, sagt man noch heut in den mongolischen Bergen und Steppen.
Sucho, ein mongolischer Hirtenjunge, verlor seine Eltern sehr früh und lebte in einer Filzjurte am Orchon-Fluss mit seiner Großmutter zusammen. Ihre kleine Herde, sechs oder sieben Schafe sollen es gewesen sein, führte er täglich bei Sonnenaufgang hinaus in das Tal zwischen zwei Bergen. Dort war das Gras saftig und frisch, das Flusswasser klar und kühl. Und da Sucho mit sich zufrieden war wie die Schafe mit ihrer Weide, sang er, sang immer gern und hatte eine solch kräftige Stimme, dass sie die Leute selbst in abgelegenen Jurten vernahmen und sich daran erfreuten. Sang er mal geraume Zeit nicht, wussten die Nachbarn, jetzt knabbert er an dem Täfelchen getrockneten Quarks, das ihm die Großmutter für den Tag mitgegeben hatte. Bei Sonnenuntergang führte er die Schafe am Flussufer wieder zurück in den Pferch neben der Jurte, wo sie die Nacht verbrachten.
Eines Abends jedoch kehrte er später als üblich heim, so dass sich die Großmutter schon Sorgen gemacht hatte. Als sie ihn dann mit den Schafen aus dem Tal kommen sah, bemerkte sie, dass Sucho etwas auf seinen Schultern trug. Aber was war das? Die Großmutter erkannte es nicht; denn ihr schien die untergehende Sonne in die Augen, obwohl die nur noch zur Hälfte über den Berg rechts des Flusses guckte und allmählich versank. „Das hat ja Augen!“, rief die Großmutter dem Sucho zu.
„Und vier Beine!“
„Etwa ein Fohlen?“
Sucho nickte mehrmals bedeutungsvoll, lächelte auch und war sehr glücklich über seinen Fund. „Wie tot lag’s im Gras“, erzählte er. „Von der Mutter weit und breit nichts zu sehen.“
„Der Wolf hätte es holen können“, sagte die Großmutter. „Der hätt’s noch oben vom Berg gesehen, wo es doch so weiß wie der Schnee ist!“
Hierauf erwiderte Sucho mit ein wenig stolzer Stimme: „Ich war eben schneller als der Wolf!“
Beide trugen das Fohlen in die Filzjurte und rieben es schnell trocken. Sucho versuchte sogar, es auf die Beine zu stellen, aber es fiel gleich wieder um, weil es erst vor Stunden geboren worden war. Der Hirtenjunge reichte dem „kleinen, armen Ding“, wie es die Großmutter bezeichnete, fette gelbe Schafmilch in einer hölzernen Schale. Nachher legten sie sich links und rechts neben das Tierchen, und alle drei schliefen gut in dieser Nacht. Durch die Luke des Jurtendaches fiel das Licht des Mondes und der Sterne, und von Zeit zu Zeit schrie ein aufgeschreckter Nachtvogel in den Bergen.
Morgens aber war das Pferdchen früher auf den Beinen als die zwei. Steif und ungelenk stand es breitbeinig und etwas schwankend zwischen ihnen und blickte aus großen, dunklen Augen neugierig auf sie herab. Tage später führte es Sucho schon mit den Schafen hinaus in das Tal, wo es umhertollte und prächtig gedieh; denn der Hirtenjunge pflegte es vortrefflich und hätte keinen Tag mehr ohne das weiße Fohlen verbringen mögen.
Als die Zeit nahte, wo es zu einem Pony herangewachsen war, ritt er sich das Pferdchen zu. Das war zwar nicht einfach, aber auch nicht so schwer, wie es ihm Nachbarn vorausgesagt hatten. Vielleicht lag das daran, dass Sucho das Pony so mochte wie das Pony den Sucho. So jagte er die grünen Hänge hinauf und hinunter, durchquerte den Fluss, preschte im Galopp über die Steppe mit den langen Gräsern, so dass die Nachbarn bald neidlos behaupteten, Sucho besäße den schnellsten Renner im Tal der Adler.
Doch dieses Tal der Adler gehörte zum Besitz eines Fürsten, der in einer großen Palastjurte mit goldgedecktem Dach wohnte. Da er selbst gern ritt und Reiterspiele liebte, lud er im Sommer jeden Jahres zu Wettkämpfen ein. Wer wollte, durfte daran teilnehmen, wer nicht wollte oder nicht konnte, weil er kein Pferd besaß, durfte zumindest zuschauen.
Sucho wollte anfangs nicht teilnehmen. Die Großmutter hatte zwar von manchem Fürst bereits erzählt, aber nur von wenigen, unter denen sie nicht gelitten hatte. Doch da waren dann noch die Nachbarn, die den Hirtenjungen drängten, ihm sagten, er habe ganz gewiss die meiste Aussicht, mit seinem weißen Pony das Rennen zu gewinnen. Eine Belohnung vom Fürsten sei ihm dann sicher. Vielleicht schenke der ihm ein Schaf, eine Ziege oder zwei, drei gute Fuchsfelle? Selbst Goldstücke soll er schon einmal dem Sieger zugeworfen haben, schwärmten die Nachbarn. Also gab Sucho nach, wenn auch etwas widerwillig, misstrauisch und argwöhnisch, weil er einen Fürsten noch nie zu Gesicht bekommen hatte und weil ihn die Ungewissheit plagte, wie alles verlaufen würde.
Und es verlief so, dass Sucho große Freude empfand, zumindest anfangs, während des Rennens, weil es ihm Spaß bereitete, sich im Wettkampf mit den vielen anderen messen zu können.
Sucho siegte mit seinem Pony, und der Fürst, ebenfalls erfreut über das schnelle Pferd, aber nicht so neidlos wie Suchos Jurtennachbarn, rief ihn, den Sieger, zur Tribüne und fragte freundlich, wo er es gekauft habe und wie der Händler hieße, wie hoch der Preis gewesen wäre.
„Das hat mich gar nichts gekostet“, erzählte der Hirtenjunge. „Im Steppengras fand ich’s, draußen im Tal der Adler. Es war erst Stunden alt und ohne Mutter.“
„Der Wolf hätte es holen können“, antwortete der Fürst, wie die Großmutter. „Ich lobe dich, weil du schneller als der Wolf warst. Und du hast es aufgezogen?“
Sucho nickte.
„Und zugeritten?“
„Ja, und das war gar nicht schwer!“
Der Fürst lachte, und seine Diener um ihn lachten auch. „Ein schnelles Pferd. Ich möchte es besitzen. Gibst du es mir?“
„Nein!“ Sucho war so erschrocken, dass er sein Nein entschlossen geschrien hatte.
„Ich will es nicht umsonst“, sagte der Fürst sanft, und die Leute auf der Tribüne lachten erneut, wobei nicht so leicht herauszufinden war, worüber sie lachten; über das Nein des Hirtenjungen? Oder weil sie wussten, ihr Fürst würde es sich sowieso nehmen können, wenn er wollte? „Ich gebe dir drei Goldstücke für das weiße Pony. Das ist ein ehrlicher Handel!“
Statt sich der geöffneten Fürstenhand zu nähern, wich Sucho einige Schritte zurück.
„Wie wär’s mit vier? Na?“
„Nein!“
„Für vier Goldstücke kannst du dir drei Pferde kaufen“, brüllte einer von der Tribüne herab. „Drei!“ Er spreizte drei Finger, als wollte er Sucho bedeuten, wie viel drei seien.
„Ich bin zu einem Wettkampf gekommen und nicht zu einem Pferdehandel.“