1,99 €
Der Bergdoktor findet keine Worte. Wie soll er Anna und Marvin Krummholz nur beibringen, dass ihre gemeinsame Zukunft in Gefahr ist?
Jahrelang hat das junge Ehepaar vergeblich auf Nachwuchs gehofft. Nun scheint ihr größter Wunsch endlich in Erfüllung zu gehen. Doch eine schwere Erkrankung bedroht das Leben der jungen Bäuerin.
Annas Kräfte sind erschöpft. Sie glaubt, dass sie den nächsten Winter nicht mehr erleben wird. Verzweifelt bittet sie Dr. Burger um Hilfe. Sie braucht Zeit, um ihr Kind zur Welt zu bringen. Nur dieser Gedanke hält sie noch aufrecht. Doch keine Therapie schlägt an ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 131
Veröffentlichungsjahr: 2016
Cover
Impressum
Geschenkte Zeit
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Anne von Sarosdy / Bastei Verlag
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-2615-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Geschenkte Zeit
Sie hatte sich schon aufgegeben, da gab Dr. Burger ihr neue Hoffnung
Von Andreas Kufsteiner
Der Bergdoktor findet keine Worte. Wie soll er Anna und Marvin Krummholz nur beibringen, dass ihre gemeinsame Zukunft in Gefahr ist?
Jahrelang hat das junge Ehepaar vergeblich auf Nachwuchs gehofft. Nun scheint ihr größter Wunsch endlich in Erfüllung zu gehen. Doch eine schwere Erkrankung bedroht das Leben der jungen Bäuerin.
Annas Kräfte sind erschöpft. Sie glaubt, dass sie den nächsten Winter nicht mehr erleben wird. Verzweifelt bittet sie Dr. Burger um Hilfe. Sie braucht Zeit, um ihr Kind zur Welt zu bringen. Nur dieser Gedanke hält sie noch aufrecht. Doch keine Therapie schlägt an …
»Ja, ist das denn die Möglichkeit?«
Der Ruf gellte quer durch den Garten und ließ Anna zusammenzucken. Sie blinzelte verwirrt in das Sonnenlicht und brauchte einige Atemzüge, um sich zu orientieren.
Sie war auf der Bank eingeschlafen! Dabei hatte sie die Wäsche aufhängen wollen, damit die Sachen noch etwas von der warmen Frühlingssonne abbekamen. Doch dann war sie plötzlich so müde gewesen, dass sie sich kurz ausruhen wollte.
Sie musste eingenickt sein!
Nun pflügte ihre Schwiegermutter durch die Kräuterbeete heran und stemmte die Hände auf die Hüften. Hedwig bedachte sie mit einem Blick, den sie sonst vermutlich für ein Insekt übrighatte, das auf ihrem selbstgebackenen Kuchen saß.
»Unsereins müht sich ab, und du schläfst am helllichten Tag«, stieß sie vorwurfsvoll hervor. »Schämst du dich gar net?«
»Es tut mir leid. Ich wollte nur eine Pause machen.«
»Ja, so hat das auch ausgesehen.«
»Ich wollte wirklich net schlafen.«
»Hast du aber. Über eine Stunde. Als ich vorhin hergeschaut habe, hast du schon tief und fest geschlafen.« Hedwig schüttelte missbilligend den ergrauten Kopf. »Deine Müdigkeit wäre verständlich, wenn du endlich schwanger wärst, aber so ist es net. Du scheust nur die Arbeit!«
Anna schluckte. Nein, sie war nicht schwanger. Auch in diesem Monat waren Marvin und sie wieder enttäuscht worden. Dabei wünschten sie sich so sehr ein Baby. Sie presste die Lippen so fest zusammen, dass es wehtat.
Ihre Schwiegermutter warf die Hände in die Luft.
»Fünf Jahre Ehe und immer noch kein Nachwuchs! Das ist doch net normal. Wir brauchen einen Erben, der den Hof später weiterführt. Es ist deine Aufgabe, dafür zu sorgen, aber die Jahre ziehen vorbei, ohne dass ich endlich ein Enkelkind bekomme. Wie soll das denn mal weitergehen?«
Anna wollte kontern, dass das nur ihren Mann und sie etwas anging, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihre Kinderlosigkeit war eine Wunde, die in ihrem Herzen schwelte. Sie hätte so gern ein Baby gehabt, und sie wusste, wie sehr sich ihr Mann Kinder wünschte. Am liebsten eine halbe Fußballmannschaft. Aber es passierte einfach nicht.
Ihre Schwiegermutter funkelte sie an. Zu was bist du eigentlich nutze?, schien sie stumm zu fragen.
Und auch auf diese Frage hatte Anna keine Antwort. Sie schlang die Arme um sich selbst und wünschte sich, der Boden würde sich unter ihr auftun und sie verschlingen.
Der Krummholz-Hof lag auf einer Anhöhe über St. Christoph. Er war seit über einhundertfünfzig Jahren im Besitz der Familie ihres Mannes. Sie hatten das Land beackert und sich etwas aufgebaut. Nun ruhte die Zukunft des Hofes auf den Schultern von Marvin und Anna, was ihrer Schwiegermutter gar nicht gefiel.
Hedwig streckte ihre Hände vor. Sie waren rau und schwielig von der Landarbeit – und von den Putzmitteln, mit denen das Melkgeschirr mehrmals täglich gesäubert werden musste, damit die Milch die gesetzlichen Reinheitsvorgaben erfüllte.
»So müssen die Hände einer Bäuerin aussehen«, sagte sie und schaute vielsagend auf Annas Hände hinab, die weich und gepflegt waren und deren Nägel glänzten.
Hedwig hatte die Geschicke des Hofes nach dem frühen Tod ihres Mannes viele Jahre lang allein geleitet. Das hatte sie so hart und unbeugsam gemacht wie die Weiden drunten am Mühlbach, deren verwittertes Holz man zwar biegen, aber nicht brechen konnte.
Das Leben und der raue Wind auf den Feldern hatten Furchen in ihr Gesicht gegraben, und ihr dunkler Haarknoten wurde von grauen Strähnen durchzogen. Sie hatte sich eine weiße Schürze über ihr blaues Frühlingskleid gebunden und trug Gesundheitsschuhe, weil sie oft geschwollene und schmerzende Füße hatte.
Anna fühlte sich unbehaglich unter dem Blick der Schwiegermutter und stand auf. Sie beugte sich über den Wäschekorb, um das erste feuchte Hemd herauszunehmen und aufzuhängen, aber Hedwig drängte sie zur Seite.
»Lass mich das machen. Du hängst die Sachen immer falsch auf die Leine.«
»Falsch? Wie meinst du das?«
»Du hängst die Socken neben die Hemden. Und dann auch noch einzeln. Das geht so net. Es muss alles seine Ordnung haben, aber davon weiß ein verwöhntes Stadtmadel wie du natürlich nichts.«
Anna unterdrückte ein Seufzen. Seit fünf Jahren lebte sie nun hier in den Bergen, aber für ihre Schwiegermutter war sie immer noch die Städterin. Würde Hedwig sie jemals akzeptieren? Es sah nicht so aus.
Anna hätte gern etwas erwidert, aber sie mochte keinen Streit vom Zaun brechen. Nicht schon wieder.
»Also schön, wenn du die Wäsche aufhängst, übernehme ich das Gießen.«
»Bloß net! Nachher ertränkst du mir noch die Erdbeeren. Sie haben heuer reichlich angesetzt. Da will ich nix riskieren. Ich gieße nachher selbst.«
»Was soll ich dann tun?«
»Such dir eine Arbeit. Mach dich endlich nützlich.«
»Wie denn, wenn du mich nichts tun lässt?«
»Ich verhindere nur, dass du noch mehr Schaden auf dem Hof anrichtest. Oder hast du schon vergessen, dass du kurz nach eurer Hochzeit um ein Haar unsere Küche abgefackelt hättest? Und dass Marvin deinetwegen eine Kuh schlachten lassen musste? Und was net noch alles schiefgegangen ist?«
»Ich kannte mich damals net mit eurem Ofen aus und wusste net, dass ich den Rauchabzug öffnen muss, bevor ich ihn benutze. Und die Kuh war von der Alm entkommen und abgestürzt, dabei hat sie sich das Bein gebrochen.«
»Ja, weil du den Zaun net kontrolliert hattest.«
»Davon wusste ich damals noch nichts.« Anna war in Wien aufgewachsen und hatte Erzieherin gelernt. Während eines Skiurlaubs hatte sie Marvin kennengelernt und sich in ihn verliebt. Er hatte ihre Gefühle erwidert. In den darauffolgenden Monaten hatten sie sich gegenseitig so oft wie möglich besucht und schließlich beschlossen, dass sie sich nie mehr trennen wollten.
Manchmal befürchtete Anna, dass ihre Heirat ein Fehler gewesen war. Was wusste sie schon von der Landarbeit? So gut wie nichts.
In der Stadt brauchte man nichts über Weidehaltung oder Hühnerkrankheiten zu wissen. Brot kaufte man beim Bäcker, von denen es an jeder Straßenecke einen gab. Und im Winter war man auch nicht von der Außenwelt abgeschnitten und musste Vorräte für mehrere Tage oder gar Wochen im Haus haben.
All das wollte Anna ihrer Schwiegermutter erklären, aber ehe sie dazu kam, stieg es sauer in ihrer Kehle hoch. Sie presste sich eine Hand vor den Mund, hastete ins Haus und schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer, ehe sie sich übergeben musste.
Ihr Magen gab das spärliche Mittagessen wieder von sich, das sie zu sich genommen hatte. Als es vorbei war, setzte sie sich erschöpft auf den Toilettendeckel, füllte Wasser in den Zahnputzbecher und spülte ihren Mund aus.
Sie brauchte einige Minuten, bis sie sich nicht mehr wacklig auf den Beinen fühlte und das Bad verlassen konnte.
Die Übelkeit begleitete sie seit einigen Wochen. Zuerst hatte sie gehofft, das wäre endlich ein Anzeichen für eine Schwangerschaft, aber dann hatte sie doch wieder geblutet.
Die Enttäuschung klemmte wie ein Kloß in ihrem Hals.
Durch das Flurfenster sah sie, dass draußen das gelbe Auto des Briefträgers davonfuhr. Anna holte die Post herein und blätterte sie durch: Reklame, die Rechnung von den Stromwerken, noch mehr Reklame … und zuunterst ein Brief von der Kinderwunschklinik!
Der Anblick weckte ihre Lebensgeister. Würde sich nun endlich, endlich alles wenden?
Anna setzte sich mit dem großen Umschlag auf die Eckbank in der Küche und schaute sekundenlang darauf nieder. So viele Hoffnungen waren damit verbunden.
Marvin und sie hatten sich Informationsmaterial bestellt, weil sie eine Behandlung erwogen. Fünf Jahre versuchten sie nun schon, ein Baby zu bekommen, und es wollte einfach nicht klappen. Dabei waren sie beide gesund. Das hatten sie ärztlich überprüfen lassen.
Also sollte nun eine Behandlung für den ersehnten Nachwuchs sorgen.
Anna holte tief Luft und riss das Kuvert auf. Es enthielt eine bunte Broschüre sowie einige lose Zettel. Auf einem davon standen die Preise für die Behandlung – und die verschlugen ihr buchstäblich den Atem.
Mei, das geht net!, dachte sie. Das werden wir uns niemals leisten können. So viel Geld haben wir net übrig. Für einen Versuch … vielleicht. Aber es heißt, dass die meisten Paare mehrere Versuche brauchen, bis es mit einer Schwangerschaft klappt. Das würde viel zu teuer. Wir müssten Schulden machen und das … nein, das geht einfach net. Das kann ich net von Marvin verlangen.
Mei, Hedwig hat recht. Ich bin nutzlos. Absolut nutzlos. Ich mache hier allen das Leben schwer …
Heiße Tränen brannten plötzlich in Annas Augen. Sie war wie gelähmt. Dieser Brief bedeutete das Ende ihrer Hoffnungen. Marvin und sie würden kein Baby haben, und ihre Schwiegermutter würde sie niemals akzeptieren. Wie sollte es nur weitergehen?
Die Tür klappte, und ihr Mann kam herein.
Marvin war groß gewachsen und musste den Kopf ein wenig einziehen, um durch die Tür zu treten. Seine Haut war durch die Arbeit im Freien stets leicht gebräunt. Mit seinen dichten dunklen Haaren und der kräftigen Statur war er von Anfang an ihr Traummann gewesen. Seine braunen Augen funkelten und verrieten Herz und Humor.
Das Blut trieb ihr zum Herzen. Sie liebte ihn so sehr! Und es brachte sie fast um, ihn zu enttäuschen.
»Was hast du denn, Schatzerl?« Er ließ sich auf die Bank neben sie fallen und strich ihr eine Träne von der Wange. So behutsam, wie man es seinen kräftigen Händen gar nicht zugetraut hätte.
»Das Informationsmaterial von der Kinderwunschklinik ist gekommen«, berichtete sie schniefend.
»Und? Ist es net gut?«
»Gar net gut. Die Preise sind jenseits von Gut und Böse.«
»Ehrlich? So schlimm?« Er nahm sich die Broschüre vor und blätterte darin. Dabei verdunkelte sich sein Blick. Sorgfältig studierte er die Informationen, ehe er die Unterlagen sinken ließ. »In der Tat, das ist ein ziemlicher Brocken, aber nichts, das wir net stemmen können.«
»Bist du sicher? So ein Zyklus kostet ein Vermögen. Und vielleicht bräuchten wir mehrere davon.«
»Wir haben ein bisserl was gespart, das können wir verwenden.«
»Aber davon willst du ein neues Auto kaufen.«
»Das alte tut es schon noch. Wir könnten es probieren. Und wenn es net klappt, dann versuchen wir es weiter auf die althergebrachte Weise. Dagegen habe ich wirklich nichts einzuwenden.« Er zwinkerte ihr zu und beugte sich vor, um ihr ein inniges Busserl zu geben.
Die Last auf ihrer Brust wurde ein wenig leichter. Trotzdem sagte sie bedrückt: »Deine Mutter drängt schon, warum wir immer noch kein Baby bekommen.«
»Das ist unsere Sache, Schatzerl, net ihre. Nimm dir das net so zu Herzen. Den Lauf der Natur kann niemand beeinflussen. Unser Baby wird sich schon anmelden, wenn die Zeit dafür reif ist.«
»Und wenn das … nie passiert?«
»Dann haben wir immer noch uns. Ich hab dich so lieb, mein Schatz. So lieb wie nichts auf der Welt. Das darfst du nie vergessen.« Er schlang die Arme um sie und zog sie an seine Brust.
Sie konnte sein Herz unter ihrer Wange schlagen fühlen. Und mit einem Mal flutete Wärme durch sie hindurch und linderte das wunde Gefühl in ihrem Inneren. Seine Liebe war wie ein Quell immer neuer Kraft für sie, und sie hoffte, dass es ihm genauso mit ihr erging.
Marvin streichelte sie und hielt sie in seinen Armen, bis die Tür aufgestoßen wurde und seine Mutter auf der Schwelle stand. Hedwig bedachte Anna mit einem missbilligenden Blick, ehe sie sich an ihren Sohn wandte.
»Hört hier eigentlich niemand das Telefon?«
»Das Telefon?« Marvin ließ Anna los. »Nein.«
»Gerade ist ein Notruf reingekommen. Am Rautenstein ist eine Frau in Bergnot. Du sollst mit ausrücken, Marvin.«
»Verstanden.« Marvin drückte Anna noch ein Busserl auf die roten Lippen, ehe er sich hochstemmte und die Küche verließ, um seine Ausrüstung zu holen. Er gehörte seit vielen Jahren der Bergrettung an und hatte an diesem Tag Bereitschaftsdienst.
Mit gemischten Gefühlen ließ Anna ihn gehen. Sie wusste, wie gefährlich die Einsätze waren, und machte sich stets Sorgen, wenn er unterwegs war.
Ihr Blick schweifte aus dem Fenster zu dem Tafelberg hinüber, dessen felsige Hänge in der Frühlingssonne silbrig schimmerten. Da oben wuchs kein Baum mehr, nur knorrige Büsche und Moos. Gämsen und Steinböcke lebten dort oben.
Was mochte nur passiert sein?
***
»Hallooo? Judith? Kannst du mich hören?« Marvin blieb stehen und stemmte schnaufend seine Daumen unter die Riemen seines Rucksacks. Sein Ruf ließ einen Raubvogel über den karstigen Felsen aufflattern, ansonsten blieb alles still.
Verflixt! War er auf dem falschen Weg?
Die Leitstelle hatte ihn darüber informiert, dass eine Frau den Notruf abgesetzt hatte. Sie war auf dem Rautenstein gestürzt und konnte nicht weiter. Der Anruf war abgebrochen, bevor sie ihre genaue Position durchgeben konnte, deshalb hatten sich die Kameraden aufgeteilt und durchkämmten nun die Gegend nach der Verunglückten. Ein Hubschrauber war ebenfalls angefordert, allerdings noch bei einem Erdrutsch in Bergfelden im Einsatz, wo eine Wandergruppe ausgeflogen werden musste, die festsaß.
Marvin schulterte seinen Rucksack und stapfte weiter. Kleine Steine lösten sich unter den Sohlen seiner Bergstiefel und kullerten talwärts, aber er marschierte mit festem Schritt voran. Er war in den Bergen aufgewachsen und kannte die Pfade ebenso wie die Gefahren, die unterwegs lauerten.
Die Frühlingssonne schien warm auf ihn herab. Hier in den höheren Regionen fanden sich noch verschneite Felsen, aber überall tropfte und schmolz es, und das erste Grün ragte aus der Erde. Bald wurde es Marvin in der rot-schwarzen Jacke der Bergrettung zu warm, und er öffnete den Reißverschluss.
Je höher er gelangte, umso steiler wurde der Pfad, der sich zwischen steinigen Wiesen und Felsen emporschlängelte. Sein Atem kam schwer und stoßweise, aber er reduzierte sein Tempo nicht.
Er gehörte seit zehn Jahren zur Bergrettung. Eingetreten war er mit zwanzig Jahren, kurz nach dem tödlichen Absturz seines Vaters. Sein Vater war ebenfalls Bergretter gewesen und bei einem Rettungseinsatz ums Leben gekommen. Marvin war in seine Fußstapfen getreten, um sein Andenken zu ehren.
Vor ihm huschte ein Murmeltier über den Weg und verschwand irgendwo in einem Loch zwischen großen Steinen. Marvin blieb stehen, beschattete die Augen mit einer Hand und blickte sich suchend um. Wo konnte Judith nur sein?
Die Nachbarstochter hatte den Notruf abgesetzt. Marvin kannte sie von klein auf. Judith Kessler war zweiundzwanzig und ein fesches Madel, das fast allen Burschen aus dem Dorf den Kopf verdrehte. Es hieß, sie ging mit einem Bauern aus dem Nachbardorf aus, aber genau wusste Marvin das nicht. Er interessierte sich nicht für die Gerüchte, die im Dorf kursierten.
»Judith?« Seine Stimme hallte von den Felswänden wider.
Und diesmal erhielt er eine Antwort.
»Marvin? O mein Gott! Ich bin so froh, dass du da bist. Ich bin hier unten!«
Er folgte den Rufen und gelangte zu einer Felsspalte. Hier ging es ungefähr vier Meter in die Tiefe. Das war nicht viel, aber die Felswände waren zu glatt, um daran emporzuklettern. Judith saß auf dem Grund der Spalte und spähte bang herauf. Sie hatte eine blutige Schramme auf der rechten Schläfe und hielt sich den linken Arm.
»Geht es dir gut?«, rief er.
»Mir fehlt nix weiter. Nur meine Hand tut weh. Bin darauf gefallen. Und nun komme ich nimmer hoch.«