Der Bergdoktor 1816 - Andreas Kufsteiner - E-Book

Der Bergdoktor 1816 E-Book

Andreas Kufsteiner

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Valerie Meindl hat schon eine Odyssee zu den verschiedensten Ärzten hinter sich. Doch keiner der Mediziner hat bis jetzt die Ursache für ihre Kopfschmerzattacken herausgefunden. Bis zu acht Mal am Tag - und neuerdings auch in der Nacht - rast dann ein stechender Schmerz durch ihren Schädel, als würde jemand eine glühende Nadel hineinstechen.

Längst hat Valerie alle Lebensfreude verloren. Inzwischen gibt es Tage, da möchte sie gar nicht mehr aufstehen.

Da hört sie von einem Arzt namens Dr. Martin Burger. Er lebt in einem abgeschiedenen Dorf im Zillertal. Valerie beschließt, nach St. Christoph zu fahren. Der Bergdoktor ist ihre allerletzte Hoffnung ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 128

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Impressum

Der Sonne entgegen

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Michael Wolf / Bastei Verlag

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-2897-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Der Sonne entgegen

Nach Jahren des Schmerzes schenkt der Bergdoktor einer Frau wieder Hoffnung

Von Andreas Kufsteiner

Valerie Meindl hat schon eine Odyssee zu den verschiedensten Ärzten hinter sich. Doch keiner der Mediziner hat bis jetzt die Ursache für ihre Kopfschmerzattacken herausgefunden. Bis zu acht Mal am Tag – und neuerdings auch in der Nacht – rast dann ein stechender Schmerz durch ihren Schädel, als würde jemand eine glühende Nadel hineinstechen.

Längst hat Valerie alle Lebensfreude verloren. Inzwischen gibt es Tage, da möchte sie gar nicht mehr aufstehen.

Da hört sie von einem Arzt namens Dr. Martin Burger. Er lebt in einem abgeschiedenen Dorf im Zillertal. Valerie beschließt, nach St. Christoph zu fahren. Der Bergdoktor ist ihre allerletzte Hoffnung …

Im dichten Nebel wirkten die Bäume wie unheimliche Gestalten, die ihre knochigen Finger in den Himmel reckten. Die Luft war kühl und feucht. Kein Licht war am Firmament zu sehen. Nur gedämpft drang das Schu-hu einer Eule durch die Nacht.

Verlassen stand das Ferienhaus am Ende der schmalen Schotterstraße. Umgeben von einem verwilderten Garten schien es nur darauf zu warten, zu neuem Leben erweckt zu werden. Die Fensterläden hingen schief in den Angeln, einige Scheiben waren zersprungen, andere fehlten gleich ganz. Schon lange hatte hier niemand mehr gewohnt.

Meindl, stand in verwitterten Lettern am Briefkasten. Strohhalme und Vogel-Dung auf dem Metall verrieten, dass niemand hier mehr Post einwarf. Stattdessen hatte ein Vogel den Kasten zu seinem Nest auserkoren und brütete ungestört.

Unvermittelt zerschnitten die Lichtkegel zweier Scheinwerfer die nächtliche Dunkelheit. Ein Wagen näherte sich dem Ferienhaus und stoppte. Es war eine Limousine, die nicht recht in die rauen Berge zu passen schien. Ein Mann in einem Regenmantel stieg aus. Feuchtes Laub knirschte unter seinen Schuhsohlen.

Er trat vor das Haus, stemmte die Fäuste in die Taschen und schaute sich nach allen Seiten um. Der Nebel und die Dunkelheit machten es ihm unmöglich, weiter als wenige Meter zu sehen, aber das störte ihn nicht, denn er hatte sich das Gelände auf einer Landkarte angesehen. Er kannte jede Anhöhe und jeden Felsen in der näheren Umgebung.

»Perfekt«, murmelte er vor sich hin, obwohl niemand außer ihm da war. »Ja, die Lage ist absolut perfekt. Nur diese Bruchbude ist im Weg, aber das lässt sich ändern. Die Hütte kann abgerissen werden, und dann …« Ein hämisches Grinsen huschte über das Gesicht des Unbekannten.

Ihm lag nichts an der idyllischen Umgebung. Auch der Ruhe und Abgeschiedenheit konnte er nichts abgewinnen. Stattdessen hörte er in Gedanken bereits seine Kasse klingeln. Wenn alles nach Plan verlief, würde er schon in wenigen Monaten die ersten Gewinne einfahren. Sein Vorhaben war ein sicheres Geschäft. Die Dorfbewohner würden das vermutlich anders sehen, aber was kümmerten ihn die Landeier? Er musste für sich selbst sorgen, und das würde er auch tun.

Abschätzig musterte er das Ferienhaus mit der windschiefen Eingangstür.

Ein Verlust wäre es wohl nicht, wenn das Haus abgerissen würde. Es war das Einzige, das seinem Plan im Wege stand, aber auch dieses Hindernis würde er beseitigen. Es gab nur noch eines für ihn zu tun: Er musste herausfinden, wem das Haus gehörte, und es an sich bringen.

Koste es, was es wolle!

***

Derweil im 150 Kilometer entfernten München

O nein! Nicht schon wieder, bitte!

Valerie Meindl schoss im Bett hoch, als wäre eine Hauswinkelspinne über ihr Gesicht gekrabbelt. Doch es war schlimmer. Viel schlimmer. Ein stechender Schmerz raste durch ihren Schädel, als würde jemand eine glühende Nadel hindurch jagen. Auf einer Skala von eins bis zehn war das eine glatte neun. Neuneinhalb, um genau zu sein.

Die Qual hatte sie aus tiefstem Schlaf gerissen. Valerie tastete mit zittrigen Fingern nach dem Schalter der Nachttischleuchte und knipste sie an.

Ein Blick zum Wecker ließ sie aufstöhnen.

1:40 Uhr.

Sie hatte kaum länger als zwei Stunden geschlafen. Draußen war es stockdunkel. In der Ferne rauschte der Münchner Verkehr, der auch nachts nichts zur Ruhe kam. Er wurde nur durch die Entfernung zu dem Vorort gedämpft, in dem die Apothekerin wohnte.

Valerie hatte nur ein dünnes Nachthemd mit Spaghettiträgern an, trotzdem bedeckte ein Schweißfilm ihre Haut. Sie nahm den Blister mit Schmerztabletten von ihrem Nachttisch, drückte drei Tabletten heraus und schluckte sie mit mehreren Schlucken Wasser hinunter. Erfahrungsgemäß würde das nicht das Geringste bewirken.

Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt, dachte sie beklommen. Vielleicht läuft es diesmal anders. Vielleicht helfen die Tabletten ja doch?

Valerie blieb in ihrem Bett sitzen und wartete ab. Die glühend heiße Nadel schien hinter ihrem rechten Auge stecken geblieben zu sein, zumindest fühlte es sich so an. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Seit über zwei Jahren kamen und gingen die Attacken mit unbarmherziger Unregelmäßigkeit. Manchmal blieben sie wochenlang aus. Dann hoffte Valerie, es hätte endlich aufgehört.

Bis die Schmerzen zurückkehrten.

Manchmal geschah es sechs Mal am Tag. Aus heiterem Himmel fuhren stechende Schmerzen durch ihren Kopf und hielten stundenlang an. Valerie hatte bereits eine Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich: Hausarzt – Augenarzt – Orthopäde – Neurologe. Niemand hatte ihr bislang helfen können.

Das ist psychisch bedingt. Kommt vom Stress. Sie müssen sich eine Auszeit gönnen.

Das bekam sie meistens zu hören. Doch weder Yoga noch ein Urlaub hatten ihr geholfen. Sie hatte bereits zahllose Schmerzmittel ausprobiert, aber der Erfolg war gleich Null geblieben. Ihr Hausarzt glaubte inzwischen, sie würde simulieren, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Was hätte er auch anderes annehmen sollen? Irgendein Schmerzmittel musste ihr schließlich helfen!

Tat es aber nicht. Inzwischen kannte sie so ziemlich jedes Schmerzmittel, das derzeit für Geld zu haben war, aber keines davon konnte ihre Qualen lindern. Auch jetzt hielt sich das brennende Stechen hinter ihrem Auge hartnäckig.

Valerie legte sich wieder hin. Sie rollte sich auf die Seite und zog die Knie an den Körper. Dann streckte sie eine Hand aus und griff nach dem Hemd ihres Mannes, das auf seinem Kopfkissen ausgebreitet lag. Sie schmiegte die Wange an den weichen Baumstoffstoff und schloss die Augen, stellte sich vor, es würde noch nach ihm riechen. Doch sein Geruch war längst verflogen.

Sie rollte sich auf die andere Seite und betrachtete mit brennenden Augen die gerahmte Fotografie auf ihrem Nachttisch. Auf dem Foto saß Jost mit einem Buch im Sand und las, während vor ihm die Wellen der Ostsee gegen das Ufer schlugen. Valerie liebte dieses Bild, denn es zeigte ihren Mann in einer typischen Pose. Er hatte Bücher immer geliebt.

Mehr als mich, hatte sie ihn manchmal geneckt und damit provoziert, dass er ihr zärtlich versichert hatte, nichts und niemanden mehr zu lieben als sie.

Das Foto war während ihres ersten gemeinsamen Sommerurlaubs aufgenommen worden. Valerie erinnerte sich noch an das warme Gefühl von Sonne und Sand auf ihrer Haut. Und an die Geborgenheit, die sie in der Nähe ihres Mannes empfunden hatte.

Die Erinnerungen wärmten ihr das Herz, ehe der Verlust mit der Wucht eines Wirbelsturms über sie hinwegraste und ihr das Atmen schwermachte. Die Einsamkeit blähte sich in ihrem Inneren wie ein Ballon auf, denn Jost war fort. Er war der Mittelpunkt ihrer Welt gewesen, doch dann war er gestorben und ihre Welt war zusammengebrochen.

Valerie hatte lange gebraucht, bis sie sich soweit erholt hatte, dass sie wieder in der Apotheke arbeiten konnte. Doch jeder Tag war ein Kampf gegen die mitleidigen Blicke oder, schlimmer noch, die Versuche, sie wieder mit einem Mann zu verkuppeln. Dann wünschte sie sich ein Mauseloch, in dem sie sich verkriechen konnte.

»Du solltest wieder ausgehen, Val.« In Gedanken beschwor sie ihren Mann herauf, der sich über sie beugte und ihr eine Hand auf die Schulter legte, wie er es früher so oft getan hatte. »Es ist net gut für dich, ständig daheimzusitzen und dem Leben auszuweichen. Wann warst du das letzte Mal aus?«

»Ich war mit Josefine im Kino«, verteidigte sie sich.

»Vor fünf Monaten. Und du bist nach einer halben Stunde gegangen, weil du angeblich Magendrücken hattest.«

»Mir war wirklich flau im Magen.« Valerie war bewusst, dass sie gerade mit sich selbst stritt und dass ihr Mann nicht wirklich da war, aber es war tröstlich, mit ihm zu reden, auch wenn er nur in ihrem Kopf antwortete.

Gott, wie sie ihn vermisste! Die Gespräche. Die Nähe. Sogar ihre Streitereien fehlten ihr. Eine Träne bahnte sich ihren Weg ihre Wange hinunter und tropfte von ihrem Kinn.

Valerie zog sich das Hemd ihres Mannes über die Augen und kuschelte sich hinein wie in einen Kokon.

Irgendwann ließen ihre Kopfschmerzen nach, und sie schlief wieder ein.

»Rrrring! Rrrring! Rrrring!«

Das Klingeln des Telefons im Flur weckte sie. Die Sonne schien warm ins Schlafzimmer herein, und draußen im Garten zwitscherten die Vögel ein munteres Morgenlied.

Valerie fuhr erschrocken hoch und spähte auf den Wecker. O nein! Schon halb elf! Sie hatte verschlafen!

Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder, doch dann erinnerte sie sich daran, dass Samstag war und sie frei hatte. Mit einem erleichterten Seufzen schob sie ihre Zudecke zur Seite und tappte barfuß in den Flur. Gerade, als sie zum Hörer griff, hörte das Klingeln auf. Offenbar hatte der Anrufer aufgegeben. Wenn es wichtig war, würde er sich bestimmt noch einmal melden.

Müde schleppte sich Valerie in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Dann tappte sie ins Badezimmer, warf einen Blick in den Spiegel und zuckte zusammen. Ihre Haare sahen aus, als würden Meisen darin nisten. Das Nachthemd wies vorn einige merkwürdige schokoladenbraune Flecken auf, deren Erklärung ihr erst nach einigen Sekunden einfiel: Sie hatte im Bett noch Kekse gegessen und offenbar etwas von der Glasur auf den Stoff gekrümelt. Jost hatte immer die Augen gerollt, wenn sie das getan hatte, und sich über die Krümel im Bett beschwert.

Oh, verflixt, schon wieder kamen ihr die Tränen. Als wären die Augenringe nicht schon schlimm genug!

Valerie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Na und? Dann war sie eben ungeschminkt und sah aus, als wäre sie soeben vom Obduktionstisch geflohen. Wen interessierte das schon? Es war niemand da, der sie sehen konnte. Nicht einmal ein Hund. Jost und sie hatten geplant, sich irgendwann einen anzuschaffen, aber sie waren immer zu beschäftigt gewesen, um ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen. Und so war aus dem Irgendwann ein Niemals geworden …

»Rrrring!« Diesmal war es nicht das Telefon, sondern die Türklingel. Valerie warf sich hastig ihren Morgenmantel über, bürstete einmal durch ihre Haare – was aus dem Vogelnest nur ein verrutschtes Vogelnest machte – und eilte zur Tür.

Als sie öffnete, traf sie ein verwunderter Blick, dem gleich darauf Bestürzung folgte.

»Oh! Habe ich dich geweckt?«

»Nicht direkt.« Valerie trat einen Schritt von der Tür zurück und ließ ihre Schwiegermutter herein.

Josefine Meindl war eine kleine, drahtige Frau. Ihre rötlich getönten Haare waren fransig in die Stirn gezupft. Zahlreiche Armreifen klimperten an ihren Handgelenken. In ihrem bunten Sommerkleid wirkte sie jünger als neunundfünfzig Jahre. Sie trug eine Papiertüte auf dem Arm und steuerte zielstrebig die Küche an. Hier setzte sie die Tüte auf dem Tisch ab, öffnete die Kühlschranktür und stieß ein triumphierendes Schnaufen aus.

»Wusste ich es doch! Nur halbgeleerter Joghurt und Batterien. Wovon lebst du eigentlich, Liebes?«

»Ich bin noch net zum Einkaufen gekommen.« Valeries Wangen erwärmten sich.

Ihre Schwiegermutter räumte die mitgebrachten Lebensmittel in den Kühlschrank. Sogar an eine Ananas hatte sie gedacht. Valeries Lieblingsfrucht. Außerdem hatte sie Äpfel, Käse und zahlreiche andere Lebensmittel mitgebracht. Auch einige Fertiggerichte.

»Ich weiß ja, wie ungern du kochst.« Josefine räumte die Schalen in das unterste Fach.

»Für einen allein lohnt es sich eben net«, verteidigte sich Valerie halbherzig und deutete auf die Kaffeemaschine. »Trinkst du einen mit?«

»Ist der koffeinfrei?«

»Leider net.«

»Dann net. Mein Blutdruck geht ohnehin durch die Decke.«

»Möchtest du lieber einen Tee?«

»Danke, ich habe schon gefrühstückt. Ich brauche nichts. Nur dein Ja.«

»Mein … was?«

»Dein Ja. Beim Bäcker war ein Aushang für einen Schwedisch-Kurs an der Volkshochschule angebracht. Ich möchte uns beide eintragen. Nächste Woche geht es los.«

»Warum soll ich denn Schwedisch lernen?«

»Warum net? Das ist eine interessante Sprache.«

»Aber ich war noch nie in Schweden, und ich habe auch net vor, in nächster Zeit dorthin zu reisen.«

»Man sollte niemals nie sagen. Vielleicht entdeckst du deine Freude an dem Land beim Lernen. Außerdem ist es gesund, eine neue Sprache zu lernen. Das hält den Geist beweglich.«

»Kann schon sein, aber mein Geist ist beweglich genug. Ich möchte da net hin.«

»Bitte, Valerie.« Ihre Schwiegermutter legte die Hände um den Rand des Küchentischs und sah Valerie an. »Du könntest auch mit mir zu meiner Tai Chi-Gruppe gehen.«

Erst Schwedisch und jetzt Tai Chi? Valerie dämmerte, was ihre Schwiegermutter wirklich bezweckte, und schüttelte den Kopf.

»Ich möchte net aus Mitleid mitgeschleppt werden. Weder zum Schwedisch noch zum Tai Chi.«

»Wer sagt denn etwas von Mitleid? Du musst wieder unter Menschen kommen, Liebes. Mein Sohn hätte net gewollt, dass du so traurig bist.«

»Ich weiß.«

Oh, verflixt! Schon wieder wollten die Tränen kommen, wie immer, wenn sie an die Lücke in ihrem Herzen erinnert wurde. Valerie fühlte sich manchmal wie ein Fass mit zahllosen Löchern.

Als ihr Mann gestorben war, schien die Zeit für sie stehen geblieben zu sein. Sie konnte nicht glauben, dass das Leben weiterging. Doch das tat es. Der Kalender hatte seither unbarmherzig mitgezählt. Zwölf Monate und drei Tage. Für sie war es jedoch so, als wäre es erst gestern geschehen.

»Hört es irgendwann auf, so wehzutun?«, fragte sie verzagt.

Ein trauriger Ausdruck huschte über das Gesicht der älteren Frau. Josefine hatte ihren Mann vor zwanzig Jahren verloren. Und mit Jost ihren älteren Sohn.

»Nein«, erwiderte sie leise. »Man lernt nur, damit zu leben.« Sie schloss Valerie in die Arme und drückte sie an sich. Dann gab sie sie wieder frei. »Ich bin übrigens net ganz uneigennützig hier.«

»Willst du dir wieder mein Auto leihen? Das ist in Ordnung, aber du solltest dir wirklich ein neues kaufen, weißt du? Dein Wagen steht öfter in der Werkstatt als woanders.«

»Diesmal geht es net um das Auto. Ich möchte dich bitten, nach St. Christoph zu fahren und unser Ferienhaus zu verkaufen.«

»Warte mal! Das Haus am Mühlbach?« Valerie war noch nicht da gewesen, kannte das Ferienhaus jedoch aus Erzählungen ihres Mannes, der als Student seine Ferien dort verbracht hatte. »Du willst es hergeben?«

»Es ist an der Zeit. Wir nutzen es schon lange nimmer. Mein Mann hatte es für unsere Familie gekauft, aber niemand fährt mehr hin. Thomas ist eingespannt bei seiner Arbeit, und für mich hängen zu viele Erinnerungen daran.«

»Also soll ich es für dich verkaufen?« Valerie zögerte. »Ich bin keine Maklerin. Ich weiß net, wie man ein Haus verkauft.«

»Oh, das ist einfach. Du schaffst etwas Ordnung und beauftragst einen Makler, damit er den Verkauf abwickelt. Das war’s auch schon.«

»Möchtest du das net lieber selbst regeln?«

»Ich stecke bis über beide Ohren in Arbeit. Der Laden und die Vorbereitungen für die Auktion …« Josefine hob die Arme und ließ sie wieder fallen. Ihr Mann hatte ihr genügend Geld hinterlassen, damit sie sich keine Sorgen um die Zukunft machen musste. Sie half ehrenamtlich in einem Second-Hand-Laden der Kirche mit und hatte zahlreiche Ehrenämter, für die sie sich engagierte. »Es werden einige kleinere Arbeiten an dem Haus notwendig sein. So lange kann ich unmöglich weg.«

»Ich auch net. Ich muss arbeiten.«